Chile in der DDR – geteilte Utopien?

Ein Gespräch von Carla Steinbrecher mit dem Regisseur und Schauspieler Alejandro Quintana Contreras

„Gedichte. / Es gab ja da noch ein ganz spezielles Reservoir. Ein schier endloses. Ein poetisches, politisches, philosophisches Universum. Mit dem ich aufgewachsen war. Mittendarin ein Ozean von großartigen Songs. Den besten, die je in deutscher Sprache entstanden. / Die ich auf der Erinnya noch gar nicht angezapft hatte. Bei den beiden Vorstellungen. Obwohl ich gekonnt hätte. / Hatte es aufgehoben. Für später. Man darf das Publikum ja auch nicht gleich überfordern. Muss es langsam an höheres Niveau heranführen. Oder?“ (Stefan Kørbel, Wendekreis oder die Vollendung der deutschen Einheit im Südpazifik, Berlin, Edition Schwarzdruck, 2019)

Eine Fantasie, eine Liebesgeschichte, eine Utopie? Mit der DDR? Über die DDR? Rollo, der Erzähler des zitierten Romans von Stefan Kørbel, Berliner Autor, Liedermacher und Kabarettist, fährt als Musiker auf einem Schiff in die Südsee und durchlebt dort eine Liebesgeschichte, einen Schiffbruch, Verständnis und Unverständnis für das, was sich aus der DDR in seinem Leben hält oder von dort verschwindet. Ein Gefühl, das vielleicht das Gefühl eines Immigranten oder Emigranten wider Willen spiegelt, vielleicht sogar durchaus vergleichbar mit dem Gefühl, das Emigranten aus einem Land wie Chile in der DDR durchlebten?

Alejandro Quintana

Alejandro Quintana (*1951) studierte Schauspielkunst in Santiago de Chile und emigrierte nach dem Militärputsch 1973 im Alter von 23 Jahren in die DDR. Dort arbeitete er als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Theatern, in Rostock, Berlin, dort unter anderem am Berliner Ensemble, sowie in Cottbus. Er war Mitglied des chilenischen Ensembles Teatro Lautaro und Dozent an der Schauspielschule Rostock. Zwischen 2008 und 2016 arbeitete er als Schauspieldirektor und Oberspielleiter am Theater Heilbronn. 2017 gründete er in der Feldberger Seenlandschaft das Luzin Theater.

Carla Steinbrecher, Foto: Petra Schumann

Das hier dokumentierte Gespräch hat Carla Steinbrecher am 24. Oktober 2021 am Landestheater Rudolstadt durchgeführt. Carla Steinbrecher studierte Philosophie, Spanische Philologie, Germanistik und Komparatistik in Regensburg, Bonn und St Andrews. Seit 2021 promoviert sie an den Universitäten Bonn und St Andrews zur Rezeption Chiles in der kulturellen Produktion der DDR. Der Schwerpunkt liegt bei der Frage, wie die Auseinandersetzung mit Chile das politische Selbstverständnis in der DDR beeinflusste. Anlass des Interviews war der Vortrag „Ein chilenischer Flüchtling demaskiert ostdeutsche Verhältnisse: Über das Karnevaleske im DEFA-Film Blonder Tango (1986)“, den sie auf dem DIES & DAS – Forum wissenschaftlicher Nachwuchs der Arbeitsstelle Internationales Kolleg der Universität Bonn auf dem DIES ACADEMICUS 2021 hielt.

Alejandro Quintana spielt im DEFA-Film Blonder Tango aus dem Jahr 1985 (Regie: Lothar Warneke, 1936-2005) die Rolle des chilenischen Exilanten Rogelio. Der Film ist eine Adaption des gleichnamigen 1983 in der DDR veröffentlichten Romans des chilenischen Schriftstellers Omar Saavedra Santis (1944-2021). Rogelio lebt seit fünf Jahren in der DDR und arbeitet als Lichttechniker an einem Theater. In Briefen an seine Mutter entwirft er das Bild eines glücklichen Lebens mit Frau und netten Kollegen. In Wahrheit jedoch fällt ihm das Leben im Exil zunehmend schwer. Die Soubrette Cornelia verschmäht seine Liebe und die Liebe der Inspizientin Luise kann er wiederum nicht erwidern. Für die politische Dimension seines Exils scheint sich indes niemand mehr zu interessieren. Resigniert will er sich an einem Winterabend auf einem Rügener Felsen das Leben nehmen, wird aber vom ehemaligen Spanienkämpfer Stephan Hiller gefunden. Er berichtet Hiller, der während der NS-Zeit im mexikanischen Exil lebte, von seinem Leben in der DDR. Bei der Rückkehr nach Hause findet er einen Brief aus Chile vor, in dem ihm sein Onkel mitteilt, dass die Mutter schon seit eineinhalb Jahren tot ist und er an ihrer Stelle die Antwortbriefe an ihn verfasst hatte, um ihn nicht zu verletzen. Angesiedelt im Theater verschwimmen Lebens- und Bühnenwirklichkeit, fiktive und gesellschaftliche Rollen fortwährend miteinander.

In Chile – vor der Flucht

©DEFA-Stiftung/Hans Eberhard Ernst.

Carla Steinbrecher: Ich freue mich sehr, dass wir miteinander über Ihr Leben und Ihre Arbeit sprechen können. Dafür ganz herzlichen Dank. Bevor wir auf Ihre Theaterarbeit und Ihre Erfahrungen in der DDR und zum DEFA-Film Blonder Tango (1986) zu sprechen kommen, lassen Sie uns in die Zeit vor Ihrer Flucht in die DDR zurückgehen, ins Chile Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre, die Zeit vor und nach der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten.

Alejandro Quintana: In den 1960er- und 1970er-Jahren war ich intensiver Fußballspieler, Leistungssportler. Ich habe in dem für mich damals interessantesten Fußballclub Chiles, Universidad de Chile, von der zweiten Segunda Infantil bis Juvenil, also von meinem 13. bis 17. Lebensjahr gespielt. Das hat mich sehr geprägt. Dann entdeckte ich das Theater. Da wurde es mit dem Fußball nichts, das Theater hat mein komplettes Leben übernommen. Wie kommt man in Chile ins Theater? Natürlich durch einen Freund, der mir sagte: „Guck dir das mal an, da gibt es ganz verrückte Leute!“ Auch waren da viele Mädchen und das war damals natürlich der Hauptgrund, in so ein Ding kommen.

Ich war in einer Akademie und später kam die Zeit der Entscheidungen: 1969, 70. Ich habe an der Universidad de Chile actuación (Schauspiel) studiert. In Chile konnte man ein wirklich sehr gutes Hochschulstudium an dieser Universität genießen. Parallel zu diesem Studium war die politische Situation in Lateinamerika, besonders in Chile, sehr im Aufbruch. Salvador Allende hatte mehrere Male versucht, die Wahlen zu gewinnen. Sagen wir ab 17 habe auch ich mich sehr politisiert.

In Chile gehören Politik, Fußball und Gespräche über das andere Geschlecht zusammen. Parallel zu meinem Studium habe ich in einer Gruppe gearbeitet, die nach dem Sieg der Unidad Popular (Volksfront) entstanden ist, eine Theatergruppe, die in der Gewerkschaft Chiles war und der die Technische Universität Raum gab. Dieses Projekt war ein Projekt, wo Künstler vielleicht zum ersten Mal von ihrer Arbeit leben konnten. Dabei waren die Gruppe Inti-Illimani, Víctor Jara (1932-1973) usw. Die Gruppe hieß Teatro Nuevo Popular. In Chile und auch in anderen Ländern ist es total normal, dass die Leute studieren und gleichzeitig arbeiten. Darüber hinaus war ich sehr aktiv in der Studentenbewegung und politisch organisiert. Und dann kam der Putsch und die Frage: wohin? Es war gefährlich, man musste weggehen. Wir hatten die Chance, Asyl zu beantragen bzw. haben uns in die Botschaft der DDR gerettet.

Und sie haben uns akzeptiert, übernommen und so landete ich im Mai 1974 auf dem Flughafen Schönefeld, DDR. Das war für uns sehr schön, denn wir wussten nicht viel über die DDR, aber das, was wir wussten, war sehr interessant. Es war ein europäisches Land mit dem Versuch, nein, nicht Versuch, sondern ein Land, das mittendrin ist, das, was wir in Chile versucht haben, zu verwirklichen: den Sozialismus. Was wussten wir von der DDR? Dass es ein Land mit fantastischen Sportlern war, mit einem wahnsinnigen kulturellen Leben. Ein Land, wo das realisiert war, was wir geträumt hatten. Die Grundsachen hatte dieses Modell geklärt: Medizin, Wohnen, Studium – das war alles da. Man musste nicht reich sein, um bestimmte Sachen machen zu können. Die Kinderbetreuung gehört auch dazu. Die ersten Monate nach unserer Ankunft in der DDR haben uns unheimlich darin bestätigt, dass das der richtige Weg war.

Carla Steinbrecher: Wie würden Sie Ihr Bild von der DDR vor Ihrer Ankunft noch beschreiben?

Alejandro Quintana: Wie gesagt, als ein Land, in dem Möglichkeiten für viele offenstanden. Als ein Land mit hervorragenden Sportlern, mit einem kulturellen, einem künstlerischen Netz, das in der Welt einmalig war. Diese subventionierten Theater in jeder kleinen Stadt, wie das hier in Rudolstadt, wo wir jetzt sind. Hier leben, glaube ich, 20.000 Menschen und die Stadt hat ein Orchester und ein Schauspielerensemble. Das war für uns sehr beeindruckend. Wir wussten diese Dinge, weil wir Literatur bekamen. Puente hieß eine Zeitschrift – das war natürlich eine Art Werbezeitschrift, natürlich über die positiven Seiten dieses deutschen Sozialismusversuchs.

Aber es war nicht so wichtig, was wir wussten. Wichtig war, irgendwie für eine kurze Zeit raus aus dem Land zu kommen, in ein Land, das uns die Mittel bereitstellen konnte, um schnell wieder nach Chile zurückkehren zu können. Das war die anfängliche Absicht. Wir haben zwei Sachen miteinander verbunden: die Notwendigkeit, das Land zu verlassen und die Dringlichkeit, so schnell wie möglich zurückzukommen. Damit war ich nicht allein: wir waren eine Gruppe junger Theatermacher. Wir sind in die DDR gekommen, um technisch besser zu werden, um uns beruflich zu verbessern und dann schnell zurückzukehren und in Chile weiterzumachen. Wir dachten, dieser Putsch dauere nicht lange. 1974, wir waren alle sehr jung und sehr naiv vielleicht. Wir dachten, in sechs Monaten wären wir zurück. Was ist aus diesen sechs Monaten geworden? Über 45 Jahre.

Theater in der DDR

Carla Steinbrecher: Wie war die Zeit unmittelbar nach der Ankunft? Sie landeten erst einmal in Rostock, wo Sie mit Mitgliedern des Teatro Nuevo Popular das Teatro Lautaro gründeten. Wie würden Sie die Phase zwischen Ihrer Ankunft und Ihrer Organisation am Theater beschreiben?

Alejandro Quintana: Wir hatten keine Pause. Wir haben uns unheimlich schnell organisiert und dieses Theater Lautaro gegründet. Wir wurden eingegliedert in ein staatliches Theater, das Volkstheater Rostock. Wir hatten dort Proberäume, wir hatten die Werkstätten – all das, was alle Theater in diesem Land hatten. Wir konnten über diese Möglichkeiten verfügen, haben angefangen und sofort ein, zwei, drei Stücke rausgenommen. Es gab keine Pause. Es war Arbeit, immer Arbeit, von Anfang an, aber eine schöne, wichtige, notwendige Arbeit. Unsere Aufgabe war, die Situation in Chile in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, und zwar mit sinnlichen Mitteln: mit Mitteln des Theaters, der Musik, des Films sprechen wir über unsere Probleme, nicht nur in Chile, sondern auf unserem ganzen Kontinent. Und gleichzeitig wollten wir, fast manisch, Neues lernen.

Carla Steinbrecher: Das heißt, wenn ich das richtig verstehe, war Ihre Absicht immer zweigeteilt: zum einen galt sie der Vorbereitung auf die Rückkehr nach Chile, um in Chile weiter Theater zu machen, zum anderen, die „Causa Chile“ in der Öffentlichkeit der DDR präsent zu machen?

Alejandro Quintana: In Europa! Zwischen 1974 und 1981 gab es kein wichtiges Theaterfestival, wo wir nicht anwesend waren. Denn darin bestand unser Auftrag. Was die Frage der Solidarität in der DDR angeht: Sie war „staatlich gelöst“, würde ich sagen. Das ganze Land, von oben nach unten und von unten nach oben, hat die Chile-Fahne mitgetragen. Ich kann nicht für alle sprechen, aber ich bin sehr dankbar, denn ich konnte, wenn ich den Blick nur auf mich werfe, mich entwickeln, aber ohne Pause!

Ich habe immer gearbeitet und mich immer parallel weitergebildet, weiterentwickelt. Ich hatte mein Studium in Chile nicht beenden können. Als der Putsch kam, fehlte ein Monat bis zum Ende des Studiums. Ich konnte das Studium hier revalidieren. Dann wurde ich Schauspiel-Dozent an Hochschulen in der DDR, aber auch in Westberlin. Zehn Jahre danach, als ich schon viel Regie gemacht hatte, habe ich die Chance bekommen, ein Regie-Studium zu machen. Das ist eine fantastische Situation für einen Menschen. Und es ist schwer, das zu bekommen, in Bezug auf Wissen, auf Entwicklung. Das hat uns dieses Land gegeben, diese Chance weiterzukommen.

Carla Steinbrecher: Kennen Sie Landsleute, die in Frankreich oder anderen Ländern im Exil waren und diese Möglichkeiten nicht hatten?

Alejandro Quintana: Es war für viele Freunde und Kollegen, die nach Westberlin, in die Bundesrepublik, Frankreich, Italien geflüchtet waren, in manchen Aspekten sicher viel lockerer, mit einem schöneren Alltagsleben. Aber wir hatten die Chance, wirklich zu vertiefen, zu studieren und zu arbeiten und all das ohne ökonomische Sorgen. Das war, das ist ein absoluter Luxus, den die Lateinamerikaner vielleicht besser verstehen können. Wir hatten nie ökonomische Sorgen. Wir wussten: Das Dach und Essen war da. Da konnte man lernen, arbeiten, sich selber überfordern, fast, im Tun, im kreativen Tun und im politischen Tun.

Manchmal, wenn ich mit Leuten diskutiere – das mache ich öfters – sagt man mir: „Sie machen ja eine Hommage auf die DDR.“ Ja, klar. Wer kann das schon sagen: über 40 Jahre ohne eine Lücke an Arbeit, kreativer Arbeit. Nach der Wende konnte ich glücklicherweise weitermachen, die Verantwortung wuchs sogar. Ich habe ein paar Theater geleitet bzw. mitgeleitet, auch in Westdeutschland. Ich war z. B. Schauspieldirektor in Heilbronn. Dann kam ich nach der Wende nach Rostock, auch als Schauspieldirektor, dann nach Cottbus. In diese leitenden Positionen kam man nicht einfach nur, weil man irgendwie sympathisch war. Ich verdanke das meiner Ausbildung, dem Studium, das ich in diesem Land, das DDR hieß, durchlaufen konnte.

Carla Steinbrecher: Was waren Ihre Stationen in der Ausbildung zum Regisseur?

Alejandro Quintana: Von 1974 bis 1980 war ich am Teatro Lautaro. Dann bin ich nach Berlin ans Theater der Freundschaft in Pankow. Das war das Zentraltheater für Kinder und Jugend. Zwei Jahre danach, 1983 bis 1993 war ich am Berliner Ensemble, als Regisseur mit Spielverpflichtung. Parallel habe ich mein Studium am Institut für Schauspiel-Regie ergriffen. Nach der Wende war ich Oberspielleiter am Staatstheater Cottbus und danach Schauspieldirektor in Heilbronn. Anschließend kam ich zurück nach Rostock, auch als Schauspieldirektor – oder war es andersherum?! Seit vier Jahren arbeite ich jedenfalls nur noch, wenn ich will – aber ich will immer. (lacht)

Carla Steinbrecher: Nochmal zurück zum Teatro Lautaro. Wie würden Sie das Publikum beschreiben, das zu Ihren Stücken gekommen ist? Waren das vorwiegend andere Exil-Chilenen oder Rostocker?

Alejandro Quintana: In der DDR war es überwiegend DDR-Publikum, Deutsche, die natürlich von vorn herein eine gewisse Neugier und Sympathie für unsere Gruppe hatten. Unsere Musik und unsere Art, Theater zu machen, waren sehr beliebt. Ein bisschen fremd, aber trotzdem verständlich. „Verständlich“, das ist ein Kapitel für sich. Wir haben viel experimentiert. Wie können wir unsere Inhalte transportieren, wenn wir die Sprache noch nicht sprechen? Wir entwickelten also eine Spielweise, die sehr körperlich war. Später hat jemand das mit Pina Bausch (1940-2009) verglichen. Was sie mit Tänzern machte, haben wir versucht, schauspielerisch umzusetzen. Am Anfang ohne Worte und dann natürlich mit Worten.

Wir haben eine Version vom Kaukasischen Kreidekreis von Brecht mit Zettelchen inszeniert. Jeder hatte so ein Büchlein und an wichtigen inhaltlichen Punkten haben wir das Spiel unterbrochen und mithilfe des Büchleins versucht, diese auf Deutsch zu sagen. Ich glaube, keiner hat das verstanden, aber es war zumindest eine Geste. Es klang wie Russisch. Die Kinder haben es verstanden. Die Erwachsenen hatten immer größere Schwierigkeiten. Aber es waren DDR-Bürger, die unsere Aufführungen gesehen haben, weil wir eben in den regulären Spielbetrieb eingegliedert waren. Unsere Produktionen standen ganz normal im Spielplan des Volkstheaters Rostock. Dazu kamen die zahlreichen, bereits erwähnten Gastspiele. Und trotzdem war diese Arbeit für uns nicht genug. Durch dieses Repertoire-System, das uns bis dato unbekannt gewesen war, haben wir vielleicht zwei, maximal drei Mal in der Woche gespielt. In Chile gab es ein anderes, Ensuite-Repertoire. Du nimmst ein Stück und spielst es jeden Tag bis zum geht nicht mehr.

Carla Steinbrecher: Sind Sie denn auch mit dem Publikum ins Gespräch gekommen oder war das in der Anfangszeit aufgrund der Sprachbarriere zu schwierig?

Alejandro Quintana: Nein, in besonderen Vorstellungen war es ein organisiertes Gespräch. Aber das gehörte nicht zu der Art zu arbeiten, damals in der DDR, und unsere Art war es auch nicht. Bei Einladungen zu Festivals z. B. oder bei den Berliner Festtagen, da gab es immer Dolmetscher.

Carla Steinbrecher: Haben Sie dann irgendwann Ihre Stücke auf Deutsch aufgeführt?

Alejandro Quintana: Wir haben es versucht! (lacht) Wir sind einfach ins Wasser gesprungen. Es waren viele Experimente. Das erste, was wir gemacht haben, war die Adaption eines Gedichts von Pablo Neruda (1904-1973) über einen Vorgang, der im Norden Chiles geschah. Wir hatten schon früher in den 1940er Jahren eine komplizierte Situation in Chile. Und dieses Stück, Stichwort „Pina Bausch“, funktionierte nur über Körper, räumliche Verhältnisse, Blicke, Perspektiven, realistisch, weder Tanz noch Schauspiel, sondern etwas dazwischen. Wir hatten zwei Erzähler, links und rechts von der Bühne, so wie Totems. Auf Spanisch und Deutsch haben die das gesprochen, was wir da rumgetanzt haben.

Das zweite war ein sehr naturalistisches Stück über den Putsch. Wir hatten große Videos mit Texten, das heißt, die Essenz der Vorgänge wurde für alle Leute klar. Dann haben wir gespielt, aber nicht nur dokumentarisch. Das Bühnenbild machte ein sehr guter Maler von uns, Juan León. Das heißt, die Hintergrundinformation blieb nicht unkommentiert, sondern wir verbanden sie mit einem ästhetischen Angebot. Dann machten wir den Kaukasischen Kreidekreis. Dann, am Volkstheater Rostock, wurde „Humboldt Bolívar oder Der neue Kontinent“ inszeniert, ein Riesenstück. Ich sollte den Bolívar spielen und das war Text, Text und nochmal Text – auf Deutsch natürlich! Wir haben das aber wirklich einigermaßen hingekriegt. Ich hatte an jedem Ort meiner Wohnung, Bad, Küche, Schlafzimmer, eine Audioaufnahme mit dem Text, die mir jemand aufgenommen hatte. Ich hörte, hörte, hörte. Ich bin ein bisschen unmusikalisch. Und dazu wurde eine Sprecherzieherin engagiert, nur für diese Sache. Die Qualität der Sprache, die ich in diesem Stück hatte, entsprach nicht meiner Wirklichkeit! Das war Theater. (lacht)

Carla Steinbrecher: Eine letzte Frage zu Rostock: Meine Generation verbindet Rostock mit den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992. Wie waren in den Jahren nach der Ankunft Ihre Lebenserfahrungen in Rostock? Haben Sie Erfahrungen der Fremdenfeindlichkeit gemacht oder hat Sie dieser Gewaltausbruch zu Wende-Zeiten überrascht?

Alejandro Quintana: Wir waren sehr vernetzt, hatten viele Bekannte und hatten so viel zu tun. Ich hatte in Rostock zu dieser Zeit wenige Probleme mit dem, was danach kam. Klar, wie in jedem Land gab es Leute, die seltsam sind, und denken, dass sie die Wahrheit haben, oder anti-Ausländer sind – das gibt es überall. Aber ich kann Ihnen nicht sagen: „Ja, so war das!“ Im Zug habe ich innerhalb von so vielen Jahren vielleicht zwei oder drei Mal so einen Konflikt gehabt. Rassisten gibt es überall und in jedem System. Aber ich kann nicht sagen, dass da schon etwas Latentes war. Was danach kam: Ja, es war überraschend. Als ich viel später nach der Wende, im Jahr 1993, in Cottbus war, das war eine komplizierte Zeit, dort in Brandenburg. Da musste man aufpassen. Plötzlich wurden Lokale und bestimmte Orte in der Stadt gemieden.

Am Berliner Ensemble – und Bertolt Brecht

Carla Steinbrecher: Wie sind Sie nach Berlin gekommen? War das ein starker Bruch?

Alejandro Quintana: Berlin war total schön für mich, weil ich aus Santiago komme. Ich konnte an meine Erfahrungen der Großstadt anknüpfen. Die Anonymität der Großstadt finde ich immer noch spannend. Erst war ich am Theater der Freundschaft und dann am Berliner Ensemble. Das war für mich ungefähr so wie für einen Fußballer, der ein Angebot bei Real Madrid bekommt. Das war für mich ein Traum, könnte man sagen. Sehen Sie, eins der Motive, in die DDR zu kommen, war Brecht. Es ging um Brecht und plötzlich durfte ich an seinem Haus arbeiten.

Carla Steinbrecher: Und Manfred Wekwerth (1929-2014, bis 1991 Leiter des Berliner Ensemble und bis 1990 Präsident der Akademie der Künste der DDR ) war ja sogar ein Schüler von Brecht gewesen.

Alejandro Quintana: Ja, er war mein Mentor. Wekwerth und ich, das wurde mehr als eine berufliche Partnerschaft. Wir waren uns freundschaftlich sehr verbunden. Wir haben viel zusammen gelacht. Wir haben sogar zusammen Regie geführt, was sehr schwer ist. Ich bin diesem Mann extrem dankbar. Ich habe viel von ihm gelernt, zum Beispiel was Dialogregie betrifft. Wenn ich mit Schauspielern arbeite, denke ich sehr oft an Wekwerth. Sprache ist Gestus, Sprache ist Haltung – nicht nur Information oder Sound. Manchmal ändert man ein Detail und die Situation kippt total ins Gegenteil. Wie macht man etwas durch eine Pause? Spreche ich auf den Punkt? Greife ich an?

Carla Steinbrecher: Wie wichtig war für Sie Brechts politische Haltung und seine Idee des engagierten Theaters?

Alejandro Quintana: Als der Putsch in Chile kam, waren wir beschäftigt mit einem Stück von Brecht. Denn es war eine Zeit, wo man sich entscheiden musste. Die Situation verlangte von allen eine Haltung. Man konnte sich nicht verstecken. Deswegen wollten wir „Die Gewehre der Frau Carrar“ (Brechts Stück von 1937 über den Spanischen Bürgerkrieg) machen. Eine Metapher über Bürgerkrieg, darüber, wie man sich verhält und ob man sich entzieht. Brecht war für uns ein ganz wichtiges Vorbild. Es war so schön, ihn zu entdecken, weil wir dachten: „Da ist jemand, der geschrieben und gedacht hat, was wir noch nicht formulieren können.“ Aber die Nähe zu seinem Denken war schon da. Was wir versuchten in Chile, war eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, eine andere, gerechtere soziale Ordnung. Und dabei war er ein sehr guter Partner, ein guter Kollege. Ich habe mich ziemlich in alles, was er geschrieben hat, hineingestürzt.

Ich habe mittlerweile die wichtigsten Stücke von Brecht inszeniert, vom Galileo über Mutter Courage, von Baal bis Der gute Mensch von Sezuan, mit hervorragenden Schauspielern und ein paar dieser großen Werke an seinem Haus! Noch immer, wenn ich heute darüber nachdenke, bewegt es mich sehr. Damals, als ich es gemacht habe, hatte ich keine emotionale Bindung als die Arbeit, war beschäftigt mit der Frage, wie wir dieses oder jenes machen, aber jetzt denke ich: „Mein Gott.“ Ich war relativ jung, Mitte 30 und konnte das machen in diesem Land mit fantastischen Schauspielern.

Das Schöne war, wir hatten noch in Chile ein Seminar gehabt über den unglaublichen ostdeutschen Schauspieler Ekkehard Schall (1930-2005). Eine unserer Dozentinnen war in Europa gewesen. Er hatte am Berliner Ensemble den Arturo Ui gespielt und das Seminar behandelte, wie dieser Schauspieler die Figur aufbaute. Schall war übrigens der Schwiegersohn Brechts. Wir hatten dieses Seminar Anfang 1973 und viele Jahre später war ich tatsächlich in dem Haus, an dem diese Person arbeitete, durfte Regie führen mit diesem Schauspieler. Ich war sehr glücklich, das machen zu dürfen. Schall war ein besessener Mensch, für mich einer der besten Schauspieler, die ich kenne. Leider ist er 2005 gestorben. Wir haben nachmittags zusammen trainiert, als ich im Berliner Ensemble war. Später haben wir den Film „Die Bestie“ zusammen gemacht, der den Regiepreis beim Europäischen Fernsehfestival in Plowdiw (Bulgarien) gewonnen hat.

Carla Steinbrecher: Sie und Ihre Kollegen am Berliner Ensemble, haben Sie dort auch politisch diskutiert? Zum Beispiel über die Situation in Chile?

Alejandro Quintana: Wenn wir gearbeitet haben, bezog sich die Diskussion immer auf das aktuelle Stück. Aber Theater ist immer Gegenwart. Das heißt, wenn wir einen Shakespeare oder einen Brecht gemacht haben, ging es nicht um die Zeit, in der die Autoren lebten, sondern was projiziert sich, warum machen wir dieses Stück heute? Wir haben über das Heute gesprochen, über die Anomalien, über die Widersprüche, vielleicht über die Schönheiten. Es war immer eine Gegenwartsdiskussion. Klar, Chile spielte eine Rolle, insofern ich Chilene war. In der Pause wurde vielleicht mal gefragt: „Wie gehts euch?“ oder „Ich habe das und das heute gelesen“. Ich habe am Berliner Ensemble aber auch einmal ein chilenisches Stück gemacht, „Die ganze Nacht“ über vier Frauen im Gefängnis (Originaltitel: „Toda esta larga noche“ von Jorge Díaz). Ja, das war natürlich das Thema Chile, aber nicht nur Chile, sondern, was es bedeutet, eingeschlossen zu leben. Das lag auch im Raum, weil Theater immer eine Metapher ist. Es meint nie nur die Zeit des Stückes, sondern die Zeit, in der du heute lebst. Sonst ist es für die Katze…

Aus dem Film Blonder Tango ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer, Dieter Lück

Carla Steinbrecher: Bezog sich diese Reflexion auch auf das Eingeschlossensein in der DDR?

Alejandro Quintana: Ja.

Carla Steinbrecher: Dabei waren Sie ja eigentlich nicht in dem Maße eingeschlossen wie DDR-Staatsbürger, weil Sie nach Westberlin und ins Ausland reisen und dort arbeiten durften?

Alejandro Quintana: Ja, und viele Leute vom Berliner Ensemble auch. Es war eins der wichtigsten europäischen Theater und manche Schauspieler waren auch anderswo engagiert. Aber es ging nicht um unser persönliches Problem, sondern um das Problem des Eingeschlossenseins als ein Problem einer Zeit, einer Gesellschaft. Es ging nicht darum zu meckern, sondern zu versuchen, philosophisch zu begreifen, was das bedeutet. Warum ist das entstanden? Darüber kommt man zu hochinteressanten Diskussionen. Warum entstand da plötzlich diese absurde Grenze? Plötzlich spricht man nur noch über die Grenze als etwas Furchtbares. Aber dann muss man vielleicht fragen, wieso? Wer hatte diese schwachsinnige Idee? War es eine Notwendigkeit oder ein Irrtum? Da öffnet sich die Diskussion auf anderer Ebene.

Ich mochte die Arbeit mit den Kollegen mit meinen DDR-Kollegen sehr. Das war eine gute Schule, denn sie waren (Pause) unerbittlich in der Suche nach Widerspruch, nach Wahrheit. Es waren unruhige Geister und gute Streiter. Das Land hat etwas gesät, das es nicht immer ertragen konnte. Aber es waren gut ausgebildete Menschen mit einem dialektischen Denken. Nicht immer konnten die Leute das ausüben – das war das Absurde. Aber ich hatte das Glück, mit vielen Schauspielstudenten in Rostock und Berlin zu arbeiten und irgendwann wurde ich nach West-Berlin eingeladen an die damalige Hochschule der Künste (HdK) und ich merkte: Das ist ein anderes Denken. Die Leute waren sehr mit sich selbst und mit der Figur, ihrer Rolle, beschäftigt. Unsere Studenten waren sehr damit beschäftigt, das Ganze zu begreifen: „Was erzählt das Stück? Was wollen wir erzählen?“ Das war eine interessante Erfahrung. Ich hatte Sehnsucht nach meinen Studenten im Osten. Die Gespräche waren nicht so auf sich bezogen.

Der chilenische Weg zum Sozialismus – eine Alternative?

Carla Steinbrecher: Was bedeuteten Chile und die Solidarität mit Chile für Menschen in der DDR, insbesondere für Künstler und Intellektuelle? War Chile ein weiteres Symbol für die geteilte historische Erfahrung der politischen Verfolgung durch die deutschen Nazis beziehungsweise die chilenische Militärjunta?

Alejandro Quintana: Es gab eine große Sympathie mit unserem Versuch in Chile, die Welt zu verändern – in Europa. Warum war das Interesse nicht nur in der DDR, sondern in ganz Europa so groß? In Italien, in Spanien hatte die linke Bewegung eine sehr große Bedeutung. Es war der Versuch, einen demokratischen Weg zum Sozialismus zu finden. Deswegen war das Interesse so groß: „Was wird damit?“ In dieser Zeit entstand in der Linken dieser Eurokommunismus, eine interessante Bewegung. Viele Jahre später kann ich sie sympathischer finden als damals. Damals hatte ich eine andere Einstellung zu ihr. Aber es gab nicht nur in der DDR, sondern auf der ganzen Welt eine große Aufmerksamkeit und Sympathie für dieses kleine Land, das sich dank seiner politischen Kultur entschlossen hat, diesen Weg auszuprobieren, auf demokratischem Weg, einen demokratischen Sozialismus zu realisieren. Das hatte es noch nie gegeben in der politischen Geschichte der Menschen.

Carla Steinbrecher: Hatten Sie das Gefühl, für DDR-Bürger war der „chilenische Weg zum Sozialismus“ (die „vía chilena al socialismo“) eine Alternative zum Ein-Parteien-Staat und zum Staatssozialismus der DDR?

Alejandro Quintana: Nein, es war keine Alternative. Aber es war ein bisschen eine – Bewunderung kann ich nicht sagen – eine Verwunderung mit ein bisschen Bewunderung gemischt. Hinzu kommt, dass die kulturelle Distanz nicht so groß ist. Südamerika ist sehr europäisch geprägt, durch Frankreich, durch England. Die Ideen der Französischen Revolution hatten dort ziemlich großen Einfluss. Und als der Putsch kam: ich treffe bis heute ehemalige DDR-Bürger, die sagen: „Ich war kaputt, als diese Nachricht kam!“ Ich kenne viele Menschen, die sich gemeldet haben, weil sie dachten, es wird wieder wie in Spanien. Vielleicht muss man eine internationale Brigade gründen, um dort zu helfen. Ich kenne sowohl Leute, die fünf Jahre jünger sind, als auch Leute, die fünf Jahre älter sind als ich, die sagen: „Ich war dabei. Ich war auf der Straße.“ In der DDR gab es spontane Kundgebungen für Chile, die nicht angemeldet waren.

Carla Steinbrecher: Sie erwähnten gerade den Spanischen Bürgerkrieg und die Internationalen Brigaden, ein Thema, das auch im Film Blonder Tango eine Rolle spielt. War der Spanische Bürgerkrieg eine Art Brücke zwischen der DDR und Chile, auch über den Begriff des Antifaschismus und des antifaschistischen Widerstands?

Alejandro Quintana: Ja, ich glaube schon, dass da bei der älteren Generation viele Sachen wieder hochkamen. Die eigene Geschichte, das Problem des Nationalsozialismus, der Antifaschismus, die Intervention vieler junger Deutscher, die damals in Spanien geholfen haben, und unter denen zum Beispiel Ernst Busch (1900-1980) war, der spannendste Schauspieler des Berliner Ensembles. Ja, das alles spielte eine Rolle. Auf alle Fälle existierte die internationale Solidarität nicht nur auf dem Papier, sondern war Gelebtes. Wir haben gespürt, dass es hier eine große Prädisposition gab, uns aufzunehmen. Wir wurden wirklich aufgenommen. Man hat uns Möglichkeiten gegeben, die das Land selbst fast nicht hatte. Das war fast ein bisschen too much, was sie mit uns gemacht haben.

Carla Steinbrecher: War denn der Spanische Bürgerkrieg auch für die Linke in Chile wichtig?

Alejandro Quintana: Ja, das gehört zu uns, diese Lieder sind für uns wie Muttermilch. Schon als junger Mensch, ich war noch nicht politisiert, kannte ich die Lieder, weil meine Eltern sie gesungen haben, beim Wäschewaschen oder so. Das gehört zu dem background. Auch in der DDR waren diese Lieder sehr bekannt. Und, Sie kennen das, wo zwei Chilenen sind, da gibt es drei Gitarren. Und man war jung und hat viel zusammen gesungen, nach der Arbeit. Und Trinken war nicht schwer – und auch nicht teuer.

Carla Steinbrecher: Sie haben über die ältere Generation gesagt, es habe über die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Spanischen Bürgerkriegs eine gewisse Prädisposition gegeben. Wie würden Sie das bei der jungen Generation beurteilen: woraus schöpfte sich ihre Solidarität? Hatte das auch etwas mit der vorangegangenen Solidaritätsbewegung mit Vietnam zu tun?

Alejandro Quintana: Witze sind ja bekanntlich gesellschaftliche Synthesen. Und es gibt einen ganz tollen Witz: Ein kleines Kind, so klein, es kann kaum sprechen, ist verloren in einem Einkaufszentrum. Es weint und weint und es kommt eine Frau und fragt „Hallo, was ist denn?“ Das Kind weint. Die Frau: „Wie heißt du?“ Das Kind: „Ich weiß nicht!“ Die Frau: „Wo wohnst du?“ Das Kind: „Ich weiß nicht!“ Die Frau: „Kennst du jemanden?“ Das Kind: „Ja!“ Die Frau: „Wen?“ Das Kind: „Luis Corvalán!“ Luis Corvalán (1916-2010) war der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles. Der Witz über dieses Kind sagt viel über die damaligen Kampagnen, die wirklich, soweit ich sie mitgemacht habe, von nationaler Tragweite waren. Ich kenne keine Leute, die vielleicht die Nase voll davon hatten – und die gab es bestimmt. Aber ich glaube, wir haben auch dazu beigetragen, dass die ganze Sache human blieb. Wir Chilenen haben eine Fähigkeit: wir sind kommunikativ. Es ist uns gegeben, immer mittendrin zu sein, zu vernetzen. Wir sind unruhige Typen, unruhige Geister und zusätzlich war das auch unsere Aufgabe, als bewusste Tätigkeit. Und wir waren jung, ich war 23!

Und einer Menge anderer ging es genauso. Wenn ich jetzt die Syrer sehe oder die Afghanen, die Immigranten, die jetzt kommen und die so jung sind, da komme ich schon ins Denken: „Was wird mit denen?“ Man findet sich irgendwie in ihnen wieder, aber anders, unter einer komplett anderen Situation. Die haben es sehr schwer. Besonders die, die es nicht schaffen, sagen wir, durch die große offene Tür reinzukommen. Die Anomalien, der Rassismus ist größer; die Verunsicherung der Gesellschaft ist viel größer.

Politische Lieder – Politische Haltung

Carla Steinbrecher: In den 1970er Jahren waren ja die Sängerin Isabel Parra (*1939) und die Gruppe Quilapayún, prominente Repräsentant*innen des Neuen Chilenischen Lieds, öfters in der DDR, z. B. beim Festival des politischen Lieds. Hatten Sie Kontakt zu ihnen?

Aus dem Film Blonder Tango ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer, Dieter Lück

Alejandro Quintana: Ja, das waren natürlich Leute, die in Chile schon sehr berühmt waren, aber das Exil hat uns alle sehr nah zusammengebracht. Ich konnte Quilapayún logistisch und übersetzerisch unterstützen, als sie einmal am Berliner Ensemble engagiert waren. Mit Inti-Illimani war es immer angenehm. Die sind etwas volksnäher. Eine andere in der DDR lebende Gruppe, die für mich zu den spannendsten und kämpferischsten chilenischen Gruppen gehört, ist Tiempo Nuevo aus Valparaíso. Mit Tiempo Nuevo haben wir intensiv und regelmäßig zusammengearbeitet. Mit einem hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt: Roberto Rivera. Er hat auch in Blonder Tango gespielt. Mit Roberto haben wir über die Jahre eine Art Komplizenschaft entwickelt. Wir haben Shakespeare, Gabriel García Márquez (1927-2014) und vieles mehr zusammen inszeniert – er komponierte die Musik. Er hat sich in einen wirklich großartigen Theater-Komponist verwandelt.

Carla Steinbrecher: Tiempo Nuevo war auch in der DDR im Exil?

Alejandro Qutinana: Ja.

Carla Steinbrecher: Isabel Parra und Quilapayún in Frankreich?

Alejandro Quintana: Genau, die hatten dort Kontakte. Inti-Illimani war in Italien. Aparcoa war in Rostock.

Carla Steinbrecher: Gab es einen Zusammenhang zwischen Exil-Land und der politischen Haltung der Chilenen? Manche sind nach Frankreich gegangen, manche nach Italien, wo die Linke und die Idee des Antifaschismus ja auch einflussreich waren. Manche sind aber auch nach Großbritannien gegangen, manche, eher wenige, in die Sowjetunion.

Alejandro Quintana: Ja, denn das wurde immer schwieriger. Da war Kuba. Der Kalte Krieg war, das vergessen wir immer, extrem lebendig. Diese zwei Systeme standen wirklich gegeneinander und ins Zentrum eines Systems zu kommen, war nicht einfach. So war die Sowjetunion. Das waren ziemlich ‚gesiebte‘ Leute, die da reindurften. Funktionäre etc. Außerdem: man musste Leute schützen. Das klingt total pathetisch, aber es war so. Die Hände der DINA, des Geheimdiensts Pinochets, arbeiteten auch im Ausland, unterstützt durch die USA. Das ist alles belegt: die Versuche, Chilenen im Exil zu liquidieren. Das geschah 1976 mit dem sozialistischen Politiker und Diplomaten Orlando Letelier (1932-1976) in Washington, 1974 mit dem ehemaligen General und Vizepräsidenten der Regierung Salvador Allendes Carlos Prats (1915-1974) in Argentinien.

Carla Steinbrecher: Wo haben Sie sich politisch in diesem Europa des Kalten Kriegs verortet, zwischen Eurokommunismus und Sowjetkommunismus?

Alejandro Quintana: Wir versuchten, Marxisten zu sein, ohne genau zu wissen, was das war. Weltveränderer. Einen egalitären Ort finden, wo Chancengleichheit herrscht. Aber, um Ihre Frage konkret und ehrlich zu beantworten: Ich war einfach Kommunist und stand sehr hinter diesem Versuch eines sozialistischen Staats. Natürlich hat man manchmal gestaunt, warum es nicht so gut läuft. Aber ich denke auch, dass vieles noch untersuchungswert ist. Wie macht man eine Welt lebbar für viele, wenn nicht für alle? Chancengleichheit. Es geht nicht um Gleichmacherei. Aber diese Probleme hat man sogar noch in einem hochentwickelten Land wie Deutschland jetzt. Es bestimmt schon, aus welchen Kreisen du kommst. Schaffst du es oben mit einem Hochschulstudium? Und wenn du es schaffst – wie sind deine Kontakte? Hast du noch ein Studium in Oxford oder irgendwo sonst? Da kommt man nicht einfach so rein… Das alles finde ich immer noch nicht so toll.

Carla Steinbrecher: Waren Sie damals Mitglied in der Kommunistischen Partei Chiles?

Alejandro Quintana: Ja. Und gleichzeitig Katholik.

Carla Steinbrecher: Das Interessante an der Unidad Popular ist ja, dass sie so viele verschiedene linke Strömungen in einem Bündnis vereinigte. Möglicherweise war das auch ihr inneres Problem. Man liest öfters, dass die SED etwas skeptisch gegenüber den chilenischen Immigranten war, weil sie nicht wussten, ob da nicht vielleicht ein paar Ultralinke oder Guerilleros oder dergleichen dabei waren.

Alejandro Quintana: Ich verstehe, was Sie meinen. Aber was ich inzwischen gelernt habe, ist, dass es die SED nicht gab. Auch da gab es verschiedene Richtungen: ultralinks, extrem konservativ usw. Aber die Grundrichtung war klar. Ich glaube, ich bin immer noch Katholik. Ich habe alle Wege, die man fahren muss, durchgemacht: Kommunion, das ganze Pipapo. Ernesto Cardenal (1925-2020) war total wichtig für mich. Die Theologie der Revolution noch wichtiger. Und das ist alles vereinbar für mich. Klar, in einem Land wie der DDR konnte nicht jeder machen, was er wollte, besonders, wenn eine große Gruppe von Ausländern plötzlich kommt. Wir waren 1.500. Heutzutage ist das keine Zahl, aber in diesem Moment, in diesem relativ kleinen Land war das schon relativ viel. Wir wurden aber auch ziemlich durchleuchtet. Man muss wissen, wen man sich nach Hause einlädt.

Carla Steinbrecher: Inwiefern hat sich denn Ihr Bild der DDR über die Jahre verändert?

Alejandro Quintana: Verändert hat es sich sicherlich. Meine Frau kommt aus dem Osten und manchmal beim Frühstücken oder so, dann fallen uns Dinge auf, die uns fehlen, oder Dinge, die gut waren, die leider nicht übernommen wurden.

Carla Steinbrecher: Zum Beispiel?

Alejandro Quintana: Diese integrative Schule, dass die Leute nicht so früh entscheiden mussten, in welche Richtung sie gehen. Dass krank sein kein Problem war. Und dass die wesentlichen Sachen nicht privat sind, finde ich total wichtig. Die Not – was nicht gut ist, ich bin nicht für Not – aber die Not macht auch erfinderisch. Jetzt brauchst du nur Geld. Du brauchst wenig Fantasie. Mit Geld kannst du alles lösen. Früher, wie sagt man – die Verbindungen zwischen den Menschen durch die Not, durch den Mangel an Sachen haben eine andere Art der Kommunikation erzeugt.

Aber vielleicht ist das Wichtigste und das ist ein anderer Gedanke. Ich verstehe dieses Phänomen ein bisschen mehr, wenn ich mich zurücknehme und nicht mit meiner Dankbarkeit und meinen guten, schönen Erfahrungen gucke: Es war ein Projekt, das nach einem furchtbaren Krieg entstanden ist und das von vielen Menschen gemacht wurde, die das vielleicht nicht wollten, die vielleicht auch eine andere Vergangenheit hatten – die immense Mehrheit von den Leuten, die dieses Projekt mit nach vorne gebracht haben, die Organisatoren dieses Projekts, dieses künstlichen Projekts. Stellen Sie sich vor: Ein nationalsozialistisches Land, sagen wir so ganz allgemein, so grob, wird plötzlich geteilt und von außen wird der Sozialismus kreiert. Schwierig! Schwierig, mit dem Trauma. Ein Land, voll traumatisiert, als Täter und als Opfer. Ich verstehe jetzt ein paar absurde Verhaltensweisen oder diese Sturheit, mit der bestimmte Sachen durchgezogen wurden. Sie kommen, glaube ich, aus dieser Ecke. Viele von uns Chilenen haben als Emigranten damals nicht verstanden, warum so eine schöne Idee, so ein schönes Projekt mit so vielen Möglichkeiten, die schon da waren, so schlecht rübergebracht wurde.

Carla Steinbrecher: Haben Sie manchmal darüber geredet, was Sie anders machen würden?

Alejandro Quintana: Ja, man hätte die Leute mehr mitnehmen müssen. Das heißt, nicht nur „Es soll so-und-so sein.“, sondern wirklich mit Diskussion. Etwas offener geführt. Wir hatten viele Gastspiele in Paris, Lyon, in Edinburgh, bei denen auch unsere Techniker dabei waren, DDR-Bürger, und die sagten „Toll, toll! Aber ich würde hier nicht bleiben wollen. Ich möchte nach Hause.“ Für sie war es toll, zu gucken, das Essen und die Einkaufsmöglichkeiten. Das heißt: Eine Öffnung wäre gut gewesen, nicht nur der Grenze, sondern auch der Diskussion darüber, wie man zu bestimmten Erneuerungen kommt. Eine Partei kann nicht für alle denken und vorschreiben, wie es gemacht wird – das war ein großes Problem. Die Leute sollten nach bestimmten Richtlinien funktionieren. Aber das war widersprüchlich. Man muss Verantwortung übernehmen und Richtlinien vorgeben, aber diese Richtlinien dürfen nicht nur in geschlossenen Räumen entstehen. Aktuell in der Pandemie finde ich auch, es wäre wichtig, als Bürger mehr Einfluss ausüben zu können hinsichtlich der Maßnahmen, mehr Chancen zu haben, sich einzumischen.

Die Zeit bis zum DEFA-Film Blonder Tango

Carla Steinbrecher: Wir kommen jetzt zum Film Blonder Tango aus dem Jahr 1986. Vielleicht eine Frage vorab zu den 1980er Jahren. Blonder Tango und andere Filme aus den 1980er Jahren vermitteln oft den Eindruck von Tristesse. Wie haben Sie die 1980er Jahre in Erinnerung? Haben Sie weiterhin über eine Rückkehr nach Chile nachgedacht?

Alejandro Quintana: Das mit der Tristesse, das sagen viele. Wenn ich mir Filme anschaue, auch z. B. Dokumentarfilme, finde ich es auch sehr trist. Aber ich kann mich nicht an Tristesse erinnern. Ich kann mich erinnern, an diesen und jenen Häusern entlang zu laufen, durch Straßen in Berlin, die immer noch durchschossen waren vom Krieg. Aber das spielte für mich keine Rolle, weil ich irgendwohin auf dem Weg war, wo ich etwas Schönes tun würde. Oder ich hatte einen Termin mit jemandem, wo ich klopfte, sich die Tür öffnete und es duftete. Die Leute haben sich wirklich bemüht, ihr Zuhause schön zu gestalten. Und es waren die Kontakte. Viele sagen: „Es war alles grau, es war alles ängstlich.“ Aber die Menschen haben auch Witze gemacht über diese Kontrollsituation. Man weiß inzwischen, dass katastrophales Unrecht geschehen ist. Aber ich erinnere mich, dass wir Witze gemacht haben über diese Situation, auch mittels bestimmter Gesten. Von Tristesse kann ich nicht sprechen. Ich weiß, dass es, wenn ich jetzt zurückgehen würde und dort anfangen wollte, schlimm wäre. Aber wenn du jung bist und voller Aufgaben, ist es total unwichtig, ob die Gabel schön oder aus Aluminium ist, Hauptsache es wird gut gekocht.

Carla Steinbrecher: Ab wann war klar, dass Sie nicht mehr nach Chile zurückkehren?

Alejandro Quintana: Nach der Wende habe ich ein Haus in Chile gekauft. Ich war kreditwürdig für die westdeutschen Banken. Nach zwei Jahren merkte ich, das ist es nicht. Aber es ist immer ein Hin und Her. Naja, das ist mein Land, meine Heimat –

Carla Steinbrecher: Deutschland?

Alejandro Quintana: Mecklenburg. Ich bin da 1974 angekommen und bin nach einer Runde nun wieder da. Ich kenne die Menschen dort und verstehe diese Mentalität und fühle mich wirklich gut. Da habe ich jetzt so ein Netz aufgebaut.

Carla Steinbrecher: Beim Stichwort „Mecklenburg“ fällt mir natürlich eine Schriftstellerin ein: Christa Wolf (1929-2011). Hatten Sie auch Kontakt zu Schriftsteller*innen? Sie haben ja beispielsweise ein Hörspiel von Fritz Rudolf Fries (1935-2014) aufgenommen.

Alejandro Quintana: Ja, zuletzt mit Günther Grass (1927-2015), also nicht aus dem Osten. Ich wollte die Blechtrommel machen und man musste mit ihm sprechen. Er war ein angenehmer Typ. 2006 oder so, glaube ich. Wir hatten viele chilenische Literaten, durch die entstanden immer so Gespräche. Volker Braun (*1939) stand uns sehr nah. Er war Hausautor am Berliner Ensemble, aber es war Sympathie. Ich mochte seine Art, seine Stücke. Und er war ein großer Verfechter der Solidarität, ein sehr offener, sehr kritischer Mensch. Heiner Müller (1929-1995) habe ich auch gut gekannt. Er hat mir beim Berliner Ensemble gekündigt. Das war ganz schön, in der Kantine, mit einem Glas Whisky, 1993.

Aus dem Film Blonder Tango ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer, Dieter Lück

Rudolf Fries kannte ich. Er hat viele spanische Stücke übersetzt. Mit Werner Buhss hatten wir auch Kontakt, aber am meisten natürlich mit meinen Leuten: Omar Saavedra Santis. Carlos Cerda (1942-2001) flüchtig. Der chilenische Choreograph Patricio Bunster (1924-2006), das ist mein Lehrer, mein Meister, mein Freund, mein Vorbild. Pato, das war ein Glücksmoment, Patricio Bunster zu haben von 1974 bis 1981 und darüber hinaus. Er hat mit uns weiter doziert, in der Kunst und im Leben. Er war mein Dozent an der Universität in Chile gewesen und wir haben zusammen Theater gemacht. Deshalb Pina Bausch, diese andere Art sich zu bewegen. Das chilenische Theater ist sehr körperlich. Wir haben mit ihm intensiv all diese Jahre gearbeitet und sind besser geworden. Er war Choreograph. An der Universität Chile hat er die Tanzabteilung geleitet und war der wichtigste Choreograph Chiles. Wir hatten das Glück, ihn als Dynamik-Dozent zu haben. „Dynamik“ ist ein Fachbereich, den es nur in Chile im Schauspielunterricht gab. Das hat nichts mit Bewegung, mit Akrobatik oder Pantomime zu tun, sondern mit Dynamik, körperlicher Intensität.

Carla Steinbrecher: Wie sind Sie zu Blonder Tango gekommen?

Alejandro Quintana: Omar (Saavedra Santis, CS) hat mir erzählt, dass er an etwas schrieb. Mit Omar war es eine sehr intensive Beziehung, bis jetzt. Viele Texte von Omar hat man peu à peu wahrgenommen, diesen Roman z. B. Dann kam die Nachricht, dass das verfilmt werden sollte. Ich dachte: „Ich würde das gern spielen.“ Ich habe mich beworben, ich wurde getestet und die Leute waren nicht ganz überzeugt. Aber dann hat Omar, glaube ich, ein Wörtchen für mich eingelegt. (lacht) Und so kam ich zu dem Glück.

Carla Steinbrecher: Wissen Sie, wer noch gecastet wurde? Hätte es vielleicht auch ein DDR-Schauspieler werden können? In Ein April hat 30 Tage wird der Uruguayer ja von einem Rumänen gespielt.

Alejandro Quintana: Ja, darüber waren wir alle sauer. Aber noch saurer war ich ein anderes Mal. Ich war Schauspieler aus Leidenschaft und ich glaube, ich konnte es auch. Irgendwann wurde eine Geschichte von Anna Seghers (1900-1983), „Der Mexikaner Felipe Rivera“, verfilmt, eine tolle Kurzgeschichte über die mexikanische Revolution. Um die Revolution zu unterstützen, werden Waffen gebraucht und der Protagonist geht hin und erboxt sich die Gewehre. „Das ist meine Rolle.“, dachte ich. Ich hatte in jungen Jahren auch ein bisschen geboxt und dachte: „Mexikanischer als ich geht‘s nicht.“ Ich habe mich beworben, bin aber durchgefallen. Da hatte ich eine große Krise. Die Rolle hat Henry Hübchen (*1947) bekommen, ein ganz fantastischer Schauspieler, schon damals ein absoluter Superstar, Volksbühne-Schauspieler.

Der Film Blonder Tango – ein „Engel ohne Flügel“ im Karneval

Carla Steinbrecher: Was hat Lothar Warneke und Erika Richter (*1938) Ihrer Ansicht nach an dem Roman von Omar Saavedra Santis interessiert?

Aus dem Film Blonder Tango ©DEFA-Stiftung/Waltraut Pathenheimer, Dieter Lück

Alejandro Quintana: Der Roman wirft einen sehr schönen, fremden Blick auf das Leben in der DDR. Die Geschichte ist nicht so wichtig. Klar, es ist die Fabel der Migration. Aber durch den Protagonisten konnte man einen Blick in die Realität dieses Landes in diesem Moment werfen. Wie funktioniert diese Gesellschaft? Das ist ein hochinteressanter Dialog in dieser Kneipe mit diesem Alt-Spanienkämpfer. Man sagt: „Man muss die Wahrheit sagen.“ Aber wie sagt man das, damit es gehört wird? Es war ein von Omar geschriebener Roman, der uns mitnimmt in die DDR zu dieser Zeit. Das ist es, glaube ich, was Lother interessiert hat, sonst hätten sie den Film nicht gemacht.

Lothar war ein sehr guter, kritischer, zarter Regisseur. Er war ein politischer, hochspannender Regisseur, aber das kam so um die Ecke hinein. Konflikte werden so präsentiert, dass sie nicht unbedingt sofort Gegenhalten erzeugen. Die chilenische Seite hat er in den Vordergrund gerückt, um die kritischen Nuancen, die kritische Meinung, die er zu seinem Leben in der DDR hatte, zu präsentieren. Und die Zuschauer haben das sehr wohl, sehr gut registriert. Das war eine Besonderheit der Zuschauer in der DDR. Es waren Leute, die hochtrainiert waren, zwischen den Zeilen zu lesen. Das hat den meisten Spaß gemacht, wenn du eine Theateraufführung gesehen hast. Es waren wirkliche Könner. Interessant war, was dazwischen war. Was war noch da außer der Begabung? Ja, und das war und das ist immer noch mein Problem mit dem westlichen Theater. Das hat nur diese (klatscht). Da geht es um die Rolle und die Aufführung. Aber dieser Raum für Philosophisches, für Suche, gibt es nicht. Entweder ist es dekonstruktivistisch, das heißt, je gröber, je, für meinen Geschmack, je unfertiger desto besser. Hinter dem Mantel der Postmodernität versteckt sich für mich viel Dilettantismus. Da wird gesagt: „Man kann die Realität nicht erzählen, die Welt ist unerzählbar!“ Oder diese Authentizität wird zur Schau getragen: „Ich gehe nach vorne und ich spreche nur von mir, aber es ist egal, ich spiele Hamlet, okay, ich spiele weiter…“ Das ist ein bisschen zu wenig.

Carla Steinbrecher: Ich finde an Lothar Warnekes Filmen immer interessant, dass er ja oft selber in den Filmen auftaucht, aber immer als Kneipenbesitzer oder Kioskbesitzer – einer von denen, die das Bier ausschenken.

Alejandro Quintana: Ja, er ist ein Integrativer. Er sagt nicht so sehr, was er meint, sondern fragt eher: „Was meint ihr?“

Carla Steinbrecher: Die Geschichte von Rogelio könnte man ja als stellvertretend für die vieler Chilenen sehen, die nach dem Putsch in die DDR gekommen sind. Er versucht, in der DDR Fuß zu fassen, sehnt sich nach Rückkehr. Das sind Erfahrungen, die wahrscheinlich viele Chilenen geteilt haben. Haben Sie während der Produktion viel über diese Erfahrungen geredet? Und wie war das für Sie, Rogelio zu spielen?

Alejandro Quintana: Mit Omar habe ich darüber gesprochen. Lothar hat sich eher auf unsere Erfahrungen gestützt. Und Rogelio war für mich eine Rolle. Natürlich kannte ich alle emotionalen Momente der Figur. Was die Figur sagt, war mir nicht fremd, aber es war nicht mein Leben. Ich war in dieser Zeit ein echt noch langweiligerer Typ, als ich‘s jetzt bin. Und Rogelio war anders, so ein bisschen ein Spieler, einer, der sucht. Es war schön, das zu machen, weil es hat mich ein bisschen befreit. Ein Problem des Exils, wenn du ganz jung bist und außerhalb deines Landes, ist, dass man immer ein „wir“ ist. Es war nicht „ich“, sondern immer ein „wir“, was schön und schlimm ist. Du hast immer so eine Über-Verantwortung. Du bist nicht frei in deinem Verhalten. Du bist immer „Vertreter von“. Wir waren „Vertreter des kämpfenden Chile“. Das ist etwas, das sehr schwer auf dem Buckel liegt. Diese Rolle zu spielen war deswegen wie eine kleine Entspannung. Wie eine geschlossene Kiste aufzumachen, damit ein bisschen mehr Luft reinkommt – die Metapher hinkt, aber…

Carla Steinbrecher: Sie haben gesagt, Rogelio sei ein Spieler. Er trägt ja durchaus clown- bzw. narrenhafte Züge. In der Szene, wo er das weiße Nachthemd trägt, erscheint er wie ein Pierrot, einer, der von außen auf die DDR-Gesellschaft guckt und…

Alejandro Quintana: …stichelt. Ja, das ist Omar. Das ist der Autor. Omar ist ein Messer mit Beinen, das nicht tötet, sondern immer so pickt. Das hatte die Figur. Das macht die Figur lebendig. Du kannst diese Figur nicht vereinnahmen, sondern sie hat ihr eigenes Leben. Ist sie sympathisch? Ist sie opportunistisch? Ich mochte am meisten die Szene mit dem Spanienkämpfer in der Kneipe. Das sind für mich die Beträge. Das andere ist Film: Farbe usw. Aber der philosophische Gehalt, sagen wir, liegt in dieser Szene. Wo der Spanienkämpfer sagt: „Du musst nicht aufhören.“ Rogelio will sich am Anfang immerhin das Leben nehmen. Klar, in der einen Szene sieht er aus wie ein Pierrot, aber ich hatte ein anderes Bild: es war ein Engel ohne Flügel. Das ist die Metapher, der Prozess der Unidad Popular, man hat uns, als wir auf dem Höhepunkt des Fliegens waren, die Flügel abgeschnitten.

Ich finde Omars Einfall ganz toll mit den christlichen Lügen. Er lügt nach Hause und von Zuhause aus wird gelogen. Aber Lügen ist auch manchmal eine Art, das Leben erträglicher zu machen. Ich würde die Lüge nicht sofort verdammen. Klar, am Schluss haben die Lügen, wie man sagt, kurze Beine. Am Schluss entdeckt er, er hat für die Katze dahin geschrieben und eigentlich hat nicht seine Mutter, sondern die anderen haben die Briefe geschrieben. Aber die anderen haben auch damit gelebt und diese Lüge hat in Chile auch eine Aktivität erzeugt. Da waren Leute, die beschäftigt waren. Wie schafft, wie hält man ein Netz, damit die Person nicht zugrunde geht?!

In Chile sprechen wir immer von „mentiras piadosas“, den „christlichen Lügen“ (wörtlich übersetzt: „fromme Lügen“). Lügen sind nicht so negativ. Man kennt das: Jeder von uns lügt am Tag so ungefähr 400 Mal. Ich meine nicht die Art von Lüge, die dafür da ist, dich zu töten, sondern, im Gegenteil, um dir Mut zu geben. Man kann sich durch Lügen oder Fiktion, wie Sie sagten, helfen.

Carla Steinbrecher: Durch das Theater-Setting spielt der Film mit Requisiten und Verkleidung. In den Szenen in der Theaterkantine, zum Beispiel, sitzen die Leute mit ihren Verkleidungen aus Brechts Pariser Kommune oder aus Rigoletto. Was macht das mit der Geschichte, dass sich Blonder Tango größtenteils im Theater abspielt und es dieses ständige Spiel zwischen Fiktion und Realität gibt?

Alejandro Quintana: Das ist eine interessante Frage. Ich weiß nicht, ob Omar das bewusst so gemacht hat oder die Geschichte nur, weil er das Milieu so gut kannte, ins Theater transportiert hat. Auf alle Fälle ist viel von dem darin, was wir am Volkstheater Rostock erlebt haben. Und vielleicht hat es auch damit zu tun: man sagt ja, im Theater erlebe man im Kleinen, was die Gesellschaft ist. Es gab eine öffentliche und eine private Realität in der DDR, das war wirklich so. Man hatte eine Meinung nach außen und eine Meinung nach innen. Ich glaube, darauf zielt Omar in der Karnevalsszene ab, wo Rogelio sagt, „Guck, wie sie tun, als ob!“. Es war eine Wut vom Autor und von Lothar, eine gewisse Falschheit zu enthüllen.

Carla Steinbrecher: Diese Theaterkantine ist ja ein interessanter Raum. Viele Szenen in Blonder Tango spielen in der Theaterkantine. Es ist weder ein Bühnenraum noch ein Probenraum, aber trotzdem innerhalb der Theatermauern, d. h. kein öffentlicher Raum im weiteren Sinne. Was ist die Kantine eigentlich für ein Raum?

Alejandro Quintana: Kondensiertes Leben. Die Kantine ist eine Zwischenwelt. Wo ist man nochmal, bevor man in den Himmel oder in die Hölle geht? Im Purgatorium! Auf der einen Seite ist das Leben, auf der anderen die Hölle und in der Mitte ist das Purgatorium – und das ist die Kantine. Es ist der Ort, wo man schon fast fertig ist, um in die Hölle zu gehen, aber man hat noch Probleme aus dem Leben zu lösen. Und es ist die komplette Vermischung, eine Art karnevalistischer Ort, der vieles erlaubt: Diskussionen über die Fiktion und Diskussionen über die Realität und einen selbst. Die Kantine ist der größte Karneval.

Carla Steinbrecher: Insofern ist die Kostümfeier in der Theaterkantine am Ende des Films ist ja die Quadratur des Kreises. Das soll vermutlich Fasching darstellen. Wie haben Sie an dieser Szene gearbeitet? Was soll diese Karnevalsfeier zeigen?

Alejandro Quintana: Die Szene hatte etwas Orpheusmäßiges. Ich finde das Bild gar nicht falsch von Hölle, Leben, Purgatorium. Und da gibt es einen Punkt, Momente, die sehr gefährlich sein können. Diese Geschichte hätte auch anders enden können an dem Tag. Es gibt Fälle, wo Leute sich auf der Bühne gehängt haben. Die Szene ist für mich wie ein Abschied vom Leben. Es gibt den Moment, wo er die Maske aufzieht und sagt: „Freunde…“ Für mich ist der Weg dahin der Weg zum – Tschüss! Er wird komischerweise wieder durch die Kunst gerettet, durch die Fiktion, durch diese Schallplatte (Joseph Schmidt (1904-1942), „Ein Lied geht um die Welt“, 1933). Ich finde diese Idee von Omar so schön. Es ist die Verschmelzung von Kulturen und von Kunst, die uns vielleicht am Leben halten kann – in der höchsten Tiefe. Diese Person, Rogelio, erschießt sich nicht und hängt sich nicht auf, sondern macht die Schallplatte an und macht eine kathartische Äußerung, mit diesem Lied. Und es ist ein Lied, das nicht irgendjemand singt, sondern eine Person, die eine ähnliche Biographie hat.

Im Strudel des Utopieverlusts?

Carla Steinbrecher: Und diese Totenmaske, die sich Rogelio aufsetzt, um dieser Feiergesellschaft den Spiegel vorzuhalten, und die vielleicht ein wenig an den mexikanischen „Día de los muertos“ erinnert, an dem die Mexikaner den Tod zelebrieren?

Alejandro Quintana: Das ist eine sehr kritische Geste: „Diesen Zirkus ertrage ich nicht mehr! Alles war ganz schön. Aber mein Herz ist kaputt und meine Vergangenheit und Zukunft existieren nicht mehr. Okay, tschüss!“ So denkt er und will sich verabschieden. Und dann kommen diese Figuren am Bühnenrand. Man kann diskutieren, ob die Szene schön gelöst ist oder nicht. Ich könnte mir auch was anderes vorstellen. Es sollte auf alle Fälle ein Albtraum kurz vor dem Ende sein. Und Gott sei Dank, wie es manchmal im Leben ist, wird Rogelio gerettet durch etwas eigentlich ganz Konkretes. Der Chef kommt und sagt: „Sagen Sie mal, was ist denn hier los?“ Es ist eine rettende und gleichzeitig eine so was von unsensible Maßnahme. Ohne diese Unsensibilität würden wir aber auch nicht Leben retten. Kurz vor der Katastrophe kam sozusagen die Feuerwehr.

Carla Steinbrecher: Es ist eine Art Pragmatismus, oder?

Alejandro Quintana: Ja, das meinte ich, Pragmatismus.

Carla Steinbrecher: Ist Rogelios Abschied nicht eigentlich ein doppelter Abschied? Einerseits vom Theater als Ort unglücklicher Liebe und Ort, wo Realität und Fiktion sich ständig vermischen. Und andererseits von dieser Faschingsfeier, die wenig mehr als ein sinnentleertes Besäufnis ist.

Alejandro Quintana: Man kann das so lesen und ich glaube, es ist auch so gemeint: als ein notwendiger Aufbruch von Dingen, die im Grunde nicht mehr zu halten sind. Deswegen war es sehr wichtig, weil da sind viele kodifizierte Sachen, die nicht so eindeutig waren, wie wir sie jetzt formulieren. Aber sie sind drin. Es war eine Aufforderung wirklich zu sagen: „Stopp! Pause, Leute! Wo wollen wir hin? Was machen wir mit unserem Leben?“ Das ist an die DDR gerichtet. Es ist nicht nur diese seltsame Geschichte, dieser schlechte Zirkus, sondern die Zeit, in der wir uns bewegten, 1985. Da war es schon ziemlich schwierig.

Carla Steinbrecher: Was war schwierig?

Alejandro Quintana: Die Vermittlung von utopischen Gedanken. Es war nur Pragmatismus. Es war nur Kampf um das Überleben des Projekts, das, was absolut klar war, nicht mehr zu halten war, weder von außen noch von innen. Die Destabilisierung war schon ziemlich im Gange. Dann kam die Perestroika, die sich ein ganz interessantes Gesicht gab, aber sich als etwas anderes entpuppte, meiner Meinung nach. (Pause) Die Perestroika hatte keinen Traum, nur pragmatisches Denken im Sinne von „Okay, Leute, Hose runter. An die Wand.“ (Pause) Es gab eine große Bewegung in der DDR, die sagte: „So geht’s nicht weiter. Aber wie und was könnten wir verändern, damit es weiter geht?“ Wir, oder, nicht alle wollten, sagen wir, die ‚Eingliederung‘. Das war schwer und zur Vermittlung von utopischen, notwendigen Gedanken in so schwierigen Zeiten zu kommen. Das wollte keiner hören.

Carla Steinbrecher: Man merkt das ja auch bei Blonder Tango: mit den politischen Utopien ist es schwierig geworden. Als der Spanienkämpfer von seinem Exil in Mexiko erzählt, erzählt er ja vor allem von einer gescheiterten Liebesbeziehung. Und bei Rogelio steht auch diese unerwiderte Liebe zu Cornelia im Mittelpunkt. Man hat das Gefühl, nicht politische Visionen, sondern die Sehnsucht nach privatem Glück steht im Vordergrund. Inwiefern bietet der Film denn einen Traum an? Ist der Film eine Aufforderung zum Träumen?

Alejandro Quintana: Ich finde so schön, dass die Menschen im Film Sachen machen, um andere nicht zu beleidigen, traurig zu machen, zu stören. Ich finde, da liegt die Kraft des Films. Wissen Sie, es geht nicht um die großen politischen Gedanken, sondern es ist ein großer Beitrag zur Humanität in einer Welt, die ziemlich kaputt ist. Die in sich eigentlich nicht stimmte. Das war die Intention des Autors. Und was der Regisseur gut eingefangen hat: Wenn man diese Geschichte heute spielen würde, würde es die Welt, in der wir uns bewegen, auch ziemlich genau darstellen. Vergiss die DDR, gib ihm einen anderen Titel und es wäre wirklich ein Film über eine karnevalistische Inzucht. Eine Welt voller „Ich, ich, ich“, wo Menschen, die in „Wir“ dachten, wie der Alte und der Emigrant, sich auf verlorenem Posten in diesem Raum bewegen. Der eine hat sich zurückgezogen, der andere versucht, sich irgendwie zurecht zu finden und liefert Fiktionen nach Hause, um sein Zuhause nicht mehr so zu gefährden. In diesem ‚Nicht-mehr-Gefährden‘ liegt eine große Kraft.

Wenn ein Typ keine Kraft hat und sich trotzdem einen Kopf macht: „Wie kann ich meine Leute nicht kraftlos machen?“ Das ist schon eine immense Art der Solidarität, nicht politischer, sondern humaner. Was dieser kaputte Spanienkämpfer macht: Er findet ein fremdes Ding, nimmt es mit nach Hause und versucht, es zu reaktivieren. Dass dieser kaputte Typ, der so viele private Probleme hat, mit dem Chef, mit der Frau, mit allem, seinen Genossen, diese Sachen schreibt, um zu Hause eine Kerze oder ein Licht anzumachen.

Carla Steinbrecher: Also die Realität verkleiden, die Tatsachen verdrehen, um andere zu retten. Das ist natürlich auch ein unorthodoxer Gedanke…

Alejandro Quintana: Ich finde es total gut. Wie Sie es beschreiben, klingt es total schlimm. Sie sprechen von Manipulation, aber es ist keine Manipulation. Er kann nicht anders, als seinen Menschen zu Hause einen Glücksmoment zu geben in finsteren Zeiten. Und die versuchen, das Gleiche zu machen und am Schluss entpuppt sich, dass das auch nicht der Weg ist, am Schluss bleibt die Figur in diesem Bus, in der Luft.

Carla Steinbrecher: Ja, es ist ein offenes Ende…

Alejandro Quintana: Aber das ist ein DDR-Produkt. Im Film und im Theater war das sehr wichtig. Es war gelungen, wenn es so war. Wenn so eine Diskussion möglich war, wie wir sie jetzt führen. „Worum geht es? Was ist die Geschichte?“ Wenn Diskussion außerhalb der Geschichte stattfand, das fanden wir sehr gut.

Carla Steinbrecher: Eine letzte Frage zum Schluss: Feiert man in Chile auch Fasching oder Karneval?

Alejandro Quintana: In meiner Zeit nicht. Nur im Norden Chiles haben wir diesen Karneval La Tirana. Aber der ist eher religiös, nicht wie Rio. Inzwischen haben wir natürlich auch Halloween usw. was es früher auch nicht gab.

Carla Steinbrecher: Und haben Sie in der DDR Fasching gefeiert?

Alejandro Quintana: Ich bin kein Freund von Fasching, aber es wurde gefeiert. Aber beispielsweise war der 8. März ein besonderer Tag, Frauentag, da wurde viel gefeiert und das hatte so den Charakter von Karneval. Das war sehr lebendig und von Frauen geführt.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 21.2.2022. Wir danken der DEFA-Stiftung, die die diesen Text illustrierenden Bilder zum Film Blonder Tango zur Verfügung gestellt hat.)