Eine Machtfrage

Ein Gespräch mit Marina Weisband über die Instrumente der Demokratie

„Genauso wie sie während der Aufklärung zur Blüte kam, brauchen wir jetzt eine zweite Welle der Aufklärung. In der alle Menschen nun nicht mehr durch den Buchdruck besser informiert, sondern durch das Internet auch besser vernetzt ihre Stimme leichter hörbar machen können. Und lernen, mit dieser Verantwortung umzugehen. Hier ist nicht defensives Denken gefragt, sondern visionäres. Die bloße Besitzstandswahrung einer bequemen Demokratie kann zu ihrem größten Fallstrick werden. (….) Handeln kann nur, wer regelmäßig die Erfahrung macht, Entscheidungen zu treffen, sich Ziele zu stecken und diese Ziele erreichen zu können. Die Voraussetzung für diese Art von Selbstwirksamkeitserwartung ist eine Umgebung, in der das möglich ist.“ (Marina Weisband, Gestalten wir! Für eine bessere politische Zukunft, in: Eric Hattke / Michael Kraske, Hg., Demokratie braucht Rückgrat – Wie wir unsere offene Gesellschaft verteidigen, Berlin, Ullstein, 2021)

Eine liberale Demokratie lebt von den Ideen der Bürger:innen und von ihrer Bereitschaft, ihre Sicht der Dinge im Respekt vor möglicherweise widersprechendenden Sichtweisen anderer zu formulieren. In ihrem ersten Gespräch mit dem Demokratischen Salon wies Marina Weisband unter der Überschrift „Demokratie ist kein Luxusgut“ unter anderem darauf hin, dass Robert Habeck mit uns als Bürger:innen kommuniziere wie mit Erwachsenen. In der Tat pflegen viel zu viele Politiker:innen einen eher pater- oder maternalistischen Kommunikationsstil, in dem sie sich selbst als die Wissenden, alle anderen jedoch als Unwissende, zu Belehrende darstellen. Nach verlorenen oder die Erwartungen nicht erfüllenden Wahlen verwenden viele den eigentlich entlarvenden Topos, man habe das, was man nicht wolle, nicht ausreichend erklärt. Aber vielleicht haben die Wähler:innen durchaus richtig verstanden und manche Erklärung traf ihre Bedürfnisse nicht.

Es ist nun wohlfeil, als Politiker:in den Bürger:innen – dies ein weiterer Topos politischer Kommunikation – nach dem Munde zu reden oder einfach nur zu behaupten, man wolle ihre „Sorgen“ ernst nehmen. Wie wirkungslos eine solche Ansprache ist, erfahren wir in diversen Umfragen, die eher den Eindruck erwecken, als handele es sich bei Regierungen um eine Art Handwerksbetrieb, der zu liefern habe. Entspricht das Produkt nicht den Erwartungen, gibt es eine schlechte Bewertung und man wechselt den Betrieb. Bürger:innen bleiben auf diese Weise Objekt von Politik. Erforderlich wäre jedoch eher eine Politik, die als Subjekt, als Gesprächspartner:innen, als Expert:innen, in welcher Rolle auch immer, auf „Augenhöhe“ einbezieht. Dies können wir alle einfordern. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als einen einer liberalen Demokratie angemessenen Kommunikationsstil.

Wer erzählt welche Geschichten?

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass sich der Kommunikationsstil in der Politik im letzten Jahr deutlich verändert hat. Nicht nur in der Debatte um Hubert Aiwanger, dem es gelang, sich als „Opfer einer Kampagne“ darzustellen und der damit eine Verfehlung bagatellisierte, der er meines Erachtens – da stimme ich dem bayerischen Ministerpräsidenten zu – mit „Reue und Demut“ hätte begegnen sollen. Ähnliches gilt in den Debatten um das Gebäudeenergiegesetz, um den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft und manch anderes mehr. Es dominieren Opfer- und Täterdiskurse. Selbst Robert Habeck, von dem wir in unserem ersten Gespräch sagten, er spreche mit uns Bürger:innen wie mit Erwachsenen, scheint diese Linie verloren zu haben. Wir erleben ungeachtet von Fakten Positionen in Form monolithischer Blöcke, die kaum noch hinterfragt werden können. Jede:r hat auf seine Weise nur noch Recht und pflegt eine eigene Klientel. Konstruktiver Streit scheint kaum noch möglich zu sein.

Marina Weisband: Ich glaube, dass die Fehler, die kommunikativ gemacht werden, dazu führen, dass man sich selbst Fallen stellt und dann in Angst vor der eigenen Wählerschaft genau diesen radikalisierenden Weg geht. Das erleben wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen demokratischen Gesellschaften, die sich nach und nach entdemokratisieren. Um das alles zu verstehen, muss man etwas tiefer anfangen, nicht auf der Kommunikationsebene, sondern bei den Emotionen und Bedürfnissen der Menschen. Ich glaube, dass Menschen das Bedürfnis nach Vereinfachung haben, nach Kontrolle, nach Anerkennung ihrer gefühlten Opferrolle. Daraus ergibt sich dieses Portal für Populismus. Es gibt dann die Populisten, die das nutzen, auf die wir dann wütend sind, und die Nicht-Populisten, die nicht gelernt haben, damit umzugehen oder adäquat darauf zu reagieren. Sie sprechen wie Verwalter, als ob alles in Ordnung wäre und nur verwaltet werden müsste. Es gibt keine kommunikative Richtung in Deutschland, die anerkennt, dass es grundlegende emotionale Probleme gibt und damit auf eine konstruktiv demokratische Weise umgeht.

Norbert Reichel: Diesen Verwaltungsdiskurs kenne ich aus meiner Tätigkeit in einem Bundes- und einem Landesministerium gut. Alle Probleme sind gelöst, es gibt keine Probleme. Und wenn die Opposition mal ein Problem mit Recht benennt, streitet die Regierung dessen Existenz ab. Sie hat recht, macht schon alles, was getan werden muss, das, was die Opposition vorschlägt, ist weder sachgemäß noch hilfreich.

Marina Weisband: Ist ja nur die Opposition…

Norbert Reichel: Auf der Bundesebene haben manche zurzeit den Eindruck, dass die drei Parteien der Regierungskoalition gar keine Opposition brauchen, weil sie diese schon selbst praktizieren. Im Grunde streiten sich Grüne und FDP und die dritte Partei, die SPD schweigt und hält das für Ausgleich.

Marina Weisband: Sie verwaltet, sie macht keine Politik. Zwei Koalitionsparteien versuchen Politik zu machen, aber völlig gegensätzlich. Ich bin selbst klar parteiisch, aber ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die die jeweils andere Position für richtig halten. Aber es ist schon ein populistischer Diskurs, wenn von Verboten gesprochen wird. Alle Gesetze sind Verbote? Es gab schon immer Verbote. Wenn die Leute Anarchie haben wollen, sollen sie das bitte so sagen. Dieser Verbotsdiskurs ist verlogen. Darauf möchte ich gar nicht eingehen.

Die Grünen wollen eine Politik für mehr Investitionen, mehr Sozialausgaben, mehr in die öffentliche Hand, um all das Notwendige tun zu können, das notwendig wäre, um die Probleme zu lösen. Die FDP möchte weniger Einnahmen, weniger Ausgaben, weniger Steuern, keine Schulden. Das sind zwei entgegengesetzte politische Richtungen. Ich halte eine für richtig, eine für falsch. Aber sie sind beide im Rahmen des demokratischen Diskurses legitim. Nur sollten diese Parteien nicht miteinander regieren, weil das zu einem Stillstand führt und auch zu einem Gesichtsverlust der Politik, weil es in der Politik eben darum geht, der Bevölkerung die Richtigkeit der eigenen Arbeit zu vermitteln. Ich kann diese Richtigkeit der eigenen Entscheidungen jedoch nicht vermitteln, wenn Mitglieder der eigenen Regierung diese alle für falsch halten. Insofern ist eine solche Regierung dazu verdammt, absolut wirkungslos zu sein. Das ist ein strukturelles Problem.

Das zweite strukturelle Problem: wir haben Zeiten, in denen sich Vieles verändert und auch verändern muss. In vielen Systemen stoßen wir auf natürliche Grenzen. Unendliches Wachstum von Produktion kann unser Planet nicht mehr stemmen. Wir haben eine extrem schnelle Digitalisierung, Verzahnung von Kommunikation, wir haben einen Wandel in der Arbeitswelt, wir haben demographischen Wandel, wir haben einen Wandel von Werten und Normen. Viele Menschen fühlen sich davon überfordert, schauen nach Vereinfachungen und Erklärungen. Die Populisten haben dafür eine schöne Formel gefunden: Dinge werden immer schlechter, die da oben sind schuld, es gibt eine kleine Elite, die supermächtig ist. Da steigen wir schon langsam und sanft in den antisemitischen Diskurs ein, die „Globalisten“! Ihr seid die Opfer, machtlos, aber wenn ihr mich wählt, den starken Onkel, dann werden wir es denen da oben zeigen, alles wird besser, so wie früher und zwar „normal“.

Das ist die Geschichte in the nutshell, die Trump erzählt, die Putin erzählt, die die AfD erzählt, sie docken an das Gefühl an, das ich Opfer bin, sie ist emotional wahr. Natürlich ist sie objektiv nicht wahr, denn wenn jemand zu den Eliten gehört, dann sind das diese Leute. Putin ist kein armer Mensch, Trump ist in dieser Gesellschaft Millionär und Fernsehberühmtheit geworden. Diese Leute vertreten nicht den oft zitierten kleinen Menschen. Sie schaffen es, sich verbal auf diese Ebene zu stellen, stellen sich selbst als superstark und unbesiegbar dar – und als Opfer! Das ist das Muster, das der Faschismus immer hat. Der Faschismus ist gleichzeitig unbesiegbar und absolutes Opfer. Die eigene Gesellschaft ist immer kurz davor, vernichtet zu werden.

Am Beispiel Aiwanger sehen wir, wie diese Erzählung funktioniert. Der tolle starke Aiwanger stellt ja nicht nur sich selbst als Opfer dar, der Shoah, nichtsdestoweniger. Er sagt, die schießen nicht auf mich, sondern auf euch, auf euch alle. Denn bald kann sich niemand mehr trauen, für ein politisches Amt zu kandidieren, weil er mit 15 Jahren irgendetwas gemacht hat. Ich kann natürlich unterstellen, dass die wenigsten Leute mit 15 oder mit 17 Jahren faschistische Hasspamphlete geschrieben haben, aber rhetorisch stellt Aiwanger es so wahr, dass es nicht sein Problem ist, sondern das seiner Wähler. Er wehrt sich nur in ihrem Namen. Das ist die autoritäre Geschichte.

Dann stellt sich die Frage nach der Gegengeschichte. Was könnte die Leute als demokratische Geschichte mitnehmen und begeistern? Da sehe ich zurzeit nicht viel. Die demokratische Geschichte, die ich mir vorstelle: die Welt ist unglaublich kompliziert geworden und sie ist viel zu kompliziert, als dass einige wenige Expert:innen oder Politiker:innen die Probleme alleine lösen könnten. Wir brauchen die Expertise von Schüler:innen, von Rentner:innen, von marginalisierten Menschen, von Pflegekräften, von Managern, um all diese Probleme zu lösen. Deshalb ist Demokratie die mächtigste Waffe. Und du bist ein wichtiges, unverzichtbares Mitglied dieser Gesellschaft. Wir brauchen dich und deine Mitwirkung. Das wäre eine Geschichte, die die Leute aus der Opferrolle herausholt, in eine Gestalterrolle hineinbringt, ihnen Verantwortung gibt. Das wäre eine Geschichte, die mit der Forderung einhergeht nach mehr demokratischer Beteiligung, nach einem respektvollen Umgang miteinander. Aber diese Geschichte wird kaum erzählt. Von demokratischen Parteien hören wir oft, es ist alles in Ordnung, hier sind zwei kleine Stellschrauben, an denen müssen wir drehen, dort brauchen wir noch eine Million mehr. Das ist nichts, das auf eine emotionale Lebensrealität eingeht.

Grenzen der Kommunikation

Norbert Reichel: Letztlich ist das ein Gefühlsproblem der Demokrat:innen, oder was meinen Sie?.

Marina Weisband: Ich gebe die Schuld Francis Fukuyama mit seinem Satz vom „Ende der Geschichte“, dieser Hochzeit von Kapitalismus und Demokratie. Das wäre der natürliche Zustand des Menschen und der wäre erreicht und alle Staaten streben zu diesem Zustand hin. So war das in den 1990er Jahren.

Norbert Reichel: Na ja, der vollständige Titel des berühmt-berüchtigten Buches von Fukuyama lautet „The End of History and the Last Man“ (der Aufsatz erschien 1989, das Buch 1992). Er knüpft an Nietzsches Bild vom „letzten Menschen“ an, der so etwas ist wie eine Art „It-Boy“ oder „It-Girl“, oberflächlich und nur auf Konsum orientiert. Das ist kein Wunschbild! In seinem späteren Buch „Liberalism and ist Discontents“, das 2022 erschien, argumentiert Fukuyama ganz anders. Mit „The End of History“ fand er eine Formel, wie sie fast alle nach dem Ende der sowjet-kommunistischen Diktaturen gerne hören und lesen wollten. Im Grunde die fatale Wirkungsgeschichte einer populären bis populistischen Erzählung.

Emma Herwegh. Foto: Friederike Miethe. Wikimedia Commons.

Marina Weisband: Ich glaube, Demokrat:innen haben aufgehört, ihre Geschichten zu erzählen, die Geschichte von 1848, die beispielsweise Emma Herwegh dazu brachte, ein Gewehr zu nehmen und sich Monate lang mit Männern in der Wildnis zu verstecken, auf Pferderücken zu reiten und Revolution zu machen. Die Leute, die 1848 Demokratie in Deutschland einführen wollten, haben dafür gebrannt. Sie haben starke Geschichten erzählt. Auch die Leute, die nach der Nazizeit das Grundgesetz geschrieben haben, die die Bundesrepublik aufgebaut haben, haben starke Geschichten erzählt.

Irgendwann wurde das so selbstverständlich: wir müssen das nicht mehr rechtfertigen. Wir müssen nicht mehr begründen, dass alle Menschen Rechte haben. Die Wahrheit: man muss es begründen, man muss dafür werben. Wir Menschen sind „erzählende Affen“, wie es in dem Buch von Samira El Ouassil und Friedemann Karig heißt.

Norbert Reichel: Das Buch erschien 2022 bei Ullstein und wurde für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.

Marina Weisband: Wir brauchen Geschichten, um uns in einer Krise für ein Ziel zu entflammen. Und das Ziel kann in dieser Zeit nicht Bewahrung sein. Das hat inzwischen doch auch der Letzte verstanden. Das Ziel ist eine Entwicklung der Demokratie oder es ist ihr Tod.

Norbert Reichel: Es gibt inzwischen einige Bücher, die schon im Titel ankündigen, sie beschrieben, wie Demokratien sterben oder dass der Tod oder das Ende der Demokratie bevorstehe, aber abgesehen von den in diesen Büchern vorgelegten Analysen, die oft viel differenzierter sind, als es die Titel vermuten lassen, wollen wir das Ergebnis nun nicht herbeireden. Schauen wir uns doch einige Politiker:innen an. Wir hatten mehrfach Robert Habeck erwähnt. Robert Habeck hat eine Gabe, Dinge zu erklären und zu diskutieren, die andere nicht haben. Aber damit kommt er nicht mehr durch. Es geht nicht darum, ob der ein oder andere Gesetzentwurf ein guter Entwurf war oder nicht. Wir sprechen ja über die Art und Weise, wie ein solcher Gesetzentwurf, der doch viele Haushalte erheblich belasten könnte, kommuniziert wird. Was hat sich in den letzten acht bis neun Monaten für Robert Habeck, was in der politischen Kommunikation verändert?

Marina Weisband: Ich muss natürlich spekulieren, weil ich die Inneneinsicht nicht habe. Ich spekuliere über zwei Probleme. Erstens wird auch Robert Habeck in seinem Amt von einer Lobby stark getrieben. Das sehe ich zum Beispiel an der Diskussion über den Industriestrompreis. Das ist etwas, das viele Ökonomen übereinstimmend für Unsinn halten, das aber von der Industrie stark gefordert wird. In dem Augenblick, in dem Robert Habeck mit Betrieben in Kontakt kommt, nimmt er diese als Experten wahr. Sie sind auch die größten Experten für ihre Sache. Niemand kann so gut wie BASF sagen, unter welchen Bedingungen BASF am besten funktioniert, aber natürlich sind diese Auffassungen stark von Interessen gefärbt. Niemand wird sich transformieren, wenn er nicht unbedingt muss. Gleichzeitig wäre die Transformation gut für die weitere Entwicklung. Sich vor dieser Transformation zu bewahren ist eigentlich ein Schuss ins eigene Knie. Aber ich habe das Gefühl, dass – egal wer Wirtschaftsminister ist – wir haben eine Politik, die sehr stark von Lobbyinteressen abhängt. Das ist keine Frage von Personen, das ist keine kommunikative Frage, das ist eine Frage blanker Macht.

Selbstwirksamkeit stärken – gegen die erlernte Hilflosigkeit

Norbert Reichel: Wie können wir dem entgegenwirken?

Marina Weisband: Durch mehr Demokratie, durch mehr direkte Demokratie, mehr Bürger:innenräte, mehr Lobbykontrolle. Dagegen hat gerade die FDP immer wieder Politik gemacht.

Norbert Reichel: Es gibt jetzt einen Bürger:innenrat im Zuständigkeitsbereich des Landwirtschaftsministeriums, Thema vor allem gesunde Ernährung. Es gab auch eine Debatte über Bürger:innenräte. Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, wandte sich beispielsweise dagegen, weil damit die Nicht-Regierungsorganisationen aus dem Spiel genommen würden. Er veröffentlichte aber in einer späteren Ausgabe seiner Zeitschrift „Politik & Kultur“ mit einem Beitrag von Hans-Peter Meister auch die gegenteilige Meinung, dass Bürger:innenräte die Tätigkeit der Nicht-Regierungsorganisationen ergänzten und nicht ersetzten. Wie könnte das denn jetzt konkret aussehen? Und wie kann es gelingen, dass anschließend auch diejenigen zufrieden sind, deren Vorstellungen nicht übernommen wurden?

Marina Weisband: Je nachdem. Die Demokratie hat den Vorteil, dass sie unendlich viele Werkzeuge bietet. Da ist nicht das eine besser, das andere schlechter. Werkzeuge müssen sehr fein ausgewählt werden so wie auch ein Handwerker niemals nur mit einem Werkzeug an einer Baustelle auftaucht.

Wir haben direktdemokratische Abstimmungen. Diese eignen sich vor allem dann, wenn die Frage unkompliziert, lokal und von starken Interessen getrieben ist. Dann ist es am besten, alle Betroffenen zu befragen. Das funktioniert nicht bei komplexeren Fragen, die eher Verwaltungsfragen sind. Bei solchen Fragen ist Repräsentation besser geeignet. Da können sich Arbeitsgruppen bilden, Expert:innen agieren, die sich tiefer in das Thema einarbeiten. Bei Fragen, die zwar superkomplex, aber auch emotional sehr ansteckend sind, wie beispielsweise bei den Fragen um Klima und Gerechtigkeit, eignen sich Bürger:innenräte am besten. Die Teilnehmer:innen sind zufällig gewählt, ich könnte auch drin sein, das ist wichtig für die Akzeptanz der Ergebnisse. Die reden miteinander, nehmen sich viel Zeit, arbeiten sich tief in die Materie ein, diskutieren lange miteinander. Das führt dann zu einer Entscheidung, die von einer breiteren Bevölkerung gut akzeptiert wird. Das zeigt die Empirie.

Aber diese Bürger:innenräte müssen Entscheidungen treffen können, die verbindlich sind. Wenn das Quasselclubs sind, schwächen sie die Demokratie. Wenn etwas anderes beschlossen wird als das Werkzeug Bürger:innenräte entwickelt hat, ist das für eine Demokratie aktiv vernichtend. Das geschieht viel zu häufig, das ist Pseudo-Beteiligung.

Norbert Reichel: Was meinen Sie mit Pseudo-Beteiligung?

Marina Weisband: Ich habe das zum ersten Mal erfahren, als ich 2011 in der Münsteraner Fußgängerzone Flyer zum Bürger:innenhaushalt verteilt habe. Die Bürger:innen konnten online Eingaben machen, wie das Geld ausgegeben werden sollte. Ich war Riesenfan, habe die Flyer verteilt und gerufen: „Wollen Sie mitbestimmen, wofür Münster Geld ausgibt?“ Die Leute gingen an mir vorbei und zogen ein unwilliges Gesicht. Ich dachte, was ist falsch an euch, wir geben euch Macht? Ich muss natürlich sagen, ich war gerade 20 Jahre alt, jung und naiv. Später habe ich verstanden, dieser Bürgerhaushalt war überhaupt nicht verbindlich. Es waren Vorschläge an die Verwaltung. Die haben sich die Vorschläge angeschaut und gesagt, ist ja schön, und jetzt machen wir es wie wir es geplant haben, denn das ist viel einfacher.

Wenn wir aber sagen, dass demokratische Werkzeuge dazu da sind, die Selbstwirksamkeit von Menschen zu erhöhen, den Glauben zu erhöhen, wenn ich etwas tue, dann passiert etwas. Wir sind angewiesen auf Menschen mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung. Denn nur diese Menschen achten auf ihre Entscheidungen und die Konsequenzen ihrer Entscheidungen. Mündige Bürger:innen haben eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung. Wie steigert man diese? Durch Selbstwirksamkeitserfahrungen. Wenn wir aber sagen, du darfst etwas tun, aber es verändert sich nichts, schwächen wir Selbstwirksamkeit.

Dann entsteht das, was wir in der Psychologie „erlernte Hilflosigkeit“ nennen. Das ist eigentlich ein Begriff aus der Depressionsforschung. Es wurde auch mit Hunden getestet, die auf Matten standen, auf denen es leichte Elektroschocks gab. Einige Hunde konnten hüpfen, um den Schocks zu entgehen, andere waren festgebunden. Wurden die festgebundenen Hunde befreit, hüpften sie trotzdem nicht mehr, weil sie nicht gelernt haben, dass sie etwas tun könnten. Sie haben sich in der Opferrolle eingerichtet. So ähnlich funktioniert das bei uns Menschen auch. Wenn wir oft genug frustriert werden, versucht unsere Psyche uns zu schützen, indem sie uns gar nicht erst Hoffnung macht. Wir lernen, wir sind Opfer.

Norbert Reichel: Ist diese „erlernte Hilflosigkeit“ nicht vielleicht eines der Grundprobleme unserer Zeit? Ich nenne ein konkretes Beispiel. Vor kurzer Zeit habe ich mit dem Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autor Karlheinz Steinmüller gesprochen. Er wohnt im Süden von Berlin und hat Verwandte in Thüringen. Er berichtete, dass diese, auch mit wenigen finanziellen Ressourcen, ganz gut zurechtkämen, mit einem bisschen Subsistenzwirtschaft, man hilft sich gegenseitig, aber der Ansicht wären, dass sie ohnehin keinen Einfluss auf das hätten, was die Regierung beschließe. Bei einer Wahl entschieden sie sich daher für die Partei, über die sich die anderen am meisten ärgern, und das wäre eben die AfD. Das ist doch nichts anderes als „erlernte Hilflosigkeit“. Wie viel DDR-Biographie und DDR-Erfahrungen da noch drinstecken, möchte ich nicht im Einzelnen erörtern, aber die Transformationszeit der 1990er Jahre mit all den Betriebsschließungen, Verlusten von Arbeitsplätzen, Abwanderungen junger Leute in den Westen hat sicherlich manche DDR-Erfahrung verstärkt.

Marina Weisband: Unser Grundgesetz geht von einer Gesellschaft aus, die die Machthabenden kontrolliert, die solidarisch ist, füreinander einsteht, die Zivilcourage hat. Darauf gründen wir unseren Staat. Aber wir tun nichts, um das zu fördern. Wir tun nichts – oder viel zu wenig – in den Schulen, in den Kommunen, am Arbeitsplatz.

Wenn wir uns in der Innenstadt bewegen, bewegen wir uns nur als Kund:innen. Es gibt kaum öffentliche Orte, an denen wir uns nicht als Kund:innen bewegen, wo wir zusammenkommen können, wo wir sprechen können, wo wir in unserer Bürger:innenrolle sind. Zu Hause sind wir in unserer Familienrolle, am Arbeitsplatz in unserer Angestelltenrolle, in der Innenstadt sind wir in der Kund:innenrolle. Wo sind wir in unserer Bürger:innenrolle? Wir haben einen Staat, der sich darauf ausruht, dass er funktioniert, und das hauptsächlich wirtschaftlich. Die BRD hat auf der Basis funktioniert, dass es jeder Generation besser gehen wird als der letzten.

Norbert Reichel: Der Mythos des permanenten Wirtschaftswunders. Und immer wieder wird versprochen, es komme ein neues Wirtschaftswunder, der Green New Deal oder wie das alles genannt wird.

Marina Weisband: Wird aber nicht. Ich glaube allerdings auch nicht, dass alles kollabieren wird. Aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass es uns immer besser geht, dass wir immer reicher werden. Das ist nicht realistisch, nicht in der nächsten Zeit, wir gehen einer Zeit entgegen, in der unser vergangenes Wirtschaftswachstum Schulden angehäuft hat, und zwar Umweltschulden. Die kommen jetzt zurück in Form von Extremwetterereignissen, in den Lieferketten, in Form von Massenflucht. Das wird sich verstärken, das wird wirtschaftliche Schäden bewirken. Wenn wir sagen, dass die Grundlage unseres Staates wäre, dass es uns gut gehen muss, werden wir sehr unglücklich werden. Das kann sehr gefährlich sein.

Norbert Reichel: Ein Gegenbild formulierte in China Xi Jinping, die jungen Leute müssten „Bitterkeit essen“. In einem autoritären System funktioniert das, aber nicht bei uns, und nachahmenswert wäre es als politische Botschaft ohnehin nicht. Wir landen bei aller „erlernten Hilflosigkeit“ immer wieder in untauglichem Protest. Unsere politischen Diskurse spiegeln den Glauben an das permanente Wirtschaftswunder.

Marina Weisband: Absolut. Wäre ich jetzt die Öl-Lobby, würde ich jetzt sagen: die Apokalypse kommt, wir können eh nichts machen, also verkaufen wir weiter unser Öl und sorgen dafür, dass es auch gekauft wird. Die neue Masche ist, wir können eh nichts mehr machen. Das ist natürlich Quatsch. Wir können die Effekte des Klimawandels durch politische Entscheidungen abmildern. Es geht um die Verhinderung ganz massiver Veränderungen.

Aber dass sich Dinge ändern werden, bedeutet nicht automatisch, dass sie sich zum Schlechteren ändern werden. Und da nenne ich das Genre des Solarpunk.

Norbert Reichel: Ich empfehle das Manifest der Solarpunk-Community zur Lektüre.

Marina Weisband: Das ist wie eine Science-Fiction, die in der nahen Zukunft unter den Bedingungen des klimatischen Wandels spielt, in der aber die Menschen sagen, ok, dann bauen wir unsere Welt jetzt um, und zwar nachhaltig. Wir verwenden erneuerbare Energien, wir bauen kleinere Kommunen, in denen wir solidarisch sind, in denen Menschen einander helfen, in denen es keine Repression gibt. Wir bauen Essenswälder an so wie sie ursprünglich von Jägern und Sammlern genutzt wurden. Wir bauen neue technologische Errungenschaften. Wir helfen uns gegenseitig beim Großziehen unserer Kinder, wir helfen uns durch schwierige Zeiten, politische Fragen entscheiden wir alle gemeinsam.

Eine solche Utopie ist so wichtig. Das ist die mächtigste Waffe gegen den Apokalypsediskurs, der gerade geführt wird und auf den auch Umweltbewegungen leider hereinfallen, weil sie meinen, so die Dringlichkeit aufzeigen zu können. Aber wenn ich sage, es ist alles ganz schrecklich, hören die Leute weg. Darauf spekulieren diejenigen, die gerade noch Geld damit machen können, unseren gemeinsamen Himmel und unsere gemeinsame Erde zu verschmutzen.

Gegen die Tragödie der Commons: Vergesellschaftung

Norbert Reichel: Ein entscheidender Punkt ist meines Erachtens die Frage, wie wir uns zu den „Commons“ verhalten, dass wir unsere Erde als unseren gemeinsamen Besitz betrachten, den wir gemeinsam bewirtschaften und schützen müssen, damit wir sie auch morgen noch bewirtschaften können. Was wir jedoch erleben, ist, dass alle nur ihre eigene Parzelle betrachten. Geht es meiner Parzelle gut, reicht das erst einmal aus. Das ist die Botschaft derjenigen, die „My country first“ propagieren und eigentlich „Only my country, nothing else matters“ meinen.

Marina Weisband: Das Allmende-Dilemma oder die Tragedy of Commons bezieht sich auf die früher gemeinsam genutzte Wiese, auf alle öffentlich nutzbaren Ressourcen, von denen wir immer weniger haben. Früher hatten Menschen viele öffentlich nutzbare Ressourcen, Land, Wasser, Wald, Nahrungsmittel. Im Zuge von Machtanhäufung wurden immer mehr Dinge privatisiert. Und diejenigen, die dann über die Ressourcen verfügten, hatten natürlich viel Macht über andere Menschen. In der Feudalgesellschaft war das der Adel, der das Land besaß.

Die Tragedy of Commons besteht darin, dass der Mächtigste mit dem größten Schwert kommen kann, es für sich in Besitz nimmt, verbraucht, verschmutzt, und mit der Zeit verschwindet die Ressource für alle. Unser politisches Ziel sollte aber die Wertschätzung des gemeinsamen Raumes und die Verhinderung von Machtanhäufung sein, damit dieser gemeinsame Raum erhalten bleibt. Wir haben noch große Commons, unsere Ozeane, unser Atmosphäre, unseren Weltraum, aber wir sehen, wie wir Firmen in den letzten 100 bis 150 Jahren die Möglichkeit gegeben haben, die Ressourcen zu privatisieren, daraus Gewinn zu machen, aber ihren Müll in unseren gemeinsamen Raum abladen, eben auch in unsere Ozeane und in unsere Atmosphäre, unsere „Commons“ kaputtzumachen, ohne dafür zu bezahlen.

Norbert Reichel: Ich möchte einen Gedanken anfügen: die Externalisierung von Schäden. Wir sehen gar nicht mehr, was wir an Müll verursachen. Kleidung, die kaum getragen war, manche, die gar nicht getragen, sondern nur wegen Missfallens an die Versandstelle zurückgeschickt wurde, finden wir in riesigen Textilmüllbergen in der chilenischen Atacama-Wüste. Andere Ergebnisse unseres Konsumverhaltens sehen wir an westafrikanischen Stränden, auch Autoreifen, Batterien und manches mehr. Wenn wir denn nur hinschauen würden.

Marina Weisband: Aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist genau so als wenn ich meinen Müll irgendwo in der Natur ablade, weil ich nicht für die Müllabfuhr bezahlen möchte. Das alles zu quantifizieren wäre eine Möglichkeit, für jede Art von Müll, auch für die Satelliten im Weltraum, den gesamten Weltraumschrott, der hauptsächlich Elon Musk gehört.

Es gibt viele Ökonomen, die sagen, dass man sie dafür bezahlen lassen sollte, so wie auch die Entsorgung des Hausmülls uns als Mieter:innen, als Vermieter:innen Geld kostet. Das ist der CO2-Preis. Das ist eine Lösung, die ökonomische Lösung. Sie ist nicht falsch. Die andere Lösung ist eine utopische Lösung, dass die Commons tatsächlich Commons sind, dass nicht eine:r so viel Macht hat, sie für sich zu beanspruchen, dass wir die Commons gemeinsam verwalten.

Norbert Reichel: Das wäre Vergesellschaftung, die wir nicht mit Verstaatlichung verwechseln dürfen, obwohl das viele tun, wenn reflexhaft solche Vorschläge für kommunistisch halten und damit den Kommunismus der Sowjetunion oder Chinas meinen.

Marina Weisband: Vergesellschaftung! In meiner Utopie lebe ich in einer staatenlosen und klassenlosen Gesellschaft, in der Entscheidungen kommunal und konsensual getroffen werden und die einzelnen Gruppen dann hierarchisch miteinander vernetzt sind, bis wir eine Ebene haben, die globale Entscheidungen treffen kann. Diese Art der Kooperation kommt auch der Entwicklung des menschlichen Gehirns näher. Wir können mit Gruppen von etwa 100 Menschen ganz gut umgehen, aber wenn es mehr werden, wird es virtuell. Und alles, was virtuell wird, ist emotional schwer zu verstehen. Deshalb verstehen wir auch nicht, was es heißt, wenn wir hören, wie viele Menschen in einem Krieg sterben. Wir hören dann von vier- und fünfstelligen Zahlen oder mehr, aber wir verstehen nicht wirklich, was das bedeutet. Wenn jedoch jemand in unserer Straße überfahren wird, ist das eine Tragödie.

Es geht um eine Lebensweise, die nachhaltig und mit unserem Gehirn im Einklang ist und es trotzdem schafft, global die Commons zu verwalten und uns allen ein gutes Leben zu ermöglichen. Das halte ich für ein gutes Ziel und ich halte uns Menschen nicht für zu dumm, das zu erreichen.

Norbert Reichel: Als Sie eben mit Zahlen argumentierten, erinnerte mich das an ein Spätwerk von Charles Chaplin, den Film „Monsieur Verdoux“ aus dem Jahr 1947. Henri Verdoux ist ein eleganter älterer Herr mit guten Umgangsformen, der aber sich als Heiratsschwindler finanziert und die betroffenen Frauen ermordet. Er lebt lange unbehelligt, verarmt, erkennt aber irgendwann, dass Investitionen in die Rüstungsindustrie das lukrativere Geschäftsmodell sind. Erlässt sich festnehmen und argumentiert vor Gericht, dass die Bewertung von Mord nur eine Frage des Maßstabs sei. Ihn, der einige wenige Menschen ermordet habe, wird man verurteilen und exekutieren, aber – wir sehen im Film Bilder – die Nazis und andere, die Millionen Menschen ermordet haben, werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Meines Erachtens eine treffende Parabel auch für den Umgang mit heutigen Verbrechen und nicht zuletzt für unseren Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, der auch zahlreiche Todesopfer verzeichnet. Wenn wir denn nun hinschauen würden.

Nur am Rande: Chaplins Film wurde bei der Oscar-Verleihung für das beste Drehbuch nominiert, kommerziell war er wenig erfolgreich.

Marina Weisband: Bei der Bevölkerung kommt man an, wenn sich Solidarität entwickelt. Das ist die kommunale Ebene, weil wir da genug Empathie füreinander haben, weil wir uns da identifizieren. Das ist auch der „Kreuzberg-ist-nicht-Deutschland“-Diskurs von Friedrich Merz. Ich identifiziere mich auch nicht mit Berlin-Kreuzberg oder sonstigen Städten, weil ich da nicht wohne, weil ich da nicht bin. Aber ich bin absolut solidarisch mit den Menschen, die ich jeden Tag sehe. Wenn wir mehr politische Entscheidungen auf diese Ebene holen und uns dann von diesen kommunalen Ebenen eine Legitimation für die überregionalen Ebenen, dann haben wir einen anderen politischen Diskurs. Wenn hier die Leute vor Hitze sterben, wenn Menschen im Ahrtal bei den Überflutungen sterben, dann sind es die eigenen Leute. Da kann man natürlich leicht ablenken und sagen, aber die Migranten in den anderen Kommunen! Meistens geht es ja nicht gegen die Menschen in der eigenen Kommune, meistens ist das eine eher abstrakte Vorstellung. Den meisten Rassismus haben wir in Kommunen, in denen es keine oder kaum Migranten gibt.

Norbert Reichel: Der Türke bei mir im Fußballclub, der ist ok, aber die anderen!

Marina Weisband: Ja, der ist einer von den Guten. Hätten wir mehr Entscheidungen auf kommunaler Ebene, hätten wir nur welche von den Guten. Das ist eine Ebene, die Menschen viel besser verstehen können. Ich glaube, wir sollten nicht zu weit von dem planen, was und wie wir als Menschen sind. Aber das ist auch immer das Argument der Rechten. Die behaupten, Menschen sind böse, schlecht und faul und müssen kontrolliert werden. Ich glaube, in diesen Aussagen ist ein ziemliches Maß an Projektion.

Norbert Reichel: Wie in diesem merkwürdigen Diskurs, ob sich Arbeiten angesichts des Bürgergeldes und anderer Sozialleistungen überhaupt noch lohnt.

Marina Weisband: Menschen wollen arbeiten. Viele glauben, dass die anderen nicht arbeiten würden, wenn sie das Geld ohne Arbeit bekämen, aber sie selbst würden schon arbeiten. Das sind die Mehrheiten: die anderen nicht, aber wir schon. Wir wollen uns selbst verwirklichen, wir wollen nützlich sein, wir wollen nicht überflüssig sein. Wenn wir erreichen können, uns nützlich zu machen, werden wir das immer tun. Mit einzelnen Ausnahmen, aber das sind wirklich nur einzelne Ausnahmen. Um das zu erreichen, was ich beschrieben habe, brauchen wir solidarische Systeme und Netze. Mir fehlt, dass wir uns auf dieses grundlegende Menschenbild berufen. Für diese Menschen wird keine Politik gemacht.

Wie viel Beteiligung ist möglich?

Norbert Reichel: Ich hatte zuletzt ein Gespräch mit einem jungen CDU-Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt, Sepp Müller. Ihm ist es in seinem Wahlkreis gelungen, völlig gegen den Trend bei der letzten Bundestagswahl sein Erststimmenergebnis zu halten und die AfD auf Platz 3 zu verweisen. Das ist ihm gelungen, weil er ständig präsent ist, ständig mit den Leuten spricht, Leute, die einander nicht unbedingt nahestehen, miteinander ins Gespräch bringt. Er hat beispielsweise Förster und junge Leute von Fridays for Future eingeladen und alle merkten, so schlimm sind die anderen ja gar nicht. Ergebnis war eine gemeinsame Baumpflanzaktion. Ähnlich agiert Maja Wallstein von der SPD in ihrem Wahlkreis Cottbus-Spree-Neisse. Sie fährt mit einem Bollerwagen durch den Wahlkreis und versucht, alle, denen sie begegnet, anzusprechen. Auch sie hat das Direktmandat gewonnen und die AfD distanziert. Vielleicht ist das ein Vorbild für die Abgeordneten, die im Bundestag oder auch im Europaparlament arbeiten.

Marina Weisband (zögert ein wenig mit der Antwort): Ja. Einerseits. Andererseits haben die kaum Zeit und viel mehr Kommunen, die sie besuchen müssen. Es ist nicht ganz realistisch. Ich glaube, man braucht eher eine Stärkung der kommunalen Ebene dort, wo es möglich ist.

Norbert Reichel: Vielleicht brauchen wir beides?

Marina Weisband: Ja, beides. Ich schreibe Konzepte für die Beteiligung von Schüler:innen. Sehr abstrakte Arbeit. Aber ich fahre auch an Schulen, wo ich Leute schule. Ich kann nicht an alle Schulen fahren, es sind über 50 Schulen, aber wir haben auch ein Netzwerk von Multiplikator:innen, Botschafter:innen. Ich brauche aber auch die örtlichen Kontakte, denn ich muss die Stimmung kennen. Wenn ich in Brüssel arbeite, habe ich zuerst jedoch erst einmal den Eindruck der Lobbyisten. Das ist so. Deshalb kann ich mich nicht auf meinen emotionalen Eindruck verlassen, denn die Lobbyisten wollen meinen Eindruck prägen. Das ist ihr Job, die Lobbyisten sind jetzt deine Kommune!

Es geht daher nicht nur um das Verhalten der gewählten Repräsentant:innen, sondern auch darum, wie wir unsere Demokratie aufbauen. Auf welcher Ebene treffen wir welche Entscheidungen, welche Instrumente benutzen wir dafür? Und ich warte immer noch auf die Partei, die kommt und sagt, wir brauchen in Deutschland mehr Demokratie, mehr direkte Beteiligung, stärkere Kontrolle von Lobbyismus, die Dinge müssen in unserer Entscheidungsfindung anders funktionieren. Das wäre die Partei, die mich auf deutscher und auf europäischer Ebene überzeugt.

Norbert Reichel: Und die haben wir nicht. Noch nicht?

Marina Weisband: Wir warten. Ich habe mal eine mit groß gemacht.

Norbert Reichel: Das war damals auch keine falsche Idee. Ich habe diese Partei im nordrhein-westfälischen Landtag erlebt und war von dem Engagement recht angetan.

Marina Weisband: Dazu stehe ich auch.

Norbert Reichel: Vielleicht geht es auch weniger um eine bestimmte Partei, sondern um eine Veränderung der Einstellung in den vorhandenen Parteien.

Marina Weisband: Das ist so. Und das hat wieder damit zu tun, wie man eine Parteispitze besetzt und Kandidat:innen bestimmt. Starke Überzeugungen sind nicht unbedingt das, was eine:n an die Parteispitze bringt. Viel Sitzfleisch, fremde Errungenschaften sich selbst anzuschreiben, ständig präsent zu sein und überall Würstchen zu wenden – das bringt eine:n an die Spitze.

Norbert Reichel: Es gab mal eine Studie – an die Autor:innen erinnere ich mich leider nicht mehr – mit dem Ergebnis, die in Parteien Erfolgreichen seien die Immobilen und die Zeitreichen.

Marina Weisband: Das sind vielleicht nicht die Eigenschaften, die Repräsentant:innen brauchen. Vielleicht wäre zu überdenken, wie Parteien intern funktionieren.

Norbert Reichel: Vielleicht darf ich doch eine Person aus den Parteispitzen nennen, von der ich einen guten, vielleicht sogar sehr guten Eindruck habe. Das ist Ricarda Lang. In der ZEIT hat sie Robert Pausch portraitiert. Er nannte sie wegen ihres sozialen Engagements, das ihr wichtiger sei als die Frage, ob Atomkraftwerke ein paar Monate früher oder später abgeschaltet werden, die „rote Grüne“. Das war schon fast eine Liebeserklärung.

Ein kritischer Punkt sind Wahlbeteiligungen. Bei mehreren Landtagswahlen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, ließ sich feststellen, dass die SPD in ehemals sicheren Wahlkreisen kaum noch punktete, weil die Wahlbeteiligung auf Werte um die 30 Prozent oder darunter gesunken war. Menschen, die früher eigentlich die klassische Klientel einer sozialdemokratischen Partei gewesen wären, wählten gar nicht mehr. Die SPD hatte gerade im Ruhrgebiet auch mal eine sehr gute kommunale Infrastruktur. Der Kassierer kam vorbei, man trank einen Kaffee, erhielt das Beitragsmärkchen und man konnte über die Probleme sprechen. Drei Tage später kam jemand von der Stadt und man hatte das Gefühl, die tun was. Das ist alles vorbei. Jetzt wollen die Menschen ihre Zeit nicht mehr in eine Wahl investieren, von deren Ergebnis sie für ihre persönliche Lage ohnehin keine Verbesserung mehr erwarteten.

Marina Weisband: Es ist nicht nur ein Problem des Zusammenhalts in den Kommunen zwischen den Menschen und den Parteien. Es ist ein Problem in den Kommunen an sich. Wir vereinsamen. Wir verlieren den Kontakt zueinander. Und das ist ein Ergebnis der neoliberalen Politik, die seit den 1980er Jahren betrieben wird. Wir könnten natürlich, aber wir haben keine Zeit Kaffee zu trinken, weil ich zwei Gehälter brauche, um die Miete für die Wohnung zu bezahlen. Und ich habe ein kleines Kind. Einerseits brauchen wir eine Partei, die eine echte soziale Politik macht. Die sehe ich zurzeit nicht. Ich sehe eine Lisa Paus, die dafür gekämpft hat, aber nicht genug Rückhalt aus der Partei erhielt. Wir haben keine soziale Politik, wir haben eine Politik, die sich an den Arbeitgebern orientiert. Wir brauchen mehr Sozialausgaben, nicht weniger. Wir brauchen dritte Orte. Damit retten wir die Demokratie, darüber retten wir aber auch die Sicherheit für diejenigen, die zurzeit für sich das Geld horten.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2023, Internetzugriffe zuletzt am 17. September 2023. Die vier Bilder vom Projekt „Aula“ wurden von Marina Weisband zur Verfügung gestellt.)