„Democracy First“
Für die Re-Politisierung der Bildungspolitik
Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sprach anlässlich des Festaktes „100 Jahre Volkshochschule in Deutschland“ in der Frankfurter Paulskirche über den „Bildungsauftrag des Grundgesetzes“ (nachlesbar in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 15. April 2019):
„Ein Schlüssel zum status activus des Staatsbürgers ist Bildung. Bildung nicht im klassischen, die Ungebildeten ausschließenden Sinne, sondern Bildung verstanden als „Empowerment“ Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.“
Schon das erste Wort ist wichtig: der unbestimmte Artikel. Manche sind davon überzeugt oder behaupten zumindest, davon überzeugt zu sein, dass Bildung „der Schlüssel“ sei, vielleicht als Wertschätzung, oft aber wohl auch in Rückdelegation eigener Verantwortung. Bildung wird immer gerne in die Pflicht genommen, wenn es gesellschaftliche Probleme zu lösen gilt, vor allem die Schule.
Und so entstehen Vorschläge zur Einführung zusätzlicher Fächer, zur Revision der Lehrpläne, zu verpflichtenden Fortbildungen etc. Schule soll es richten. „Glück“, „Gesundheit“, „Ernährung“, „Benehmen“, zuletzt gab es sogar den Vorschlag für ein „versetzungsrelevantes Fach“ „Rassismus, Antisemitismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Was Bildung tatsächlich zu leisten vermag, fragen wenige. Louis Lewitan hat darauf hingewiesen, dass Adolf Hitler stolz auf seine vielen Anhänger in der deutschen Studentenschaft, auch vor 1933, verweisen durfte und dass acht von fünfzehn Teilnehmern der Wannseekonferenz den Doktortitel führten (in: Die ZEIT, 8.11.2018).
„Ein Schlüssel“: Das Schlüsselwort ist „Empowerment“. Der „Bildungsauftrag des Grundgesetzes“ ist Befähigung und Ermutigung zur Wahrnehmung eigener Verantwortung, zu Partizipation und Engagement in der Demokratie, unabhängig davon, ob in einer formalen Bildungsinstitution, auf dem informellen Weg über Medien, welcher Art auch immer, oder dem nicht-formalen Weg außerschulischer Bildung, beispielsweise in Jugend- und Erwachsenenbildung, in Volkshochschulen, Familienbildungsstätten oder Einrichtungen der offenen Jugendarbeit. Voßkuhle:
„Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vermieden es, der jungen Bundesrepublik einen paternalistischen Erziehungsauftrag zu verordnen; der Staat sollte nicht besserwisserisch belehren, von oben herab elitär bevormunden.“
Der nordrhein-westfälische „Weckauftrag“
Artikel 7 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung nennt Erziehungsziele:
„(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.
(2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.“
Aus zwei Absätzen in der Verfassung wurde einer im Schulgesetz (§ 2 Abs. 2). Von „Bildung“ ist nicht die Rede, sondern von „Erziehung“. (Ob die beiden Begriffe trennscharf definiert werden können, bezweifele ich. In andere Sprachen lässt sich das deutsche Duett von Bildung und Erziehung ohnehin in der Regel nicht übersetzen.)
Ein grundlegendes Terzett bilden „Menschlichkeit, Demokratie und Freiheit“, die sich gegenseitig bedingen: Mehrheitsentscheidung und Rechtsstaatlichkeit als Merkmale der Demokratie, Achtung der Rechte der Minderheiten und des Einzelnen sowie die Möglichkeit, dass Minderheiten Mehrheiten werden können, als Merkmale der Freiheit, jeweils mit Bezug auf den die Menschenrechte implizierenden Begriff der „Menschlichkeit“. Ein weiteres, sich gegenseitig einhegendes Duett bildet „Volk und Heimat“ mit „Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung“. (Eine Anmerkung: „Ehrfurcht vor Gott“ muss man nicht unbedingt wörtlich interpretieren. Man könnte den Begriff, im Sinne von Albert Camus, zeitgemäß als Metapher für einen kategorischen Imperativ interpretieren.)
Beachtenswert sind die Akzentsetzungen, die sich aus den Präpositionen ergeben: „im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit“ und „in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung“, aber „zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“. Die Präposition „in“ verweist auf die erwünschte Geisteshaltung der erziehenden Menschen, die Präposition „zu“ auf ein Ergebnis, dass bei den zu Erziehenden erreicht werden sollte.
All dies verbindet die nordrhein-westfälische Landesverfassung mit einem „Weck“auftrag. Es reicht aus zu wecken, dann sind die Geweckten an der Reihe. Beispielsweise mit „Fridays for Future“. Damit wären wir wieder bei „Empowerment“, „Partizipation“, „Empowerment“ beschreibt den Bildungs- und Erziehungsauftrag, „Partizipation“ die Methode.
Der bayerische Weg: ein Tugendkatalog
Auch die Bayerische Landesverfassung enthält Bildungs- und Erziehungsziele (Art. 131, Abs. 2 und 3), die im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) zitiert werden (Art. 1 Abs. 1 Satz 3 und 4):
„(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.
(3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.“
Das BayEUG ist gegenüber der bayerischen Landesverfassung etwas fortschrittlicher, indem nicht nur „die Schüler“, sondern auch „die Schülerinnen“ genannt werden.
Auch in Bayern finden wir den „Geist der Demokratie“. Anzunehmen ist, dass „Menschlichkeit“ und „Freiheit“ in „Demokratie“ mitgemeint sind, da sie sich aus der „Achtung (…) vor der Würde des Menschen“ ergeben sollten. Bayern formuliert jedoch den Bildungsauftrag nicht als Weckauftrag, sondern als eine Art Tugendkatalog.
Das Begriffspaar „Heimat“ / „Volk“ und „Völkerversöhnung“ entspricht dem nordrhein-westfälischen Paar. „Völkerversöhnung“ enthält die Begriffe „Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung“. Einen wesentlichen Unterschied gibt es allerdings: Der Begriff „Volk“ erhält ein Epitheton: „deutsches Volk“, dessen Sinn sich aus dem Zusammenspiel von „Heimat“ und „Völkerversöhnung“ ergeben könnte. Es gibt aber offenbar ein Innen, das „deutsche Volk“, und ein Außen, andere „Völker“.
Am Rande: Die Verfassungen beider Länder dürften angesichts der genannten Begriffspaare keine Interpretation zulassen, in der „Volk“ und „Heimat“ national, nationalistisch, völkisch oder identitär definiert werden. Eine solche Interpretation fände ihre Grenzen in dem anderen Teil des Duetts und vor allem an den „im Geiste“ zu bewahrenden Begriff der Demokratie. Das Grundgesetz lässt keine ethnische Interpretation des Begriffes „deutsches Volk“ zu.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Die oben zitierte Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ enthält weitere Aufsätze zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes. Zu finden sind Vergleiche mit vorangehenden Verfassungen, insbesondere der Weimarer Reichsverfassung, zur Ideengeschichte von Verfassungen sowie zu den Begriffen „Integration“ und „Würde“.
Vergleichbare Begriffsterzette bzw. -duette zu den der beiden Landesverfassungen nennt Günter Frankenberg in seinem Text „Würde – Zu einem Schlüsselbegriff der Verfassung“. Frankenbergs Lektüre der Verfassung legt „die Vermutung nahe, der Würde-Schutz solle uns an die Versehrbarkeit unserer Existenz erinnern und die grundlegende und einzige wechselseitige Verpflichtung bekräftigen, nämlich die gleiche Würde aller anzuerkennen. Daneben ruft Art. 1 GG ins Gedächtnis, was Anderen – den Fremden – zusteht. Nicht nur politisch, nicht nur moralisch, sondern von Verfassungs wegen haben sie das Recht bei uns Rechte zu haben.“
Frankenberg leitet aus dem Begriff der „Würde“ auch einen „sozialstaatlichen Gestaltungsauftrag“ ab. Der Staat hat Teilhabe mit sozialstaatlichen Instrumenten zu unterstützen. Er muss einen sozialen Ausgleich herbeiführen, der durchaus auch den offensiven Umgang mit Fragen um die Höhe des Mindestlohns, einer Grundsicherung oder der Bereitstellung bezahlbarer Wohnungen umfasst, nicht zuletzt die Bereitstellung eines allen zugänglichen Bildungssystems.
Bildung ist politisch
Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich in den letzten Jahren mehrfach mit Demokratie befasst. Sie beschloss Empfehlungen zur Demokratie und zu den Menschenrechten (beide 2018), zur Erinnerungskultur (2014) sowie eine gemeinsame Erklärung mit dem Zentralrat der Juden (2012) (einsehbar unter www.kmk.org). Diese Empfehlungen geben der „Partizipation“ und – auch wenn der Begriff selbst nicht verwendet wird – dem „Empowerment“ einen großen Stellenwert. Historische und politische Bildung werden eng aufeinander bezogen. Der Beutelsbacher Konsens fordert mitnichten Neutralität, sondern klare Kante „im Geiste der Demokratie“:
„Werden in der Schule kontroverse Thematiken behandelt, haben Lehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, den Unterrichtsgegenstand multiperspektivisch zu beleuchten, zu moderieren, bei Bedarf gegenzusteuern, sowie Grenzen aufzuzeigen, wenn diese überschritten werden. Voraussetzung für die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses ist somit eine Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte.“
Die KMK ist politischer als ihr allgemein nachgesagt. Aber die KMK ist auch verantwortlich für eine schon lange wirkende schleichende Entpolitisierung von Bildungspolitik, durchaus eine Folge der sogenannten „empirischen Wende“ nach Erscheinen der ersten PISA-Studie. Was Bildung leistet, dokumentieren PISA, VERA, IGLU. Doch keiner dieser Tests befasst sich mit Demokratie, „Empowerment“. Die Chance zur Beteiligung an einer neuen Runde der ICCS (International Civic and Citizen Educationship Study) hat die KMK leider im Jahr 2018 verpasst.
Verfassungsauftrag ist nicht die Vermittlung sogenannter Kulturtechniken, so wichtig ihre Beherrschung auch immer sein mag. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie viele Fremdsprachen jemand beherrschen, über welche naturwissenschaftlichen Kenntnisse jemand verfügen oder wie sich das Gymnasium von anderen Schulformen unterscheiden solle. Verfassungsauftrag ist Persönlichkeitsbildung. Bildung muss nach langen Jahren der Entpolitisierung endlich wieder politisch verstanden werden:
„Eine rechtsstaatlich verfasste Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie musste und muss immer wieder erlernt, erkämpft, gelebt und verteidigt werden.“ (KMK 2018)
Norbert Reichel, Bonn