Demokratie wagen
Ein Gespräch mit dem Aktivisten, Verleger und Buchautor Klaus Farin
„Im Grunde kämpfen sie nämlich nicht gegen mich, sie kämpfen gegen sich selbst. Sie fürchten Sympathie für ihr Feindbild, das sie eigentlich hassen sollen, wie der Teufel das Weihwasser. Sie würden alles tun, damit da nichts rausblubbert. Ihr größter Feind sind ihre eigenen Gefühle. / Sollte sich da was entwickeln, das wissen sie, sind sie geliefert. Vorbei mit dem Alles-auf-andere-Schieben, vorbei, andere für ihre Probleme verantwortlich zu machen.“ (Mo Asumang, Mo und die Arier – Allein unter Rassisten und Neonazis, Frankfurt am Main, Fischer, 2016)
Klaus Farin und Mo Asumang haben einen vergleichbaren Arbeitsstil. Sie haben sich beide in die Höhle der Löwen begeben, von denen sich manche als kleine Katzen herausstellten. Ein Fazit: Demokratie hat etwas mit Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu tun, Rassismus und Extremismus damit, dass dies fehlt.
Dies ist Thema dieser Dokumentation des Gesprächs mit Klaus Farin, ebenso wie utopische Entwürfe der Vergangenheit, die uns auch heute noch viel zu erzählen haben. In den über 50 Jahren seines Engagements hat er sich nicht nur aus der Ferne mit Jugendkulturen und ihren Verknüpfungen zur Gestaltung der Demokratie befasst, er hat das direkte und offene Gespräch mit schwierigen Szenen gesucht, mit Neonazis, Skingruppen, Punks, Jesusfreaks, die er in seinen Büchern hat zu Wort kommen lassen. Er hat festgestellt, dass es eine Menge Wege gibt, Menschen für die Demokratie (zurück) zu gewinnen und Extremismus erfolgreich zu bekämpfen.
Klaus Farin wurde 1958 in Gelsenkirchen geboren. Er lebt seit Mitte der 1970er Jahre in Berlin. Die Gesamtauflage seiner Bücher liegt bei über 300.000 Exemplaren, Auszüge erschienen in zahlreichen Schulbüchern. Er ist Gründer und ehrenamtlicher Geschäftsführer des Hirnkost-Verlags. Auf seiner Internetseite bewirbt Klaus Farin den von ihm mitgestalteten „Kongress der Utopien“, ein Projekt, das er gemeinsam mit mehreren Aktivist:innen, Zukunftsforscher:innen und Expert:innen der Science Fiction auf den Weg gebracht hat. Auch der Demokratische Salon beteiligt sich.
Der Hirnkost-Verlag erhielt 2021 und 2022 den Deutschen Verlagspreis. Klaus Farin erhielt 2019 für seine „Verdienste um die Jugendforschung“ das Bundesverdienstkreuz des Bundespräsidenten.
Hinein in die Berliner Szenen
Norbert Reichel: Wie würdest du dich in einigen wenigen Sätzen vorstellen?
Klaus Farin: Ich komme aus der politischen Bildung. Das habe ich schon als 16-/17-Jähriger gemacht, Vorträge, Workshops, beim Aktuellen Forum in Gelsenkirchen, für die Volkshochschule. Ich habe als Journalist gearbeitet, angefangen mit der Schülerzeitung, für verschiedene Tageszeitungen, beispielsweise für die WAZ. Inhaltlich war mein Schwerpunkt Jugendkulturen und Subkulturen. Als Jugendlicher interessiert man sich natürlich mehr für solche Szenen als für die Grauen Panther. Dazu habe ich Bücher geschrieben und 1997 das Archiv der Jugendkulturen gegründet. Daraus entstanden 2010 die Stiftung Respekt und im Jahr 2003 der Hirnkost-Verlag, eine Gründung des Archivs der Jugendkulturen. Heute arbeite ich im Wesentlichen ehrenamtlich als Geschäftsführer des Hirnkost-Verlages.
Norbert Reichel: Wie kamst du von Gelsenkirchen nach Berlin?
Klaus Farin: Ich wollte immer schon in die Großstadt, und die einzig relevante Großstadt war für mich Berlin. Schon als ich mit 13, 14 Jahren zum ersten Mal da war, war klar: Ich will nach Berlin. Da gab es Subkultur, da gab es Punks, Hausbesetzer und so weiter. Seit ich 17 war, bin ich nach Berlin getrampt, habe bei Freunden gewohnt und bekam irgendwann – Anfang 1980 – in einer Kneipe in Kreuzberg eine Wohnung angeboten, mit 121 DM Miete.
Norbert Reichel: Keine WG?
Klaus Farin: Das war schon eine kleine Wohnung für mich, Hinterhof, in Neukölln, das konnte man nicht ablehnen. Am nächsten Tag bin ich eingezogen. Ich war eh immer in Berlin. Und als Journalist ist es eigentlich egal, wo man wohnt. In Berlin gibt es natürlich viel mehr Themen. Ich war Kulturjournalist und habe viel über Filme geschrieben, Musik und Literatur. Ich habe für den „Vorwärts“ von der Berlinale berichtet. Ich konnte viele Interviews machen, weil die, die ich interviewen wollte, ohnehin in Berlin waren. Ich habe aber auch weiterhin für den WDR, den Deutschlandfunk und nicht zuletzt für den Kinderfunk des RIAS gearbeitet.
Norbert Reichel: Das war das West-Berlin der späten 1970er und der 1980er Jahre. Dann kam der Mauerfall am 9. November 1989.
Klaus Farin: Für uns West-Berliner war die Öffnung der Mauer gar nicht so einschneidend. Es waren nur viele neue Menschen mit diesen kleinen, etwas anders riechenden Autos in der Stadt. Auch Deutsche, aber irgendwie anders als wir. Unser Leben hatte sich nicht verändert. Für Ostdeutsche hat sich alles verändert, das System, das Leben. Als Westdeutsche, als Westberliner konnte man das lange Zeit ignorieren. Die Folgen waren natürlich nachhaltig, die Diversifizierung der Stadt, die kommerzielle Aufwertung, die vielen Möglichkeiten, die Berlin vorher nicht hatte, auch weil Berlin beides hatte, Ost und West, was auch für den Tourismus interessant war.
Norbert Reichel: Veränderte sich deine journalistische Arbeit mit dem Mauerfall?
Klaus Farin: Zu dem Zeitpunkt habe ich eigentlich kaum noch als Journalist gearbeitet, vor allem nicht als aktueller Journalist. Ich habe noch Kinderfunk gemacht und Literaturkritiken für den Deutschlandfunk. Der Grund war, dass ich es erbärmlich fand, wie Medien mit dem Thema Jugend umgingen. Je mehr man sich in einem Thema auskennt, umso mehr merkt man, wie sensationsheischend und oberflächlich es in den Medien verhandelt wird. Das hat mich immer mehr genervt. Deswegen habe ich immer mehr politische Bildung gemacht, Hintergrundrecherchen, viele Reisen. Das hat gut funktioniert. Ich hatte immer aktuelle Bücher auf dem Markt, die sich verkauften.
Außerdem hat man mir damals dauernd Stellen angeboten. Das war eine Horrorvorstellung für mich. Ich habe nie als festangestellter Redakteur gearbeitet. Ich wollte immer Freiberufler bleiben, nicht fest in eine Redaktion eingebunden. Deshalb musste ich auch beim Kinderfunk aufhören. Die Vorstellung, bis zur Rente in einer Redaktion oder einem Rundfunkhaus zu sitzen und immer das Gleiche zu machen, war für mich wirklich ein No Go. Dazu bin ich viel zu hyperaktiv.
Ein anderer Blick auf Jugendkulturen
Norbert Reichel: Was hat dich denn konkret an der journalistischen Arbeit über Kinder- und Jugendthemen gestört? Manches kann ich mir schon vorstellen, wenn ich an den Spiegel-Titel „Tollhaus Schule“ denke. Solche Titel gab es in der damaligen Zeit immer wieder und gibt es auch heute noch, nur mit dem Unterschied, dass als Verantwortliche für dieses „Tollhaus“ ganz bestimmte Gruppen von Menschen ausgemacht werden, deren Vornamen dann in den Parlamenten abgefragt werden.
Klaus Farin: Für alle Medien gilt, dass die schlechte Nachricht die gute ist. Das gilt auch heute, gerade in den Zeiten verschärfter Konkurrenz. Printmedien stehen unter Druck, ebenso das Fernsehen seit der Gründung der vielen privaten Kanäle. Da müssen die Schlagzeilen immer größer werden, die Zeit für seriöse Recherchen wird immer kürzer. Ein Thema ist nicht mehr wochenlang aktuell, sondern nur wenige Tage. Das hat die Qualität erheblich verschlechtert. Bei Jugendlichen speziell ist das ohnehin so. Die Erwachsenenwelt glaubt eh immer alles, was bei Jugendlichen schlecht sein soll, denn die müssen ja schlechter sein als wir es damals waren. Die Gesellschaft benutzt Jugendliche immer als Sündenbock für ihre eigenen Fehler. Man diskutiert Rassismus am Beispiel von Jugendlichen, obwohl wir wissen, dass das Hauptwählerpotenzial der AfD nicht bei 16-18-Jährigen liegt, sondern bei 35- bis 55-jährigen Männern. Drogen, Alkohol, Gewalt, all das wird immer am Beispiel Jugend diskutiert.
Norbert Reichel: Die Kehrseite ist die Forderung nach Dienstpflichten für Jugendliche. Von Dienstpflichten für andere Altersgruppen ist nur selten die Rede, es sei denn, es geht um Langzeitarbeitslose und Asylbewerber.
Klaus Farin: Es wird immer gefragt: Welche Probleme machen Jugendliche? Nicht: Welche Probleme haben sie? Heute im 21. Jahrhundert lässt man 14- oder 16-jährige mit wenigen Ausnahmen immer noch nicht wählen. Das ist völlig absurd. Mit denselben Argumenten hat man vor über 100 Jahren Frauen das Wählen verboten: Die sind zu emotional, die sind nicht kompetent, eigentlich wollen die gar nicht. Jugend ist daher ein besonders krasses Thema für das Missverhältnis zwischen Realität und Berichterstattung.
Norbert Reichel: Galt das auch für den Kinderfunk?
Klaus Farin: Als Kinderfunk hatten wir den Problemdruck nicht. Ich war beim RIAS-Kinderfunk, bei „Panther & Co.“, der dann abgewickelt wurde, wie vieles Gute. Wir hatten jeden Sonntag eine Stunde Sendung. Da konnten wir viele Themen aufgreifen, die Kinder interessieren. Aber etwas änderte sich durch Glasnost und Perestroika: 1985 war ich das erste Mal in Moskau, als Gorbatschow gerade Generalsekretär der Kommunistischen Partei geworden war. In Begleitung von Udo Lindenberg bei den Weltjugendfestspielen. Wenige Jahre später hatten wir eine Kooperation zwischen dem russischen Kinderfunk und RIAS. Ich habe in Moskau mit Kinderbuchautoren sprechen können. Zu Ostern hatten wir Sendungen über verschiedene Osterbräuche der Menschen in Berlin, die ja damals schon aus über 150 Ländern kamen. Wir haben damals mit Rafik Schami und Erich Fried gearbeitet. Der Kinderfunk war in Deutschland in der Regel sehr engagiert. Sendungen, die mit dem pädagogischen Zeigefinger arbeiteten, waren eher die Ausnahme.
Norbert Reichel: Nach 1989 wurden viele Kinderbücher und Kinderfilme aus Osteuropa im Westen bekannt, auch aus der DDR. Dazu gehören richtige Schätze.
Klaus Farin: Es ist kein Zufall, dass ich russische Kinderbuchautoren erwähnte. Die waren nicht unbedingt systemkonform. Es gab damals sehr viele kritische Kinderbuchautoren, auch tolle Zeichner, Illustratoren. Da war viel zu holen. Die kannte man in Westdeutschland nicht. Heute sind die allerdings kaum noch auf dem Markt.
Auffällig war, dass es in anderen Ländern, auch im skandinavischen Bereich, viel größere Vielfalt gab als bei uns. Viele Autorinnen und Autoren, die man hier nicht kannte und die auch viel besser waren.
Norbert Reichel: Und aus deiner intensiven Beschäftigung mit Jugendlichen entstand das Archiv der Jugendkulturen?
Klaus Farin: Das war die Konsequenz. Irgendwann haben wir zu mehreren Freunden entschieden, dieses Archiv zu schaffen, damit sich alle, die das wollen, dort informieren können. Wir haben Bücher, Tonträger, Sneakers, Aufkleber, authentische Fanzines und andere Schriften gesammelt. Zehntausende von Heften, die Jugendliche selber machten, Punk, Hiphop, Fußballfans. Wer es wissen wollte, auch Studierende, Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigten, konnten mit Originalmaterial arbeiten. Wir hatten bald an die 100 Menschen, jüngere Menschen aus Jugendszenen, die auch bereit waren, Vorträge zu halten, die Workshops an Schulen durchführten. Wir hatten „Culture on the Road“, einen Bus, mit dem wir mit zehn oder fünfzehn Leuten an eine Schule gefahren sind und einen ganzen Jahrgang mit Hiphop-Workshop, Punk, Tanzworkshops und allen möglichen Themen bespaßt und informiert haben. Wir haben Lehrerfortbildungen angeboten. Das war ein kleines Zeichen gegen die nicht sehr realitätsbezogene klischeehafte Berichterstattung in anderen Medien.
Norbert Reichel: In deinem Verlagsprogramm gibt es auch einiges zum Thema Punk. Das war ja so eine Art Alternativkultur, die mit der Zeit wie so manch andere ehemalige Alternativkultur aber auch kommerzialisiert wurde.
Klaus Farin: Sicherlich. Ich selbst habe gar nicht so viel über Punk geschrieben, weil ich mich der Szene irgendwie zugehörig fühlte. Ich habe mich als Autor mehr mit anderen Szenen beschäftigt, die mir eher wesensfremd waren, weil ich da ja mehr lernen konnte. Wenn ich mich monatelang mit einer Szene beschäftige, möchte ich dabei etwas lernen. Das sind natürlich sehr unterschiedliche Szenen. Ich habe mich mit Neonazis beschäftigt, mit Hooligans, mit Jesusfreaks. Ich bin ein absolut nicht religiöser Mensch, die Begegnung mit den Jesusfreaks war eine Erfahrung der dritten Art für mich. Die Jesusfreaks – das war in den 1990er Jahren neu, interessant, wir wollten einfach wissen, was da geschieht. Wir haben die überall in Deutschland besucht, waren bei Festivals, zum Beispiel in Thüringen, wo junge Leute mehrere Tage lang Jesus gefeiert haben. Das war eine spannende Entdeckungsreise, aus der auch ein Buch entstanden ist.
Noch einmal zum Punk. Das ist eine sehr widersprüchliche Szene. Sie gilt oft als links, ist sie zum Teil, zum Teil nicht. Sie hat eine enorme Kreativität. Deshalb schreiben so viele Ex-Punks heute Bücher, schreiben Biografien, ihre Geschichten. Deshalb gibt es dazu auch mehr Angebote als zu anderen Szenen. Wir haben jetzt aus mehreren Regionen, Nürnberg, Hannover, Berlin, die Regionalgeschichte(n) des Punks aufbereitet. Das ist eine spannende Szene, mit einer langen Tradition. Wir haben natürlich auch über Techno, Hiphop veröffentlicht.
Allein unter Rechten
Norbert Reichel: Die Neonazis: Ich habe mich einmal mit jemandem unterhalten, der mit den Deutschen Jungdemokraten sich in der DDR mit Vertretern der FDJ getroffen hat. Er berichtete, dass nach mehreren „Braunen“ sein Gesprächspartner von der FDJ ihn gefragt hätte, was sie im Westen gegen Neonazis machten, das wäre auch in der DDR ein Problem. Offiziell gab es das ja nicht. Nachlesbar ist auch einiges zu diesem Thema in Biografien und nach 1989 veröffentlichten Tagebüchern, beispielsweise bei Michael „Salli“ Sallmann (erschienen in der von Ines Geipel und Joachim Walther herausgegebenen Reihe „Die verschwiegene Bibliothek“), der auch den Antisemitismus in der DDR beschrieb.
Klaus Farin: Für mich lag es nahe, weil ich in meiner Jugend aus der antifaschistischen Szene komme. Ich habe zum Beispiel Demonstrationen organisiert. Rechtsextremismus war schon in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland ein Thema, Michael Kühnen, die Wehrsportgruppe Hoffmann. Ich habe Material gesammelt, bin immer wieder hingegangen, zu Nazitreffen, Konzerten, habe mich mit rechten Hooligans – es gibt auch andere – getroffen und gefragt, was ist für die wichtig, wie kommt man in die Szene rein? Ich habe mich mit dem Schachgroßmeister Luděk Pachman getroffen, der in Westdeutschland sich in der „Konservativen Aktion“ engagierte, mit rechtem CDU-Rand, Republikanern, DVU-Treffen und mit Hardcore-Neonazis.
Norbert Reichel: Nur am Rande, manche deiner damaligen Gesprächspartner vom rechten CDU-Rand dürften heute in der AfD ihre politische Heimat gefunden haben.
Klaus Farin: Ich wollte einfach begreifen, was führt Menschen in solche Szenen hinein? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Bei Jugendlichen passt ein Satz von Wilhelm Heitmeyer: Menschen, die wirklich glücklich und selbstbewusst leben, sind nicht anfällig für autoritäre und extreme Szenen. Das hat natürlich etwas. Wenn jemand in so einer Szene ist, ist er oder sie das nicht aus politischen Gründen. Einmal ist da die familiäre Prägung. Wächst man beispielsweise in einer rassistischen Familie auf? Wächst man selbstbewusst auf? Viele in der Szene waren so klein mit Hut, wenn sie auf sich selbst gestellt waren. Sie brauchten die Szene, um sich selbst ein wenig größer zu fühlen. Das gilt nicht für alle, es gibt auch andere, Professoren, Intellektuelle. Aber bei einem Großteil der jungen Leute, vor allem bei gewaltbereiten und gewalttätigen war das so. Das war das Einzige, was sie können: Halt’s Maul, sonst kriegst du eine drauf. Sie hatten nie gelernt, sich mit Reden, mit Argumenten durchzusetzen. Das war eine kleingeistige, ängstliche Welt. Das wirkt schon komisch, wenn man vor kräftigen jungen Männern von 1,80 und größer steht, mit denen man sich nicht anlegen möchte. Es war schon verwunderlich, wie ängstlich die waren.
Norbert Reichel: Wie haben die auf dich reagiert?
Klaus Farin: Ich bin offen aufgetreten. Ich bin ein großer Fan von Günter Wallraff, den ich schon mit 17 Jahren kennengelernt habe. Er hat das Vorwort zu meinem ersten Buch geschrieben. Auch während der Anti-Bild-Zeit haben wir zusammengearbeitet. Bei jungen Leuten kann man aber nicht undercover auftreten. Wenn ich zu einem Neonazi-Konzert gegangen bin, habe ich mindestens ein Clash-T-Shirt angehabt, dazu einen roten Stern, außerdem hatte ich immer lange Haare, damit die Leute gleich wussten, dass ich anders bin. Das war nicht gefährlich. Ich war weiß, als Schwarzer wäre das schwieriger geworden, weil ich nicht zu ihrer Hauptopfergruppe gehörte. Ich war Journalist, das fanden die spannend. Und da ich zu ihnen ging, mussten sie sich nicht bedroht fühlen. Ich war allein, sie waren zu Hunderten. Ich war die einzige „Zecke“, wie sie das so sagten. Und da sie das sahen, kam ich mit ihnen ins Gespräch. Erst provokativ: Was willst du Zecke hier? Mit der Zeit bin ich dann nie rausgegangen ohne ein paar Telefonnummern, später auch E-Mail-Adressen, Zusagen, dass ich mit denen Interviews führen durfte.
Norbert Reichel: Du kennst das Buch von Mo Asumang „Mo und die Arier“, auch ihren Dokumentarfilm „Die Arier“.
Klaus Farin: Ja klar. Mo gehört ja wie ich auch dem Vorstand von Aktion Courage an, dem Träger von Schule ohne Rassismus. Sie brauchte sicherlich mehr Mut, weil sie als Afrodeutsche viel mehr zur Opfergruppe gehört. Sie ist allerdings auch Journalistin, das ist ein Schutzfaktor. Das zeigt, dass man so etwas wirklich machen kann, wenn man offen auftritt. Viele, vor allem junge Leute, die es gar nicht gewohnt sind, dass sich andere für sie interessieren, sind dann ganz offen. Ich bin ja nicht hauptsächlich zu irgendwelchen Stammtischen gegangen, wo der Jüngste um die 60 war, irgendwelche NPD- oder DVU-Treffen. Das waren Alte-Herren-Treffen, da war wenig zu holen. Die waren so kaputt, so rassistisch, in der Wolle braun gefärbt, dass man da nichts machen kann. Mit jungen Leuten kann man immer sprechen.
Norbert Reichel: Hast du eine Idee, wie man es schafft, Leute aus einer solchen Szene herauszulösen? Wie soll ich die Übergabe beispielsweise einer Telefonnummer verstehen? Hilferufe? Oder denke ich zu sozialpädagogisch?
Klaus Farin: Nein, keine Hilferufe, es war einfach die Bereitschaft, ein Interview zu geben. Ich habe Bücher veröffentlicht, in denen sie zu Wort kamen. Ich habe auch Bücher über Skinheads veröffentlicht, in denen die zu Wort kamen, Skinheads aller möglichen Couleur. Antirassistische Sharpskins, linke Skins, schwule Skins, Skins, von denen kaum jemand etwas wusste, weil in den Medien Skins immer mit rechten Einstellungen identifiziert wurden. Ich habe einen ganzen Ordner von Briefen, in denen Leute mir schrieben, dass ihnen unser Skinheadbuch – ich habe es mit Eberhard Seidel gemacht – die Augen geöffnet hat, dass es auch andere gibt, und sie hätten den Weg raus aus der Nazi-Skin-Szene zu anderen Skinheadgruppen gefunden, nicht rechten, nicht rassistischen. Unser Buch habe ihnen den Impuls gegeben, die Szene zu verlassen.
Wir kennen das auch von uns, dass ein Satz das Aha-Erlebnis gibt, unser Leben zu ändern. Aber ich glaube, im Grunde war es nur der Impuls. Sie mussten sich schon selbst Fragen gestellt haben, schon im Kopf gezweifelt haben, ob sie in dieser Szene richtig zu Hause wären. Dann war der Impuls der entscheidende Tritt, die Szene zu verlassen. Das können Medien bewirken! Im Grunde müssen die Leute jedoch sich selbst die Fragen stellen. Dass sie sich Fragen stellen, da sind die entscheidenden Einflussgrößen die Menschen im engen Umfeld, Menschen, die man mag, die man liebt, auf die hört man, die haben den größten Einfluss, nicht diese staatlichen Ausstiegsprogramme und Sonderprogramme der Innenministerien. Die bringen niemanden aus der Szene heraus. Ganz offen gesagt.
Wichtig ist: Was denken die eigenen Freunde? Wenn jemand in so einer Neonaziszene eine Freundin hat – eines der größten Probleme der Szene ist, dass es dort kaum Frauen gibt – und die ist nicht Teil der Neonaziszene, dann ist das immer ein Beziehungsproblem. Auch wenn sie gar nicht so sehr anders denkt. Dann ist er derjenige, der sich prügelt, immer derangiert nach Hause kommt, nie Zeit für sie hat, gerade am Wochenende, und dann sagt die Freundin: Entscheide dich, Rudolf Heß oder ich. Dann denken manche jungen Männer, die Freundin ist doch spannender. Gerade wenn sich eine Beziehung verfestigt, Familiengründung ansteht, ein Kind unterwegs ist, das ist ganz ehrlich gesagt ein Hauptausstiegsgrund, zumindest aus dem engen Kreis der Szene. Damit sind sie schon ein Stück aus dem Kreis entfernt. Es sind selten abstrakte politische Wandlungen. Die Änderungen bewegen sich auf der persönlichen Ebene, indem sie ihr Leben auf die Reihe bekommen oder Widerspruch im eigenen Freundeskreis erfahren, nicht zuletzt von der Freundin.
Norbert Reichel: Aber wie ist das in den Schulen, wenn diese jungen Männer, vielleicht schon als 12-/13-Jährige, zehn oder zwölf Gleichgesinnte in der Klasse finden. Ich denke an diverse Vorfälle, beispielsweise im Brandenburgischen, wo dann die von diesen Rechten gemobbten und drangsalierten jungen Menschen die Schule verließen, in einem Fall sogar die Lehrkräfte, die den Fall öffentlich machten, gingen.
Klaus Farin: Umso wichtiger ist, dass die, die anders denken, das auch deutlich sagen, vor allem Menschen, die Einfluss haben. Auch Jugendliche hören auf ihre Freunde. Wir Erwachsenen ja auch. Im Grunde sind wir doch opportunistisch. Wir wollen nicht alleine durch die Gegend laufen. Wir wollen Freunde haben, die uns akzeptieren. Daher ist es so wichtig zu widersprechen und deutlich zu machen, dass eine Nazi-Haltung, rassistische Positionen nicht die einzigen sind, die es gibt. Oft ist es natürlich so, dass in der Nazi-Szene viele gewaltbereit sind. Und wenn niemand etwas dagegen sagt, glauben diese sehr schnell: Es denken alle doch so. In Wirklichkeit denken bei Weitem nicht alle so. Sie trauen sich nur nicht, es zu sagen, sie sagen es einfach nicht. Deshalb ist es so wichtig, die Andersdenkenden zu stärken und zu ermuntern, zu widersprechen.
Norbert Reichel: Das bedeutet, wir müssten Lehrerinnen und Lehrer, Gleichaltrige ermutigen, diesen Widerspruch zu leisten, auch sich selbst zusammenzutun, um zu zeigen, dass sie die Mehrheit sind.
Aber zur Gewaltbereitschaft: Einmal gibt es die sogenannten „einsamen Wölfe“, die so einsam nicht sind, weil sie im Internet genügend Gleichgesinnte finden, die ihnen den Eindruck vermitteln, sie wären Teil einer großen Bewegung. Auf der anderen Seite gibt es die Gangs, Gruppen, die sich zusammentun, um andere zu drangsalieren oder auch einfach sich mit Gleichgesinnten einer anderen Gruppe zu messen. Ich denke beispielsweise an den englischen Film „Awaydays“ nach dem Buch von Kevin Sampson, in dem es um rivalisierende Gruppen von Hooligans geht, im Fall der Hauptperson übrigens auch um das von dir angesprochene Thema der Freundin und den Einfluss Gleichgesinnter, die Zweifel daran, ob das alles so seine Richtigkeit hat. Ein ganz wichtiger Aspekt ist zu Beginn die häusliche Langeweile.
Klaus Farin: Bei Hooligans geht es qua Definition um die Prügelei. Es gibt auch da nicht nur Rechte, es gibt Hooligans gegen Rassismus. Hooligans sind ein Teil der Gesellschaft, in der Regel bürgerliche Mittelschicht, nicht die Ärmsten der Gesellschaft. Mir geht es um den differenzierten Blick auf diese Szenen und die zu stärken, die anders sind, die nicht rassistisch, nicht rechtsextrem sind, nicht stillzuhalten. Hooligans sind erst einmal daran interessiert, sich mit anderen Hooligans zu prügeln, so eine Art Henry-Maske-Freestyle. Kritisch wird es, wenn das politisch aufgeladen wird. Deshalb hat Michael Kühnen immer aufgerufen, in die Skinhead- und Hooligan-Szene zu gehen, weil er da Gleichgesinnte vermutete. Das ist ihm temporär auch gelungen, auch wenn er gelegentlich selbst eine aufs Maul bekommen hat. Gewaltbereite Szenen sind für Neonazis attraktiv, für linke Gruppen eher nicht.
Norbert Reichel: Ich habe mal den hübschen Satz gelesen, das beste Mittel gegen Gewalt wäre der 30. Geburtstag, weil dann erst der Frontallappen im Hirn vollständig ausgebildet sei.
Klaus Farin: Und weil man mit zunehmendem Alter auch nicht mehr so schnell laufen kann und an Kraft verliert. Aber vor allem sind es Beziehungen. Ich weiß von vielen Hooligans und anderen gewaltbereiten jungen Männern, die die Szene verlassen haben, weil sie eine Freundin oder sogar ein Kind hatten. Mir haben einige gesagt, ich kann doch jetzt, wo ich ein Kind habe, nicht mehr prügelnd durch die Stadt laufen. Wenn mein Sohn mich sieht, vielleicht sogar im Fernsehen! Ich habe doch jetzt eine andere Verantwortung. Mir hat mal jemand gesagt, schaut, dass man Neonazis und Hooligans gescheite Partnerinnen vermittelt. Dann lässt sich das Problem lösen.
Norbert Reichel: Frank Richter berichtete einmal von einem Brief eines jungen Mannes, der sagte, er werde so lange zur PEGIDA-Demonstration gehen, bis er einen Job und eine Freundin habe. Inzwischen hat sich für diese jungen Leute das Kürzel der INCELs etabliert. Das sagt schon fast alles. Aber heutzutage gibt es auch Rollenvorbilder in der extremen Rechten wie Götz Kubitschek mit seiner Familie und seinem Rittergut. Es gibt in Ostdeutschland inzwischen Siedlungen, in denen ganze Familien nach diesem Muster leben und ihre rechtsextrem-völkische Gesinnung pflegen.
Klaus Farin: Das lässt sich natürlich nicht verhindern. Es gibt sicherlich etwa 150.000 Menschen in Deutschland, die im Kern ihrer Identität rassistisch sind und auch vor rechtsextremer Organisierung nicht zurückschrecken. Die kann man natürlich nicht hindern, sich zu sammeln, ein Dorf zu gründen. Problematisch ist jedoch, wenn Neonazis ein bestehendes Dorf übernehmen und ihnen dort kein Widerstand entgegengesetzt wird. Letztlich ist die Ursache, dass die Gesellschaft, vor allem die Politik diese Region abgehängt hat, es ist immer ein Versagen der Mehrheitsgesellschaft, denn letztlich sind Neonazis eine kleine Minderheit. Die AfD hat ihre Wählerhochburgen vor allem in ländlichen Gegenden, die abgehängt sind, auch wenn die bürgerliche und zum Teil intellektuelle Parteielite etwas anderes vorgaukelt
Menschen wollen gestalten, Einfluss haben
Norbert Reichel: Oder in denen viele das Gefühl haben, sie wären abgehängt. Die Wirkung des sogenannten Heizungsgesetzes sollte man nicht unterschätzen. Gerade in Gegenden, in denen das Häuschen oft der einzige Besitz ist. Da hat niemand das Geld, von einem auf den anderen Tag eine andere Heizung einzubauen, auch nicht in zehn Jahren.
Klaus Farin: Die Motivation ist natürlich vielfältig, die AfD oder ähnliche Truppen zu wählen. Im Kern sind es Männer des 20. Jahrhunderts, die sich abgehängt fühlen, die sich von Frauen, von jeder Art von Fremdheit bedroht fühlen. Da kann man auch wenig machen. Der Zug ist abgefahren. Man muss auf die nächste Generation setzen. Aber um das Umfeld wegzubekommen, muss man Menschen das Gefühl geben, dass sie ihre Lebensumwelt und ihr Leben gestalten können. Es geht nicht darum, immer irgendwelche zumeist sowieso ineffektiven Anti-Nazi-Projekte zu machen, man muss den Menschen das Gefühl geben, die Gelegenheit, ihre Umwelt, ihr Dorf, ihre Stadt, ihr Leben zu gestalten, man muss ihnen eine Zukunftsperspektive geben, ihnen zeigen, eure Meinung ist wichtig, ihr könnt euch einbringen, ihr habt Einfluss. Wenn man sich das AfD-Programm anschaut, dürfte eigentlich kein Mieter, kein Arbeitnehmer diese Truppe wählen. Die beste Politik gegen Rechtsextremismus und Rassismus ist nicht eine zugleich neoliberalistische Politik gegen rechts, sondern eine Politik für die Menschen, die Willy Brandt mal sehr treffend in dem Slogan „Mehr Demokratie wagen!“ auf den Punkt gebracht hat.
Norbert Reichel: Das kann man auch in Italien und anderswo besichtigen, wo rechte Politik regiert. Giorgia Meloni mag nach außen verbindlich wirken, nach innen verfolgt sie einen radikalen Neoliberalismus.
Klaus Farin: Menschen, die ohnmächtig sind, muss man eine Zukunftsperspektive geben und das Gefühl, ihr Lebensumfeld, vielleicht sogar die Gesellschaft allgemein, wirklich mitgestalten zu können. Aber das ist das Problem: Menschen haben den Eindruck, alles wird von irgendjemandem in der Ferne entschieden, in Berlin, in Brüssel, in Washington, nicht von meinem lokalen Bürgermeister und von mir schon gar nicht. Nein, wir müssen zeigen, du hast viel Einfluss. Wir müssen die Demokratie wiederbeleben. Deutschland ist nicht das demokratischste Land in Europa. Es gab in der deutschen Politik immer schon eine große Misstrauenskultur gegenüber der Bevölkerung. So heißt es heute oft: Wenn man Bürgerentscheide zulässt, wählen die wieder Nazis. Wir sollten uns einmal anschauen, wie das in der Schweiz funktioniert. Es gibt viele Dinge, die mit Bürgerentscheiden besser entschieden werden könnten.
Norbert Reichel: Marina Weisband hat mir in Gesprächen, die ich veröffentlicht habe, gesagt, es käme darauf an, dass solche Bürgerentscheide dann auch verbindlich sind. Am Beispiel Bürgerhaushalt hat sie gezeigt, dass kaum jemand sich beteiligt, wenn sich die Räte nicht an das Votum dieser Beteiligung halten müssten. Sie müssen ja nicht alles annehmen, weil sich auch manche Vorschläge gegenseitig ausschließen, aber im Großen und Ganzen muss schon Verbindlichkeit herrschen. Die kommunale Ebene ist der Schlüssel. Ähnliches berichtet Jürgen Wiebicke aus den Gesprächen, für die er seine Bücher schreibt. Er zitierte Klaus Dörner, Menschen wären nicht „hilfsbedürftig“, sondern „helfensbedürftig“. Menschen wollen gestalten!
Klaus Farin: Das ist der Punkt. Es muss verbindlich sein. In der Schweiz sind Bürgerentscheide verbindlich. In Berlin erleben wir gerade das Gegenteil: Es gab einen Entscheid, das Tempelhofer Feld nicht zu bebauen, und jetzt suchen CDU und SPD Wege, wie sie es doch bebauen könnten. Es gab einen eindeutigen Entscheid, den Immobilienkonzern Deutsche Wohnen zu enteignen, aber der Senat verwies das Thema wieder in Kommissionen und Arbeitsgruppen, die jahrelang tagen. Umgesetzt wird nichts. Die Menschen erfahren immer wieder, dass sie in einer Placebo-Demokratie leben. Es gibt viel Scheinpartizipation, deren Ergebnisse nie umgesetzt werden. Und dann wundert sich die verantwortliche Politik darüber, dass die Menschen politikskeptisch und wahlmüde werden.
Für Jugendliche gilt das übrigens besonders. Ich plädiere dafür, dass jeder Mensch ab dem 14. Lebensjahr wählen darf. Die Wissenschaft ist da eindeutig.
Norbert Reichel: Ich denke, wer strafmündig ist, muss auch wählen dürfen.
Klaus Farin: Klaus Hurrelmann hat ein Wahlrecht ab dem 12. Lebensjahr wissenschaftlich solide begründet. Von der Kompetenz her gibt es keinen Unterschied zu 14- oder 16-Jährigen oder auch zu Erwachsenen. Aber zurzeit ist es noch schwierig, ein Wahlalter ab dem 16. Lebensjahr durchzusetzen. Oder wie ist es mit der Mitbestimmung in der Schule? Viele haben den Eindruck, sie leben in einer demokratiefreien Zone. Es reicht nicht, etwas sagen zu dürfen, wenn niemand zuhört und es ernstnimmt. Wenn etwas in Bürgerräten und anderen Beteiligungsformaten entschieden wird, muss es auch umgesetzt werden. Daran mangelt es! Es bedeutet – so pauschal muss man es sagen – dass die Politik Macht abgeben muss. Die Zeit der alten „Parteiendemokratie“ ist vorbei.
Science Fiction und der Kongress der Utopien
Norbert Reichel: Über Science Fiction haben wir uns kennengelernt. Welche Rolle spielt die Science Fiction in deinem Leben?
Klaus Farin: Für Science Fiction habe ich mich schon immer interessiert. Als 12-/13-/14-Jähriger habe ich Karl May und Perry Rhodan gelesen. Science Fiction ist für mich das politische Genre, das Genre, das am meisten über die Gesellschaft aussagt. Es gibt natürlich auch schlechte Science Fiction, so eine Art Wild-West im Weltraum. Aber Science Fiction definiert sich im Prinzip darüber, dass sie die Gesellschaft kritisch betrachtet, die Werke in die Zukunft verlegt, weniger um etwas über die Zukunft zu erfahren, sondern über die Gegenwart. Was läuft dort schief? Was wäre wünschenswert? Das ist für mich ein hervorragender Ansatz für eine gesellschaftskritische Literatur.
Im Verlag ist das ein Schwerpunkt. Wir veröffentlichen zurzeit mit Hans Frey, der bei dir im Herbst 2023 eine dreiteilige Reihe veröffentlicht hat, Science-Fiction-Romane des 19., auch des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist erstaunlich, wie hochaktuell manche Werke sind, wie zukunftsweisend, prognostizierend. Nach über 100 Jahren.
Das ist eine auf fünfzehn Jahre angelegte 40-bändige Reihe. Darin sollen nur Klassiker der Science Fiction erscheinen, die kaum noch im Buchhandel erhältlich sind, schon gar nicht in schönen Ausgaben. Wer sich für die Geschichte von Utopien in der Weimarer Zeit, in der Kaiserzeit interessiert, den Aufstieg des Faschismus oder die Genese des Antisemitismus nachverfolgen möchte, wird dort die Romane finden, die gelesen werden sollten. Für Germanisten, Historiker ist das hochspannend. Es ist erstaunlich, wie viel literarische Geschichte in Deutschland vergessen wurde.
Norbert Reichel: Wie kommt man an diese Texte heran?
Klaus Farin: Manche Texte bekommt man schon noch online, als Facsimile. Manche Bücher bekommt man antiquarisch, auch wenn sie dann einen dreistelligen Betrag kosten, weil es eben nur noch sehr wenige Exemplare gibt, manchmal nur ein einziges. Wir haben einige Bücher über Sammler bekommen, haben sie digitalisiert, komplett neu aufgelegt, lektoriert, mit Vor- und Nachwort von zeitgenössischen Autor:innen. Uns fehlen nur noch vier oder fünf Titel, die wir bisher nicht besorgen konnten. Wir kennen zwar Sammler, die die haben, die die aber nie zum Scannen aus der Hand geben würden, weil es solche Raritäten sind. Aber fast keiner dieser Bände ist im Buchhandel erhältlich, und da sollen sie erscheinen, auch noch schön aussehen, Hardcover, zweifarbig, Lesebändchen. Viele dieser Bücher haben das nie erlebt, auch nicht in den Erstausgaben, die manchmal doch sehr schnoddrig gedruckt wurden. Wir wollen für manche Werke erstmals neue Leser:innen gewinnen, weil wir denken, die haben uns viel zu erzählen.
Norbert Reichel: Ihr habt im Programm richtige Perlen, zum Beispiel „Ini“ von Julius von Voß.
Klaus Farin: Diesen Roman kennt kaum noch jemand. Er erschien noch vor Mary Shelleys „Frankenstein“, der in der Regel als der erste Roman der Science Fiction gilt. „Ini“ erschien schon früher, es ist ein im Grunde pazifistischer Roman, mit einer blaublütigen Prinzessin, einer Reise um die Welt. Wir werden gleich fünf Romane von Bertha von Suttner veröffentlichen, der Friedensnobelpreisträgerin und Weltbestsellerautorin, deren Werke heute – vielleicht mit Ausnahme von „Die Waffen nieder!“ – nicht mehr im Buchhandel erhältlich sind; zum 75-jährigen Jubiläum Israels haben wir Theodor Herzls „Altneuland“ veröffentlicht. Wenn man diese Utopie heute liest, ist das so spannend zu lesen, was aus Israel hätte werden können. Das zeigt, wie spannend es ist, wenn ein Schriftsteller nicht nur eine Utopie schreibt, sondern auch einen Staat danach gründen möchte. Das ist auch bei Theodor Herzka so, dem Autor von „Freiland“, das wir 2025 veröffentlichen werden.
Theodor Herzl war ja Science-Fiction-Fan, er hatte Edward Bellamy gelesen, auch Theodor Hertzka, und dachte, er schreibe jetzt einfach nach seinem Traktat „Der Judenstaat“ den Roman, der seine Utopie, seine Fantasie in erzählender Form zum Leben erweckt, um viel mehr Leute zu erreichen. So entstand „Altneuland“. In dem Roman beschreibt er auch die Opposition, die es in der Realität gab, gerade in der jüdischen Community, die den Zionismus ablehnten. Manches ist auch verschönert. Wenn man seine Tagebücher liest, sieht man, dass er auch kolonialistische Überlegungen hatte, dass seine Haltung zu den dort lebenden Arabern nicht so optimal war. Aber es ist gerade spannend, diese Widersprüche in der Utopie zu lesen.
Man muss solche Romane natürlich in ihrem zeitlichen Kontext lesen, auch in rassistischen oder antirassistischen Kontexten. Man muss berücksichtigen, dass man damals – vor 100 oder gar 200 Jahren – auch sprachlich anders drauf war, dass es zum Beispiel kolonialistische Facetten auch bei Autoren gab, die sich selbst als antikolonialistisch verstanden. Das sind keine Heile-Welt-Romane, die man idealisieren sollte. Man sollte Utopien auch kritisch sehen. Wir wollen das Ambivalente an Utopien zeigen, auch autoritäre Aspekte. Die Darstellung von Frauen war vor 100 Jahren ja auch eine andere als heute. All das lässt sich vermitteln, wenn man die Utopien heute liest und die Vor- und Nachworte dazu. Sie erweitern unsere Perspektive bei der Frage, wohin soll sich unsere Demokratie heute weiterentwickeln, wie können die großen Probleme der Gegenwart besser lösen.
Norbert Reichel: Einen ersten Eindruck kann man bekommen, wenn man die dreiteilige Reihe „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“ von Hans Frey liest oder vielleicht seine vier Bücher zur Geschichte der Science Fiction. Manche Bücher der von euch geplanten Reihe passen auch gut in den Kreis der Utopisten des 19. Jahrhunderts. Ich denke an das Buch „Rote Blaupausen“ von Wolfgang Both oder auch an die entsprechenden Kapitel in „Die Farbe Rot“ von Gerd Koenen. Das nur als Empfehlung für unsere Leser:innen. Ihr sorgt jetzt dafür, dass die darin vorgestellten Bücher auch verfügbar werden. Zum Weiterlesen. Jetzt bereitet ihr einen Kongress der Utopien vor.
Klaus Farin: Wir denken, dass Utopien gerade heute spannend sind. Wir brauchen Utopien. Nach der 1968er-Bewegung, den frühen 1970er Jahren wurden mehr Dystopien geschrieben. Die schreiben sich natürlich leichter, weil sie spannungsgeladen sind, Konflikte enthalten. Aber wo immer man auch hinschaut, gibt es wieder einen Trend zu Utopien.
Der Kongress der Utopien ist eigentlich kein Kongress, sondern ein zweijähriges Programm, in dem wir 50 bis 70 Veranstaltungen organisieren. Das reicht von Literaturwerkstätten mit Kindern und Jugendlichen zum Thema Zukunft bis hin zu Symposien an Universitäten. Wir wollen Gedanken, Ideen, Wissen zusammentragen, mit diversen Perspektiven und das am Ende vielleicht in einem mehrtägigen Kongress bündeln. Science-Fiction-Autor:innen sind ganz vorne mit dabei, aber auch viele andere, aus der politischen Bildung, der Wissenschaft. Alle, die Lust haben, an diesem Projekt zu arbeiten, sind willkommen.
Norbert Reichel: Mit diesem Projekt bist du wieder in Gelsenkirchen. Ein nicht ganz unwichtiger Ort der Zukunftsforschung. Dort war auch einmal das von Christoph Zöpel eingerichtete Sekretariat für Zukunftsforschung, an dem einer der Initiatoren des Kongresses der Utopien über zehn Jahre gearbeitet hat, Karlheinz Steinmüller, der nicht nur Zukunftsforscher ist, sondern auch mit seiner Frau Angela zu den bekanntesten Science-Fiction-Autoren der DDR gehört.
Klaus Farin: Hans Frey ist ebenfalls einer der Initiatoren. Er hat das Aktuelle Forum (af) in Gelsenkirchen als Partner und Förderer gewonnen. Das af finanziert uns eine Stelle zur Koordinierung. Karlheinz Steinmüller habe ich damals im Aktuellen Forum kennengelernt. Aber der Kongress findet überall in Deutschland und in Österreich statt, überall, wo Leute interessiert sind. Eine erste Veranstaltung fand in der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen statt, wo wir das Buch von Theodor Herzl vorgestellt haben. Ende November 2023 gab es eine weitere Veranstaltung mit Christian Kellermann in der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Zukunft der Arbeit“. Das setzen wir fort. Im April wird es einen dreitägigen Kongress der Ruhruniversität Bochum geben, bei dem wir mitwirken.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 15. Januar 2024.)