Das Reh im Palais

Ein Gespräch mit Shelly Kupferberg über ihre Erzählung „Isidor“

„Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn nichts von ihm übrig bleibt? / Im Tel Aviver Haushalt meiner Vorfahren gab es einen üppigen Besteckkasten mit Gabeln, Messern, Löffeln in allen Größen und Ausgestaltungen samt Servierbesteck. Isidors in roten Samt gebettete Silbergarnitur ist das Einzige, was sich aus dem Besitz des reichen Mannes erhalten hat.“ (Shelly Kupferberg, Isidor – Ein jüdisches Leben, Zürich, Diogenes, 2022)   

Dieser Besteckkasten inspirierte neben vielen Familienbriefen die Recherche von Shelly Kupferberg über Leben und Vermächtnis ihres Urgroßonkels, dem sie in ihrer Erzählung „Isidor – Ein jüdisches Leben“ neues Leben gab. In einem Interview mit Kerstin Beaujean für den Verlag sagte sie: „Bei all meinen Recherchen und Erkenntnissen über Isidors Leben hatte ich das Gefühl, ich gebe ihm eine Geschichte – SEINE Geschichte zurück.“ Nicht nur die seine, auch die vieler Männer und Frauen in seinem Umfeld, seinen Eltern, Geschwistern, Kindern, seinen Geliebten.

Das Buch ist das Ergebnis einer umfangreichen journalistischen Recherche, durchaus dokumentarisch, es ist eine Biographie und es ist viel mehr. Ich möchte das Buch als Erzählung bezeichnen, auf die auch der englische Begriff der „Live and Times“ passen dürfte, für den es keine angemessene deutsche Übersetzung gibt. Shelly Kupferberg ist es gelungen, mit dem Leben eines Menschen die Geschichte einer Welt erstehen zu lassen, eine untergegangene, eine zerstörte Welt, mit all dem Schrecken, den der Untergang dieser Welt mit sich brachte. Und dennoch ist es eine Welt, von der zu erzählen eine Art Liebeserklärung wurde, die auch die Leser:innen der Erzählung nachempfinden werden. Wer diese Erzählung liest, wird erfahren, welche Gefühle sich in den seit einigen Jahren immer intensiver geführten Debatten um Provenienzforschung und Restitution verbergen, auch was es heißt, die eigenen Möbel in einer fremden Wohnung zu erblicken und mit den Worten begrüßt zu werden: „Der Jud‘ is wieda doa“. Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, wählte diesen Satz als Überschrift seines einleitenden Essays für das ausführliche Dossier der im Dezember 2023 erschienenen Ausgabe von Politik & Kultur zum 25jährigen Jubiläum der Washingtoner Konferenz zur Restitution von NS-Raubkunst.

Viele kennen Shelly Kupferberg von ihren Moderationen im Radio, bei Deutschlandfunk Kultur und RBB Kultur, oder von Veranstaltungen, die sie besucht haben. Auf ihrer Visitenkarte bezeichnet sie sich als „Journalistin, Moderatorin, Autorin“. Sie wurde 1974 in Tel Aviv geboren, ihre Eltern zogen 1975 nach West-Berlin. Sie studierte Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften. Das hier dokumentierte Gespräch fand am 3. Januar 2024 statt.

Städte und Sprachen, das „Familiengepäck“

Norbert Reichel: Sie haben neben ihrer journalistischen Arbeit und den vielen Moderationen zwei Bücher veröffentlicht, ein Buch über Odessa und jetzt „Isidor“.

Shelly Kupferberg: Das Buch über Odessa ist 1.000 Jahre her.

Norbert Reichel: 24. Ich habe angesichts meiner Entdeckung dieses Buches die Namen der Städte, die in Ihrem Leben eine Rolle spielen, um Odessa ergänzt: Tel Aviv, Berlin, Wien, natürlich die Stetl in der Zeit vor Wien. Vielleicht sprechen wir über die Städte, die in Ihrem Leben oder besser gesagt für Ihr Leben eine Rolle spielen.

Shelly Kupferberg. Diogenes Pressefoto.

Shelly Kupferberg: Gute Frage. Vielleicht ganz kurz vorweg: Odessa spielt für mein Leben keine Rolle. Leider. Muss ich sagen. Ich habe damals die Pressearbeit für die Jüdischen Kulturtage Berlin gemacht. Thema war damals, 1999 ‚Odessa – Little Odessa’, in der Ukraine und in New York, jüdisches Leben, Künstler:innen. Im Zuge des Festivals kam auch dieses Buchprojekt zustande.

Die Städte, die Sie genannt haben, spielen eine Rolle, weil sie biographische Linien und Kreise auftun, die ganz stark mit meiner Familie zu tun haben. Ich könnte noch einige Städte ergänzen. Das ist ja nur die eine Hälfte meiner Familie. In „Isidor“ habe ich nur einen Strang verfolgt, den Großvater mütterlicherseits. Aber da gäbe es noch den Großvater väterlicherseits, mit ihm käme Prag hinzu. Und wenn ich weiter auf die Großeltern väterlicherseits schaue, auch Berlin, Königsberg, und Hildesheim. Der Kreis würde sich immer mehr erweitern. Es ist symptomatisch für europäisches Judentum, dass so viele Städte eine Rolle spielen. Insofern zirkeln die Städte schon etwas ein, was dieses jüdische Leben, diese jüdischen Familiengeschichten ausmacht, kulturell, vom Sprachraum her. Das alles spielt irgendwie eine Rolle in unserer Familie.

Norbert Reichel: Und dann kommt noch Pisa hinzu, denn Sie sind mit einem Italiener aus Pisa verheiratet.

Shelly Kupferberg: Unbedingt. Italien ist in meinem Herzen eine Heimat geworden, eine dritte vielleicht. Nach Berlin, nach Tel Aviv kommt noch einiges in Italien hinzu, ein großes Geschenk in meinem Leben.

Norbert Reichel: Darf ich fragen, welche Sprachen sie sprechen?

Shelly Kupferberg: Neben dem Deutschen Hebräisch, Alltagshebräisch, ich verstehe es ganz gut und kann es auch im Alltag sprechen, Alltagsitalienisch, auch dies ganz gut, bei uns wird sehr viel italienisch gesprochen. Unsere drei Kinder sind zweisprachig aufgewachsen: Deutsch und Italienisch. Englisch findet auch relativ viel statt bei uns.

Norbert Reichel: In einem früheren Interview haben Sie einmal so schön über den Akzent der Jeckes im Hebräischen gesprochen. Das fand ich sehr apart.

Shelly Kupferberg (lacht): Meine Großeltern kamen ja alle aus dem deutschsprachigen Raum oder aus einem deutschsprachigen Hintergrund. Sie waren so typische Jeckes, kulturell und sprachlich geprägt. Zumindest zwei von vieren hatten einen harten deutschen Akzent, wenn sie hebräisch sprachen. Ihr Hebräisch war auch nach 60 Jahren im Land teilweise noch nicht so brillant. Wenn ich hebräisch spreche, habe ich auch einen deutschen Akzent, der für Israelis klingt, als könne da auch etwas Französisch drin sein. Sie sind sich dann nicht so sicher und fragen nach. Aber ich merke selbst, dass es schon ziemlich deutsch geprägt ist.

Norbert Reichel: Das, was Sie über die Städte und Sprachen erzählen, ist doch eine wunderbare Vielfalt, mit all den Akzenten. Wer sagt, dass man eine Sprache nur beherrscht, wenn man sie akzentfrei spricht? In deutschen Schulen wird Kindern der Eindruck vermittelt, man müsse akzentfrei und grammatisch korrekt sprechen, obwohl die Lehrer:innen das vielleicht selbst nicht immer so hinbekommen. Ergebnis: viele Kinder trauen sich nicht mehr in der fremden Sprache zu sprechen. Ich hatte ein Schüsselerlebnis 1996 in New York City bei einer Konferenz der Vereinten Nationen, an der ich teilnahm. Alle hatten ihren eigenen Akzent, niemand kritisierte den Akzent der anderen. Vielleicht darf ich einen Satz aus dem wunderbaren Buch von Anja Schindler „Die drei Leben des Meir Schwartz“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2018) zitieren: „Im Hause meiner Großeltern sprachen und lasen alle deutsch, ungarisch, rumänisch, jiddisch und hebräisch.“ Ich finde es schade, dass viele solche Mehr- und Vielsprachigkeit – heute kämen noch ganz andere Sprachen hinzu – gar nicht so zu schätzen wissen.

Und wie ist das mit der Herkunft? Auf den ersten Seiten zitierten Sie Ihren Großvater, der in Israel angekommen sagte: „Ich kam nicht aus Zionismus, ich kam aus Österreich.“ Dahinter steckt ja noch was ganz anderes aus der Familiengeschichte. Sie verwenden den Begriff „Familiengepäck“. Etwas ganz Entscheidendes – wenn ich das so sagen darf – in der jüdischen Community, bei jedem einzelnen Menschen?

Shelly Kupferberg: Das ist in jedem Fall so, weil die Familiengeschichten von Verfolgung und Vernichtung geprägt sind. Dieser Ausspruch meines Großvaters Walter zeigt diese Unfreiwilligkeit. Sie wurden vertrieben, sie sind nicht freiwillig gegangen. Exil hat als Begriff sogar etwas Verharmlosendes, fast schon etwas Romantisierendes. Asyl klingt schon anders, Verfolgung und Vertreibung noch einmal anders. Das müssen wir immer mitdenken. Das beruht alles auf Unfreiwilligkeit. Bei Walter hat man es sehr gemerkt. Er hatte eine Art Hassliebe zu Israel. Einerseits war er unglaublich dankbar, dort aufgenommen zu werden. Gleichzeitig hat er sich zeit seines Lebens dort absolut fremd gefühlt, wie ein versetzter Baum, der aus der Erde gerissen wurde. Das war ein Schmerz, der bis zum Ende seines Lebens groß war, eine Wunde, die auch wirklich immer klaffte. Gerade am Ende seines Lebens. Es hat ihn nichts so berührt als wenn man über Wien sprach oder über die deutschsprachige Kultur. Er wurde immer ganz weinerlich, emotional, man spürte, da kam der ganze Schmerz des Vertriebenseins zum Vorschein. Das haben wir Enkeltöchter sehr stark gespürt.

Norbert Reichel: Wie zeigte sich das?

Shelly Kupferberg: Er fing immer an zu weinen. Als alter Mann, als über Achtzigjähriger. Wenn man über Wien sprach. Er liebte die deutsche Sprache, die deutsche Literatur. Er war Historiker und hat als Solches auch viele Bücher geschrieben – auch über politische Literaten. er war unter anderem Heine-Experte, Büchner-Experte, Börne-Experte. Er hat gerne, wenn er etwas erzählte, zu irgendeinem Buch gegriffen und ein Gedicht rezitiert, wenn es gerade passte. Er besaß eine große Bibliothek, an die 6000 Bücher. Beim Rezitieren kamen ihm immer die Tränen im Alter, weil ihn das dermaßen berührte. Diese Sprache, dieser Kulturraum, in der das Ganze besungen wurde. Auch, wenn er über Wien sprach. Im Alter kommt ja die Jugend, die Kindheit wieder etwas hoch. Das emotionalisierte ihn immer wahnsinnig, sodass man sich gut überlegen musste, wenn man ihm eine Frage stellen wollte, ob man ihm das wieder zumuten wollte.

Die Rückkehr nach Wien

Norbert Reichel: Und hier setzt das Buch ein.

Wien, Nationalbibliothek. Foto: Herbert Frank. Wikimedia Commons.

Shelly Kupferberg: Da setzt es ein. Das Buch beginnt mit der ersten Rückkehr Walters nach Wien in den 1950er Jahren. Zu Beginn meiner Recherche fand ich Hunderte von Familienbriefen auf dem Hängeboden der Wohnung meiner Großeltern in Tel Aviv, von denen ich nichts wusste. Die Großeltern leben schon lange nicht mehr, aber es gibt noch diese Wohnung in Tel Aviv. Als ich in den Archiven und Bibliotheken dieser Welt recherchierte, um etwas über Isidor herauszufinden, war ich in Tel Aviv und habe in der Wohnung geschaut, ob ich noch etwas zur Familiengeschichte finde. Da gab es diesen Fund auf dem Hängebogen. Hunderte von Briefen aus den 1910er, 1920er, 1930er, 1940er, 1950er, 1960er, 1970er Jahren. Die er alle aufgehoben hatte und von deren Existenz wir als Nachgeborene gar nichts wussten. Das war ein Goldschatz. Anders kann ich es nicht sagen.

Die Briefe stammten vor allem aus diesem Wiener Zweig der Familie. Ich habe sie dann alle mit nach Hause nach Berlin genommen und im Wohnzimmer ausgebreitet und angefangen zu lesen.

Norbert Reichel: Ich kann mir gut vorstellen, wie das auf dem Boden, auf den Tischen und Regalen aussah. Waren das Briefe an ihn oder auch Briefe von ihm?

Shelly Kupferberg: Beides. Er hat sie alle aufgehoben. Er war ein sehr emsiger Briefeschreiber. Daran erinnere ich mich auch noch. Als Enkeltochter. Wie er immer an der Schreibmaschine saß und Briefe schrieb und oft davon sprach, von wem er alles Briefe bekommen hatte. Aber eben diese Briefe aus den 1910er, 1920er und 1930er Jahren, diese Familienbriefe, die er aus der Verfolgung nach Palästina nahm, mit auf die Flucht: das fand ich schon bemerkenswert, dass er das alles mitgenommen hat.

Norbert Reichel: Das Mitnehmen ist schon eine logistische Leistung.

Shelly Kupferberg: In der Tat. Ich habe auch gestaunt. Was nimmt man mit, wenn man flüchtet? Es kann natürlich auch sein, dass seine Eltern, die später geflüchtet sind, ihm etwas nachgeschickt haben. Das kann ich nicht mehr nachvollziehen. Aber so oder so.

Ich breitete all diese Briefe im Wohnzimmer aus. Das war auch nicht so einfach zu lesen, Sütterlin, altdeutsche Schrift, nicht alle hatten eine schöne Handschrift.

Diese Briefe haben mich unglaublich berührt, weil diese Menschen plötzlich eine Dreidimensionalität bekamen. Da waren Menschen dabei, die ich dann auch in meinem Buch „Isidor“ portraitiert habe. Die bekamen eine ganz persönliche Stimme. Es ist auch interessant, über was geschrieben wurde, über Alltägliches, ganz Banales, manchmal wurde auch über andere Familienmitglieder hergezogen. Ein bisschen Klatsch und Tratsch. Aber man konnte anhand dieser Briefe auch gut die Zeitläufte gut nachvollziehen, die Kriegszeiten, die Krisenzeiten. Manches wurde nur zwischen den Zeilen angedeutet. Teile dieser Briefe habe ich in mein Buch aufgenommen. Ich beginne mit einer Beschreibung meines Großvaters, wie ich ihn wahrgenommen habe.

Ich fand auch die Briefe, als er nach dem Krieg wieder nach Wien kam, weil er in Israel eine wahre Krise hatte. Es hat ihm nicht gefallen, er überlegte, wieder zurückzugehen. Er war verheiratet, mit meiner Großmutter Alice, einer Berliner Jüdin, einer Zionistin, die gesagt hatte, ich gehe auf gar keinen Fall zurück, und wenn überhaupt, schau erst einmal, ob es irgendetwas gibt, woran sich irgendwie anknüpfen ließe.

So ist er dann 1956 mit einem engen Freund, Heinz, der auch nach Palästina geflüchtet war, zwei Monate in Wien unterwegs gewesen. Das Schöne: Er schrieb jeden zweiten Tag nach Hause, er schrieb minutiös, wen er alles traf, was er unternahm. Anhand dieser Briefe kann ich die Ambivalenz nachvollziehen, wie er am Anfang noch ein bisschen fremdelt mit dieser Stadt, wie er aber nach und nach sich wie ein Fisch im Wasser fühlt und anknüpfen kann an das, was er 18, 19 Jahre nicht mehr hatte und wonach er sich so wahnsinnig gesehnt hatte, die Theater, die Opernbühne, alte Freunde. Er schreibt von ganz vielen Gesprächen, die er mit zurückgekehrten Juden hatte, über Antisemitismus, wie er alte Schulkameraden trifft und wie toll es war, denen einmal alles, was er dachte, ins Gesicht sagen zu können, weil sie Nazis waren. Allein dafür habe sich die Reise schon gelohnt, schreibt er in einem Brief.       

Norbert Reichel: Hat er auch geschrieben, was die alten Schulkameraden gesagt haben?

Shelly Kupferberg: Er hat es angedeutet. Er schreibt seiner Frau, was diese Menschen im Krieg getan hätten und dass sie argumentiert hätten, dass sie nicht anders gekonnt hätten. Er schrieb aber auch, dass er wunderbare Beispiele dafür gäbe, wie man sich hätte anständig verhalten können, indem man sich entzog oder auch desertierte, aus unterschiedlichen Gründen. Das war natürlich riskant.

Mit diesen Briefen fange ich an, auch mit dieser Szene – das hat er lebhaft beschrieben –, wo er vor seinem Elternhaus steht, sich einen Ruck gegeben hat und anhand der Klingelschilder sah, dass dort keine jüdische Familie mehr lebte. Die Hauswartfamilie war noch dieselbe wie vor dem Krieg. Sie logierte in einem anderen Stockwerk. Das hat ihn etwas stutzig gemacht. Aber anyway. Er klingelte, die Hauswartfrau öffnet, erkennt ihn sofort, Walter freut sich, die Hauswartfrau wird kreidebleich und ruft: „Der Jud‘ ist wieda doa.“ Er hört noch aus der Hauswartwohnung den Mann rufen: „Sag kein Wort!“ Darauf schlägt sie ihm die Tür vor der Nase zu. In den letzten Sekündchen kann Walter noch einige Möbel seiner Eltern und seiner Nachbarn erkennen. In dem Moment ist seine Entscheidung gefallen. Er merkt, hier kann er nicht mehr anknüpfen, oder er will es nicht, weil er sich immer Situationen stellen müsste, die dieser ähnelten und schmerzhaft sein würden. Da war ihm klar, dass er in Wien nicht mehr leben können würde und er geht gesenkten Hauptes nach Israel zurück. Dann komme ich in dem Buch ausführlich zu Isidor, der der Nukleus der Geschichte ist.

Ein Dandy und sein Palais

Norbert Reichel: Zu Isidor gibt es auf ein bis zwei Seiten schon eine Art einstimmende Vorbemerkung, dann kommt die Geschichte mit den Briefwechseln. Sie stellen Isidor mit einem wunderbaren Anfangssatz vor, der erste Satz des Buches lautet: „Mein Urgroßonkel war ein Dandy.“ Das ist doch ein ganzes Lebenskonzept.  

Rudolf von Alt: Interieur im Palais Windisch-Graetz in der Renngasse. Wikimedia Commons.

Shelly Kupferberg (lacht): Ja, finde ich auch. Ja, ich bin im Zuge meiner Recherchen auf diesen Satz gekommen. Ich wusste gar nichts von diesem Urgroßonkel. Es gab zwei oder drei kleine Anekdoten über ihn in der Familie, aber wer er genau war, das wusste ich nicht. Vor einigen Jahren durfte ich einmal eine große Tagung in Berlin zur NS-Raubkunst und zur Provenienzforschung moderieren. Ich erfuhr, dass die Nazis etwa 600.000 Kunstwerke geraubt hatten, von denen nur ein Bruchteil gefunden, geschweige denn zurückgegeben wurde. Dieses Thema hat mich unglaublich interessiert und fasziniert. Ich habe mich eingefuchst in das gesamte Thema der Raubkunst, der Provenienzforschung, und währenddessen hatte ich den Gedanken: Da gab es doch diesen Großonkel Isidor, von dem man sich in der Familie erzählte, dass er in einem Palais lebte. In diesem Palais muss doch Kunst gehangen haben! Nackte Wände waren damals meines Wissens noch nicht en vogue.

Norbert Reichel: Da wurde alles zugehängt, Bilder, Teppiche, und da, wo etwas hing, stand auch noch etwas davor, Vasen, Skulpturen und manches mehr.

Shelly Kupferberg: Petersburger Hängung, so kann man sich das vorstellen. Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los und ich dachte, wenn ich als Journalistin etwas gelernt habe, dann ist es recherchieren. Daher machte ich mich nach der Tagung auf den Weg und begab mich auf die Spur. Ich habe diverse Anfragen gestellt, in Archiven, in Österreich, und fand einiges heraus. Ja, er lebte in einem Palais, er war sehr vermögend, mehrfacher Millionär, wie es hieß. Er besaß Kunst. Die nächste Frage war: Wo befindet sich diese Kunst heute? Welchen Weg legte sie zurück? Was mit Isidor passierte, wusste ich, aber: Was war mit seiner Kunst? Über Isidors Ende erzählte man sich in der Familie auch das ein oder andere.

Das hatte noch gar nichts mit dem Buch zu tun. Ich hatte eigentlich niemals vor, ein Buch zu schreiben. Es hat mich einfach persönlich interessiert. Die Recherche war irre spannend. Und je mehr ich über ihn erfuhr, desto unglaublicher wurde dieser Lebenslauf für mich. Wie hat er es so weit gebracht? Aus Familienerzählungen wusste ich, er stammte aus ganz armen Stetl-Verhältnissen, aus Galizien, aus absoluter Armut, aus einer sehr orthodoxen Familie, mit fünf Kindern, die sich allesamt nach Wien aufmachten, allesamt ihr Glück suchten. Wie kann man es schaffen, so schnell, in einem komplett anderen sozialen Milieu zu landen, schillernd, schwer reich, einflussreich? Wie muss man beschaffen sein, um solch einen Aufstiegswillen zu haben? Das hat mich an Isidors Aufstieg fasziniert. Je mehr ich davon erfuhr, umso mehr hat sich für mich das Bild eines Dandys herausgestellt.

So kam dieser erste Satz zustande. Er war ein Dandy. Ich habe einige wenige Fotographien von ihm. Ich denke, so wollte er auch gesehen werden. Das hätte ihm gefallen, so genannt zu werden, dagegen hätte er nichts gehabt.

Da war der Fortschritt in der Luft – Selfmademen und Selfmadewomen

Norbert Reichel: Neben Isidor gibt es in dem Buch auch biographische Skizzen einiger Frauen. Ich denke vor allem an Franziska aka Fejge.

Shelly Kupferberg: Da gibt es Unterschiede, die Frage ist welche? Es macht um 1900 schon einen Unterschied, ob man als Frau oder als Mann geboren ist. Dieses Buch ist die Geschichte eines Selfmademan, aber auch die Geschichte einiger Selfmadewomen. Auch Ilona würde ich dazu zählen, keine Jüdin, Isidors letzte Geliebte, die dann in Hollywood Karriere machte. Ganz grundsätzlich hat mich interessiert, was jüdische Menschen um 1900, aus dem Stetl, aus Galizien kommend, die deutsche Kultur verehrend, so an der Verheißung faszinierte, rauszukommen. Dazu muss man meines Erachtens auch vorwegschicken, dass es in dieser Generation viele dieser Selfmademen und Selfmadewomen gab, die sehr unterschiedliche Laufbahnen beschritten.

Remi Jouan: Maurice de Hirsch. Wikimedia Commons.

Es war schon eine Generation, die in den großen Genuss kam, eine weltliche Bildung zu erhalten, in deutscher Sprache. Es gab im 19. Jahrhundert gerade in Galizien große Anstrengungen, für die Kinder aus diesen kinderreichen orthodoxen Familien weltliche Schulen zu bauen. Maurice de Hirsch war einer der Philanthropen, die dies förderten. Er sagte, es geht nicht, dass diese kinderreichen Familien ihren Kindern nur eine religiöse Bildung weitergeben und auch nicht die deutsche Sprache. So wird aus diesen Kindern nichts. Sie werden in der Armut landen, deren Berufswahl wäre sehr eingeschränkt. So kam es, dass einige jüdische Philanthropen sagten, da müssen wir etwas tun und bauten diese jüdischen Schulen mit einem Stück weltlicher Bildung. Die Kinder hatten nun die deutsche Sprache im Gepäck und damit die amtliche zivile Sprache des Habsburger Reiches, mit der sie schon viel weiterkamen.

Daneben haben sie natürlich viele Sprachen gesprochen: Jiddisch, Polnisch, Ruthenisch beziehungsweise Ukrainisch, Russisch, Armenisch, je nachdem wie sie geprägt waren, je nachdem in welchem Fleckchen dieses Vielvölkerstaates sie lebten. Sie konnten deutsche Zeitungen lesen, deutschsprachige Literatur, das musste eine Verheißung für die Geschwister aus dieser Familie gewesen sein. Nicht nur für diese Familie, ich habe eine Menge ganz ähnliche Biographien gefunden.

Zum Unterschied Mann – Frau: Fejgele, das ‚Vögelchen’ auf Deutsch, musste sich erst einmal dem Willen der Familie unterwerfen, dieses ganz Orthodoxe, diese Heiratsvermittlung, das musste sie über sich ergehen lassen, auch wenn sie schon ganz früh spürte, dass das nicht das ist, was sie sich im Leben ersehnte. Sie hatte etwas anderes vor im Leben, auch dank der deutschen Literatur, die sie verschlang. All diese Geschwister lasen unglaublich viel. Das weiß ich von meinem Großvater. Das war für sie eine andere Welt, eine Sehnsuchtswelt. Gleichzeitig gab es die orthodoxe Welt mit all ihren Traditionen.

Franziska, wie sich Fejge später nannte, wurde einmal über den Schadchen, den jüdischen Heiratsvermittler, zwangsverheiratet – anders kann man es nicht nennen. Sie hatte Pech, wie auch immer. Sie hatte große Angst, wer das wohl sein könnte. Weil die Familie arm war, kamen für sie nicht so viele attraktive Kandidaten in Frage. Umso erstaunter war sie dann, als sie unter dem Traubaldachin einen gutaussehenden jungen Mann vorfand, den sie da zum ersten Mal sah. Aber wie sich herausstellte, hatte er einen Herzfehler, das war die große Schwäche, und er starb nach einem Jahr. Sie hatte als junge Witwe mit einem kleinen Baby befürchtet, wieder verheiratet zu werden. Dem hat sie sich widersetzt. Das hatte auch etwas mit dem Zeitgeist zu tun, damals um 1900, da zog die Moderne ins Leben ein. Und das ging auch nicht an einem ganz provinziellen, hinterwäldlerischen, jüdischen, orthodoxen Umfeld vorbei. Es gab eine Jugend, die ganz stark spürte, da ist der Fortschritt in der Luft, selbst in so einem Nest wie Lokutni, weit abgeschlagen von den Metropolen, wo die fünf aufwuchsen.

Da passierte etwas, die Post-Industrialisierung war in vollem Gange, Eisenbahnnetze wurden verlegt, in ganz Europa. Zeitschriften schossen wie Pilze aus dem Boden, in ganz vielen Sprachen. Bahnbrechende Erfindungen konnte man überall sehen, über sie lesen: Penicillin, Aspirin, Zeppelin, Cinematographie, das Automobil. Selbst dort in den abgeschlagenen Provinzen war Aufbruch in der Luft. Und das schlug sich in der jungen Generation nieder. Oder man sieht die Architektur der damaligen Zeit, Künstler wie Klimt, Schiele, die Wissenschaften, Traumdeutung, Psychoanalyse, da tat sich unglaublich viel. Das merkte man in den Familien.

Pierre-Georges Jeanniot: Im Hutsalon 1901. Wikimedia Commons.

Diese fünf Geschwister hatten die große Verheißung es zu wagen, den Sprung in die Metropole Wien, um sich da irgendwie selbst zu verwirklichen. Franziska konnte ihre Eltern überzeugen, nicht wieder zu heiraten. Sie wollte eine Berufsausbildung machen. Sie wurde Modistin, Hutmacherin. Das war damals der letzte Schrei. Das hat sie geschafft. Sie hatte später in Wien einen kleinen Hutsalon. Sie war eine Geschäftsfrau, eine Selfmadewoman.

Isidor war sicherlich eine Ausnahmeerscheinung: sehr clever, der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Er wusste sich dort zu bewegen, sich selbst zu verkaufen. So weit wie er, brachten es nicht viele. So einflussreich, Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, so etwas wie ein Wirtschaftsweiser. Wenn man in der Geschichte wühlt, wird man viele solcher Biographien der Selbstermächtigung gerade unter Juden und Jüdinnen finden.

Zeitfragen und Spannungsfelder

Norbert Reichel: Ich sehe in dem Buch auch die Schilderung eines Spannungsfeldes. Vielleicht darf ich das Kompliment machen, dass es Ihnen gelungen ist, mit einigen wenigen Biographien die Schilderung einer ganzen Welt zu gestalten. Alles auf etwa 240 Seiten.

Shelly Kupferberg (lächelt): Danke, das freut mich sehr.

Norbert Reichel: Ich nenne einmal aus meiner Sicht die Elemente dieses Spannungsfeldes: Das Jiddische und das orthodoxe Judentum, das dann in Wien auch ein wenig in Verruf gerät. Dann der Zionismus, die erste, zweite und dritte Alija, die sich zwischen 1882 und 1923 datieren lassen. Schließlich – dazu zum Beispiel in dem Kapitel „Fragen der Zeit / Zeitfragen“ – der Antisemitismus. Ich habe das Thema der Entwicklungen und Kontroversen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften und ich habe die internen Konfrontationen unter Juden und Jüdinnen auf der einen Seite und die Konfrontationen mit dem Antisemitismus auf der anderen Seite.

Shelly Kupferberg: Das sind die Spannungsfelder und die Dilemmata, die man verstehen muss, um Isidors Entscheidung zu verstehen, nicht zu flüchten. Isidor verstand sich als deutschsprachig, deutsch-kulturell assimiliert, als selbstverständlichen Teil der guten Wiener Gesellschaft. Für ihn kam es gar nicht in Frage, sich mit Dingen wie Zionismus und Orthodoxie zu beschäftigen. Er verortete sich da nicht. Ich musste seine Entscheidung, nicht zu flüchten, nicht einmal mit dem Gedanken zu spielen wegzugehen, angesichts des Antisemitismus und der Entwicklungen im Deutschen Reich, mir selbst erst einmal erklären. Wie kann es sein, dass jemand, der in gebildeten und gut unterrichteten Kreisen unterwegs war, so naiv ist? Warum hat er es nicht gesehen? Warum hat er nicht seinen Besitz genommen, als das noch möglich war, oder auch nicht, und ist gegangen?

Norbert Reichel: Bei dieser Situation musste ich an die 1975 erschienene Erzählung „Badenheim“ von Aharon Appelfeld denken. Die Einwohner dieses Kurstädtchens wollen ja auch nicht glauben, was da geschieht, selbst am Tag der Deportation noch nicht, obwohl – so muss man es sagen – sich die Schlinge jeden Tag enger um den Hals legte. Das Auswanderungsbüro, das sich als Reisebüro tarnte – so etwas gab es ja wirklich –, die Einschränkungen im Alltag, die immer mehr wurden. Eine der Hauptpersonen sagt am Schluss, die Reise werde wohl nicht weit gehen, wenn die Waggons so schmutzig sind. Man will nur sehen, was man sehen will.

Shelly Kupferberg: So war es auch mit Isidor. Es gab schon einige, die das gesehen haben. Ich habe versucht, mit den damaligen Augen in die Geschichte zu schauen. Ich habe versucht, nicht als die jetzige wissende Shelly Kupferberg zu recherchieren. Im Österreichischen Zeitungsarchiv habe ich viele Artikel gelesen, weil ich wissen wollte, welche Debatten könnten Jüdinnen und Juden interessiert seinerzeit haben? Wie schauten sie auf den Antisemitismus, der schon im 19. Jahrhundert grassierte? Das bildete sich in den Debatten ab. Es zeigte sich, wie omnipräsent der Antisemitismus war, lange vor den Nazis. Wie ging Isidor damit um? Welches Bild machte sich Isidor? Warum hatte sich Isidor entschieden, zu bleiben? Warum war es für ihn keine Option, wegzugehen? Warum war er kein Zionist?

Deshalb habe ich in dem Zeitfragen-Kapitel diese unterschiedlichen Ansichten aufgemacht. Ich habe Isidor einen Sparringspartner zur Seite gegeben, mit dem er all diese Debatten führt, den Schneider Goldfarb, ein enger Freund Isidors. Ich wollte verstehen, warum er so handelt wie er handelt. Da gab es eben diese unterschiedlichen Strömungen in der jüdischen Gesellschaft. Die einen sagten, der Antisemitismus ist so stark, der Zionismus ist die Verheißung, die Lösung. Dann gab es diejenigen, die meinten, der Zionismus sei überhaupt keine Lösung, denn der mache sie erst recht zu Fremden. Nach dem Motto: Damit bestätigen wir den Antisemiten, dass wir im Prinzip hebräisch sprechen, ein anderes Land, eben nicht Deutschland oder Österreich, unser Land sind, das mache ich nicht, da habe ich nichts mit zu tun. Dann gab es die Religiösen, die Orthodoxen, die sagten, Gott wird das alles schon richten. Ich wollte diese unterschiedlichen Strömungen, die Vielstimmigkeit im Judentum und wie es sich zu diesem Antisemitismus verhielt aufzeigen, um nachvollziehen zu können, warum er so handelte.

Wahrheit und Fiktion

Norbert Reichel: Ist Goldfarb eine reale Person?

Shelly Kupferberg: Gute Frage. (Sie zögert ein wenig, zieht die Vokale etwas länger, doch fährt sie schneller sprechend fort.) Den habe ich erfunden. Ich brauchte eben einen politischen Widersacher, mit dem Isidor all das verhandelt, was ihm zu den Zeitfragen im Kopf herumgeistert. Ich habe lange nachgedacht, wer das sein könnte, ein Geschäftspartner, sein Neffe und mein Großvater Walter, dann habe ich mich entschlossen, den Goldfarb zu erfinden, der aus verschiedenen Personen aus meiner Familie zusammengesetzt wurde, aber im Prinzip ist er fiktionalisiert.

Norbert Reichel: Das macht die Qualität solcher Bücher aus, das Ineinanderverwobene von Realität und Fiktion.

Shelly Kupferberg: Das ist schön, dass Sie das so sagen.

Norbert Reichel: Es fing mit der Provenienzforschung an und dann wurde etwas ganz anderes daraus. Eine schöne Geschichte ist natürlich der Besteckkasten. Dieser erinnerte mich an einen wunderbaren Film: „Café Nagler“ von Mor Kaplansky und Yariv Barel, in dem es am Anfang auch um Besteck mit dem Logo dieses Cafés geht, das am Berliner Moritzplatz gestanden haben soll, von dem aber eigentlich niemand wirklich etwas weiß, sodass sich die recherchierende Dokumentarfilmerin schließlich darauf einlässt, alle ihre Gesprächspartner:innen, die sich nicht erinnern konnten, eine reale Geschichte erzählen zu lassen, die wahr sein, aber im Café Nagler spielen musste. Eine Fiktion, die dann doch wieder Wahrheit war. Irgendwie hatte Ihre Suche nach der Wahrheit ja auch etwas von Serendipity.

Shelly Kupferberg: Das war die große Überraschung. Ich fand so viel Archivmaterial, so viele spannende Geschichten, ich ließ mich auch treiben. Einerseits gab es ja für meine Erzählung immer diese Subspur, die Frage: Was ist aus der Kunst geworden, im Kopf. Das ist ein Strang in meinem Buch, die Recherche, die Fundstücke, das Besteck, die Dokumente und die Suche nach der Kunst.

Norbert Reichel: Das Mobiliar in der Wohnung der Hauswartfamilie.

Shelly Kupferberg: Das alles ist der Rahmen. Ich gehe immer rein in die Recherche, schildere diese, dann die eigentliche Geschichte des rasanten Aufstiegs und was passiert, als die Nazis in Wien einmarschieren, mit Isidor als Zentralgestirn und einer Personnage um ihn herum. Ich hatte ja gesagt, dass ich gar nicht vorhatte, ein Buch zu schreiben, aber wie Sie sagen: Serendipity, so viele irre Begegnungen, so viele Zufälle, so viele Storys, dass ich dann doch etwas mit dem Material machen wollte.

Erst hatte ich vor, ein Radiofeature zu machen, weil ich ja Radiojournalistin bin. Aber das Material sprengte den Rahmen eines Features. Ich begann es aufzuschreiben und so wucherte dieses Manuskript vor sich hin und erzählte sich in einer Geschichte, der Geschichte dieses Buches. Das war reiner Zufall, aber ein schöner Zufall, der mir großen Spaß gemacht hatte. Ich wusste auch gar nicht, ob das irgendwann einmal veröffentlicht wird. So viele irre Sachen. Damit ich die nicht vergesse, schrieb ich sie einfach mal auf.

Norbert Reichel: Sie haben mit Diogenes einen sehr schönen Verlag gefunden.

Shelly Kupferberg: Jaaa – absolut. Da habe ich mich sehr gefreut, dass es Interesse gab. Mit Diogenes habe ich einen wirklich tollen Verlag gefunden, mit dem ich auch an dem nächsten Buch arbeite.

Norbert Reichel: Worum geht es?

Shelly Kupferberg: Die Geschichte eines Wohnhauses, hier in Berlin. Das ist dann –denke ich – das letzte Mal, dass ich mich so intensiv mit der Nazi-Vergangenheit befasse.

Norbert Reichel. Eine sehr gelungene Biographie eines Wohnhauses – Sie kennen das Buch – ist ja Regine Scheer mit „Gott lebt im Wedding“ gelungen. In diesem Buch lernt man eigentlich alles über den Wedding sowie über Sinti und Roma und die Art und Weise, wie verschiedene Menschen über Sinti und Roma denken, reden, was sie an Gutem und scheinbar Gutem tun oder nicht tun. Gabriele Tergits „Effingers“ enthalten ja ebenfalls neben der Geschichte der jüdischen Familie die Geschichte eines Wohnhauses im Tiergartenviertel. Entschuldigen Sie all meine literarischen Assoziationen, das hat schon etwas mit mir als Lesendem zu tun, der ich immer war und bin. So setze ich mir meine Welt zusammen. Ich bin schon sehr neugierig, welches Haus Sie beschreiben, was Sie herausfinden und was Sie dann aufschreiben werden.

Ich darf sagen, dass ich das Titelbild von „Isidor“ genial fand: Das Reh in der langen Flucht der hochherrschaftlichen Suiten eines Palais mit Ornamenten an den Türrahmen, den korinthisch anmutenden Kapitellen. Das Reh, ein sehr verletzlich wirkendes Tier. Und so verletzlich war auch dieses Palais, offenbar menschenleer, aber angesichts der klaren und sauberen Linien noch nicht sehr lange verlassen, von einem Reh vorsichtig besucht, das ich als betrachtender Besucher vielleicht ebenso überrasche wie es mich überrascht? Ich hätte schon eine Idee, wie eine Verfilmung Ihres Buches aussehen könnte.

Shelly Kupferberg. Das ist schön, dass Sie das sagen. Dieses Cover habe ich mir so gewünscht! Ich habe das Reh ausgesucht, das Palais, und die Diogenes-Grafikerin Rahel Bünter hat es mir dann so montiert, wie ich es gerne wollte. Jede:r sieht etwas anderes daran. Ihre Interpretation finde ich auch ganz wunderbar. Ich löse es in meinen Lesungen nicht auf. Ich denke, das fragen viele: warum dieses Reh in einem Palais? Ich sage dann, bei der Lektüre löst es sich auf. Es hat so etwas Poetisches, Geheimnisvolles.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 6. Januar 2024. Das Titelbild zeigt das Palais Starnberg in der Wiener Ungargasse 43, Foto: Gingerell, Wikimedia Commons. Die Ungargasse ist die Adresse, in der die von Ingeborg Bachmann in „Malina“ erzählte Geschichte spielt.)