Chimären der Gegenwart
R.B. Bardi, Der Kaiser / die Weisen und der Tod
„Der Mensch ist vom Menschen so getrennt wie Stern von Sternen, und wie sie verbindet uns nur Gemeinsamkeit der großen Nacht. Rede und Schrift sind wie Meteore, mit denen sie einander Botschaft senden; sie glänzen nur für einen Augenblick – ohne das Dunkel selbst zu erhellen.“ (R.B. Bardi, Der Kaiser / die Weisen und der Tod)
Dieses Buch war vollständig verloren. Unabhängig voneinander haben es drei Personen zufällig wiederentdeckt: der Literaturkritiker Michael Rohrwasser wurde in einer Wühlkiste bei einem Antiquariat in Wien fündig, dem Schriftsteller Manfred Bauschulte fiel ein Exemplar im Keller eines Antiquariats in Bielefeld in die Hände und in New Hampshire stieß der Antiquar Helmut Schwarzer auf R.B. Bardis einziges Werk und gab dem Arsenal Verlag in Berlin einen Hinweis. Nun liegt R.B. Bardis „Der Kaiser / die Weisen und der Tod“, erstmals in einer Auflage von 250 Exemplaren 1938 beim Saturn-Verlag Wien erschienen, in einer hervorragend annotierten und edierten Ausgabe des Verlages Das Arsenal vor. Allein diese Geschichte der Wiederentdeckung ist schon erzählenswert.
Geschichte eines Vergessens
R.B. Bardi ist das Pseudonym der jüdischen Autorin Rachel Berdach. Ihr Leben skizziert Christfried Tögel. Sie wurde 1878 in Budapest geboren, ging zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin und heiratete dort ihren Cousin Ernst Berdach (1887-1961). Zehn Jahre später wurde die Ehe wieder geschieden. Sie blieb in Berlin, wo sie als Redakteurin einer großen Zeitung und als Geschäftsführerin einer Buchhandlung arbeitete.
Ende der 1920er Jahre begann sie eine Analyse beim Wiener Psychoanalytiker Theodor Reik. Theodor Reik emigrierte in die Niederlande, Rachel Berdach setzte ihre Analyse in Den Haag fort. Und dort begann sie auch „Der Kaiser / die Weisen und der Tod“. Fritz Ungar, Eigentümer des Saturn-Verlags, übernahm das Manuskript und schickte es – mit Bitte um Besprechung – an die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, deren Redaktion aber keinerlei Berührungspunkte zwischen dem Gegenstand des Buches und den Interessen der Zeitschrift feststellen konnte.
Rachel Berdach hielt sich bis kurz vor der Einverleibung Österreichs in das Dritte Reich in Wien auf, verließ das Land aber Mitte März 1938 und emigrierte nach London. Im Gepäck: zwei Exemplare ihres frisch gedruckten Buches. Eines dieser Exemplare schickte sie an Sigmund Freud, der ebenfalls nach London emigriert war. Er wusste zwar nicht, wer ihm dieses Werk hatte zukommen lassen, war aber fasziniert von dem „geheimnisvoll-schönen Buch“ und antwortete der Autorin neugierig und sehr aufgeschlossen. Im Januar scheint es im Januar 1939 zu einer Begegnung von Berdach und Freud gekommen zu sein, bei der Freud für eine neue Auflage ein kurzes Vorwort schrieb, den Quellen nach eine der letzten öffentlichen Äußerungen des Psychoanalytikers. Das in New York erscheinende Nachrichtenblatt „Aufbau“ des German-Jewish Club zeigte eine geplante englische Übersetzung an, die aber erst 1962 – und mit einem Vorwort von Theodor Reik – entstand.
Rachel Berdach starb 1961 in Zürich, im selben Jahr wie ihr geschiedener Ehemann Ernst, der ebenfalls in Zürich starb. Autorin und Werk verschwanden in den Zeitläuften. Über die Autorin berichtete zumindest schon mal das Ärzteblatt, in Zusammenhang mit einer Freud-Biographie.
Rachel Berdach auf die Psychoanalyse zu reduzieren, wäre viel zu kurz gedacht. Sie erschließt mit „Der Kaiser / die Weisen und der Tod“ das ganze Universum menschlicher Hybris und menschlicher Weisheit. Sie schreibt vom Vermögen Grenzen zu überschreiten und Wissen zu vermehren – zum Vorteil von Gesellschaften und deren Zukunft und von den Abgründen, Gewalt, Verfolgung und tödliche, die Jahrhunderte überdauernde Diskriminierung, die nichts als Verblendung und Zerstörung bewirken.
Inhalt und handelnde Personen
R.B. Bardi – die Autorin hat dieses Pseudonym gewählt, unter diesem Namen soll sie auch jetzt genannt sein – führt die Lesenden in die Welt Friedrich II., Staufer-Kaiser, Kreuzritter, Machtmensch. Orte und Zeit des Textes sind damit bestellt. Denken wir. Wir befinden uns im 13. Jahrhundert, die Kapitel zeigen nach Sizilien, Neapel, Franken und vielleicht auch Mainz.
Sechs Männer befinden sich im fortgesetzten Austausch in wechselnder Besetzung des ambulanten kaiserlichen „Diwans“ über Gott, Religionen, Krieg, den menschlichen Körper, Traum und Wahrheit, Selbstreflektion und Dogmen, Tod, Gegenwart und Geschichte.
Die handelnden Personen, Jacob Charif Ben Aron, Arzt und Rabbiner, Kaiser Friedrich II., die namentlich nicht genannten Bischöfe von Mainz und Augsburg, der Legat Roms in Sizilien, der Sultan El Kamil und schließlich Abu Sina, auch Avicenna genannt, lassen sich jedoch nicht unbedingt ausnahmslos einwandfrei historisch zuordnen – oder es trennen die Gesprächspartner gute 200 Jahre, so Abu Sina und Kaiser Friedrich, sodass sich an die literarische Gattung der Totengespräche denken ließe. Ein historischer Roman ist das Buch wirklich nicht. Auch keine philosophische oder psychologische Abhandlung, keine zeitgeschichtliche Momentaufnahme europäischen Denkens.
Der Text setzt ein mit der Beerdigung des Rabbiners Charif Ben Aron. Seine Präsenz hatte über die Zeit der Verfolgung die Häscher von seiner Gemeinde in der Stadt, in der er jetzt zu Grabe getragen wird, ferngehalten. Er habe einen besonderen Pakt mit dem Erzbischof gehabt, hieß es. Die Sargträger bemühen sich, den Rabbiner unter dem Feixen der Stadtbewohner würdig zu bestatten.
Und auch der nächste Abschnitt ist dem Rabbiner gewidmet, er beschreibt, wie Ben Aron nach dem ihm durch den blinden Todesengel Asrael angekündigten Tod seiner Frau im Kindbett und des Neugeborenen ankündigt, vor seinem Gram flieht und sich auf eine lange Reise begibt. Diese führt ihn an den Hof des Sultans El Kamil, der mit Friedrich II. im geistigen Austausch über alle bekannten Fragen des Universums steht. Rabbi Ben Aron wird zum hochgeschätzten Gesprächspartner in Friedrichs „Diwan“. Drei folgende Kapitel spiegeln die Gespräche, die sich unter anderem aus Gleichnissen und Geschichten oder in der Folge von mehreren Partien Schach ergeben. Gefangen in den eigenen Dogmen, Vorurteilen und mangelnder Selbstreflexion haben die Bischöfe und Ratsmitglieder an des Kaisers Hof nicht viel mehr zu den Gesprächen beizutragen als die Wiederholung ihrer diskriminierenden Überzeugungen gegenüber Juden und Muslimen. Nur die Präsenz der kaiserlichen Autorität verhindert, dass aus Worten Taten werden. Die Gespräche geben Zeugnis von fürchterlichen Pogromen, von Massenmorden, Gräueltaten während der Kreuzzüge, von den Verfolgungen Andersgläubiger durch die christliche Kirche
Das Ende knüpft am Anfang an, der Rabbiner begegnet noch einmal Asrael und begibt sich auf eine andere, eine dunklere Reise. Michael Rohrwasser bescheinigt dem „Roman“ eine „recht vollständige Liste der spätmittelalterlichen Legenden und Ressentiments.“
„Ein geheimnisvoll-schönes Buch“
Es fällt schwer, den dichten Text einem einzigen Genre zuzuordnen. Das sollte man auch nicht versuchen. Caveat lector, warnt die editorische Notiz. Und man folge besser diesem Hinweis und konzentriere sich auf die wunderbare Sprache, die Sätze von großer Strahlkraft formt, Sätze, die man bewahren und weiterdenken will. Besser folge man dem literarischen Vexierspiel, das mit scheinbarer Leichtigkeit Zeichen, Symbole, Denkfiguren aus den Kulturen des gesamten Mittelmeerraumes so schlüssig wie irritierend zusammenbringt.
Friedrich der Staufer wird hier weniger als der Kreuzritter und Machtmensch dargestellt, der er zweifelsohne war, sondern als ein Mensch, der mit den größten Denkern seiner Zeit korrespondiert und Al Andalus seinen Freund nennt. Der Friedrich, der hier Kaiser ist, weiß um Verletzungen und Leiden und bringt dies in den Gesprächen zum Ausdruck, nicht die einzigen Referenzen an Bardis tiefenpsychologische Kenntnisse.
Bardi bewegt Figuren und Themen mit intellektueller Eleganz und Tiefe über das Schachbrett „okzidentaler“ und „orientaler“ Kulturen und Zivilisationen, synchron und diachron. Sie hat für ihr Buch das Mittelalter gewählt und beschreibt doch weitsichtig das eigene Jahrhundert. Die historische Zeit verschwimmt und löst sich auf, wird universal in der Darstellung menschlicher Größe und menschlichen Versagens. Statt der Historie sieht man mit Schrecken die Chimären der Gegenwart. „Der Mensch ist vom Menschen so getrennt wie Stern von Sternen, und wie sie verbindet uns nur Gemeinsamkeit der großen Nacht. Rede und Schrift sind wie Meteore, mit denen sie einander Botschaft senden; sie glänzen nur für einen Augenblick – ohne das Dunkel selbst zu erhellen“, lässt Bardi zum Ende die Figur eines Mönches sagen.
Ein langes Gespräch um die religionsgeschichtlichen und theologischen Verbindungen zwischen Judentum, Christentum und Islam beendet Friedrich mit der Frage, was denn der „vizekönigliche Sohn“ (gemeint ist Christus) an der verarmten Sippe (den Juden) gewönne. Darauf Ben Aron: „Geschwister. Wärme des verwandten Bluts. Gemeinschaft frühester Erinnerungen. Begleiter auf dem Weg ins Nichts. / Der Kaiser lachte. ‚Endlich doch ein Trost! Christ, Jud und Moslem werden sich versöhnen, eh sie allesamt zum Teufel gehn. Ich möchte gern in jenen Zeiten leben. Die Erde frei von diesem giftigen Dunst, (…) / Vielleicht, Herr, Vielleicht wird der Mensch so schön.“
Kein einfaches Buch, kein Buch für Zwischendurch. Aber ein Buch, das dringend zu empfehlen ist, weil es auch unsere Zeit für einen Augenblick zu erhellen vermag.
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 2. August 2022. Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt von Yvan Goll, Fruit from Saturn © Bürgerstiftung für verfolgte Künste – Else-Lasker-Schüler-Zentrum – Kunstsammlung Gerhard Schneider)