Das Forum Exilkultur in Bonn
Ein Gespräch mit dem Initiator Jürgen Repschläger
„‚Sammler sind glückliche Menschen‘ – das Wort soll von Goethe stammen. Nun ja, insofern als Besessene eben glücklich sein können. Da ja jede Sammlung mit ihrem Anspruch – und mit der Spendierfreudigkeit des Besitzers – anwächst und niemals Vollständigkeit erreicht. Immer geht es gerade um die Stücke, die man seinerzeit hätte… aber leider nicht hat …. Und die seitdem unerreichbar oder unerschwinglich geworden sind. Und wer wollte schon Exil-Kunst öffentlich ausstellen, damals bis in die siebziger Jahre hinein? Heute allerdings gibt es Interesse dafür in Deutschland, und nicht zuletzt dank der Anstrengungen von Thomas B. Schumann.“ (Georg Stefan Troller, Man emigriert eben auf Lebenszeit, Paris, im Januar 2016, in: Deutsche Künstler im Exil 1933-1945 – Werke aus der Sammlung Thomas B. Schumann, Hürth bei Köln, EditionMemoria, 2016)
Künstler, Künstlerinnen im Exil – wen kennen wir eigentlich? Immerhin einige, denn es gibt so manche Künstler:innen, denen es gelingt, im Exil ihre Kunst weiter zu pflegen, manchen gelingt es sogar davon zu leben. Die bekanntesten Beispiele sind Thomas Mann, der in seinem Exil in Pacific Palisades von sich behaupten konnte, die deutsche Kultur sei dort, wo er sei, oder ungeachtet seines unglücklichen Todes auch Stefan Zweig. Andere hatten kaum die Mittel zu überleben, so beispielsweise Joseph Roth, den Stefan Zweig finanziell unterstützte. Manche schafften es, nach dem Ende des Exils wieder die Bedeutung und das Publikum zu erlangen, das sie zuvor hatten, andere schafften es nicht. Andere wurden vergessen. Eine der in Vergessenheit geratenen Autor:innen war Irmgard Keun, aber wer sich die von Volker Weidermann in seinem „Buch der verbrannten Bücher“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2008) zusammengestellten Biographien und Werkübersichten der Autor:innen anschaut, deren Bücher die Nazis am 10. Mai 1933 verbrannten, oder die Liste der Künstler:innen, die 1937 in der Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurden, wird viele weitere Namen finden, die heute kaum noch jemand kennt.
Umso wichtiger wäre es eigentlich, an all die Unbekannten, all die Vergessenen zu erinnern, in der wissenschaftlichen Forschung, in den Medien, in einem Museum, einem Ort der Begegnung und (Wieder-)Entdeckung. Eine Heimat suchte die Sammlung von Thomas B. Schumann, der in seinem Haus in Efferen, einem Ortsteil von Hürth vor den Toren von Köln, eine beispiellose Sammlung von Bildern, Büchern und Manuskripten, viele aus der Zeit zwischen 1933 und 1945, aufbewahrt. Jürgen Repschläger, kulturpolitischer Sprecher der Ratsfraktion der Linken in Bonn, lernte ihn durch einen Zufall kennen, fing im besten Sinne des Wortes Feuer und es gelang ihm, nicht zuletzt mit der Unterstützung der Bonner Kulturdezernentin Birgit Schneider-Bönninger, diese Heimat in Bonn zu schaffen. Der Rat der Stadt Bonn beschloss die Einrichtung eines Forums Exilkultur, das – mit in der Zukunft liegenden Daten sollten wir vorsichtig sein – in den nächsten vier bis fünf Jahren ausgebaut und im Stadtzentrum, in einem alten Bunker die Sammlung Thomas B. Schumanns beherbergen wird.
Am Anfang waren die Buddenbrooks
Norbert Reichel: Wie entstand die Sammlung Thomas B. Schumann?
Jürgen Repschläger: Das ist eine längere Geschichte. Man könnte mit einer klassischen Märcheneinleitung beginnen: „Es war einmal…..“
Es war so etwa in den 1950er Jahren, als der fünfzehnjährige Thomas B. mit seinen kultur- und literaturaffinen Eltern in der Schweiz Urlaub machte. Sie hatten das Grab von Thomas Mann besucht. Der Vater wusste, dass Thomas Mann nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in der Nähe sein letztes Domizil hatte. Sie wollten sich das Haus anschauen, marschierten dorthin und der Vater sagte, das ist nicht nur ein tolles Haus, dort lebt auch eine tolle Frau, die Witwe von Thomas Mann, Katja Mann. Er erzählte dem wissbegierigen Thomas auch einiges über sie. Ganz spontan kam Thomas auf die Idee, sich von dieser Frau ein Autogramm zu holen. Die Eltern hielten ihn nicht ab, er ging mutig durch das Gartentor, klingelte, die Haushälterin öffnete und Thomas sagte: „Hallo, ich bin Thomas aus Köln. Katja Mann ist eine so tolle Frau. Ich möchte um ein Autogramm bitten.“ Die Haushälterin verschwand und kam nach wenigen Minuten mit einer Ausgabe der Buddenbrooks zurück, von Katja Mann signiert. Thomas war überwältigt, hat den Urlaub mit seinen Eltern zu Ende gebracht.
Nicht ganz zurück in Köln hat Thomas das Buch gelesen, eine für sein Alter durchaus anspruchsvolle Lektüre. Er hat sich per Postkarte bei Katja Mann bedankt. Die schrieb wiederum zurück, toll, dass ein so junger Mensch sich für Literatur interessiert und das Buch gelesen hat, und wenn du mit deinen Eltern mal wieder in der Gegend bist, bist du herzlich willkommen, dann trinken wir einen Kaffee. Thomas war so angefixt, dass er auch andere Exil-Autor:innen kennenlernen wollte. Er ist auf eigene Faust mit dem Zug zu Katja Mann gefahren. Es kam zu besagtem Kaffee. Die beiden haben sich angefreundet. Sie hat ihm die Villa gezeigt, ihm Geschichten erzählt und seine Begeisterung für das Thema Exil gewonnen und verstärkt.
Nach diesem Anfangserfolg nahm sich Thomas vor, dass er jedes Mal, wenn er das Buch eines Exil-Autors oder einer Exil-Autorin läse, dann wolle er diese oder diesen, wenn sie noch lebten, besuchen. Gesagt, getan. Über die Jahre entstand eine eindrucksvolle Sammlung von Exilliteratur, jeweils signiert von den Autor:innen, zum Teil auch mit persönlicher Widmung an ihn. Durch die Bekanntschaft mit Katja Mann und all den anderen wurde sein Name in der Exil-Szene bekannt. Er wurde eingeladen, oft war er der erste Deutsche, mit denen die Leute nach dem Krieg redeten. Durch sein Engagement, durch sein Wesen, durch seine Begeisterung, bekam er Geschenke, weitere Bücher, bis er eines Tages auch ein Bild bekam, das im Exil gemalt worden ist.
Bei der Beschäftigung mit diesem Bild stieß er darauf, dass in der Exilforschung in den 1950er und 1960er Jahren schon manches erforscht wurde, Literatur, Briefwechsel, später Fotografie, Musik, aber Bildende Kunst im Exil war ein weißer Fleck auf der Exil-Landkarte. Nach 1945 drängte der US-amerikanische Kunstmarkt nach Europa, für diejenigen, die im Exil waren und ihre Kunst weiterführten, interessierte sich niemand, sodass Thomas sein Engagement von den Büchern auf die Bildende Kunst verlagerte. Bis etwa gegen Ende der 2010er Jahre hat er eine Sammlung von etwa 800 Bildern aufgebaut. Auswahlkriterium war, dass besagte Künstler:in in der Zeit von 1933 bis 1945 im Exil gewesen war. Das Bild selbst konnte vor, während oder nach dem Exil gemalt worden sein.
Thomas B. Schumann hat keine Familie, nur entfernte Verwandte, ist auch in die Jahre gekommen und machte sich Gedanken, was mit der Sammlung geschähe, wenn er nicht mehr lebte. Er hatte auch das Bedürfnis, die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bis zum heutigen Tag gibt es kein Museum, dass Bildende Kunst aus dem Exil der Zeit zwischen 1933 und 1945 als Schwerpunkt zeigt. Gelegentlich taucht das ein oder andere Bild in einer Gesamtschau auf, aber ein Museum mit dem eindeutigen und exklusiven Fokus „Exil“ gibt es nach wie vor nicht.
Nach einigen gescheiterten Versuchen gab es einen Artikel im Spiegel, die Überschrift: „Vergessen aber nicht verloren“. Die Botschaft des Artikels lautete im Grunde sinngemäß: „Sammlung sucht Museum“. Wolfgang Deuling, Initiator des Bücherverbrennungsdenkmals in Bonn, entdeckte den Artikel, schickte ihn mir zu und sagte, ich müsse unbedingt mit ihm Kontakt aufnehmen. Das habe ich auch getan, wir haben ihn gemeinsam in seinem Haus besucht, und wir stellen fest, dass wir uns schon kannten. Er hatte mich bereits einmal in meinem Antiquariat besucht und wir hatten uns über Exil-Literatur unterhalten. Ich hatte das vergessen, er beteuerte, dass er sich an mich erinnerte. So waren wir schnell beim Kaffee.
Bei ihm zu Hause: So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Ein großer Bungalow, voll mit Bildern, alle Zimmer, der Keller, die Treppen, an die Wand gelehnt, teilweise in Fünferreihen. Kein Quadratzentimeter an der Wand war frei.
Norbert Reichel: Ich habe es gesehen. Es gibt nur ganz wenig Platz für Küche, Bad und Schlafplatz, alles andere ist vollgestellt, dazu all die Bücherregale und Schränke mit Manuskripten und Briefen. Mehrere Schlösser an der Haustüre. Faszinierend.
Jürgen Repschläger: Ich war absolut fasziniert. Ich sage – damals waren wir noch per Sie – ich bin nur ein kleiner Kulturpolitiker in Bonn, aber ich versuche es mal. Wie der Zufall will, ich habe einen Menschen kennengelernt, George, er kam aus Griechenland und schleppte sich mit einem Kontrabass ab. Ich habe ihm angeboten, auch in meinem Laden zu spielen. Wir haben uns angefreundet und gemerkt, dass wir beide einige Ideen hatten, auch schon einige umgesetzt hatten. Aus dieser Freundschaft entstand gegenseitige Unterstützung und es entstand eine Anfütterungsausstellung in der Bornheimer Straße in St. Helena, mit etwa 50 Bildern. Wir wollten der Bonner Bevölkerung zeigen: wenn wir uns Mühe geben, an einem Strang ziehen und ein bisschen Glück haben, können wir davon noch viel mehr in Bonn platzieren.
Nächster Zufall: Wenige Monate vorher war die neue Kulturdezernentin in Bonn ins Amt gekommen, Birgit Schneider-Bönninger. Ich habe sie zum ersten Mal beim Kulturpolitischen Aschermittwoch des Bonner Kulturkreises gesehen. Frech wie Harry bin ich auf sie zugegangen und habe sie gefragt, ob sie schon wisse, was sie am 10. Mai 2019 mache. Sie sagte nein, aber ich sagte, Sie wissen es, Sie eröffnen nämlich meine Ausstellung. Ohne zu wissen, was dahintersteckt, sagte sie ja. Er danach habe ich erzählt, worum es geht. Sie war sofort angefixt, sie hielt eine tolle Rede, dann ging es zur neuen Oberbürgermeisterin, die auch begeistert war. So fing die Geschichte an.
Parallel entstand eine kleine Initiative, die auch zum Verein wurde, dem Verein Exilkultur Bonn e.V., der sich in dieses Projekt einbringen möchte. So fing es an.
Aus der Vergessenheit holen
Norbert Reichel: Was sehen wir in der Sammlung von Thomas B. Schumann?
Jürgen Repschläger: Es sind Bilder unterschiedlicher Techniken, unterschiedlicher Größe, unterschiedlich gerahmt, manche einfach rechts Holz, links Holz, oben Holz, unten Holz, damit es einigermaßen zusammenhält. Man muss sich auch immer vor Augen halten, unter welchen Umständen die Bilder entstanden und später transportiert worden sind. Thomas hat, was ich sehr verdienstvoll finde, auf unbekannte Künstler:innen fokussiert. Die Nazis haben natürlich versucht, alles, was ihrer Ansicht nach marxistisch-jüdisch vernebelt war, vollkommen aus dem Verkehr zu ziehen, und zwar so, dass sie nie wieder das Licht der Öffentlichkeit erblicken.
Wir wissen, das hat so nicht funktioniert. Einige sind nach 1945 wieder hervorgestiegen, aber was viele nicht wissen, was viele Politiker:innen, Oberbürgermeister:innen und andere in ihren Reden nicht bedenken: bei vielen haben es die Nazis geschafft. Sie sind vergessen. Daher halte ich es für wichtig – so war auch der Ansatz von Thomas, sich auf diejenigen zu fokussieren, die in Vergessenheit geraten sind. Das Ganze hatte auch eine ökonomische Komponente. Thomas B. Schumann ist finanziell nicht auf Rosen gebettet. Bevor man einen George Grosz oder einen Max Liebermann aus New York kaufen kann, muss man jede Menge Arbeit investieren. Nichtsdestotrotz ist ein Original von George Grosz aus seiner New Yorker Zeit dabei, der erfreulicherweise zurzeit bei mir zu Hause im Arbeitszimmer hängt.
Norbert Reichel: Vielleicht erzählst du etwas über die Biographien der Künstler:innen in der Sammlung.
Jürgen Repschläger: Das ist sehr umfangreich. Wo fange ich an? Ein Beispiel: Lotte Laserstein (1898- 1993) war in der Zeit, in der sie malte, und auch lange Zeit danach völlig unbekannt. Ihre Bilder waren – vorsichtig gesprochen – durchaus bezahlbar. In den letzten Jahren ging diese Künstlerin auf dem Kunstmarkt durch die Decke. Ich habe bei Thomas B. Schumann zum ersten Mal ein Bild von ihr gesehen und wollte mir eines kaufen. Ich bin bei zwei oder drei Aktionen abgeschmiert, so teuer waren die Bilder. Das ist aber eine Ausnahme.
Es gibt auch Künstlerinnen und Künstler, die sich gar nicht so in erster Linie als Künstler:innen gesehen haben, sondern einfach nur malten und das im Exil auch gemacht haben. Es gibt natürlich die großen Namen in der Sammlung, ein Bild von Max Liebermann ist auch dabei. Er war nun nicht im Exil, er starb 1935 in Berlin.
Norbert Reichel: Sein Grab finden wir auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee, seine Villa am Wannsee ist ein wunderbares Museum, sie liegt wenige Meter neben einem anderen historischen Gebäude, der Villa, in der die sogenannte Wannsee-Konferenz stattfand.
Jürgen Repschläger: Nach 1945 war es für Künstler:innen ebenso wie für Literat:innen, die aus dem Exil zurückkamen, zumindest in Westdeutschland schwierig. Aber auch iIn der DDR hatten es die Westemigrant:innen schwer, wenn auch aus einem anderen Grund: Man misstraute ihnen. Sie bekamen zu hören, sie hätten doch ein schönes Leben gehabt, in Los Angeles oder in Mexico in der Sonne gesessen, während man in Deutschland die Bombenhagel und die Brandnächte ertragen musste. Hier hatte niemand eine Idee davon, wie Menschen im Exil gelebt haben. Thomas Mann war eine Ausnahme mit seiner Villa in Pacific Palisades.
Norbert Reichel Thomas Mann ist nicht ohne Grund in die Schweiz gegangen. Judith Kerr (1923-2019) blieb in London. Immerhin werden ihre Bücher gelesen. Im Bekanntheitsgrad werden sie vielleicht nur vom Tagebuch der Anne Frank übertroffen.
Jürgen Repschläger: Exilliterat:innen haben gekellnert, Leichen gewaschen, um zu überleben. Es hat lange lange gedauert, auch die 1968er hatten etwas damit zu tun, dass der Ruch des Kunstdeserteurs, der sein Vaterland verlassen und erst nach der Befreiung – die man damals noch nicht so nannte – wiedergekommen wäre, verschwand, zumindest dass die Zeit im Exil heute doch etwas anders gesehen wird.
Ich glaube aber, wenn man sich heute auf den Marktplatz stellt und ganz willkürlich und zufällig einige Leute anspricht, wird man immer noch welche finden, die sich gegen Deserteure und Menschen, die das Land verlassen haben, wenden. Aber in den 1950er und 1960er, auch in den 1970er Jahren war das natürlich noch viel verbreiteter.
Norbert Reichel: Der damalige hessische CDU-Politiker Alfred Dregger sagte, das Gedenken an Deserteure wäre eine Beleidigung seines gefallenen Bruders. Diese Ansicht war damals in der CDU und in anderen konservativen Kreisen und nicht nur dort sehr verbreitet. Der ehemalige Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels sorgte im Jahr 1989 dafür, dass ein auf dem Friedensplatz vorgesehenes Denkmal von Mehmet Aksoy für die unbekannten Deserteure dort nur etwa eine Stunde stand. Seit dem 2. September 1990 steht es in Potsdam. Willy Brandt wurde Zeit seines Lebens angefeindet, weil er im norwegischen Exil gelebt hatte.
Zu den Bildern: ist ein Bild von Charlotte Salomon (1917-1943) dabei. Zurzeit gibt es eine sehr schöne Ausstellung in München im Lenbach-Haus. Schon 2007 gab es eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Berlin.
Jürgen Repschläger: Ja, ist dabei.
Norbert Reichel: Sie war lange vergessen, eine lange vergessene Literatin war Gabriele Tergit (1894-1982), deren Bücher aber in den letzten Jahren eines nach dem anderen wieder aufgelegt werden. Ich habe den Eindruck, es gibt inzwischen durchaus so etwas wie eine Renaissance von Literatur und Kunst, die im Exil entstand. Hohe Preise auf Auktionen sind nur ein Indikator. Wie siehst du das als Antiquar?
Jürgen Repschläger: Mein eigentlicher Schwerpunkt ist die Literatur. Mit der Exil-Kunst beschäftige ich mich seit ich Thomas B. Schumann kenne. In der Literatur gibt es Auf- und Abwärtsbewegungen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es eine Tendenz – ich bitte um Verständnis, wenn ich jemandem Unrecht tue, ich vereinfache etwas –, sich zu rechtfertigen und die Bücherwand bewusst mit jüdischen Autoren zu füllen und sie so zu platzieren, dass jede:r Besucher:in sofort denken musste, das kann gar kein Nazi gewesen sein. Es gab schon den Versuch, sich über die Zusammenstellung der Bücherwand selbst einen Persilschein auszustellen.
Es gab aber auch Menschen mit einem authentischen Interesse, die wissen wollten, welchen Weg die Autor:innen im Exil und nachher gegangen sind. Da sind großartige Sammlungen aufgebaut worden. Diese Menschen sind jetzt alle weit über 70 oder gar 80 Jahre alt. Danach gab es wieder ein Loch. In der Sammlerszene gibt es eine Tendenz zum Visuellen, schon zum Buch, aber mit vielen Bildern. Inhalte und Text spielten nicht mehr so eine große Rolle, eher die Bebilderung, die Gestaltung, der Einband. Ich würde sagen, auch wenn es ein wenig subjektiv gefärbt ist, weil ich mich doch intensiver damit beschäftige: seit etwa zehn Jahren stelle ich bei jungen Leuten ein großes Interesse fest. Ich gebe mir im Antiquariat viel Mühe, neben den Originalausgaben, die für viele nicht erschwinglich sind, auch Nachdrucke vorrätig zu halten, die finanzierbar sind. Es darf nicht über den Preis exklusiv bleiben.
Das Bonner Konzept
Norbert Reichel: Exilkünstler:innen und -literat:innen haben ihren Platz im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen, über die Sammlungen Gerhard Schneider und Jürgen Serke, die Jürgen Kaumkötter beide auch im Demokratischen Salon vorgestellt hat. Es gibt die Initiative von Herta Müller und anderen für ein Exil-Museum in Berlin. Wie unterscheidet sich die Bonner Initiative davon? Warum ist sie aus deiner Sicht so einzigartig?
Jürgen Repschläger: Es gibt mehrere Unterschiede zwischen Bonn und Berlin. Auch wenn das Kennenlernen von Thomas B. Schumann und mir ein Zufall war, ist die Bonner Entwicklung eine Entwicklung von unten, getragen von Leuten, die sich schon lange mit Exilliteratur und Exilkunst befassen und sich auch sonst in der Erinnerungskultur engagieren. In Berlin handelt es sich um die Initiative einiger Prominenter. In Bonn ist die Initiative von unten gewachsen, in Berlin wird sie von oben betrieben. Zweiter Unterschied: das ist die Frage, wie die Gelder verwendet werden. In Berlin will man erst einmal einen dreistelligen Millionenbetrag in die Hardware, das Gebäude stecken. In Bonn will man erheblich preiswerter vorgehen. Die Gelder sollen vor allem in die Inhalte, in Diskursformate, in Hearings fließen. Wir sind froh, dass wir mit dem Windeck-Bunker bereits ein Gebäude vorfinden, das einigermaßen gut in Schuss ist. Es wäre für uns nie in Frage gekommen, eine solch große Summe wie in Berlin in ein Gebäude zu investieren. Das hätte die Stadt Bonn auch nicht mitgemacht.
Ein weiterer Unterschied: Berlin will nicht sammeln, sondern Exponate ausleihen und sehr viel digital machen. Wir denken, es muss haptisch sein. Man muss das Buch anpacken müssen, riechen müssen. Und es geht um die weniger Bekannten. Man sieht nicht nur einen Code in einer Liste, eine kleine Abbildung, sondern – nach meiner Vorstellung – die Originale. Die Literatur der eher Vergessenen ist in der Tat einfacher zu besorgen, wenn man weiß, wer wo Sammlungen hat. Ich finde es wichtig, dass von diesen Exponaten auch mehrere Exemplare da sind, vielleicht fünf oder sechs, sodass man sie auch nach dem Besuch kaufen kann. Es sollte ein Anliegen sein, das, was die Nazis aus den Bücherregalen entfernt haben, dort wieder hineinzustellen. Nicht nur in Museen, sondern auch privat.
Norbert Reichel: Die Bilder gibt es nun nicht in mehreren Exemplaren. Aber sie sollten auch wieder an den Wänden hängen und nicht in Kellern verstauben. In der NS-Zeit war wohl Göring einer der größten Kunstdiebe und Kunstsammler, der in seinen Kellern all das, was er aus den Museen entfernte oder aus den Ateliers der Vertriebenen und Ermordeten sich angeeignet hatte, aufbewahrte.
Jürgen Repschläger: Und sich abends daran erfreute, wogegen er tagsüber öffentlich hetzte. Ein Dieb und Liebhaber zugleich. Und ein großer Heuchler. Sich abends an etwas erfreuen und am Tag die betreffenden Künstler:innen und Autor:innen verfolgen und ermorden.
Das sind die drei großen Unterschiede: das Haptische, Sammlung statt Leihe, ein preiswertes Gebäude, damit mehr in die Inhalte investiert werden kann.
Norbert Reichel: Hinzu kommen einige weitere Sammlungen. Du bist mehrfach in London und in Zürich gewesen.
Jürgen Repschläger: Thomas hat natürlich auch ein Netzwerk. Er war bei Antiquariaten, bei Auktionen bekannt, bei Sammlern, bei Stiftungen. So bekamen wir Kontakt zum Cosman Trust in London. Eine rheinisch-jüdische Künstlerin, die 1933 über die Schweiz nach London emigrierte, dort als Portraitistin Erfolg hatte, ihren Mann, einen Musiker, kennen und lieben gelernt hatte. Die beiden haben eine Stiftung aufgebaut, die junge Künstler:innen und Musiker:innen unterstützt. Thomas B. Schumann hat die beiden kennengelernt und die Biographie von Milein Cosman (1921-2017) in seinem Verlag, der edition memoria, verlegt.
Die Londoner waren von unserem Projekt sehr begeistert und haben zu einem sehr frühen Zeitpunkt gesagt, wir unterstützen euch. Bevor wir klären konnten, welche Art der Unterstützung das sein könnte, kam der nächste Zufall. Die Sammlung von Milein Cosman, 196 Bilder, ihre Farben, ihre gesamte Ausstattung, der Geigenbogen ihres Mannes, der Koffer, mit dem sie 1933 aus Deutschland geflohen ist, auf dem noch die Herkunftsadresse „Beethovenallee“ hängt – all diese Dinge haben uns die Londoner für das Forum Exilkultur in Bonn angeboten. Ich bin dann mit der Projektbeauftragten der Stadt Bonn und dem damaligen Leiter des Bonner Stadtmuseums, der mittlerweile der Koordinator für die Erinnerungskultur in Bonn ist, nach London gefahren. Es gab keine großen Verhandlungen, wir waren sofort auf einer Wellenlänge, wenige Wochen später konnten wir alles nach Bonn transportieren. Das war schon ein Abenteuer nach dem Brexit. Jedes kleine Farbtöpfchen musste ausgemessen werden, alle Bilder mussten beschrieben und ausgemessen werden. Sie sind jetzt in Bonn und im Windeck-Bunker wird Milein Cosman einen Raum bekommen, der die Arbeitsatmosphäre in London nachstellt.
Eine zweite Begegnung: Am 15. Juni 2023 war ich auf der Antiquariatsmesse in Ludwigsburg. Dort gibt es einen Verein Buchkultur, der jedes Jahr einen Preis für außergewöhnliche Bücher oder für Leute, die mit ihren Büchern besondere Themen anpacken, verleiht. Evelin Förster, gebürtig in Thüringen (:1955), Musikerin, Sängerin, Theaterschauspielerin, hat sich immer der sogenannten leichten Muse verschrieben, in der DDR war sie auch Brecht-Interpretin, hat nach Noten aus den 1920er und 1930er Jahren, aus der Kabarett- und Plüschszene gesucht, hat gesammelt und stellte fest, dass bestimmte Leute auf einmal nicht mehr auftauchten oder auf einmal anders hießen, oder dass der Verlag nicht mehr in Berlin, sondern in Amsterdam war. Alles Jüdinnen:Juden. Man kann sich vorstellen, wie die Sache weitergeht. Es ging um die Szene der sogenannten goldenen 1920er Jahre, Sex, Kokain und Klassenkampf, wenn ich das mal so sagen darf. Evelin Förster sammelte die Notenblätter, die Titelbilder, stellte die Biographien zusammen, recherchierte die Fluchtwege. Sie machte das, was wir hier mit der Bildenden Kunst machen, mit den Notenbildern. Darüber hat sie ein umfangreiches großes Werk verfasst, „Die Perlen der Cleopatra“, das schon auf der Leipziger Buchmesse mit dem Deutschen Musikeditionspreis ausgezeichnet wurde, aber auch die Juror:innen in Ludwigsburg so überzeugte, dass sie den Antiquaria-Preis erhielt. Leider hatte sie für ihr Buch keinen Verlag gefunden, sodass sie im Eigenverlag veröffentlichen musste.
Ich bin sofort auf sie zugegangen, habe ihr erzählt, was ich mache. Sie war begeistert, ich war begeistert. Ich habe einfach mal gefragt, ob sie bereit wäre, auch in einem unfertigen Museum Vorträge zu halten. Natürlich, das Buch ist bestellt, wir können planen ohne Ende. Wir haben nebenan das Euro-Theater Central, wir können Vortrag und Ausstellung vielleicht auch mit einem Chansonabend verbinden.
Norbert Reichel: In Bonn sind die Wege kurz. Ihr wollt aber auch das Exil nach 1945 thematisieren.
Jürgen Repschläger: In der Tat. Der Bunker hat sechs Etagen. Drei Etagen sind für die Zeit von 1933 bis 1945 gedacht, als Dauerausstellung, schon im Wechsel, weil wir nicht alle Bilder gleichzeitig zeigen können. Auf den anderen Etagen wollen wir die Flucht- und Migrationsgeschichte von 1945 bis heute nachzeichnen, hochaktuell: siehe die Beschlüsse vom 8. Juni 2023 in der EU, siehe Bundestag, siehe den Streit bei den Grünen. Ich sage ganz pathetisch: selbst wenn die Menschen bei ihrer Flucht durch die Wüste oder über das Meer nur das nackte Leben mitbringen, so haben sie doch ihre Literatur, ihre Melodien im Kopf abgespeichert. Wir wollen eine Plattform schaffen, diese Kunst der neuen Exilant:innen zu zeigen.
Norbert Reichel: Du kennst das Projekt Weiter schreiben. Ich werde dieses Projekt auch demnächst in meinem Magazin portraitieren. Ich muss leider sagen, dass mich die Art und Weise, wie wir uns hier im reichen Europa verhalten, manchmal doch sehr an die gescheiterte Evian-Konferenz von 1938 erinnert. Bei allen Schwierigkeiten eines Vergleichs, aber der Gedanke ist nicht abwegig.
Jürgen Repschläger: In diesen Kontext passt auch das Buch meiner Lebensgefährtin Esther Winkelmann, Assia Djebar – Schreiben als Gedächtnisarbeit“ (Köln, Pahl-Rugenstein, 2000). Es geht u.a. um die literarische Verarbeitung des Algerienkriegs, das Schreiben über Geschichte und Funktion von Sprache bei Assia Djebar (1936-2015). Das Buch wurde als herausragende Examensarbeit über ein französisches Thema ausgezeichnet.
Norbert Reichel: Wird es auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung geben? Vielleicht auch mit der Anregung für Master- und Doktorarbeiten? Ich denke daran, was Thomas B. Schumann alles noch in seinen Schränken aufbewahrt, eine Unmenge an Manuskripten, an Briefwechseln, die auszuwerten sich mit Sicherheit lohnen würde.
Jürgen Repschläger: Ich persönlich finde das am spannendsten. In der Sammlung gibt es etwa 5.000 Bücher, dazu einen ganzen Schrank von Briefwechseln und Notizen von Menschen im Exil, im Briefwechsel mit Thomas B. Schumann, auch von Nachfahren von Exilanten, auch zwischen Exilanten. Ein unglaublicher Fundus.
Nur zwei Beispiele, die zeigen, wen er alles kannte. Er saß in Bonn am Sterbebett von Irmgard Keun, er hat kurz vor ihrem Tod Judith Kerr besucht und ihre Biographie herausgeben. An all das müssen Fachleute ran. Das würde Jahrzehnte dauern, wenn man das nur mit Bonner Kräften aufarbeiten wollte. Ich setze auf Literaturbüros, auf die Universität. Eine Kollegin in unserem Verein ist an der Universität tätig. Der Bunker kann dann so eine Art Zentrum werden, weil viele Leute mitmachen können, ein Zentrum, das ausstrahlt. Der Bunker ist als Gebäude mit seinen sechs Etagen unübersehbar, aber er ist eben auch der Ort, von dem viele Beschäftigung mit dem Exil-Thema ausgehen kann und soll.
Norbert Reichel: Gibt es eine zeitliche Perspektive? Wann kommen die Bilder?
Jürgen Repschläger: Ich habe die Stadt beschworen, keine Zahlen zu nennen. Das kann immer schief gehen. Ich denke an einen Zeitraum von fünf bis sechs Jahren, bin aber vergleichsweise optimistisch. Ich habe in den letzten Jahren in mehreren Bonner Beiräten gesessen, zur Aufarbeitung des WCCB-Desasters, zur Sanierung der Beethovenhalle, zum Haus der Bildung. Über die zehn bis zwölf Jahre habe ich schon ein Gefühl dafür, dass angesichts der technischen Anlagen, die ich in dem Bunker gesehen habe, dieser einen guten Eindruck macht. Es gab hoch professionelle Messungen, auch mit Hilfe des Fraunhofer-Instituts. Soweit ich das zu beurteilen vermag, gibt es Anlass zu Optimismus, auch dass die Kosten im Rahmen bleiben. Das Gebäude soll klimaneutral werden, mit Fotovoltaik, Wärmepumpen, einem Eiskern im Keller. Die Voraussetzungen sind mit den enorm dicken Mauern ohnehin gut.
Norbert Reichel: Der Verein, den du gegründet hast, wird das Forum Exilkultur begleiten und unterstützen.
Jürgen Repschläger: Der Verein wird sich mit der Exilkultur im Allgemeinen befassen, er will Diskurse befördern, auch mit Themen, die sich nicht unmittelbar am Exil orientieren, aber mit der historischen Zeit, die dazu führte, dass Menschen ins Exil gehen mussten. Dazu gehört auch die Frage, warum der Kammermusiksaal im Beethovenhaus immer noch Hermann-Josef-Abs-Saal heißt. Auch solche Themen sind Gegenstand der Arbeit des Vereins. Die Stadt ist verantwortlich für die Betreibung des Exil-Museums, die inhaltliche Gestaltung soll auch in Zusammenarbeit mit dem Verein geschehen, auch die Anwerbung von externen Ausstellungen oder die Unterstützung von Ausstellungen an anderen Orten. Es gibt Interesse an anderen Orten, aber wir werden auf jeden Fall dafür sorgen, dass die Ausstellung zuerst in Bonn gezeigt wird. Also eines nach dem anderen.
Das Zusammenspiel aller Beteiligten wird zurzeit geklärt. Die Bilder gehen ins Eigentum der Stadt über. Wichtig ist aber, dass die Stadt bereits Thomas B. Schumann zugesichert hat, dass er weiterhin eigene Ausstellungen machen kann. Es ist auch vertraglich geklärt, dass die Stadt nicht ein besonders wertvolles Bild – wir nannten ja schon Lotte Laserstein – zur Sanierung des Stadthaushalts einem Auktionshaus übergeben darf. Das ist im Vorvertrag ausgeschlossen.
Zum Schluss sage etwas Persönliches. Ich wache am Montagmorgen auf und bin glücklich. Am Dienstag kommen dann die Ängste, was ich mir da vorgenommen habe. Mittwochs freue ich mich wieder…. Ich bin schon ein Nervenbündel geworden.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im August 2023, Internetzugriffe zuletzt am 28. Juli 2023, die Bilder aus der Sammlung von Thomas B. Schumann fotografierte Rolf Sachsse, Rechte beim Fotografen beziehungsweise bei Thomas B. Schumann, das Bild vom zukünftigen Aussehen des Gebäudes stammt aus der von der Stadt Bonn in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie.)