Das Trauma der Anderen

Warum wir neugieriger werden sollten – zum Beispiel auf Oberschlesien

Die Bilder, die wir uns von unserer Vergangenheit und den Vergangenheiten unserer Eltern oder Großeltern machen, sind immer unvollständig. Immer fehlt etwas, nicht nur, weil wir nicht nachgefragt hätten und deshalb auch keine Antworten erhalten konnten, sondern auch, weil wir vielleicht nach bestimmten Themen nicht fragen wollten, aus welchen Gründen auch immer, aus Nachlässigkeit, aus fehlendem Interesse, aus Angst, etwas zu erfahren, das man oder frau eben gerade nicht erfahren wollte, oder auch aufgrund allgemein verbindlicher, in der Regel nicht bewusster Konventionen, bestimmte Fragen erst gar nicht zu stellen.

Bilder der Geschichte, Bilder der Vergangenheit, setzen sich aus vielen einzelnen in sich jeweils unvollständigen Geschichten zusammen. Nelly Jordan, die Hauptperson von Christa Wolfs Roman „Kindheitsmuster“ (1976 im Aufbau Verlag Berlin und Weimar erschienen) ist neugierig, aber ihre Neugier wird in Grenzen gehalten. Die Erzählerin kommentiert: „Kann man eines Kindes Neugier vollkommen lahmlegen? Und wäre dies vielleicht eine der Antworten auf die Frage des Polen Kasimierz (sic!) Brandys, was Menschen befähigt, unter Diktaturen zu leben: Dass sie imstande sind zu lernen, ihre Neugier auf die ihnen nicht gefährlichen Gebiete einzuschränken?“

Mit der Zeit fügen sich die Bruchstücke der das Kind Nelly Jordan umfangenden und umschwebenden Gedanken und Erlebnisse zu einem Versuch zusammen, die eigene Identität zu definieren: „Da äußert Nelly den bemerkenswerten Satz: Ich will keine Jüdin sein!, und Charlotte richtet an eine nicht zu benennende Instanz die nicht weniger bemerkenswerte Frage: Woher um alles in der Welt weiß dieses Kind, was eine Jüdin ist? / Auf diese Frage ist eine Antwort nicht zu ermitteln.“ Detektivarbeit, quasi-polizeiliche Untersuchungen wären erforderlich. Das, was war, und das, was ist, sollte „ermittelt“ werden können, doch scheint dies nicht so einfach zu sein, wie wir nach Lektüre der „Kindheitsmuster“ wissen werden.

Kindliche Skepsis

Wer sich auf die Suche nach Sicherheiten im Bild der Geschichten von Eltern und Großeltern machen möchte, um letztlich die eigenen Prägungen und Entwicklungen, diese gewordene Identität, besser zu verstehen, sollte vielleicht einen Selbstversuch wagen. In den 1960er Jahren habe ich als Kind von meinen oberschlesischen Großeltern nicht viel über die Zeiten vor ihrer Ankunft in Köln erfahren. Ich habe auch nicht nachgefragt, weil ich nicht gewusst hätte, welche Fragen ich hätte stellen sollen.

Ich war mir jedoch sicher, dass ich das, was von denjenigen, die sich näher mit Schlesien und anderen ehemaligen „deutschen Ostgebieten“ beschäftigten oder sogar behaupteten, für die von dort nach Westen „Vertriebenen“ zu sprechen, mit kindlicher Skepsis aufnahm. Meine Großeltern und mein Vater gehörten nicht zu denen, die Feste und Kongresse der Vertriebenenverbände besuchten, aber ob dies meine Skepsis bewirkte, vermag ich nicht (mehr) zu „ermitteln“.

Parolen wie „Schlesien bleibt unser“, Motto des Schlesiertreffens von 1985, waren mir suspekt, offenbar auch dem oberschlesischen Teil meiner Familie. Die westdeutschen Schulatlanten, mit denen ich in den 1960er und frühen 1970er Jahren Geographie lernte, hatten eine andere Botschaft. Es gab die gestrichelten Linien an Oder und Lausitzer Neiße sowie rund um Ostpreußen, neben denen zu lesen war, dass Schlesien, das östliche Pommern, Ostbrandenburg, Danzig und Ostpreußen polnisch bzw. russisch „verwaltet“ wurden. Das Kuratorium Unteilbares Deutschland vertrat offensiv und mit großem Rückhalt im Deutschen Bundestag die Parole „Deutschland dreigeteilt – niemals“, löste sich aber 1992 auf, gab sich demnach mit der Aufhebung der Zweiteilung Deutschlands in eine westliche Bundesrepublik und eine östliche Deutsche Demokratische Republik zufrieden. In der DDR sah dies anders aus. Die Ostgrenze zu Polen lag an Oder und Lausitzer Neiße, und die in der Bundesrepublik als „Vertriebene“ bezeichneten Menschen hießen „Umsiedler“.

Es mutet in der Rückschau vielleicht recht merkwürdig an, dass die Bundesrepublik Deutschland bis zum Einigungsvertrag 1990 und dem Abschluss des Zwei-plus-vier-Vertrags brauchte, um Oder und Lausitzer Neiße als Ostgrenze des zukünftigen Deutschlands anzuerkennen: 45 Jahre! De facto hatte Willy Brandt bereits Anfang der 1970er Jahre diese Grenze anerkannt, doch gab es noch keine völkerrechtlich verbindliche Klarheit, sodass der Status der sogenannten „Oder-Neiße-Grenze“ bis 1990 ungeklärt und Gegenstand politischen Streits blieb. Insofern darf man die Parole der Landsmannschaft Schlesien von 1985 auch als Teil eines Rückzugsgefechts bewerten, ebenso wie der Austritt der langjährigen Vorsitzenden des Bundesverbandes der Vertriebenen Erika Steinbach aus der CDU im Jahr 2017 als Zeichen gewertet werden kann, dass die CDU, die sich den Vertriebenenverbänden immer verbunden gezeigt hatte, ihren Frieden mit der Grenzziehung im Osten gemacht haben dürfte.

Familienerinnerungen – Zwei Entdeckungen

Als Schüler und als Student wusste ich eigentlich nie so genau, ob ich die Region, aus der meine Großeltern und mein Vater auf unterschiedlichen Wegen zwischen 1945 und 1949 nach Köln gekommen waren, als polnisch oder als deutsch bezeichnen sollte. Das wurde noch komplizierter, da mein Großvater nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen als Eisenbahner nach Kattowitz-Idaweiche (polnisch: Katowice-Ligota) versetzt wurde. Ich wusste aus seinen wenigen Erzählungen, dass er bei dieser Versetzung an einem Polnisch-Kurs teilnehmen sollte, den er nicht brauchte, weil er bereits gut polnisch sprach. Das war jedoch alles.

Welche Züge mein Großvater in Kattowitz-Idaweiche / Katowice-Ligota außer Stahl- und Kohletransporten hatte abfertigen müssen, war nie Thema, auch nicht, dass mein Großvater Teil der deutschen Besatzungsmacht war. Dass ich gerade dies nicht begriff, hing auch damit zusammen, dass mir nie klar war, zu welchem Staat Kattowitz eigentlich vor 1939 gehört hatte. Ich wusste etwas über die Querelen rund um die Abstimmungen im Jahr 1921, hatte aber nie darüber nachgedacht, dass Kattowitz nach der Abstimmung eine polnische Stadt war.

Dass mein Großvater Teil der Besatzungsmacht war – ich muss dies an dieser Stelle wiederholen – wurde mir erst klar, als ich am 18. Februar 2020 mit Magdalena Gebala sprach, die für das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam eine deutsch-polnische Wanderausstellung über Juden an der Oder kuratiert hatte, die im Herbst 2019 auch im Haus Schlesien in Königswinter zu sehen war, an einem Ort schlesischer Erinnerungskultur, den ich bis zu dieser Ausstellung verdächtigte, gestrige, sehr gestrige Ansichten zu verbreiten, was jedoch offenbar zu meiner Überraschung nicht (mehr) zutraf. Im Jahr 2014 ergab eine Nachfrage beim Bundesarchiv, dass mein Großvater 1939 in die NSDAP eingetreten war. Die Daten passten zusammen und von einem Onkel erfuhr ich, dass dieser Schritt Voraussetzung für eine Beförderung gewesen sein soll. Das passt zur Übernahme einer Aufgabe im Rahmen der deutschen Besatzung. Die Besatzer brauchten verlässliche Beamte.

Eine zweite Entdeckung betraf meinen 1924 geborenen Vater. Ich weiß nicht, was mein Vater von den politischen Entwicklungen in seiner Jugend mitbekommen und verstanden hat, sodass offenbleiben muss, wie weit seine Erzählungen als Deckerinnerung zu bewerten sind und was wirklich stimmte.

Mein Vater erzählte mir, dass Oberschlesien konservativer als andere Regionen in Deutschland gewesen wäre, sodass es dort keine Judenverfolgungen gegeben hätte. Seine vier jüdischen Mitschüler im Beuthener Gymnasium waren ihm sympathisch und er berichtete, dass er freiwillig am jüdischen Religionsunterricht teilgenommen habe, weil ihm das mehr Spaß gemacht habe als Sport. Er hätte sich auch darauf gefreut, im Gymnasium Hebräisch zu lernen, was die Nazis jedoch nach ihrer „Machtübernahme“ unverzüglich verboten. Allerdings fiel mir auch auf, dass mein Vater jedes Mal, wenn die Sprache auf Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nazis kam, die Namen seiner jüdischen Mitschüler geradezu gebetsmühlenartig wiederholte.

Rechte privat

Die vier jüdischen Mitschüler meines Vaters überlebten, weil es ihnen gelang, 1938 mit einem der letzten Züge, an die seit 2008 die Skulptur „Züge ins Leben – Züge in den Tod 1938/39“ am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße erinnert, Deutschland zu verlassen. Im Nachlass meines Vaters entdeckte ich 2014 einen Brief seines Mitschülers Hans Markowitz aus dem Jahr 1993. Hans Markowitz gelang es, über Großbritannien und Zypern nach Israel einzuwandern. Dort nahm er den Vornamen Nehemia an und beteiligte sich an den Kämpfen um die Unabhängigkeit Israels.

Aus diesem Brief ergibt sich ein etwas anderes Bild als aus den Erzählungen meines Vaters, vor allem zum Antisemitismus in Oberschlesien. Nehemia Markowitz begründet, warum er nicht an einem Klassentreffen teilnehmen wolle: „Der Hauptgrund jedoch ist, daß die in den Jahren nach 33 in Deutschland herrschende Atmosphäre es für jüdische Schüler unmöglich machte, ein Gefühl der Kameradschaft mit den arischen Schülern der gleichen Klasse aufkommen zu lassen.“ Die Schule verließ er „aufgrund der Regierungsverfügung vom 14. November 38“. Er beschreibt den Brand der Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November, den Auftritt der SS in der Wohnung und zitiert seine Mutter: „So schnell wie möglich raus, egal ob England oder Palästina“. „Am 13. Dezember 38 sah ich meine Mutter zum letzten Mal auf dem Bahnhof. Als der Zug am nächsten Tag über die Grenze nach Holland kam – die Kinder aus Schlesien hatten in Berlin übernachtet – herrschte unter uns Kindern ein Gefühl der Freude und der Freiheit.“ Er vermutet, dass seine Mutter in Auschwitz ermordet wurde. „Im Sommer 92, dem 50. Jahrestag der Deportierung von 982 Beuthener Juden, darunter, wie bereits erwähnt, meine Mutter, wurde eine dementsprechende Gedenktafel am jüdischen Friedhof auf der Piekarer Straße angebracht und eine an der Stätte der Synagoge am ehemaligen Friedrich-Wilhelm-Ring.“ Es gab einen Videofilm und „bei einem Treffen in Afula (…) traf ich so manche Schicksalsgenossen wieder, die ich seit 1938 nicht gesehen hatte.“ An Ester Markowitz erinnert eine Inschrift in Yad Vashem.

Was stimmt nun von den Erzählungen meines Vaters? Möglicherweise, Plausibilität wäre vorhanden, auch wenn sich – vorsichtig gesprochen – eine sedierende persönliche Sicht über die Vergangenheit gebreitet haben mag. Wer weiß? Christa Wolf in „Kindheitsmuster“: „Es ist wahr, dem Phantasiegedächtnis ist noch weniger zu trauen als dem Wirklichkeitsgedächtnis (…)“. Eine bewusst verfälschende Absicht möchte ich meinem Vater nicht unterstellen. Seine Erinnerung an ein konservatives, nicht nazistisches Oberschlesien stimmt jedoch nicht. Oberschlesien war lange eine Hochburg des Zentrums, doch lag die NSDAP im März 1933 auch dort vorne und erhielt etwa genauso viele Stimmen wie im Reichsdurchschnitt.

Abgesehen davon gab es Zentrumspolitiker, die mit der NSDAP zusammenarbeiteten und ihr zur Macht verhalfen. Um Heinrich Brüning wurden in katholischen Milieus antinazistische Legenden gebildet, die sich jedoch nicht halten lassen. Schon unter seiner Kanzlerschaft gab es Gespräche mit Hitler. Franz von Papen plädierte dann offen für einen Reichskanzler Hitler und verbreitete wie auch andere Konservative die Mär, so könne man Hitler in den Griff bekommen.

Fakt ist ferner, dass in den ehemaligen deutschen Ostgebieten gerade die konservativen Provinzen wie Pommern ihre Gebiete als erste „judenfrei“ gemacht haben. Ein Grund für den nicht so ausgeprägten bzw. verspäteten Antisemitismus in Oberschlesien könnte darin bestehen, dass die Gegend als Industrieregion schon immer multiethnisch und multikulturell geprägt war und Jüdinnen und Juden ganz selbstverständlich ein Teil der Gesellschaft waren. Nach der Teilung Oberschlesiens verblieb im polnischen Ostoberschlesien eine deutsche Minderheit, darunter viele jüdische Deutsche.

Aber es gab noch einen weiteren Grund: Die Genfer Konvention, die „Deutschland und Polen unter Vermittlung des Völkerbunds im Mai 1922 (…) abgeschlossen hatten (…) enthielt für die Dauer von 15 Jahren Übergangsregelungen (…) sowie garantierte besondere Rechte der jeweiligen Minderheiten, darunter auch der deutschen Juden, die dadurch im deutschen Teil Oberschlesiens bis 1937 vor den Rassengesetzen der Nationalsozialisten geschützt waren.“ (Marcin Wiatr: Literarischer Reiseführer Oberschlesien, Potsdamer Bibliothek östliches Europa, 2016). Erstaunlich ist eher, dass die Nazis das nach 1933 eingehalten hatten und die jüdischen Schüler in Beuthen erst mit Verfügung vom 14. November 1938 ihre Schule verlassen mussten. Reichsweit galt das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933, das dazu führte, dass 1938 kaum noch jüdische Schüler eine deutsche Schule besucht haben dürften.

Jüdinnen und Juden an der Oder

Am 18. Februar 2020 hatte ich Gelegenheit, mit Magdalena Gebala über Oberschlesien und andere osteuropäische Regionen zu sprechen, in denen vor und nach den beiden Weltkriegen Deutsche lebten. Meine Gesprächspartnerin übergab mir das eben zitierte Buch von Marcin Wiatr. Vielleicht sollte ich darauf hinweisen, dass der Begriff „Osteuropa“ ein Westprodukt ist. 1989 errechneten Geographen des französischen Institut géographique national den Mittelpunkt nördlich von Vilnius in Litauen, aber es gibt auch andere Punkte, die für die Mitte Europas in Anspruch genommen werden könnten und werden. Keiner davon liegt in Oberschlesien. Osteuropäisch ist noch lange nicht alles, was östlich der deutschen Ostgrenze liegt, programmatisch der Titel des Buches von Karl Schlögel „Die Mitte liegt ostwärts“ (Berlin 1986).

Ein Ausgangspunkt unseres Gesprächs vom 18. Februar war meine These, dass sich viele Konflikte im heutigen Polen und zwischen Polen und Deutschland nur erklären ließen, wenn man die diversen Vergangenheiten und die unterschiedlichen Sichtweisen auf diese Vergangenheiten bis hin zu unverarbeiteten Traumata erforschte. Dies gilt beispielsweise für die Haltung der polnischen Regierung (als Teil der vier Viśegrad-Staaten) zur europäischen Migrationspolitik. Kaum bekannt ist in Deutschland, dass es Städte und Gemeinden gibt, in denen inzwischen viele Ukrainer leben, beispielsweise in Breslau/Wrocław. Mit der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten und Migrant*innen knüpft die Stadt, die 2016 den Titel Europäische Kulturhauptstadt trug, an die Migrationsgeschichte ihrer Bewohner*innen an, deren Großteil nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, u.a. aus der heutigen Ukraine, nach Breslau / Wrocław einwanderte und hier eine neue Heimat fand. Die Zuwanderung aus der Ukraine nach Polen liegt seit 2013 bei über einer Million Menschen.

Die von Magdalena Gebala kuratierte Ausstellung „Im Fluss der Zeit – Jüdisches Leben an der Oder“ / „Z biegiem rzeki – Dzieje Żydów nad Odrą“ gibt ein Bild des interkulturellen Reichtums der Region, den die Nationalsozialisten zerstört hatten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Breslau – nach Berlin und Frankfurt am Main – die drittgrößte jüdische Gemeinde. Die Geschichte ihrer Zerstörung und die Schicksale der weltweit verstreuten Überlebenden dokumentiert beeindruckend der Film „Wir sind Juden aus Breslau“ von Karin Kaper und Dirk Szuszies.

Bekannte Namen Breslauer Jüdinnen und Juden sind die beiden Lasker-Schwestern Anita und Renate, heute noch als Zeitzeuginnen engagiert, aber auch Paul Ehrlich oder Fritz Stern, der von sich sagt, dass er seiner jüdischen Herkunft erst durch die Nazis bewusst geworden wäre. Fritz Stern beschreibt eine tolerante, heute würde man sagen kosmopolitisch-liberale Gesellschaft: „Christen und Juden verkehrten miteinander, gleichgültig, welche unausgesprochenen Vorurteile sie hegen mochten. Ich vermute, dass die meisten, besonders in den oberen Schichten, sich der beibehaltenen oder aufgegebenen Religionszugehörigkeit bewusst waren; man wusste, wer was war – wer Christ war, vielleicht sogar, wer Katholik oder Protestant war, wer gläubig war und wer nicht, wer Jude und ein Christ jüdischer Abstammung war. Dieses Wissen zog aber keine Absonderung nach sich: die berufliche Zusammenarbeit blieb rege, wie auch mit subtilen Unterschieden die gesellschaftlichen Kontakte.“ (Fünf Deutschland und ein Leben – Erinnerungen, München, C.H. Beck, 2007, englisches Original: Five Germanys I have known). Fritz Stern verschweigt die „Spielarten des Antisemitismus“ der 1920er und frühen 1930er Jahre nicht, bezeichnet ihn aber auch „als Politik der Gosse“, zumindest in der Wahrnehmung der aufgeklärten Gesellschaft, der seine Familie sich zugehörig fühlte, daher die Einschränkung „besonders in den oberen Schichten“, die ahnen lässt, dass die allgemeine Stimmung durchaus auch als fragil bezeichnet werden durfte, denn nach 1933 wurden die „unausgesprochenen Vorurteile“ ausgesprochen.

Bild von Manfred Heymann, Kloster Indersdorf, 1945: © United States Holocaust Memorial Museum Washington.

Die Region Schlesien war immer durch Migration zwischen Ost und West geprägt, auch jüdische Migration, etwa aus Russland. Wie viele Jüdinnen und Juden aus dem zaristischen Russland nach Westen gezogen sind, ist nicht bekannt. Es gibt allenfalls Anhaltspunkte, wie sie bei einer Stadtbesichtigung in Berlin, im „Scheunenviertel“ oder auch in Berlin-Charlottenburg zu finden sind, das von den Berliner*innen aufgrund des hohen russischen Bevölkerungsanteils auch „Charlottengrad“ genannt wurde. Das Jüdische Museum in Berlin hat unter dem Titel „Berlin Transit – Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren“ im Jahr 2012 eine Ausstellung zu diesem Thema angeboten, deren Inhalte nach wie vor im Internet zu finden sind.

Die erste deutsche Region, aus der Juden systematisch abgeschoben wurden, war Pommern. „Im Fluss der Zeit“ dokumentiert ein Foto des am 1. März 1930 in Stettin geborenen Manfred Haymann (eigentlich Manfred Hajmann), der im Februar 1940 in das sogenannte „Generalgouvernement“ deportiert wurde und anschließend das Konzentrationslager Flossenbürg sowie den Todesmarsch nach Dachau überlebte.

Wie die meisten deutschen Jüdinnen und Juden identifizierten sich auch die Jüdinnen und Juden an der Oder mit ihrer deutschen Heimat. Jüdische Soldaten kämpften im Ersten Weltkrieg unter der deutschen Fahne, viele von ihnen blieben bis in die 1930er Jahre hinein glühende Patrioten. Der Breslauer Willy Cohn hat dies in seinem Tagebuch beschrieben. Die Ausstellung kommentiert sein Foto: „Die Zerrissenheit zwischen Heimatliebe und Verzweiflung angesichts der politischen Situation bestimmte häufig den Ton seiner Aufzeichnungen“. Willy Cohn, seine Frau und seine beiden Töchter wurde 1941 in Kowno im besetzten Litauen von den Nazis ermordet. Das Tagebuch wurde in zwei Bänden unter dem Titel „Kein Recht, nirgends! Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933 – 1941“ veröffentlicht (Böhlau, Köln, 2006).

Konkurrierende Opfernarrative

Das Leid, das Deutsche Pol*innen zufügten, ist unbestritten, und doch in seinem Ausmaß vielen Menschen nicht bewusst. 6 Millionen ermordete Pol*innen, darunter etwa 3 Millionen Jüdinnen und Juden – auch das sind Zahlen, die nicht vergessen werden dürfen. In deutschen Schulen, in deutschen Gedenkstätten sind diese Zahlen und vor allem die Schicksale, die hinter den Zahlen stehen, jedoch wenig präsent.

In den letzten Jahren wurde auch und vielleicht gerade in den Medien der westlich von Polen liegenden EU-Mitgliedsstaaten, vor allem in Deutschland, sowie in Israel über ein neues polnisches Gesetz berichtet, mit dem jede Zuschreibung einer Verantwortung oder Mitverantwortung für nationalsozialistische Verbrechen an Polen unter Strafe gestellt wird. Der israelischen Regierung gelang es, die Strafdrohung zu mindern, aus Haftstrafen wurden Geldstrafen, doch bleibt es dabei, dass es sowohl in Polen als auch im Ausland nicht zulässig ist, eine Mitwirkung des polnischen Staates und / oder seiner Bürger*innen an der Shoah anzusprechen. Mit dem sogenannten Holocaust-Gesetz sollte ferner die falsche Verwendung von Begriffen wie „polnische Vernichtungslager“ in der Öffentlichkeit verhindert werden.

Durch das neue Gesetz sind insbesondere junge Holocaust-Forscher*innen angehalten, ihre Beschäftigung mit unbequemen Fragen der polnischen Geschichte gründlich zu überdenken bzw. letztlich einzustellen. Andernfalls müssen sie mit ernsthaften rechtlichen Konsequenzen rechnen. Das primäre Ziel des Gesetzes ist also zum einen Einschüchterung, zum anderen eine Gleichschaltung der Erinnerungskultur in Polen.

Man könnte das Gesetz durchaus mit dem Satz kommentieren: „Wie man es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“ Wer von „polnischen Todeslagern“ oder „polnischen Konzentrationslagern“ spricht, verfälscht in der Tat Geschichte. Es gab das Massaker in Jedwabne 1941, das Pogrom von Kielce 1946 sowie viele andere antisemitische Ausschreitungen während der deutschen Besatzung und danach, aber die Konzentrations- und Vernichtungslager waren eindeutig eine deutsche und von Deutschen betriebene Einrichtung. Das neue, unter der PiS-Regierung verabschiedete Gesetz ist jedoch ein klassischer Fall für konkurrierende Opfernarrative. Sein Ziel ist es, das Leid des polnischen Volkes über jedes andere Leid zu stellen und das Bild des polnischen Opfers durch nichts, aber auch gar nichts trüben zu lassen.

„Geschichtsrevisionismus“ ist das noch nicht unbedingt. „Geschichtsrevisionismus“ entsteht jedoch vor allem dann, wenn ein anerkanntes Geschichtsbild in Frage gestellt, verfälscht oder verschwiegen wird. Meron Mendel, Leiter der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main, berichtet im Vorwort der von seiner Bildungsstätte herausgegebenen Broschüre „Wie die Rechten die Geschichte umdeuten – Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus“ von einem Erlebnis bei einer Veranstaltung des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in einer nordhessischen Schule, dass die Redner*innen aus dem Kreis der örtlichen Lokalpolitik den 9. November 1938 nicht erwähnt hätten, wohl aber den Mauerfall vom 9. November 1989 und „unsere gefallenen Soldaten in den beiden Weltkriegen“. Wer mit „unsere“ gemeint sein könnte, lasse ich unkommentiert.

Meron Mendel stellt diese Form von „Geschichtsrevisionismus“ durch Verschweigen in eine Reihe mit der immer wieder erhobenen Forderung nach dem „Schlussstrich“, die auch heute – wenn man Umfragen glauben will – in Deutschland von mehr als 40 % der Befragten geteilt wird. In der Broschüre der Anne-Frank-Bildungsstätte wird eine Untersuchung der Universität Bielefeld zitiert, nach der etwa 70 % der Befragten behaupten, unter ihren Vorfahren habe es keine „Täter“ gegeben. Wie bei Harald Welzer, Sabine Möller und Karoline Tschuggnall zu lesen: „Opa war kein Nazi“ (erschienen bei Fischer 2002).

Christa Wolf in „Kindheitsmuster“: „Du stellst dir ein Volk von Schläfern vor, ein Volk, dessen Gehirne träumend den ihnen gegebenen Befehl befolgen: Löschen löschen löschen. Ein Volk von Ahnungslosen, das, zu Rede gestellt, später wie ein Mann aus Millionen Mündern beteuern wird, es erinnere sich nicht.“

Insofern können deutsche Fernsehserien wie das im März 2013 im ZDF ausgestrahlte „Unsere Mütter, unsere Väter“ geschichtsrevisionistisch wirken. Aleida Assmann: „Die Eltern, das war der Anspruch, sollten hier ohne Schonung realistisch mit ihren positiven und negativen Zügen dargestellt werden. Nicht ins Bild passte aber der Antisemitismus, der in diesem Film auf einen polnischen Partisanen verschoben wurde. Diese Darstellung, die inzwischen scharfen polnischen Protest hervorgerufen hat, zeigt, wohin die Selbstschonung führen kann: sie verschiebt den Problemmüll der Vergangenheit über die Landesgrenze hinweg und vertieft damit in Europa alte Feindbilder. Gewiss wird Antisemitismus im Film auch in einer winzigen Nebenrolle deutlich, der Karikatur einer extrem unsympathischen deutschen Mutter. (…) Deshalb suggeriert der Film: Wie diese Mutter waren unsere Mütter und unsere Väter natürlich nicht!“ An anderer Stelle spricht Aleida Assmann davon, dass die Serie nicht nur als „Erinnerungsanstoß“, sondern auch als „Deckerinnerung“ diene (Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur – Eine Intervention, München, C.H. Beck, 2013).

Vorgefunden, abgelehnt, wiederentdeckt

Magdalena Gebala erzählte mir von einem neuen, vor einigen Monaten auf Polnisch unter dem Titel „Poniemieckie“ („ehemals deutsch“) erschienenen Buch von Karolina Kuszyk (Wydawnictwo Czarne, Wołowiec, 2019). Darin schildert die Autorin ihre Suche nach den deutschen Spuren im Alltag vieler polnischen Familien im Westen Polens ab 1945 bis heute. In ihrem Buch sind es ganz normale Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die die Geschichten ihrer früheren deutschen und heutigen polnischen Besitzer erzählen. Der Umgang mit diesen materiellen Spuren der deutschen Vergangenheit erzählt die Geschichte eines bemerkenswerten, aber mühsamen Wandels in der polnischen Gesellschaft, von einer ablehnenden Haltung über Hinnehmen bis hin zur positiven Identifikation, Akzeptanz und sogar Stolz.

Es gab während der Abstimmungszeit rund um 1921 viel Hass. Edith Stein berichtet: „Die ganze Familie zog sich durch ihr entschiedenes Eintreten für die deutsche Sache den Hass der Polen zu.“ (Aus dem Leben einer jüdischen Familie, zitiert nach Marcin Wiatr). Nach 1945 kamen andere, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und mussten versuchen, sich im deutschen Oberschlesien zurechtzufinden. „Für sie war das, als würden sich auf einmal die Planeten drehen, total unverständlich. Sie verließen ihre Heimat, stiegen aus den Waggons, betraten Straßen, in denen noch deutsche Schilder hingen, bezogen Häuser, die noch von Deutschen, von Oberschlesiern bewohnt waren, von denen sie die schlechteste Meinung hatten, und alles landete zum wiederholten Male im Mülleimer (…)“ (Wojciech Nowicki, Salki, Wydawnictwo Czarne, Wołowiec 2013, zitiert nach Marcin Wiatr).

Die Ablehnung alles Deutschen in Polen dauerte bis die 1980er Jahre an. Alle materiellen Spuren sollten nach Möglichkeit bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet, umfunktioniert oder nach Möglichkeit beseitigt oder gar vernichtet werden. Mit der Zeit verschwanden nicht nur Gebäude, Denkmäler oder Straßenschilder aus der deutschen Zeit, sondern auch viele christliche wie jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, sagt Magdalena Gebala. Es wurde abgerissen und neu gebaut, in der Regel im üblichen Plattenbaustil. Heute hingegen gibt es eine Altbaurenaissance, und einige Städte erinnern mit ihren Marktplätzen bei der Genauigkeit ihrer Restaurierung nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs mitunter an ein mittelalterliches oder barockes Disneyland, das sich gut für Filmkulissen eignet.

Marcin Wiatr zitiert Karl-Markus Gauß, der in seinem Buch „Im Wald der Metropolen“ (Wien, Zsolnay-Verlag, 2010) beschreibt, wie der „erste Eindruck vom ‚alten‘ Oppelner Ring mit seinen bürgerlichen Barockhäusern täuscht. Die Stadt – und insbesondere der Marktplatz – wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges von der tragischen Zerstörung erfasst, nach 1945 aber, ähnlich wie Breslau oder Danzig, gemäß der alten Stadtpläne wieder aufgebaut.“ Ein gelungenes Gemeinschaftswerk der „polnischen Neubürger“ und der „noch wenigen Deutschen, die in der Stadt verblieben waren“ ist der Wiederaufbau der St. Jakobus-Kirche in Neiße.

Ähnliche Entwicklungen gibt es in Tschechien, aber auch in Deutschland, beispielsweise in Görlitz, nicht nur im Hinblick auf die Beseitigung von Kriegsschäden. Görlitz wurde nicht im Krieg zerstört, sondern verfiel in der DDR-Zeit (Kabarettist*innen spotteten „Ruinen schaffen ohne Waffen“). Heute ist Görlitz neu aufgebaut und wird mitunter als „Görliwood“ bezeichnet wird und wo man eine Führung durch die Filmkulissen der Stadt buchen kann.

Die neuen Bewohner*innen, die sich nach 1945 im Westen und Norden Polens ansiedelten, stammen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die heute auf dem Gebiet Litauens, Weißrusslands und der Ukraine liegen. Viele von ihnen kamen aus Zentralpolen oder aus Großpolen. Ihre Motivationen, in die sogenannten „Wiedergewonnenen Gebiete“ zu ziehen, waren so unterschiedlich wie ihre Lebensgeschichten. Hinzu kamen noch polnische Jüdinnen und Juden, die den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion überlebten und sich ab 1945 ausgerechnet im neuen polnischen Westen anzusiedeln begannen. In den ersten Nachkriegsjahren lebten ca. 100.000 von ihnen in Niederschlesien und ca. 22.000 in Pommern. In den neuen entstandenen jüdischen Zentren wie Breslau / Wrocław, Reichenbach / Dzierżoniów, Lignitz / Legnica oder Stettin / Szczecin gab es folglich ein dynamisches Kulturleben mit jüdischen Schulen, Theatern und Zeitungswesen, das erst durch die antisemitische Kampagne 1968 unterbrochen bzw. zerstört wurde. Seit 1989 ist jüdisches Leben in Polen wieder sichtbar. Es sind v.a. junge Menschen, die sich für die eigene Herkunft interessieren und ihre jüdische Identität pflegen und leben. Die jüdische Gemeinde in Breslau/Wrocław zählt heute ca. 350 Mitglieder, darunter einige Einwanderer*innen aus Israel. Eine ähnliche Entwicklung gibt es seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland.

Durchaus im Sinne von Leo Baeck, den Marcin Wiatr wie folgt zitiert: „Von manchen Völkern und Gemeinschaften ist gesagt worden, sie hätten eine so große Vergangenheit, dass sie eine Zukunft nicht mehr haben könnten. Auf die israelitische Religion und ihre Bekenner hätte dies Urteil (…) schon darum keine Anwendung, weil in ihr der Geschichtsbesitz sich stets zur Gegenwart verjüngte. Die alten Propheten gingen, in stets neuem Genius wiedererwachend, von Geschlecht zu Geschlecht durch die religiöse Welt des Judentums.“ (Das Wesen des Judentums, erschienen 1905).

Ein Thema solcher Wiederentdeckungen – dies war für mich ein Fazit des Gesprächs mit Magdalena Gebala: Viel wäre erreicht, wenn sich Menschen, egal welcher Nationalität, mehr auf Erfahrungen, Erlebnisse und Traumata anderer einließen, häufiger mal die Perspektive wechseln und sich mit Empathie begegnen würden. Was Totalitarismen Europa und der Welt im 20. Jahrhundert angetan haben, können wir eindrucksvoll in Timothy Snyders „Bloodlands – Europe Between Hitler and Stalin“ nachlesen.

International, mehrsprachig, xenophob

Marcin Wiatr lässt zahlreiche deutsch- und polnischsprachige Autor*innen zu Wort kommen, die die wechselvolle Geschichte Oberschlesiens und die damit verbundenen Konflikte lebendig werden lassen. In fünf Kapiteln präsentiert er Bilder von elf Orten des Miteinanders und Gegeneinanders, des Austauschs und der Exklusion. Die Überschriften der Kapitel verweisen auf Barock und Humanismus, Industrialisierung und De-Industrialisierung, Grenzen, Landschaft, Mystik und Religion. Die zitierten Autor*innen sind Zeitzeug*innen, deren Bücher, Aufsätze und Anmerkungen sich zu einem Bild der Geschichte der Grenzregion Oberschlesiens zusammenfügen.

Auf der einen Seite gab es viel Internationalität. So der 1888 in Beuthen / Bytom geborene Schriftsteller Willibald Köhler über Kattowitz (Eine Jugend in Oberschlesien, Augsburg 1962). Wichtiger als die Frage, wer polnisch und wer deutsch wäre, war offenbar um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als es in Myslowice / Myslowitz noch das „Drei-Kaiser-Eck“ gab, die Frage, ob die Eisenbahndirektion nach Beuthen oder nach Kattowitz kam. Mit der Abstimmung veränderte sich das. Marcin Wiatr: „Doch das Abstimmungsergebnis polarisierte natürlich stark und verfestigte die Feindschaft zwischen den beiden Parteien. (…) Auf beiden Seiten der Grenze entstanden beträchtliche nationale Minderheiten. Zudem erwies sich die neue Grenze ökonomisch als nachteilig, indem sie nicht nur Städte, Kreise und Gemeinden, sondern auch Verkehrswege, die Energieversorgung und Betriebe des Industriegebiets auseinanderriss.“

Für Niekischschacht / Nikiszowiec, eine Bergarbeitersiedlung, dokumentiert Marcin Wiatr „bürgerkriegsähnliche Zustände“. Dies betraf nicht nur deutsch-polnische Konflikte. Es gab auch polnisch-tschechische Konflikte, besonders eklatant in Teschen / Cieszyn (auf dem tschechischen Ufer der Olza: Česky Teśin): „Auf der tschechoslowakischen Seite verblieb eine rund 130.000 Menschen zählende polnische Minderheit.“

Das war der Stand 1921, doch was ist 70 Jahre später? Im Lichte der Beobachtung von Fernand Braudel, dass sich Geschichte in sehr langen Zeiträumen entwickele, der „longue durée“, verwundert die Feststellung von Stanisław Bieniasz nicht. „Es ist an der Zeit, dass wir uns eingestehen, wir alle sind mit Xenophobie belastet: Jeder hat seinen Deutschen, seinen Juden, seinen Oberschlesier oder seinen Dombrowaer, vor dem er Angst hat und den er gleichzeitig hasst.“ (Pogranicze bez granicy, veröffentlicht 2004, zitiert nach Marcin Wiatr). An anderer Stelle schreibt Stanisław Bieniasz darüber, wie eine Aussage, Deutscher oder Pole zu sein, zu „Propagandazwecken“ genutzt wird (in: Niedaleko Königsallee).

Marcin Wiatr zitiert mehrere Autor*innen, die die Mehrsprachigkeit in Oberschlesien hervorheben. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese Mehrsprachigkeit immer gleichermaßen geschätzt wurde. Der 1935 in Gleiwitz geborene Schriftsteller, Übersetzer und Regisseur Peter Lachmann änderte nach 1945 seinen Vornamen in Piotr, weil und damit er in der Stadt bleiben durfte. Die Namensänderung hatte auch einen politisch-juristischen Grund, ein „Dekret vom 10. November 1945 über die Änderung und Festlegung von Vor- und Familiennamen“. Marcin Wiatr nennt dies eine „mehr oder weniger erzwungene Doppelexistenz“.

„Ich bin Tscheche, zugleich aber deutscher Staatsbürger (…) Mein Zuhause ist hier. Nach all dem habe ich aber noch entdeckt, dass man neben dem Zuhause auch ein Herz hat. Jetzt weiß ich, dass ich diese Grenze die ganze Zeit in mir trug. Beide Sprachen betrachte ich als die meinen. Das eine und das andere glich sich bei mir irgendwie immer aus. Ich hatte keinen Kummer. Und auf einmal brach das wie durch einen Messerstich abrupt ab. Mir kam es vor, als wäre ein Teil von mir auf einen anderen Teil von mir mit dem Messer losgegangen. Ich wurde in einen inneren Konflikt verstrickt. Was soll nun ich, der Tscheche, mit dem Deutschen in mir tun?“ (Henryk Waniek, Finis Silesiae, Wrocław 2003, zitiert nach Marcin Wiatr)

Der Text von Henry Waniek möge als Beispiel für die individuelle Erfahrung der Grenzsituation gelesen werden. Der „Messerstich“ hatte Methode. Geschichtspolitik geht einher mit Sprachpolitik und ihr Instrument ist die Bildungspolitik. Marcin Wiatr: „Das Deutsche wurde 1872 zur alleinigen Unterrichtssprache von der ersten Volksschulklasse an erklärt, während Polnisch nur noch als Hilfssprache in den unteren Klassen zulässig war. Das Schulwesen war damit das Feld, auf dem in Oberschlesien in den folgenden Jahren der Kulturkampf besonders erbittert ausgetragen wurde.“

Marcin Wiatr belegt die Instrumentalisierung eines eigentlich mehrsprachigen Menschen am Beispiel des Umgangs mit dem Werk Joseph von Eichendorffs: „Denn Eichendorff wurde von den Nationalsozialisten und ihren kulturpolitischen Mitstreitern mehrfach instrumentalisiert, umgedeutet, vereinnahmt und zum ‚deutschesten aller deutschen Dichter‘ erklärt (…) So gerieten Eichendorff und zugleich die Stadt Neiße als Ort seiner Ruhestätte ins Räderwerk eines kulturpolitischen Kalküls, das Oberschlesien in Rückbesinnung nur auf dessen deutsche Traditionen zu formen suchte. Dabei gehörte etwa die Mehrsprachigkeit zu den Grunderfahrungen von Eichendorffs Kindheit. Deutsch und Polnisch – besser gesagt, den oberschlesischen Dialekt – zu sprechen war hier Alltag, bevor nationalistisches Denken die beiden Sprachen gegeneinander ausspielte. Das hatte sich bereits vor dem Abstimmungskampf um 1920 angebahnt und sollte sich nach 1933 zusehends radikalisieren.“ Wenn von Eichendorff die Rede ist, haben die von Marcin Wiatr zitierten Texte polnisch- wie deutschsprachiger Autoren einen mitunter hymnischen Ton, als gelte es, die jeweilig andere Seite durch Betonung der eigenen Gefühle zu überzeugen oder gar zum Schweigen zu bringen. Inzwischen gibt es jedoch auch wieder Versuche der Annäherung an einen Poeten als „Integrationsfigur“.

Wider den „Erinnerungsverlust“

Grenzen werden von Menschen gezogen. Sie werden politisch gesetzt, in der Regel ohne dass die Menschen, die sich von einem Tag auf den anderen auf der anderen Seite einer Grenze wiederfinden, gefragt werden. Und wenn sie gefragt werden, bedeutet das noch nicht, dass Mehrheitsentscheidungen in einen Konsens überführt werden könnten. Gottfried Beermann Fischer bezeichnete in seinen Memoiren (Bedroht, Bewahrt – Weg eines Verlegers, Frankfurt am Main, Fischer, 1967) Oberschlesien als „Kolonialland“. Marcin Wiatr zitiert Texte aus diesen Memoiren, die „ein Bild scharfer sozialer Gegensätze“ zeichnen. Westdeutsches Kapital sorgte für den Aufschwung der örtlichen Kohlegruben. Westdeutsche Ingenieure wendeten ihr Know-How an. Aber hatten die daraus entstehenden Konflikte nun wirklich etwas mit der Sprache, mit kulturellen Traditionen, möglicherweise sogar mit den Unterschieden zwischen den verschiedenen religiösen Bekenntnissen zu tun?

Und in der Tat war die Motivation für veränderte Grenzziehung nicht ausschließlich kulturell bedingt, sondern rührte vor allem aus der wirtschaftlichen Bedeutung der Region. Kohle und Stahl sind für die heutige Wirtschaft nicht mehr von der Bedeutung, die sie mal hatten. Insofern verlieren kulturelle Überhöhungen damit verbundener wirtschaftlicher und sozialer Konflikte ihre Bedeutung. Auf der anderen Seite wirken Demütigungen und Verbrechen der Vergangenheit nachhaltig. Die aktuellen Konflikte zwischen Deutschland und Polen, Polen und Russland, Deutschland und Russland, die sich gelegentlich auch in unterschiedlichen Bündnissen und dem Werben um Verständnis beim einen für die Positionierung gegenüber dem Dritten manifestieren, sind schwer auflösbar.

Hilfreich wäre allerdings der Selbstversuch auch von verantwortlichen Politiker*innen, ihren eigenen Beitrag zu den Konflikten zu erforschen, zu „ermitteln“. Niemand muss in Sack und Asche gehen, aber alle könnten versuchen, die Traumata der anderen zu verstehen. Und vielleicht erweist sich dann die Forderung der polnischen Regierung nach deutschen Reparationen als Versuch, nachhaltige Anerkennung polnischen Leids zu erhalten und Aufmerksamkeit für eine andere Seite der Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Verhältnis zu erwirken. Denn auch Erwachsene oder diejenigen, die sich für Erwachsene halten, verfangen sich im „Kindheitsmuster“. Christa Wolf: „Im Zeitalter universalen Erinnerungsverlustes (…) haben wir zu realisieren, dass volle Geistesgegenwart nur auf dem Boden einer lebendigen Vergangenheit möglich ist. Je tiefer unsere Erinnerung geht, um so freier wird der Raum für das, dem all unsere Hoffnung gilt: der Zukunft.“ Vielleicht ist es denkbar: ein Ende des beiderseitigen Schweigens.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Ich danke Dr. Magdalena Gebala für ihre Beratung und die zahlreichen Informationen, Anregungen und Hinweise. Sie hat mir das Buch von Marcin Wiatr und andere Bücher nahegelegt und mich als Gesprächspartnerin über ein schwieriges Kapitel polnisch-deutscher Geschichte auch menschlich bereichert. Magdalena Gebala ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Kulturforum östliches Europa und verantwortet dort den Arbeitsbereich Polen.)