Auf Simches: Der Tod und das Leben
Sara Soussan zur Ausstellung „Im Angesicht des Todes“ in Frankfurt
„No one here gets out alive.“ (The Doors, aus: Five to One)
Jim Morrison (1943-1971) pflegte seine Neigung zum Morbiden, in Habitus, Kleidung, Melodien und Texten: „When the music’s over“. Das Ende des Lebens faszinierte ihn und seine Fans folgen ihm noch heute. Es ist daher gar nicht so weit hergeholt, dass sein erster Biograph, Jerry Hopkins (1935-2018), diese Verszeile aus „Five to One“ als Titel seiner 1980 erschienenen Biographie verwendete. Botschaft: Die unabwendbare Möglichkeit des Todes schreckt und fasziniert zugleich.
Sara Soussan, Kuratorin für jüdische Gegenwaltskulturen am Jüdischen Museum Frankfurt am Main, leitet das die von ihr kuratierte Ausstellung „Im Angesicht des Todes – Blicke auf das Lebensende“ begleitende Buch mit eben diesem scheinbar so absolut klingenden Vers ein und schließt die Frage an, warum wir so ungern über den Tod sprechen, ihn geradezu tabuisieren. Eine Formel zur Enttabuisierung des Todes findet sie bei Scholem Alejchem (1859-1916): „No matter how bad things get, you’ve got to go on living, even if it kills you.“ Der Tod ist nun einmal unausweichlich, aber er ist eben auch „nur“ das Ende des Lebens oder vielleicht auch nicht, sodass sich die Frage stellt: „Wo fordert uns der Tod im Leben heraus?“ Vielleicht ist seine „Omnipräsenz“ sogar ein Auftrag? Vielleicht ist das Leben der eigentliche Auftrag des Wissens um den Tod? „Auf Simches!“ So verabschieden sich Trauernde nach der Beerdigung und hoffen auf zukünftige freudige Feiern.
Die Ausstellung „Im Angesicht des Todes“ ist die erste kulturgeschichtliche Ausstellung zu jüdischen Debatten und jüdischer Praxis im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Der aufwendig und sehr ansprechend gestaltete Begleitband erschien im Jahr 2024 in Leipzig bei Hentrich & Hentrich (der Band ist auch in englischer Sprache erhältlich). Er wurde von Erik Riedel, Kurator für die Kunst des 20. Jahrhunderts, Sara Soussan und Mirjam Wenzel, Direktorin des Museums herausgegeben. Ausstellung und Buch rücken die gezeigten Kunstwerke, Medien und Objekte in einen anthropologischen und philosophischen Zusammenhang. In 17 Beiträgen präsentieren Expertinnen und Experten medizinische Forschungsergebnisse, diskutieren ethische Fragen, erörtern religionsvergleichende Perspektiven zu Islam und Christentum und zeichnen nach, welche Rolle der Tod in Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte spielt.
Mit ihrem multiperspektivischen Ansatz eröffnen Buch und Ausstellung einen neuen Zugang zur letzten Passage des Lebens, nicht nur für Jüdinnen und Juden, sondern auch für Angehörige anderer Religionen oder Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Im Einzelnen dokumentieren sie ein Interviewprojekt auf einem der jüdischen Friedhöfe in Frankfurt. Die Ausstellungsarchitektur wird über ein Interview mit YRD.Work im Katalog vorgestellt. Beeindruckend und ergreifend wirkt nicht zuletzt ein Bild, ein Bild vom Gelände des am 7. Oktober 2023 überfallenen Nova-Festivals, auf dem ein DJ vor den Bildern der Ermordeten auflegt: „Wir werden wieder tanzen“ – ganz im Sinne des Tattoos von Mia Schem, die der Geiselhaft der Hamas entkam. Schließlich gibt es den von Shelly Kupferberg moderierten Podcast „Auf Simches“ und eine App (Android beziehungsweise iphone), die man sich von der Seite des Jüdischen Museums herunterladen kann, sodass die Multimedialität nicht nur in der Ausstellung selbst, sondern auch darüber hinaus deutlich wird.
Gegenwarten und Vergangenheiten
Norbert Reichel: Sie arbeiten am Jüdischen Museum in Frankfurt am Main als „Kuratorin für jüdische Gegenwartskulturen“. Ich denke, dass der Plural doch recht wichtig sein dürfte.
Sara Soussan: Diese Bezeichnung hat natürlich die Intention zu zeigen, dass es nicht nur eine jüdische Kultur gibt, sondern verschiedene Ausrichtungen, je nach Glaubensrichtung, je nach Region. Osteuropäisch geprägte Traditionen sind anders gefärbt als irakische oder marokkanische. Der Plural „Gegenwartskulturen“ ist eine erste Anerkennung, dass das Judentum sehr divers zu sehen ist. Im Titel steckt natürlich auch die „Gegenwart“. Es geht um gegenwärtige Ausdrucksformen. Welche Themen beschäftigen Juden zurzeit? Überregional, aber auch auf unseren Standort, auf Frankfurt bezogen? Das Jüdische Museum in Frankfurt erzählt auch die Geschichte der Juden in Frankfurt, was für Jüdinnen und Juden in Frankfurt von Belang ist, wie sie sich positionieren, Dinge wahrnehmen. Dem Museum ist es immer wichtig, die jüdische Perspektive einzunehmen, nicht den Blick von außen vorzunehmen und in Ausstellungen und Programme zu transferieren. Es geht darum, die jüdischen Perspektiven einem breiten Publikum transparenter zu machen. Das sind die „jüdischen Gegenwartskulturen“. Ich mache das seit etwa sieben Jahren, seit dem Jahr 2018.
Auch in das große Projekt „Im Angesichts des Todes“ gehen Gegenwartsperspektiven ein, aber nicht nur. Unabhängig von der Ausstellung betrifft dies den Sammlungsbereich. Wir haben zeitgenössische Kunst, Kunst des 19. Jahrhunderts und Exilkunst. Ein Sammlungsbereich sind die „jüdischen Gegenwartskulturen“. Dieser Bereich befindet sich noch im Aufbau. Meine Aufgabe ist es, ihn mit entsprechenden Artefakten zu bestücken. Gegenwart ist nun sehr flüchtig, schnell wieder vorbei, es gibt Trends, die man ergreifen und begreifen möchte. Daher macht es Sinn, sich auch in die digitale Welt zu begeben. So sammele ich relativ viele sogenannte „Digital Born Objects“. Das kann ein Meme aus den Social Media sein, ein Facebook-Post, eine Webseite, Dinge, die nur digital existieren, keine Stofflichkeit haben. Dennoch bilden sie Gegenwart ab, vielleicht sogar mehr und auch schneller als dies 3-D-Objekte tun. Ich sammele Posts, die müssen inventarisiert, in die Datenbank des Museums integriert werden. Das erfordert noch einmal eine andere technische Betreuung, über die ich in ständigem Austausch mit meinen IT-Kollegen bin. Aber das ist noch ein sehr neuer Bereich.
Norbert Reichel: Ich möchte es einmal vorsichtig so formulieren: Ohne Vergangenheiten keine Gegenwarten. Beides im Plural. Ich denke an über 3.000 Jahre Judentum, verbunden mit vielen verschiedenen Entwicklungen, mit Kontroversen innerhalb des Judentums über die Auslegung der Torah oder die zukünftige politische Ausrichtung bis hin zu Gründung und Wirklichkeit des Staates Israel, immer wieder heimgesucht durch Katastrophen, Verfolgung, Vertreibung, Pogrome, die Shoah, der 7. Oktober.
Sara Soussan: Ich möchte dies am Beispiel unserer Ausstellung illustrieren. Gegenwart baut auf Historie, auf geschichtlichen Ereignissen auf, wird dadurch gefärbt, manchmal kreiert. Man kann das nicht losgelöst voneinander betrachten. Daher gibt es in der Ausstellung diesen Interviewfilm. Die Interviews zeigen, dass die Vergangenheit, dieser alte jüdische Friedhof in Frankfurt, im Bewusstsein der ganzen jüdischen Welt präsent ist und weiterhin gestaltet und geprägt wird. Das Erscheinungsbild des Friedhofs ist ja nicht nur architektonisch oder gärtnerisch geprägt, sondern auch durch die Menschen, die sich dort treffen. Hier begegnen sich Vergangenheit und Gegenwart.
Norbert Reichel: Im Begleitband stellt Michael Lenarz, der etwa zehn Jahre lang stellvertretender Direktor des Museums war, alle 13 jüdischen Friedhöfe vor. Das Interviewprojekt fand auf dem Friedhof an der Battonnstraße statt.
Sara Soussan: Der Friedhof Battonnstraße liegt in Frankfurt mitten in der Stadt, direkt neben dem Gelände, auf dem im 15. Jahrhundert die Frankfurter Judengasse errichtet wurde, ein Zwangswohnbezirk für Jüdinnen und Juden, übrigens das älteste Ghetto Europas, älter als das venezianische Ghetto, auch wenn die Venezianer das gerne anders erzählen. Der Frankfurter Zwangswohnbezirk wurde 1462 eingerichtet, das venezianische Ghetto im Jahr 1512. Die ehemalige Frankfurter Judengasse zieht sich durch die gesamte Innenstadt. Die Fundamente sind noch vorhanden. Dies zeigte sich, als man in den 1980er Jahren ein Bürogebäude errichten wollte und auf Fundamente der Judengasse stieß. Es entbrannte eine große Diskussion. Im Ergebnis wollte man dann einige der Fundamente rekonstruieren und der Öffentlichkeit in einem kleinen Museum zugänglich machen, im Museum Judengasse. Der Friedhof Battonnstraße liegt direkt daneben, er ist jedoch älter als die Judengasse.
Die ältesten Gräber wurden im 13. Jahrhundert angelegt, etwa um 1260. Es ist noch dasselbe Areal, es steht aber eben noch nur ein kleiner Teil der Gräber. Es gibt nur noch einige Grabsteine, große leere Flächen, die aber alle Gräber waren. Unter den Nazis wurde der Friedhof zerschlagen, als Schuttabladeplatz verwendet. Nach dem Krieg gab es dann Versuche, den Friedhof, Grabsteine wieder zu rekonstruieren, Teile zusammenzusetzen. Der Friedhof war jedoch extrem zerstört, viele Grabsteine waren nicht mehr vorhanden. Es gibt immer wieder verschiedene Bestrebungen, nach und nach etwas über die dort begrabenen Menschen herauszufinden. Durch den Bruch der Shoah findet auf dem Friedhof natürlich kein familiäres Gedenken mehr statt. Es gibt kaum Nachfahren, die die Gräber besuchen könnten. Dieser Ort ist im wahrsten Sinne des Wortes ein ganz ganz toter Ort.
Dadurch, dass dorthin Menschen kommen, Gebete sprechen, den Ort auch mit ihren Emotionen füllen, belebt sich der Friedhof wieder in der Gegenwart.
Norbert Reichel: Diese Menschen kommen von sehr weit her, bringen Leben an den eigentlich toten Ort.
Sara Soussan: Ja, sie kommen aus New York, aus Israel, aus Australien. Wir wussten bei dem Interviewprojekt natürlich nicht, wer kommt. Es waren daher Stand-Up-Fragen. Wir waren da und haben gewartet. Manchmal warteten wir acht Stunden und es kam nur eine einzige Person, am nächsten Tag hatten wir nach drei Stunden bereits zehn Interviews.
Norbert Reichel: Die Interviews sind auch nach Ende der Ausstellung hörbar?
Sara Soussan: Mit Sicherheit. Wir wissen noch nicht wie, aber es gibt ja die Website, auf der wir die Interviews platzieren können. Den Interviewfilm können wir auf youtube hochladen. Er soll auf jeden Fall erhalten bleiben. Wir sind mit dem Projekt auch noch nicht fertig. Es ist ein Forschungsprojekt, nicht nur eine Projektion für die Ausstellung. Wir haben etwa 40 Interviews geführt. In dem Film kommen nicht alle zur Sprache, aber das Material ist vorhanden. Es wird in unsere Online-Sammlung eingehen, sodass Forschende es nutzen können.
Norbert Reichel: Zum Beispiel Studierende für ihre Bachelor- und Masterarbeiten.
Sara Soussan: Da ist einiges zu entdecken!
Vom Sterbeprozess in die kommende Welt
Norbert Reichel: In der Ausstellung können wir im Detail die gesamte Zeitleiste – so möchte ich das einmal nennen – rund um Tod und Beerdigung verfolgen. Sie dokumentieren bildhafte Darstellungen des Todesengels, die Debatte um den Todeszeitpunkt und die Frage, was nach dem Tod geschieht, die Rolle der Beerdigungsgesellschaften, die Gebete, die gesprochen werden und widmen sich nicht zuletzt der Frage, was uns Menschen nach dem Tod in einem wie auch immer gearteten Jenseits erwartet. Interessant fand ich den ausdrücklichen Hinweis, dass im Kaddish, dem vielleicht bekanntesten mit dem Tod verbundenen Gebet, der Tod gar nicht genannt wird.

Else Meidner, Frauenakt mit Todesengel, um 1949, Aquarell und Kohle, 57×65, Jüdisches Museum Frankfurt am Main.
Sara Soussan: Ich beginne mit dem Todesengel. Wir haben uns Gedanken gemacht, was das Erste sein sollte, das unsere Besucherinnen und Besucher sehen. Wir fanden eine gewisse Visualisierung interessant, unter der ganz einfachen Fragestellung, wie der Tod aussieht. Welche Personifizierungen gibt es? Aus der europäischen christlich geprägten Kunst kennen wir die Darstellungen eines Gerippes, den Sensenmann. In den jüdischen Darstellungen tut sich insbesondere die Haggadah hervor, die zu Pessach am Seder-Abend gesungen, durchgebetet wird, ein Sammlungsbuch mit Geschichten und Liedern, die irgendwie um den Auszug aus Ägypten kreisen. Dort gibt es zwei Stellen, an denen der Tod personifiziert auftritt. In der zehnten Plage werden die Erstgeborenen der Ägypter erschlagen. Dies geschieht nach Legenden durch den Todesengel. Es gibt darüber hinaus ein Kettenlied. Es beginnt mit einem Zicklein, das von einer Katze gefressen wird, die dann von einem Hund gefressen wird und so geht es weiter bis hin zum Todesengel, der den Schächter tötet, und dann G‘‘tt selbst, der den Todesengel tötet.
Wir haben viele Haggadot durchforstet, aus unserem eigenen privaten Gebrauch, aus Museen, Bibliotheken und natürlich online und haben diese zusammengetragen, ganz einfache ebenso wie Faksimiles von mittelalterlichen Haggadot-Buchillustrationen. Das Bild des Todesengels ist sehr vielfältig. Immer wieder erscheinen auch das Skelett oder Anmutungen eines Sensenmannes. Jüdische Illustrationen unterscheiden sich im europäischen Raum nicht immer unbedingt von denen der christlichen Mehrheitskultur. Diese Bilder waren eben präsent. Ein oft wiederkehrendes Motiv ist der Todesengel mit einem Schwert in der Hand. Von dem Schwert hängt ein Tropfen herab. Dies basiert auf einer talmudischen Erzählung: Der Todesengel lässt diesen Tropfen dem Sterbenden in den Mund fallen, in diesem Augenblick stirbt er. Es gibt auch Darstellungen eines Todesengels, der über den gesamten Körper mit Augen besetzt ist.
Engel sind ohnehin ein vielfältiges Thema. Man hat sehr schnell den verklärten Blick auf kleine speckige Babys oder ätherische Wesen. Da ist das Judentum viel deutlicher und pragmatischer. Der Todesengel ist ein Bote, auch im Sinne der griechischen Urbedeutung des Wortes „angelos“. Mit den Engeln gibt es um G‘‘tt herum eine Art Staff, der bestimmte Aufträge, verschiedene Funktionen ausführt und eben auch ausgeschickt wird, um zu töten.
Norbert Reichel: Ich denke gerade an den Kampf Jakobs am Jabbok mit dem Engel. Aber wir beginnen jetzt keine theologische Debatte um die Bedeutung dieser Stelle.

Jacqueline Nicholls, Rebbe’s Maid, 2012, Bestickter Seidenorganza, 45x30cm, Sammlung der Künstlerin.
Sara Soussan: Das machen wir ein anderes Mal. Sie haben den Todeszeitpunkt angesprochen. Dies klang in der Erzählung des Engels mit dem Schwert und dem Tropfen bereits an. Es gibt im jüdischen Denken eine Debatte um den Todeszeitpunkt, der ja irgendwie auch festgelegt werden muss. Und es gibt einen Sterbeprozess, in dem offensichtlich ist, dass ein Mensch bald sterben wird. Jüdische Quellen sagen sehr viel zum Sterbeprozess, der ermöglicht werden soll. Im Talmud gibt es folgende Geschichte: Rabbi Jehuda ha-Nasi, der Endredakteur der Mischna, etwa im zweiten Jahrhundert, liegt im Sterben. Um ihn herum sitzt seine gesamte Gefolgschaft und betet für ihn Psalmen, wünscht sich, er möge wieder gesund werden. Dies zieht sich über Tage. Er leidet zunehmend, es geht ihm immer schlechter, aber er stirbt nicht. Die Magd, die sich im Raum befindet, beschließt zu handeln. Sie wirft ein großes Tongefäß auf den Boden. Es gibt einen großen Knall. Alle erschrecken sich und sind kurze Zeit still. In diesem Bruchteil der Sekunde kann die Seele des Rabbis entweichen. Er kann endlich sterben. Weiter wird ausgeführt, dass das Sterben an sich auch möglich gemacht werden muss. Dieses Denken findet man auch an anderen Stellen im Talmud. Wenn jemand stirbt und draußen hämmert jemand, muss man dem Einhalt gebieten, damit es den Sterbeprozess nicht stört.
Norbert Reichel: Zu dieser Geschichte und dem Bild von Jacqueline Nicholls lesen wir im Katalog das Statement von Sevim, einer Köchin: „Ich habe das Bild ausgesucht, weil es so zart ist. Und weil mir die Geschichte hinter dem Bild gefällt – die Magd, die für die Erlösung ihres Rebbe betet, als sie sieht, wie sehr er leidet. Und die schließlich den Krug fallen lässt, und in dem darauffolgenden Durcheinander kann seine Seele aufsteigen in die andere Welt. Leider muss man die Geschichte kennen, um das Bild wirklich zu verstehen.“
Sara Soussan: Heute wird diese Erzählung in halachischen Diskussionen bei modernen medizin-ethischen Fragestellungen herangezogen, beispielsweise zur Frage des Hirntodes. Es gibt die traditionelle im Talmud beschriebene Festlegung, dass ein Mensch tot ist, wenn er keinen Herzschlag und keine Atemtätigkeit mehr hat. Manche Hirntote atmen noch, das Herz schlägt noch. Es war sehr schwer, eine Entscheidung zu finden, wie man diesen Hirntod eigentlich bezeichnen soll. Es war auch ein langer Weg des Austauschs unter halachischen Autoritäten. In früheren Zeiten wurde der Hirntod mehrheitlich nicht akzeptiert. Das hatte zur Folge, dass gewisse Organspenden nicht vorgenommen werden konnten. Es gibt natürlich Lebendspenden wie zum Beispiel Nierenspenden, das ist für die Halacha kein Problem, denn Lebensrettung steht über allem, sogar über der körperlichen Unversehrtheit. Aber was ist mit Totenspenden? Zum Beispiel bei einer Herztransplantation. Dafür braucht man einen Menschen, der gerade gestorben ist. Wenn der hirntote Mensch jedoch noch lebt, kann man das Herz nicht entnehmen, denn dann würde man ihn ja töten. Es wurde lange diskutiert. Vor etwa 25 oder 30 Jahren hat man sich geeinigt, nicht alle, aber es gab eine Mehrheit, auch unter strengen orthodoxen Autoritäten, dass einem Hirntoten unter Umständen Organe entnommen werden dürfen. Dies ist alles in einen ethischen Findungsprozess eingebettet, der von halachischen Autoritäten begleitet wird, damit auch sicher ist, dass ein Hirntod vorliegt.
Aber wie gesagt: Jüdisches Religionsgesetz und halachische Entscheidungen funktionieren nicht über „ich finde“, „mein Bauchgefühl sagt mir“, es geht immer darum, eine Verschriftlichung zu finden, auf der man die Entscheidung begründen kann. Das hat für das Thema „Hirntod“ eben lange gedauert.

Rückseite eines Organspendeausweises der US-amerikanischen jüdischen Organisation Ematai, auch bekannt als Halachic Organ Donor Society HODS, Kunststoff, 6,5×9,5 cm, Jüdisches Museum Frankfurt am Main.
Norbert Reichel: So sollte es auch bei weltlichen Juristen sein. Man muss sich schon damit beschäftigen, wie Gesetze entstanden sind. Und es gibt ethische Grundlagen wie die berühmte Radbruch’sche Formel. Unrecht kann noch so sehr in Recht gegossen werden, es bleibt Unrecht und kann und muss daher verfolgt werden.
Sara Soussan: So wird es in der deutschen Gerichtsbarkeit ja heute auch angewandt. Manchmal mag man sich wundern, aber das ist nicht die Regel. Wir sind nicht in einer Diktatur, da sind wir noch nicht.
Norbert Reichel: Und da kommen wir hoffentlich auch nicht hin.
Sara Soussan: Hoffentlich. Ich bin immer skeptischer und pessimistischer.
Norbert Reichel: Vielleicht darf ich in diesem Punkt auf mein kürzliches viertes Gespräch mit Marina Weisband verweisen. Sie sagt einiges zu diesem Thema: Es gebe nicht nur ein Morgen, sondern immer auch ein Übermorgen. Aber vielleicht passt gerade hier an dieser Stelle, dass wir über Gebete sprechen.
Sara Soussan: Es gibt Gebete für den Sterbenden, die während des Sterbeprozesses gesprochen werden sollen, die auch – wenn möglich – der Sterbende sprechen soll. Wenn es nicht möglich ist, sprechen die Sterbebegleiter. Das können Rabbiner sein, aber auch Familienangehörige. Es sind Formen eines Sündenbekenntnisses, die Anerkennung von Dingen, die man falsch gemacht hat, sowie bestimmte Bekenntnisse wie beispielsweise das Schma Jisrael, dass G‘‘tt der einzige G‘‘tt ist.

Traditionelle jüdische Begräbniskleidung (Tachrichim), 2024, Leinengewebe, Jüdisches Museum Frankfurt.
Die Beerdigungsgesellschaft, die Chewra Kadischa, begleitet manchmal bereits den Sterbeprozess. Sie kümmert sich spätestens, wenn ein Mensch gestorben ist. Es handelt sich um Vereine, Gruppierungen, die es in jeder jüdischen Gemeinde gibt, die sich darauf konzentrieren, die Beerdigung so durchzuführen, wie es sein sollte. Dazu gehört die Totenwäsche. Das ist keine hygienische Reinigung, sondern eine rituelle Reinigung. Der Leichnam wird mit Wasser übergossen und in die traditionellen Totenkleider gehüllt. Diese sind sehr schlicht gehalten, aus einem schlichten Baumwollleinen, in weiß. Es gibt kaum Nähte, nur an den Stellen, an denen die Kleidung zusammengehalten werden muss. Gleich für Frauen und für Männer. Die Idee dahinter ist, dass man nichts Materielles mitnehmen kann, sondern in eine rein geistige Welt hinübertritt, jenseits der physischen Welt. Alle sind gleich. Reichtum spielt keine Rolle mehr. Niemand kann sich mit besonders verzierten Totengewändern hervortun. Der Sarg ist ein einfacher gezimmerter Holzsarg, eine Holzkiste. Ohne Dekor, ohne Polsterungen, ohne Beschläge. Die Chewra Kadischa bereitet den Leichnam für die Beerdigung vor.
Die Beerdigung findet in einer Zeremonie statt. Der Sarg wird in der Friedhofshalle aufgebahrt, aber geschlossen mit einer Decke darüber. Es werden Trauerreden gehalten, manchmal auch von den Angehörigen selbst. Die anwesenden Menschen werden auch oft gefragt, ob sie noch etwas sagen möchten. Dies dient dazu, den verstorbenen Menschen zu würdigen. Dann wird der Sarg bestattet. Am Grab selbst machen die nahen Angehörigen einen Riss in ihre Kleider, oben am Revers, symbolhaft auch für die innere Zerrissenheit, die man in dem Augenblick auch fühlt. Beerdigungen sollen sehr schnell stattfinden, möglichst noch am selben Tag. Das ist hier in der Regel nicht der Fall, aber man versucht es schon schnell, vielleicht wenige Tage später. Die Trauernden sind noch in einer Schockstarre und der Riss fügt sich in dieses Gesamtbild ein.
Von den Hinterbliebenden wird zum ersten Mal am Grab das Kaddish gesprochen, das – wie Sie schon zu Beginn sagten – den Tod nicht erwähnt. Man lobpreist G‘‘tt. Es gibt verschiedene Formen des Kaddish, je nach Anlass. Es müssen auch immer mindestens zehn Mitbetende gemeinsam beten, der Minjan. Man spricht das Kaddish nie alleine. Es wird auch in Synagogen gesprochen, nicht nur für Trauernde, auch in bestimmten Gebetsteilen. Das Kaddish selbst ist aus der Antike überliefert und hat sich seit dieser Zeit nicht verändert. Auch der Brauch des Einreißens ist ein antiker Brauch, den wir im Tanach an mehreren Stellen finden. Ebenso der Brauch, sich Asche aufs Haupt zu streuen oder sich auf den Boden zu setzen. Einige dieser Bräuche haben sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt, wurden verändert, angepasst, haben sich aber teilweise bis heute gehalten.
Man setzt sich heute nicht mehr auf den Boden, aber unmittelbar an die Beerdigung schließt sich die Shivah an. Shivah ist ein hebräisches Wort und bedeutet „sieben“. Gemeint sind die sieben Trauertage, die nahe Angehörige durchlaufen und in denen sie zu Hause sind, niedriger sitzen – das ist die Anbindung an die Antike –, von Freunden, Verwandten, Gemeindemitgliedern versorgt werden, die jeden Tag kommen und im Trauerhaus einen kleinen G‘‘ttesdienst halten, in dem das Kaddish noch einmal gesagt werden kann. Nach den sieben Tagen schließen sich die Shloshim an. Shloshim ist das hebräische Wort für „dreißig“. In diesen dreißig Tagen wird noch einmal abgemildert getrauert. Man kann schon arbeiten, aber man macht zum Beispiel keine Partys. Manchmal wird schon nach dreißig Tagen der Grabstein gesetzt, je nach Tradition und Brauch, manchmal auch erst nach einem Jahr. Das ist eine kleine Zeremonie am Grab, die man halten kann, aber nicht halten muss. Das Kaddish wird im Trauerjahr durchgehend gebetet.
Jedes Jahr nach dem Trauerjahr, zum Todestag, findet ein Gedenken statt. Man kommt gemeinschaftlich in einem G‘‘ttesdienst zusammen, sagt dort das Kaddish. Man sagt zu den jüdischen Feiertagen ebenso gemeinschaftlich in der Synagoge ein Jiskor. Jiskor heißt „Erinnere dich“. Es ist ein Gedenkgebet, in dem auch der Name der verstorbenen Person genannt wird. Im Gebetbuch sind daher im Text an der entsprechenden Stelle drei Auslassungspünktchen notiert. Es ist ein sehr persönlich definiertes Gedenken. Dieses wiederholt sich im Jahresrhythmus. Man zündet auch im Gedenken Kerzen an, die durch das aufsteigende Licht die aufsteigende Seele der verstorbenen Person symbolisieren sollen.
Die aufsteigende Seele – das ist der nächste Punkt, die kommende Welt, hebräisch Olam ha-Ba. Alle Autoritäten sind sich einig, dass es eine kommende Welt gibt. Aber niemand ist sich einig, wie diese Welt aussieht. Von der Antike bis heute gibt es verschiedene Quellen, verschiedene Worte, die dafür verwendet werden. Es gibt das Sheol aus der hebräischen Welt, eine Art Unterwelt, die auch etwas unangenehm geschildert, aber nicht so genau definiert wird. Wir haben auch das Wort der Gehennah, das schon einen Anklang von Hölle hat. Allerdings kennt das Judentum das Konzept der ewigen Verdammnis nicht. Selbst wenn man annehmen möchte, dass es Höllenmomente gibt, dann sind sie temporär, Orte des Läuterns, der Besinnung oder des Sich-Auseinandersetzens, bevor man dann in die Welt der Seelen aufsteigt, die Olam ha-Neshamot, eine Welt, die wirklich g‘‘ttlich ist.

Rosy Lilienfeld, Flug gen Himmel nach dem Tode, aus: Bilder zu der Legende des Baalschem (Kreis 2), 1930, Kohle auf Papier, 31×22,5 cm, Jüdisches Museum Frankfurt am Main.
Die Seele kehrt zu G‘‘tt zurück. So wie G‘‘tt dem aus Erde geschaffenen Menschen die Seele einhaucht, kehrt sie zu G‘‘tt zurück. In der messianischen Zeit sollen diese beiden Bestandteile eines Menschen wieder vereinigt werden. Daher gibt es im Judentum auch keine Feuerbestattung. Es wird auf der Erdbestattung bestanden, unter allen Umständen. Das Körperliche, Organische kehrt zurück in die Erde, verbindet sich dort mit ihr, während die Seele zu G‘‘tt zurückkehrt. Wenn der Messias kommt – es gibt verschiedene Schilderungen in verschiedenen Schriften –, gibt es eine ideale Welt. Es ist eine irdische Welt, nicht irgendwo in den Wolken, die aber friedlich sein wird. In dieser Welt – so die Schilderungen – werden die Toten wieder auferstehen, auf der Erde. Das ist die messianische Hoffnung – in der jüdischen Vorstellung ist der Messias noch nicht gekommen.
Das sind natürlich alles menschliche Vorstellungen, die in den diversen Schriften geschildert werden. Es gibt überhaupt keine Hinweise, die aus der G‘‘ttessprache kämen. Es gibt in der Torah nur einen einzigen Hinweis, in dem bei einer Person gesagt wird, dass G‘‘tt sie mitnimmt. Daraus folgern viele, dass es tatsächlich eine g‘‘ttliche Welt gibt. Das ist alles unklar, aber das ist auch – so muss ich sagen – erfrischend, dass es nicht als so nötig empfunden wird zu definieren, was nach dem Tod kommt. Es wird auf jeden Fall etwas Positives damit verbunden, für alle Menschen, auch für Nicht-Juden. Das unterscheidet das Judentum von anderen Religionen, in denen man Teil der jeweiligen Religionsgemeinschaft sein muss, um in die g’‘ttliche Nachwelt einzugehen. Im Islam muss man das Glaubensbekenntnis gesprochen haben, im Christentum muss man getauft sein. Alle anderen verfallen der ewigen Verdammnis in der Hölle. Dieses Konzept kennt das Judentum nicht. Die g‘‘ttliche Nachwelt ist auch für alle Nicht-Juden gedacht, die sich einigermaßen ethisch verhalten haben.
Das Erfrischende daran ist, dass man sich doch mehr auf das fokussiert, was im Leben jetzt und hier geschieht. Die Trauerrituale geschehen natürlich im Gedenken an den Verstorbenen, sie zielen auch darauf ab, die Seele zu erhöhen, aber eigentlich zielen sie alle auf den Trauerprozess ab. Es geht im Grunde um auch zeitgenössische Konzepte der Trauerbewältigung, die einen therapeutischen Effekt haben können.
Norbert Reichel. Mir scheint das Entscheidende, dass man das Leben ehrt…
Sara Soussan: …und Leben und Zukunft aktiv mitgestaltet. Das ist der eigentliche Anspruch, nicht, sich in dem zu verlieren, das kommen wird, denn das können wir im Leben ohnehin nicht klären.
Die Pflicht, Leben zu retten
Norbert Reichel: Ein wichtiger Satz lautet: „Stehe nicht still beim Blut deines Nächsten“. Eine grundlegende Mizwa, ein Gebot. Das betrifft gerade auch so schwierige ethische Fragen wie Sterbehilfe, Triage oder auch Suizid und Tyrannenmord.
Sara Soussan: Der Satz ist ein Zitat aus der Torah. Man ist verpflichtet, Leben zu retten. Wenn ein Mitmensch in Not, in Lebensgefahr ist, bin ich verpflichtet, alles zu tun, um ihn zu retten. Unter allen Umständen. Das hat eine große Bewandtnis auch bei medizinischen Fragestellungen wie den Organspenden. Im Grunde muss man ein Organ spenden, zum Beispiel eine Niere oder Knochenmark.
Ein weiteres Thema ist der assistierte Suizid, die Sterbehilfe, die zurzeit aufgrund eines Urteils des Verfassungsgerichts in Deutschland intensiv diskutiert wird. Das Verfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, eine Basis zu geben. Zwei Anläufe im Bundestag sind gescheitert. Im europäischen Ausland sehen wir, dass es auch anders als bei uns gehandhabt werden kann, zum Beispiel in der Schweiz. Es ist natürlich auch ein Thema, zu dem das Judentum etwas zu sagen hat. Grundsätzlich gilt, dass der Suizid der Halacha komplett widerspricht. Man wird niemanden finden, der eine Erlaubnis des Suizids aus dem Schrifttum begründen wird. Das hatte bis vor etwa 40, 50 Jahren die Konsequenz, dass jüdische Selbstmörder nur am Rande des Friedhofs beerdigt, bestimmte Trauergebete für sie nicht gesprochen wurden. Dramatischh!
Heute ist man dazu übergegangen, den ethischen Grundsatz heranzuziehen, dass man bei allen Entscheidungen in dem Zustand sein soll, diese Entscheidung auch treffen zu können, dass es aber durchaus Situationen geben kann, in denen Menschen nicht in der Lage sind, darüber zu entscheiden, ob sie ihr Leben beenden wollen oder nicht, weil sie schwerst depressiv sind. Ich denke, dass heutzutage kein Arzt einem schwerstdepressiven Patienten den Suizid ermöglichen wird. Schon gar nicht einem Neunzehnjährigen, der sagt, er wolle nicht mehr leben, weil ihn seine Freundin verlassen habe. Hier sind sich alle einig. Wenn es dann in einem solchen Fall zu einem Suizid kommt, kann man davon ausgehen, dass dieser Mensch nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Das heißt, dieser Mensch war krank. Diese Krankheit führte dazu, dass dieser Mensch sich das Leben nahm. Deshalb werden jüdische Selbstmörder heute ganz regulär bestattet, mit allen Gebeten, allen Ritualen.
Schwieriger ist es für den Sterbehelfer. Denn jemandem das Leben zu nehmen ist nach jüdischer Definition ein Mord. Das ist einfach verboten. Wir kommen jetzt in hochdramatische Fälle von schwerkranken Patienten, die sehr leiden und für die es keine Aussicht auf Heilung gibt. Da ist das Modell der Schweiz von Interesse. Was tue ich, wenn jemand sagt, er möchte diese schwerkranke Phase durch einen assistierten Suizid beenden? Zunächst muss man nach jüdischer Vorstellung alles tun, das palliativ möglich ist, um Schmerzen zu lindern und Menschen einen schmerzfreien Tod zu ermöglichen. Das geht bis hin zu hohen Morphin-Gaben. Man kann so hoch in den Dosen gehen, dass manche Sterbende nicht mehr bei Bewusstsein sind. Das ist jüdischerseits erlaubt, sogar geboten. Man muss den Schmerz nehmen, palliativ alles tun, was möglich ist, selbst, wenn es bedeutet, dass es das Leben verkürzt. Man kann das Sterben mit hoher Dosierung sogar so weit erleichtern, dass das Herz möglicherweise etwas früher stehenbleibt.

Rosy Lilienfeld, An dem Totenbette ihres Mannes schreit eine Frau auf und der Ruf entfliegt ihrem Munde, aus: Bilder zu der Legende des Baalschem (Kreis 1), 1929, Kohle auf Papier, 31×22,5 cm, Jüdisches Museum Frankfurt am Main.
Norbert Reichel: Analog zur Erzählung vom zerbrochenen Tonkrug?
Sara Soussan: Ja, das ist analog zum zerbrochenen Tonkrug zu sehen. Man darf das Risiko eingehen, dass ein Mensch etwas früher stirbt, wenn er dafür schmerzfrei bleibt. Die Schmerzfreiheit ist das Gebot, das auch von strengster jüdischer Seite gesucht wird. Jetzt sind wir gar nicht mehr so weit vom assistierten Suizid entfernt. Der nach wie vor für jüdische Halachisten schwierig ist, ist der, einem Menschen eine Tablette oder eine Infusion zu geben, der sagt, er wolle nicht mehr leben. Da sind wir noch auseinander. Das ist ein meines Erachtens nur noch kleiner Konflikt, ein Graubereich. Klar ist: Die Ausschaltung des Leidens ist eine Erleichterung des Sterbeprozesses und daher geboten.
Wie ist es mit stark dementen Menschen, über 80 oder 85 Jahre alt, die von Familienmitgliedern angesprochen werden, sie möchten sich überlegen, ob sie wirklich dahinsiechen oder vielleicht doch ihrem Leben ein Ende setzen wollen? Es wird Druck ausgeübt. Oder alte Leute sagen von selbst, sie wollten ihren Kindern nicht zur Last fallen, auch nicht in ein Pflegeheim. Diese Dinge sind aus ethischer Sicht noch nicht ausdiskutiert. Hier stellt sich die Frage, wie dafür gesorgt werden kann, dass Pflegeheime schöne Orte sind, dass alte Menschen sich nicht unter Druck gesetzt fühlen müssen, dass es eine Infrastruktur für sie in der Gesellschaft gibt, ein Freundeskreis da sein kann, sodass keine Vereinsamung erfolgt. Das sind für mich eher die Punkte, auf die man sich konzentrieren soll. Man muss das Lebensfeld so gestalten, dass es lebenswert für alle ist.
Norbert Reichel: Damit sind wir wieder bei dem entscheidenden Punkt aller Debatte im Angesicht des Todes: Das Leben steht im Mittelpunkt all unseres Strebens und Bemühens. Eigentlich stünde jetzt eine große Debatte zum Thema Pflege an.
Sara Soussan: Das müsste man eigentlich jetzt tun.
Norbert Reichel: Ein Thema, das die bisherigen Regierungen nicht so hinbekommen haben, um es mal vorsichtig zu formulieren.
Sara Soussan: Absolut. Das hat auch mit einer ethischen Wertsetzung zu tun. Aber anscheinend wird dies in der Gesellschaft nicht so empfunden, dass alte Leute, Menschen in schwierigen Situationen, auch vermeintlich schwierigen Situationen, in denen sie „Arbeit machen“ nicht auf den vorderen Plätzen der Prioritätenlisten stehen.
Norbert Reichel: Es ist vielleicht bezeichnend, dass bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer nur über die Betreuung von Kindern geredet wird, nicht aber über die Betreuung alter Menschen in der Familie.
Sara Soussan: Großeltern, Urgroßeltern werden nicht so gut beachtet, versorgt. Das führt natürlich zu Lösungssehnsüchten, auch politisch und gesellschaftlich.
Norbert Reichel: Wir diskutieren vehement über Sterbehilfe, aber wie wäre es, vehement über Lebenshilfe zu sprechen, für alle Menschen, alt und jung, egal welcher Herkunft, in welchen Lebenslagen?

Felix Nussbaum, Triumpf des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz), 1944, Öl auf Leinwand, 100×150 cm, Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück, Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung.
Aber kehren wir zurück zu dem zentralen Satz: „Stehe nicht still beim Blut deines Nächsten“. Tötung, Mord sind Thema in diesem Kontext, auch die Frage des Tyrannenmordes. Ich denke an die Erzählung von Judith und Holofernes. Wir haben im Tanach, den die Christen das „Alte Testament“ nennen, viele blutige Geschichten und auch in dem christlichen „Neuen Testament“ werden nicht nur friedliche Lösungen von Konflikten propagiert. Im Koran geht es oft auch recht blutig zu bis hin zu Mordaufrufen, die heutige Anhänger eines fundamentalistischen Islams wörtlich nehmen.
Sara Soussan: „Stehe nicht still beim Blut deines Nächsten“ ist die Basis der Pflicht zur Lebensrettung anderer Menschen und auch des eigenen Lebens. Um dieses Gebot zu erfüllen, darf man alle anderen Gebote übertreten, zum Beispiel das Ruhegebot am Shabbat. Zum Beispiel schneidet sich jemand am Shabbat zu Hause in die Hand, es blutet sehr stark und hört nicht auf. Stirbt man daran? Wahrscheinlich nicht. Kann man also warten, bis Shabbat zu Ende ist und dann zum Arzt gehen? Aber bin ich Arzt, der beurteilen kann, wie schlimm eine Verletzung ist? Nein. Vielleicht ist die verletzte Person Bluter, vielleicht entzündet sich die Verletzung in einer Stunde, es droht eine Sepsis? Also habe ich die Verpflichtung, die verletzte Person so schnell wie möglich ins Auto zu packen und ins Krankenhaus zu fahren. Die Verpflichtung, Leben zu retten, ist so stark, dass man Gebote übertreten muss.
Anderer Fall: Die klassische Frage bei früheren Prüfungen der Kriegsdienstverweigerung: Jemand bedroht mich mit einer Pistole. Die Lebensrettung gilt auch für mich. Ich muss mein Leben retten. Oder denken wir an die Konzentrationslager. Die Menschen mussten ihr Leben erhalten, daher auch etwas essen, das nicht koscher war. Die Speisegesetze, die Kashrut, gelten nicht, wenn mein Leben gefährdet ist.
Eine Ausnahme ist Mord. Ich darf niemanden ermorden, um mein Leben zu retten. Eine weitere Ausnahme ist Inzest, die dritte ist Götzendienst. Wenn ich gezwungen werde, eine Statue anzubeten, muss ich dies verweigern und mich eher töten lassen. Hier gibt es ein jüdisches Bild von Märtyrertum. Es geht darum, dass man eher stirbt als dass man diese drei Grundsätze verletzt.
Norbert Reichel: Es gab immer wieder den Zwang zur Konversion in der jüdischen Geschichte.
Sara Soussan: Darüber gab es große Diskussionen. Es gab immer wieder jüdische Gruppen, die Massenselbstmord begangen haben, damit sie sich nicht taufen lassen mussten. Oder Masada!
Aber das Töten an sich ist nicht verboten. In den zehn Geboten steht nicht: „Du sollst nicht töten“. Da steht: „Du sollst nicht morden.“ Selbstverteidigung, Kriege, Tiere schlachten – das ist alles Töten. Es ist aber auch der ethische Versuch, die grausame Komponente des Tötens herauszulassen. Verboten ist das Töten um des Tötens willen, denn das wäre Mord.
Norbert Reichel: Und der Tyrannenmord?
Sara Soussan: Na ja. Auch hier ist die Frage, ob es eigentlich eine Rettung ist. Man kann man das so sehen, dass man durch die Tötung des Tyrannen das Leben einer große Gemeinschaft vor dem Verderben rettet. Also ja. Hätte man Hitler töten dürfen? Natürlich gibt es da Diskussionen, aber die Basis ist eigentlich klar.
Der Tod in Kunst und Literatur

Laura J. Padgett, Solemnity: We who are always lighted from above, 2024, Fotografie, 64,5×96 cm, Jüdisches Museum Frankfurt am Main.
Norbert Reichel: Wir haben ausführlich über die ethischen Grundlagen der Ausstellung gesprochen, mitunter auch künstlerische Darstellungen einfließen lassen, beispielsweise bei der Darstellung des Todesengels. Mehrere Beiträge im Begleitband der Ausstellung kommentieren die literarischen und künstlerischen Aspekte. Zur Literatur möchte ich die Beiträge von Alfred Bodenheimer, der jüdische literarische Texte nach 1900 vorstellte, und Shelly Kupferberg erwähnen, die über das familiäre Gedenken angesichts ihres Buches „Isidor“ geschrieben hat. Unter den Künstlern möchte ich auch neuere Künstlerinnen wie zum Beispiel Tatiana Ovrutschskaja („Triptichon der Angst“, 2020) und ihre Tochter Julia („Avatar“, 2020) hervorheben oder Laura J. Padgett mit der Fotografie der Friedhofshalle des 1928 erbauten Neuen Jüdischen Friedhofs „Solemnity – We who are always lighted from above“ (2024) und der Installation „From the four corners of the world, the dust of the body“ (2024), die drei hochkant gestellte Holzsärge zeigt. Oder Else Meidner mit ihrem Bild „Tod mit Globus“ (1952).
Viele Bilder werden von der Shoah geprägt. In manchen Texten, zum Beispiel „O ihr Schornsteine“ von Nelly Sachs oder „Todesfuge“ von Paul Celan spielen das Motiv der „Asche“, das Verbrennens der Toten, das „Grab in den Wolken“ eine zentrale Rolle. Erinnerung ist auch das Thema der Bilder des 1933 in Wilna geborenen Samuel Bak, die er kurz nach der Befreiung malte: „Kinder im Feuer“ (1948), „Kinderakzie“ (1947) und „Mutter ist nicht mehr“ (1946). 1974 malte er „Die Familie“, ein Bild, auf dem sich Lebende, Überlebende, Ermordete, Verstorbene treffen und wie in einer traditionellen Familienaufstellung präsentiert werden, aber im Hintergrund sehen wir unzählige Menschen, die ein Lager mit rauchenden Schornsteinen verlassen, möglicherweise eine Erinnerung an die Todesmärsche, in die die Nazis angesichts der anrückenden sowjetischen Armee die Inhaftierten zwangen.

Samuel Bak, Ner Tamid, 1978-1992, Öl auf Leinwand, 114x195cm, Jüdisches Museum Frankfurt, Stiftung Franziska Heuberger s.A. zum Gedenken an Dolek Heuberger s.A.
Sara Soussan: Wir sprachen darüber, dass die Feuerbestattung verboten ist. In der Shoah wurden Menschen ermordet, für die keine Gräber vorhanden sind. Es gab zunächst Massenerschießungen, dann die Gaskammern. Es gab große Massengräber, dann die Verbrennung der Leichen in den Krematorien der Vernichtungslager. Samuel Bak greift dies in seinem Gemälde „Ner Tamid“ (deutsch: „Das ewige Licht“ (1978-1992) auf. Das ewige Licht ist kein Gedenklicht, sondern das Licht, das immer in den Synagogen hängen soll und an das ewige Licht im Tempel erinnert. Samuel Bak malt es jedoch in einem Kontext des Gedenkens, in einem Grundriss, der einem Davidstern entspricht, in dem Ruinen, zerstörte Städtearchitektur stehen, kleine Häuser, wie sie Samuel Bak auch aus den osteuropäischen Stetl kennt, aus denen er selbst stammt. In die Ruinen eingewoben ist ein gelber „Judenstern“. Das ewige Licht manifestiert sich in dem Kuratoriumsschornstein, aus dem eine dunkle Flamme kommt, die dunklen Rauch produziert. Ein sehr hoffnungsloses Bild.
Ähnlich ist es bei Felix Nussbaum im „Triumph des Todes“ (1944). Dieses Bild ist natürlich viel bunter als das von Samuel Bak. Aber auch da ist eine Ruine jeglicher europäischer Kultur, jeglicher Ethik zu sehen, in Form kaputter Schreibmaschinen, zerstörter Bücher, die dort am Boden liegen, die Basis jeglichen freiheitlichen Seins und Denkens, freiheitlicher Errungenschaft. Darauf spielen Gerippe zum Tanz auf und triumphieren. Auch dieses Bild ist alles andere als hoffnungsvoll.
Wir haben in der Ausstellung erstaunlicherweise viel Kunst, erstaunlich auch für uns. So viel hatten wir eigentlich nicht eingeplant. Dann fanden wir dies und das, sahen, das eine würde gut hier, das andere gut dort passen, und so erhielten wir viel Kunst in der Ausstellung, nicht nur Gemälde, auch Videoinstallationen, Raum- und Soundinstallationen, Objekte, an denen sich die Künstlerinnen und Künstler mit dem Thema Tod und Trauer auseinandergesetzt haben. Diese Kunstwerke bieten vielleicht noch einmal eine andere Projektionsfläche als ein Dokument oder ein Wandtext.
Die Statements der Besucherinnen und Besucher

Marc Babej, Ehrung der Selbstmörder, 2015, Schwarz-Weiß-Fotografie, 101,6×72 cm, Jüdisches Museum Frankfurt am Main.
Norbert Reichel: Viele Objekte und Bilder werden von Statements der Besucherinnen und Besucher begleitet. Ich möchte als Beispiel nur eines zitieren, das Statement von Lothar, einem Techniker zu einer Schwarz-Weiß-Fotografie von Marc Babej aus dem Jahr 2015. Marc Babej zeigt Gräber von Personen, die sich in der NS-Zeit der drohenden Deportation durch Suizid entzogen haben, im Katalog enthalten ist das Bild des Ehepaars Dr. Karl und Jenny Kahn, die sich am 11. Juni 1942 der Deportation durch Suizid entzogen, und den beiden jungen ihrer gedenkenden Frauen (Enkelinnen vielleicht?): „Die Frauen auf dem Bild faszinieren mich und irritieren mich. Sind sie Todesengel? Sind sie Boten aus der Unterwelt? Das Schicksal von Jenny und Karl Hahn erschreckt mich. Wollten sie wirklich schon sterben? Oder war ihre Lage so schrecklich und so ausweglos, dass sie den Tod als einzigen Ausweg sahen? Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, mich umzubringen. Aber ich bin davon überzeugt, dass niemand das Recht hat, andere zu verurteilen, die voller Verzweiflung diesen Schritt gehen.“
Sara Soussan: Eine Ausstellung wird lange vorgeplant. Ausstellungstexte müssen schon etwa ein halbes Jahr vor der Eröffnung feststehen. Das heißt, die Texte sind keine Texte wirklicher Besucherinnen und Besucher dieser Ausstellung. Sie wurden nicht von uns, aber von potenziellen Besucherinnen und Besuchern geschrieben. Wir haben im Vorfeld der Ausstellung verschiedene Gruppen kontaktiert, Schulklassen, Studierende, Hospizgruppen, Altersheime, mit der Bitte, ein Objekt auszusuchen und dazu einen Text zu verfassen. Die Aufgabe war keine wissenschaftliche Recherche, es sollte ein persönlicher Text werden. Was sehe ich, was empfinde ich, woran erinnert mich dies? Wir erhielten etwa 200 Texte, aus denen wir eine Auswahl getroffen haben. Im Katalog haben wir die ausgewählten Texte den Objekten zur Seite gestellt. Dasselbe haben wir in der Ausstellung gemacht. Wir haben diese Texte so gedruckt, dass sie sich von unseren wissenschaftlichen Erläuterungen unterscheiden. Mit diesen Texten haben sie die Ausstellung mitgebaut, indem sie ihre Persönlichkeit hineinbrachten. Man nennt dies ein „Audience Development Projekt“.
Norbert Reichel: Ein partizipatives Verfahren. Im Begleitbuch, dem Katalog, beschreibt Duygu Rana Heinz, eine an das Jüdische Museum abgeordnete Lehrerin, die Vorgehensweise dieser Methode. Sie vermerkt, „dass vor allem Kinder und Jugendliche, unabhängig von ihrem Vorwissen und ihrer Erfahrung, uns durch und über die Kunst viel zu sagen hatten.“ Im Grunde haben diejenigen, die die Ausstellung konzipiert hatten, so „die Deutungshoheit über ausgestellte Kunst freigegeben.“
Darf ich zum Abschluss unseres Gesprächs das beeindruckende Foto einer Performance auf dem Gelände des Nova-Festivals hervorheben?

Das Bild zeigt DJ Skazi am 28. November 2023 vor den Bildern der am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordeten und verschleppten Teilnehmer:innen des Nova-Festivals in Re’im, nahe der Grenze zwischen Israel und Gaza. Foto: Yonatan Sindel.
Sara Soussan: Es handelt sich um ein Foto, das wir in den sozialen Medien gefunden haben. Es zeigt das Gelände des Nova-Festivals, das bei dem Angriff der Terroristen und Zivilisten aus Gaza am 7. Oktober 2023 besonders im Fokus stand. Es wurde schwer überfallen. Über 250 Menschen wurden ermordet, etwa 50 wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt, unendlich viele verletzt. Wir haben dieses Gelände immer wieder vor uns gesehen. Einige Wochen später kommt DJ Skazi auf das Gelände und legt noch einmal die Techno-Musik auf, die auf dem Festival gespielt wurde. Auf dem Platz, wo das Publikum stand, stecken jetzt Holzpfähle im Boden mit Fotos und Namen der Ermordeten. Auch das ist ein Akt des Gedenkens, eine traditionelle jüdische Vorstellung, dass man durch die Nennung der Namen gedenkt, an Stelle eines großen Denkmals. Inzwischen gibt es viel mehr Holzpfähle mit den Fotos und Namen auf dem Gelände. Viele Angehörige kommen dorthin, legen persönliche Gegenstände der Ermordeten ab, viele Teddybären, Blumen, bemalte Steinchen. Jedes der Bilder auf den Pfählen ist reich bestückt. Wir wollten das in der Ausstellung zeigen, auch als Zeichen neuer Gedenkformen, die vermeintlich erst einmal dem traditionellen Gedenken nicht entsprechen, indem man vielleicht nicht das Kaddish aufsagt, sondern es so macht, wie es die Techno-Leute gemacht haben, aber sich dennoch an jüdische Traditionen anlehnen.
Norbert Reichel: Man kann die Musik auch hören.
Sara Soussan: Es gibt einen Mediaguide, den man sich hochladen oder auch im Museum ausleihen kann. Mit diesem Guide bekommt man an einigen Stellen vertiefendes Material und an der Station des Gedenkens an die Opfer des 7. Oktober kann man das Musikstück hören, das dieser DJ dort aufgelegt hat.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2025, Internetzugriffe zuletzt am 12. Mai 2025. Titelbild: Die Kuratorin Sara Soussan in der Ausstellung „Im Angesicht des Todes“. Jüdisches Museum Frankfurt am Main. Foto: Renate Hoyer. Alle weiteren Bilder sind in der Ausstellung und zum Teil auch im Begleitband zu sehen. Sie wurden mir von Sara Soussan zur Verfügung gestellt.)