Apokalypse oder Revolution?
Eine Reise durch die Musikszene des Jahres 2021
„Apocalypse or Revolution?“ fragte Die Gruppe Ja, Panik schon zu Beginn des Jahres 2021. Was ist das Ergebnis dieser (Hopefully) Once in a Lifetime Experience; der Pandemie? So wie es aussieht noch etwas viel Dystopischeres. Denn das Erste ist offensichtlich nicht eingetroffen, denn ich kann glücklicherweise noch diese höchst subjektive Jahresbestenliste der kontemporären Popmusik verfassen. Das Zweite offensichtlich auch nicht (den rechten Schwurblern gönnt man diesen Begriff nicht), denn eine überwältigende Mehrheit hat sich bei keinem Thema (egal ob in der Pandemie oder beim Klimawandel) zu einer drastischen Veränderung entschieden.
Stattdessen scheinen wir in einer Endlosschleife gefangen zu sein. In einem Zustand des Abwartens, Zögerns und Zauderns. In einem Zuspätkommen und Ewiggestrigbleiben. Währenddessen rasen das Virus durch uns und das Zeitgeschehen in unseren gemütlichen Wohnzimmern (wenn man sich noch eins leisten kann) an uns vorbei.
Ist das auch der Zeitgeist des Pop? Glücklicherweise nicht. Trotz der immerwährenden retrospektiven Besinnung, die dem Pop innewohnt (siehe z.B: Silk Sonic). Bleibt der Pop progressiv (Black Midis, „Cavalcade“), widersteht (Klee, „Danke, Nein“) und lehnt sich auf (Christine Nichols, „Today I choose violence“). Wenn es also nach dem Pop geht, sind wir der Revolution doch näher. Oder zumindest einer Veränderung. Denn auch wenn die Großen der Zunft (Billie EIlish, Lorde, Coldplay ) mit ihren Alben die Erwartungen nicht erfüllten , gab es unglaubliche Musik („Black Country, New Road“) aus den unwahrscheinlichsten Ecken (aus Korea, z.B: „Parannoul“), die die richtigen Fragen stellten (s.o.) und diese auf die unterschiedlichsten Arten beantworteten (Halsey „If I can´t have love, I want power“), damit wir, frei nach Tarkowski, lauschen und nicht nur hören.
Die von mir vorgestellten 15 Songs und 30 Alben könnt ihr entweder in der Spotifyplaylist oder in youtubeplay hören.
Die besten Songs 2021
Der weiseste Song des Jahres ist auch der beste und er eröffnete dieses Jahr. Am 1.1.2021 um 0:00 veröffentlichte die Gruppe Ja, Panik diesen Song, der alle wichtigen Fragen des Jahres schon vorwegnahm und ähnlich wie ihr „DMDKIULIDT“ eher einem philosophischen Buch gleicht als einem Radiohit. Ein Song über den man auch zehn Seiten schreiben könnte und der Karl Marx auf jeden Fall stolz gemacht hätte. Auch mein Lieblingspodcaster und Filmanalyst Wolfgang M. Schmitt würde sicherlich Jean Baudrillard in diesem Song wiederfinden („It is the past that will return, From the future this time“). Wirklich grundlegend für dieses Jahr in der Popmusik ist er aber, weil er die Gegenwart wie kein anderer beschreibt. Der gesellschaftliche Stillstand bzw. der Rückzug in das „Land in dem wir gut und gerne leben“ der Merkeljahre („Hier ist so lang nichts passiert, Hier kann nur eines passiert sein“) wird genauso thematisiert, wie die Abhängigkeit vom Kapitalismus („Ein untoter Lover, Der dich im Arm hält, Du willst dich losreißen, Doch du weißt es geht nicht ohne“). Das alles und noch viel mehr schafft der Song in sechs Minuten und bleibt trotzdem ein Popsong. Düster und bedrohlich zu Beginn und harmonisch und erleichtert zum Schluss. Ein Song bei dem wir lauschen und nicht nur hören.
Sexismuskritik für die Tanzfläche, die allen sexistischen und homofeindlichen Arschlöchern den Spiegel vorhält, indem sie in der Strophe entsprechende Statements rezitiert. Hinzu kommt ein eingängiger Basslauf, der Dringlichkeit und Tanzbarkeit impliziert, sowie Statements, die ihresgleichen suchen: „Fünf Finger, Eine Faust, My Love“! In diesem Sinne Fight Sexism!
Die wunderbaren Klee sind wieder da. Nach Ewigkeiten ohne neue Songs macht Suzie Kerstgens erstmal klar, wo sie aktuell steht und lädt mit diesem poppigen Verweigerungsstatement auf die Tanzfläche ein und bläst der hochoptimierten Influencer Szene und deren Followergesellschaft den Marsch! Danke Klee!
Das „Arcane“ meine Lieblingsserie aus diesem Jahr habe ich schon öfters verlauten lassen. Stimmig ist auch der zugehörige Soundtrack und insbesondere dieser Song. Curtis Harding verbreitet mit diesem Soulsong, unterstützt von Jazmine Sullivan (ihr „Heaux Tales“ gilt als eines der besten Alben des Jahres), auch an einem Montagmorgen auf dem dunkelsten Weg zur Arbeit für 3:38 gute Laune.
Ögunc Kardelen (ehem. Kent Coda) hat eine neue Band und wurde von Olaf Opal produziert (u.a. International Music). Auch bei dieser türkisch-psychedelischen Vorabsingle in der Tradition von Baris Manco und Erkin Koray (und die ihnen in nichts nachsteht) kann man nicht still sitzen bleiben. Ein unwiderstehlicher Rhythmus, der nicht nur die besungenen Fischerboote in Bewegung versetzt. Macht wie eine hervorragende Mercimek Lust auf das Hauptgericht.
„Be sweet“ ist ein fantastischer und unglaublich abwechslungsreicher 80slike Popsong, den Madonna gerne geschrieben hätte, der aber wahrscheinlich zu gut für das normale Radioprogramm ist. Zu catchy für den Mainstream!
Ein Song, der sofort verzaubert hinhören lässt und mit einem himmlischen Refrain belohnt: „Dance me all around the room“. Zum Schluss gibt es auch hier ein Trompetenarrangement, diesmal aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, die dann endgültig zum Dahinschmelzen einladen.
Afrobeats und Rap aus dem UK, bei dem man die Hüfte nicht ruhig halten kann. Höhepunkt des Ganzen sind dann noch die Trompeten zum Schluss, die den Song endgültig abrunden und ins Gedächtnis blasen.
Was für ein Punkbrett! Ab ins Auto oder in den nächsten Mosh Pit und laut aufdrehen! Den ersten Moshpit nach der Pandemie, hätte ich auf jeden Fall gerne zu diesem Lied.
- Khruangbin & Felix Dickinson– Time (You and I) (Put a Smile on the Djs Face Mix) (auf spotify und youtube)
Ein Remix auf der Bestenliste. Aber was für einer und der Zusatz („Put a Smile on the Djs Face“) trifft den Nagel auf den Kopf. Funkiger Worldbeat trifft Loungeatmossphäre zu einem Spacetrip mit Captain Future. Wenn man an seinem Traumstrand in einer Bar sitzt und der Sonne beim Untergehen zusieht, läuft genau dieses Lied.
Hervorragend arrangierter, rocklastiger und abwechslungsreicher Teenager-Pop übers Verlassen werden. Fall man mit den eigenen Teenagerkindern mal zur Karaoke will, ist dieser Song eine sichere Bank für beide.
Viel retrospektiver geht’s nicht. Astrein produzierter Soul mit viel Humor und tollen Videos. Das zugehörige Album ist gefällig ohne zu cheesy zu sein. Eine Safe Bet ohne Risiko und mit hoher Qualität.
Weibliche Selbstbestimmung im Pop. „What makes you think you’re good enough to think about me, When you’re touching yourself“. Da wird das Patriachat mit einem treibenden Beat und punktgenauen Klatschern aus der letzten Ecke der eigenen Festung getrieben. Mehr davon!
Queerer Pop aus Norwegen mit einer tanzbaren Botschaft. Nimm mich und lass die anderen Frauen liegen! Kennt man irgendwoher und lässt sich dementsprechend hemmungslos auf der Tanzfläche mitsingen.
- Phoenix – Big Red Machine – Phoenix (feat. Fleet Foxes & Anaïs Mitchell) (auf spotify und auf youtube)
Ein Song durchzogen von Klarheit und getragen vom Piano und der wunderbaren Stimme von Robin Pecknold (Fleet Foxes). Prädikat Traumwandlerisch!
Die besten Alben 2021
„There’s nothing left to fear, at least there’s that“ singt Michelle Zauner auf „In Hell“. In Zauners Fall beschreibt das den Verlust ihrer Mutter, den sie auf ihren ersten beiden Alben sowie in ihrem Bestsellerroman „Crying in H-Mart“ und durch die koreanische Küche, verarbeitet (In dem Roman wird autobiographisch beschrieben, wie sie unter anderem durch das Kochen der koreanischen Rezepte ihrer Mutter ihre Trauer bewältigt.). Aber mit dieser Trauer im Rücken gibt es auf „Jubilee“ vor allem viel Freude zu erfahren und diese drückt sich vor allem musikalisch aus. In dem Opener „Paprika“ begrüßen uns direkt zu Beginn Fanfaren von Bläsern, wie aus einem privaten Ballsaal. Das folgende „Be Sweet“ ist einer der besten und am cleversten arrangierten Popsongs des Jahres. Ständig ist etwas im Hintergrund des Songs wahrzunehmen und diese Arrangements ziehen sich durch das ganze Album. Marschtrommeln, befreiende Saxophonsoli von erfrischender Leichtigkeit und Streicher zum Schwelgen und Schwärmen, verleiten dazu durch die eigene Lockdowndisco, das Wohnzimmer zu tanzen. „Jubilee“ explodiert dabei aber nicht wie x-beliebige Popmusik. Ständig schwelgt es knapp unter der Oberfläche, ohne in den Mainstream durchzubrechen. Denn dafür ist es zu intelligent, zu durchdacht, zu gut und zu schön. Dies zeigt sich auch in den Balladen des Albums insbesondere in „Tactics“ und „Posing for Cars“, die zum Schluss noch einmal eine intime Leichtigkeit feiern. „How’s it feel to stand at the height of your powers to captivate every heart?“ fragt Michelle Zauner ganz zu Beginn. Mittlerweile sollte sie dies wissen, denn „Jubilee“ ist ein Album mit Strahlkraft geworden, welches mit dem Trauma der Trauer im Rücken und gerade trotz dieser erfahrenen Dunkelheit das Leben und dessen Leichtigkeit feiert.
Dieses sprachlose und fast unaussprechliche Album braucht über zwei Minuten, um die ersten Klänge einer Gitarre erklingen zu lassen. Diese klingt dann auch wie eine Fanfare. Wenn man den Rest des Albums gehört hat, weiß man, es ist eine Fanfare des Untergangs und des letzten Restes der Hoffnung. Aber selten haben Untergang und Hoffnung dabei so schön und ausufernd geklungen wie auf diesem Album (wahrscheinlich nur auf den beiden großartigen Erstlingswerken der Progrockband). Es braucht dann zwei Minuten in das nächste Lied hinein, um wirklich zu beginnen. Aber auch das ist erst einmal eine immer fortwährende Steigerung, die einem hypnotischem Sog gleicht und sich erst im ersten melodischen Höhepunkt „First of the Last Glaciers“ entlädt. Aber allein dieser Reise zu lauschen ist eines der größten musikalischen Vergnügen des Jahres. Diesem „First of the last Glaciers“ hört man dann in der Folge langsam beim Schmelzen zu. Dies ist tieftraurig, aber entbehrt der Menschlichkeit, die man aus üblichen Liedern über Tod oder Depression kennt. Diese Traurigkeit geht über reine menschliche Existenz hinaus und ist vielleicht wie ein Klagegesang der Natur zu hören. Aber das ist sicherlich nur eine Interpretationsmöglichkeit. Menschlicher oder zumindest politischer wird es wieder in „Government Came“, dessen erste Klänge an eine Interpretation der amerikanischen Nationalhymne mit E-Gitarren erinnern, denen aber auch eine Verzweiflung innewohnt. Erst im Laufe des Liedes baut sich eine Spannung auf, die langsam aber sicher in das Hoffnungsvolle übergeht. Diese Hoffnung auf Veränderung wird dann in der Folge aber zu einem akustischen Tsunami, begleitet von Streichern aller Art, die nicht mehr aufzuhalten ist. Sie endet mit einem Statement „Our Side has to win“. Was hier in Zeiten von Pandemie, sozialer Umwälzung und Klimawandel vertont wird, geht weit über diesen Versuch der Beschreibung und Interpretation hinaus. Viele Alben haben in diesem Jahr durch Verzerrung, Abstraktion und Experimente versucht einzufangen was den Zeitgeist oder das Leben ausmacht. Dieses Album ist der Höhepunkt dieser Experimente.
Die meisten Hardcoreplatten werden normalerweise von schreienden Stimmen und vielen Powerchords beherrscht und sind nicht für ihre instrumentale Vielfalt oder ihren Abwechslungsreichtum bekannt. Aber Turnstiles „Glow On“ überrascht und fegt den Hörenden hinweg. Alle oben beschriebenen Klischees werden ad absurdum geführt. Auf dieser Platte gibt es Popeinspieler, eine Kooperation mit R´n B -Künstler Blood Orange, fantastische Gitarrenriffs und unglaublich viel Rhythmus. So werden harte E-Gitarren in lateinamerikanisch klingende Instrumente verwandelt, die mit Hilfe von Percussions fast zum Merengue tanzen einladen („Don´t play“). Aus allem hört man sehr viel Energie, Spielfreude und Experimentierfreude heraus. Da wird Autotune verwendet („Underwater Boi“) und auch sampleartige Pianoeinspieler („Fly Again“) benutzt. Mit „Alien Love Call“ gibt es zusätzlich eine Ballade mit R´n B-Genie Blood Orange und die Gitarren auf „New Heart Design“ kommen direkt aus den 1980ern. Herausstechend ist bei allen Songs auch die Klarheit, die den Liedern innewohnt und die Kompaktheit (34 Minuten) in der das geschieht. Das zusammen vereint macht diese Hardcorepunkplatte unglaublich eingängig und zu einer der besten Popplatten des Jahres.
Dieses Album hört sich an, als wenn sich die beste Freundin mit einer Gitarre in eine Kellerbar (oder in die berühmte Blockhütte in der Wildnis) setzen würde, um nur dem Hörenden Dinge anzuvertrauen, die sie anders nicht aussprechen könnte. Aber selbst diese Themen kann sie oft nur andeuten. Verträumt ergeben sich Andeutungen von Sehnsucht, enttäuschter Liebe und Depression, aber auch ein großer Wunsch nach Häuslichkeit und Rückzug. Musikalisch findet das alles, vor allem in wunderbar reduziertem 1970er Folk, aber auch kurzen Ausflügen in den Pop statt. Trotz der Intimität der Songs, die größtenteils Balladen sind, ist die Platte aber vor allem eine abwechslungsreiche Platte. Dies erreichen Clairo und ihr Producer Jack Antonoff (u.a. Lana del Rey und Taylor Swift) durch das Einbauen von wunderbar arrangierten Instrumentenschnipseln im Hintergrund, aber auch durch kurzzeitige Bridges und Harmoniewechsel (wie z.B. auf „Wade“). Aber auch Clairos hauchende und manchmal fast unsichere Stimme tragen ihr übriges zu der beschriebenen Atmosphäre bei. Clairo beschreibt, dass sie ohne „Sling“ wohl aus der Musik ausgestiegen wäre. Es ist ein Glück für uns, dass sie nach ihrem viel poppigeren Debut, nun eine Richtung eingeschlagen hat, die die Zurückgezogenheit unserer Zeit so wunderbar in ein musikalisches Gewand haucht.
Arlo Parks Debutalbum mit dem sehr poetischen Titel „Collapsed in Sunbeams“, gewann dieses Jahr auf Anhieb den britischen Mercury Prize. Die Gewinner und Nominierten dieses Preises lesen sich wie das Who is Who der modernen qualitativen britischen Popmusik und steht damit im Gegensatz zu den von der Musikindustrie vergebenen Brit-Awards. So ist es auch bei Arlo Parks. Auf „Collapsed in Sunbeams“ eröffnet die Singer-Songwriterin das Album mit dem titelgebenden Gedicht und versichert dem Hörenden „You shouldn’t be afraid to cry in front of me. I promise.“ Es folgen elf Geschichten aus ihrem Leben. In allen diesen Geschichten stellt Arlo Parks, wie schon im Opener angekündigt, eine Unmittelbarkeit her. Dies geschieht vor allem, indem sie Alltagsgeschichten erzählt. Da werden der Corner Store oder die Oxford Street erwähnt, genauso wie Kaia`s Bedroom. So werden diese Storys vermittelt, als wenn wir die sich entwickelnden Geschichten durch ihre Augen erleben würden. Oft geht es um traurige Erlebnisse, wie zum Beispiel in „Green Eyes“, einer Geschichte um Liebe und Homofeindlichkeit. Oder in „Caroline“, wenn das Ende einer Beziehung auf offener Straße beobachtet wird. So lassen sich Arlo Parks Texte eher als Storytelling verstehen denn als Songwriting. Was das Album abrundet, ist aber vor allem die Musik, die beeinflusst von Künstlern wie Frank Ocean, Radiohead, Portishead oder dem LoFi Hip-Hop Künstler Nujabe, zwischen Bedroom Pop, Chillhop und R´n B hin und her schwingt und auch traurigere Geschichten auf dem Album zu einem wirklich angenehmen Hörerlebnis machen, bei dem man aber auch genauer hinhören kann.
Vom ersten Erklingen des Pianos in „Living proof“ dem Opener des Albums wird klar, in diesem Album kann man sich zu Hause fühlen, auch wenn und vielleicht, weil direkt klargestellt wird, hier geht es um Veränderung, persönlichen Wandel und das Ewigsuchende in uns. Musikalisch ist dieses zum Glück nicht der Fall. Denn man kann sagen The War on Drug werden trotz des gleichbleibenden Sounds, einfach immer besser. Selbst der Boss Bruce Springsteen blickt wahrscheinlich neidisch nach Philadelphia, aus der The War on Drugs ursprünglich stammen, und wünscht sich seine Songs würden so vielschichtig und komplex klingen. Auch Adam Granduciel dem Mastermind der Band schwant es in Change: „Maybe I was born in the wrong way, on the wrong day“. Aber was nicht ist, kann noch werden und für die meisten Musikbegeisterten gehören The War on Drugs auch jetzt schon zu den amerikanischen Klassikern. Keine Band klingt so sehr nach einem Road Trip durch weite Ebenen wie The War on Drugs und kann gleichzeitig einen Abend am Kamin bereichern. Das Gitarrensolo auf „I don´t wanna wait“ trägt da genauso zu bei wie die neuen Synthiebeats auf „Victim“. Für Hörende, die sozialkritischere Themen bevorzugen, sind The War on Drugs wahrscheinlich am einfachsten in das Dadrock-Genre abzuschieben, aber das ist zu simpel, denn dafür klingen The War on Drugs einfach zu gut. Vor dem Kamin oder am besten auf der nächsten langen Autofahrt.
An Little Simz führte dieses Jahr kein Weg vorbei. Ihr „Sometimes I might be introvert“ ist für viele das beste weibliche HipHop Album seit Lauryn Hills „The Misseducation of…“. Richtiger ist aber, dass es vor allem das Beste HipHop-Album des Jahres ist. Auch dieses Album sticht durch seine musikalische Vielseitigkeit heraus. Es gibt orchestrale Beats wie auf dem fantastischen Opener „Introvert“ oder auch Afrobeats wie in „Point and Kill“. Besonders interessant sind auch die zahlreichen Interludes, die an große klassische Musicalfilme erinnern, wie zum Beispiel „The rapper that came to tea“. Beeindruckend ist es aber, weil das titelgebende „Introvert“ nicht einfach nur bedeutet ruhig und in sich gekehrt zu sein, sondern vor allem meint es sich auf sich selbst zurückzubesinnen. In diesem Prozess thematisiert Little Simz ihre Geschichte, ihre Ängste, ihre Fragen, ihre Geduld und ihre Stärke, die sie zu diesem Punkt gebracht haben. Dies geschieht immer wieder, indem sie Geschichten, die sich wie Seiten eines Buches lesen, aus ihrem sozialen Alltag und ihrem direkten Umfeld erzählt. Da wird zum Beispiel die Geschichte ihres Cousins „Q“ erzählt, der in Gewalttaten verstrickt wird, aber selbst nur ein Opfer des Systems und dessen Politik ist („The broken homes in which we’re comin‘ from, but who’s to blame when, You’re dealt the same cards from the system you’re enslaved in?“). In „Woman“ rappt sie über die Women of Colour, die sie im multikulturellen London jeden Tag sieht und aus deren Leistungen im Leben Kraft zieht. „Sometimes I might be introvert“ ist keine rappende Selbstbeweihräucherung darüber, wie es ist, nun endlich berühmt geworden zu sein. Es ist vielmehr wie eine Meditation und gleichzeitig eine Sozialstudie über die eigene Vergangenheit und die Stärke, die man aus dem Abschließen mit dieser gewonnen hat. Aus dieser Selbstläuterung lässt sich sehr viel Energie und Mut ziehen, von der normale Lebensratgeber nur träumen können.
„Cavalcade“ ist eines der vielen sehr guten Alben dieses Jahr auf denen experimentelle Gitarren die Hauptrolle spielen. In scheinbar unkontrollierter Ekstase vermengen sich diese mit Schlagzeug und Bass auf „Cavalcade“ zu einem unwiderstehbaren Sog. Dauernd befindet man sich in einem Zwischenraum aus Jazz und Progrock. Das Album beginnt dabei mit einem Dämon aus Krach, Verzerrung und Diskontinuität mit „John L“ um direkt danach in einer sanften Ballade über „Marlene Dietrich“, die zuvor geweckten Erwartungen zu perforieren, nur um anschließend mit „Chondromalcia Patellae“ beides zu vereinen und den Krach, Jazz und Struktur in eine ungeahnte Höhe zu befördern, von der man sich bisher nicht vorstellen konnte, dass sie so in einen (Pop)-Song vereint werden konnte. Spätestens jetzt wünscht man sich als Hörender diesem Spektakel Live beiwohnen zu können. Dabei weiß man anschließend sicherlich nicht, ob man einer Rockperformance, einer Jazz-Session oder gar einem klassischem Konzert beigewohnt hat. Denn auch die folgenden Songs dieses modernen Progrock-Meisterwerks setzen diesen wilden Ritt durch das Rhythmuslabyrinth aus vorübergehender Entspannung, einer anschließenden Verstörung und folgenden Versöhnung fort. Dieses Album fordert heraus, aber verlässt den aufmerksam Hörenden mit einer komplexen Mischung aus Staunen, Verstörung und Verzückung.
Dieses Album ist körperlich erfahrbar. Was dem Gehörgang auf diesem Album geboten wird, ist kaum beschreibbar. Noch schwerer beschreibbar ist, was mit dem Gehörgang während des Hörens (idealerweise auf guten Kopfhörern) passiert. Es wird experimentiert, verzerrt, zerstückelt und rückwärts gespielt. Ein Soundraunen, -rauschen und -flackern durchfährt den Körper und macht dieses Album fühlbar. Wer jetzt aber an Krach denkt, ist falsch gewickelt. Wunderbare Melodien und Gesangseinlagen, verleihen diesem Album eine faszinierende Schönheit. Aber auch die Sound- und Geräuschfetzen und das das Album bewohnende Pulsieren haben eine eigenwillige und einnehmende Schönheit. Das Alles macht „Hey What!“ zu einem zeitlosen Beispiel zum Thema Soundinnovation, welche es wert ist, erfahren zu werden.
„Geheimnis“ ist ein Album voller privater Statements. Von „Ich hasse Fußballspielen“ über „Ich habe private Probleme“ und auch „Mein größter Feind ist mein Gehirn“. So offenbart sich Tobias Bamborschke, Sänger und Texter von Isolation Berlin, der diese auf Vinyl pressen lässt und damit auf Tour geht, wie er in dem großartigen „Enfant Terrible“, verlauten lässt. So betreibt er auf diesem Album seine eigene Dekonstruktion oder Psychotherapie, die in der deutschsprachigen Popmusik ihres gleichen sucht. Da heißt es „Ich werd mich ändern, wenn ich kann“ oder „Ich kann mich selber nicht mehr ertragen, ich will so sein wie Nina Hagen“ in der gleichnamigen Hommage an die Künstlerin. Das alles geschieht in Indiesongs, die mal zum Tanzen und mal zum Moshpit einladen. Aber „Geheimnis“ wächst über sich hinaus, wenn auch leisere und noch düstere Töne zum Ende des Albums angeschlagen werden, wie in „Klage einer Sünderin“ oder in „Enfant Perdu“. In diesen Momenten, in denen Selbstmord und eigene Verlorenheit thematisiert werden, wird deutlich, dass in diesen Liedern über die eigene Psyche etwas sehr Altes wohnt. Isolation Berlin sind nicht mehr nur eine von vielen wilden jungen Bands, sondern auf dem Weg, eine der besten Bands des Landes zu werden.
Eigentlich dachte ich könnte diese im Frühjahr erschienene Platte des australischen Rappers erwerben könnte, nachdem der Song „Gold Chains“ auch bei Barack Obama auf der Bestenliste gelandet ist, aber leider musste mich mein Plattenladen da noch vertrösten. Fest steht aber, das die abwechslungsreiche Platte des Rappers zu dem Besten gehört, was der Hiphop dieses Jahr zu bieten hatte. Herausstechend sind die sozialen Themen („I don´t see colour“), genauso wie die musikalische Tiefe und der Groove, die über das von HipHop erwartbare weit hinausgehen. Da sind Powerpop Songs („The other black dog“), genauso wie Soulsongs („No looking back“), Songs die aus den 80ern stammen könnten(„Down“) aber auch funky HipHopBeats („Don´t need you“). Vor allem durch die musikalische Abwechslung kann man sagen, dass diese Platte einfach Spaß macht und heraussticht. Jetzt muss man nur noch warten, dass sie auch hier als Vinyl erscheint.
Die wärmste Stimme des Indierock nimmt uns auf diesem „Home Video“ zurück in ihre Kindheit und Jugend und beweist, dass kaum jemand persönliche Geschichten so detailliert auf den Punkt bringen kann wie sie. Verlorene Liebe und Freunde wie in „Christine“ („I’d rather lose my dignity, Than lose you to somebody who won’t make you happy“) werden genauso beschrieben, wie die Einblicke ins jugendliche Bibelcamp „VBS“ und Geschichten von Freunden („Thumbs“) und deren Beziehung zu dem sie vernachlässigenden Vater („You’ve been in his fist ever since you were a kid, But you don’t owe him shit even if he said you did“).Ein Album geschrieben für den Mut zur eigenen Vergangenheitsbewältigung und auch, um die eigene Vergangenheit abzuschließen.
Auf diesem Album (dem zweiten in diesem Jahr) trennt sich Lana del Rey von dem ihren so eigenen Sound, der sie seit ihrem Debut „Born to die“ geprägt hat und vollendet die Soundexperimente, die sie auf „Norman fucking Rosswell“ und ihrer großartigen zehnminütigen Single „Venice Bitch“ begonnen hat. Oft spärlich instrumentiert gleiten Lanas Lieder auf diesem Album dahin. Selbst wenn Streicher vorkommen, so sind diese doch eher als Hintergrundrauschen zu vernehmen. Lanas Songs wohnte immer eine gewisse Intimität inne. Aber selten wirkte sie dabei so unmittelbar, wie auf diesem Album. Textlich wie musikalisch unangepasst an den Mainstream beweist sie damit einmal mehr ihre Wandelbarkeit und auch ihren Ausnahmestatus unter den großen Künster*innen unserer Zeit.
Ist dieses Album ein Songwriterwerk, Prog-Rock oder sogar schon Jazz mit klezmeresken Momenten? Eins ist klar. „For the first time“ ist eines der künstlerisch abwechslungsreichsten Debuts dieses Jahres. Das Septett aus England sieht zwar aus wie eine Oberstufenband der Gesamtschule um die Ecke, verwebt aber auf ihrem Debut unterschiedlichste Einflüsse zu einem fesselnden Genremix, in sechs Tracks in 40 Minuten. Da stehen Progrockgitarren neben bedrohlich-jazzigen Saxophonsoli und geekigen Geschichten von der „Science Fair“(„And she was so impressed I could make so many things catch on fire, But I was just covered in bubbles of methane gas, And you ended up burning, I’m sorry“). Speziell live wird das zu einem ganz eigenen Erlebnis welches an eine düstere Version der frühen Arcade Fire erinnert. Das alles macht Lust auf mehr und man darf gespannt sein zu verfolgen in welche Richtungen sich die jungen Brit*innen in Zukunft bewegen.
Korea hat sich in den letzten Jahrzehnten in der globalen Popkultur heimisch gemacht. K-Pop Fans sabotierten Wahlveranstaltungen von Donald Trump und in deutschen Schulklassen gibt es immer mehr große BTS-Fans. Old Boy gilt als einer der besten Filme der letzten 20 Jahre und Parasite gewann mehrere Oscars und über Squid Game und seinen Erfolg muss man auch nicht viel reden. Jetzt versetzt mit „To see the next part of the dream“ ein unbekannter koreanischer Student, mit einer LoFi-Schlafzimmerproduktion, den Musiknerduntergrund, mit einem Shoegazealbum in Verzückung. Mit dichten, vielschichtigen und melodiösen fünf- bis zehnminütigen Balladen nimmt er den Hörenden sofort in Gefangenschaft auf einem Trip der mit dem Shoegazemeisterwerk „loveless“ von „my bloody valentine“ verglichen werden kann und mit Sicherheit von diesem beeinflusst wurde. Eine absolutes Hörerlebnis, das von alles umfassender Traurigkeit erzählt, aber vor allem von großer melodiöser und komplexer Schönheit ist.
Ein einziges Punkbrett. Abwechslungsreich und mit unglaublich viel übersprudelnder Energie und Liebe ist „Comfort to Me“ das Punk-Album des Jahres. Lieder wie „Choices“, „Seccurity“ und „Hertz“ hintereinander auf ein Album zu bringen zeugt von unglaublicher Qualität. Falls man das Album mitschreien würde, ist man am Ende sicherlich heiser und glücklich.
Indigo de Souza hat ein Album geschaffen, das durch den schwärmerischen Indie Rock an die rockigere Version von Black Belt Eagle Scout erinnert. Gitarrensoli („Bad Dream“) prägen dabei genauso das Bild wie astreine Popsongs („Hold U“). Aber auch Fragilität und Coming of Age prägen das Bild. Richtig großartig wird es aber immer, wenn ihre Lieder in einem Finale furioso enden wie bei „Kill Me“.
Die Supergroup des amerikanischen Indie Rocks aus Justin Vernon (Bon Iver) und Aaron Dessner (The National) holen sich unter anderem Robin Pecknold, Sharon von Etten und Taylor Swift aufs Album. Das alles klingt zu gut, um wahr zu sein, ist aber hochwertig produziert und ein melancholischer Herbsttraum, der wahrgeworden ist.
Halsey gewinnt mit „If I can´t have love, I want power“ den Preis für den besten Albumtitel des Jahres. Selbstbestimmung und Feminismus werden auf dem Album genauso besprochen, wie Selbstzweifel und Selbstbewusstsein („Im not a woman, I´m a god“). Musikalisch vermischt sie düsteren Electropop mit Indie-Rock und Folk.
Die Britischen Postpunkkönige rehabilitieren sich nach Ultra Mono, mit einer neuen musikalischen Ausrichtung und zeigen beeindruckend, dass sie andere Spielarten als Dringlichkeit und Wut beherrschen. Düster und balladig bleibt ihnen aber zum Glück der so wichtige sozialpolitische Kommentar erhalten.
Ein Drittel der „Nerven“ hat ein (neues) Projekt und vermischt Post-Punk, Fatalismus mit einer Prise Jazz. Hinzu kommt eines der besten Albencover des Jahres.
Das belesenste Album des Jahres, verkörpert einen Gegenwartskommentar, einen philosophischen Roman und den Weg in die und aus der Dystopie. „Der Riss der Welt geht auch durch mich“, „Do you remember, when Paranoia invented the world wide wall?“, „The only cure from capitalism, Is morе, More more, More capitalism“.
Queerer Indie Pop fürs Auto. Entspannt, verliebt, jung, rockig und elektronisch zugleich lädt Girl in Red zum mitsingen („You stupid bitch“) und mitfühlen („hornylovesickmess“) ein.
Jazz und Pop vermischt und wunderbar um nebenbei zu Arbeiten. Fliegt und gleitet dahin wie ein Windhauch. Nicht zu verkopft und dennoch komplex. Ein Jazzerlebnis für Popliebhaber.
In Amerika werden sie alle schneller erwachse, als hier. Anders kann man sich dieses Heartbreakalbum von Snail Mail nicht erklären. Ausgefeilt arrangierter als auf dem Debut reiht sich Snail Mail in die Reihe von hochbegabten Singer-Songwriterinnen ein.
„MMMOOOAAAAAYAYA“. Auf den Bestenlisten der Amerikaner entdeckt und für fantastisch befunden. Eine Mischung aus College Rock, Lofi Produktion und Songwritermelancholie unterstützt von Big Thief Gitarrist Buck Meek. An Artist to watch!
Der Fürst von Metternich, Platos Höhlengleichnis und der Traum einer Ente kommen alle auf einer Platte vor. International Music zeigen deutlich, dass sie kein Geheimtipp mehr sind.
Liebe, Liebe, Liebe, ein bisschen Schlager und viel Popappeal werden auf diesem Album zusammen verwoben. Herzlich willkommen im „Club der Liebenden“.
Die lyrisch wohl kreativste Band Deutschland legt nach und schert sich um keine Konventionen. „Der Wille der Natur heißt Disko Disko“. Alles klar!
Ist das noch Popmusik oder schon Selbstzerfleischung? „There’s no glory in love, Only the gore of our hearts“! Umfassender und voller als zuvor arrangiert die größte Stimme des amerikanischen Indierocks dieses ruhigen und melancholischen Songwriteralbums.
Christopher Reichel, Köln
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 11. Januar 2022)