Den Teufel mit Beelzebub austreiben

Eugen Gomringer, Critical Whiteness und die Tea Party

Menschen wehren sich gegen diskriminierendes Verhalten, gegen das sie sich früher aus welchen Gründen auch immer nicht gewehrt hätten. Aber viele Menschen waren und sind routiniert genug, manche der Formen, die Diskriminierung annehmen kann, nicht als Diskriminierung zu erkennen und darüber hinwegzusehen, es sei denn, sie selbst fühlen sich betroffen.

In der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung war am 20.7.2019 Folgendes zu finden: „In Michigan haben christliche Eltern den Schulbezirk von Williamston verklagt. Dort ist es explizit verboten, LGBTQ-Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminieren und zu belästigen. Die Eltern fühlen sich in ihrer religiösen Freiheit beschnitten, weil ihren Kindern dadurch eine Erziehung verwehrt wird, die ihren christlichen Glauben nicht in Frage stellt. Und weil ihre Kinder dadurch wiederum nicht vor Diskriminierung und Belästigung geschützt sind.“ .

Wer Toleranz fordert, diskriminiert – so die Eltern aus Michigan – die Intoleranten, die natürlich nicht intolerant sind, sondern im Besitz alleinseligmachender Wahrheit. Wer behauptet, dass der Kreationismus falsch ist, diskriminiert Kreationist*innen und ihre kreationistisch erzogenen Kinder. Die armen Kinderseelen! Gut, dass Religionsfreiheit herrscht, denn diese gibt einen Freibrief, auch für blühenden, gefährlichen Unsinn. Diskriminierendes Verhalten wird als Glaubenssatz geadelt: „Und wenn mich jemand dafür kritisiert, bin ich das Opfer. Zur Hölle mit ihm!“ Oder ihr.

Ebenso handeln diejenigen, die ständig das Wort ergreifen, um gegen wen auch immer zu agitieren, aber jeden Widerspruch mit dem Vorwurf verbinden, man werde in seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung behindert. Subtext: „Wer mir widerspricht, verbietet mir die freie Meinungsäußerung. Ich bin das Opfer!“

„Wir sind die Opfer, wir sind die Guten“

Nun gibt es diese Argumentationsmuster nicht nur von rechter, sondern auch von anderer Seite. An amerikanischen Universitäten üben sich Studierende, die sich dem linken oder liberalen Spektrum zuordnen, darin. Studierende weigern sich, Texte zu lesen, deren Autor*innen sie für rassistisch halten. Professor*innen, die mit ihren Studierenden über diese Texte diskutieren wollen, werden boykottiert, ausgepfiffen oder niedergebrüllt. Oder es wird verlangt, dass Professor*innen ihre Texte und die Texte, die sie mit ihren Studierenden analysieren wollen, mit „Trigger Warning“ oder „Content Warning“ versehen, sodass diejenigen, die sich durch einen Text „verletzt“ fühlen könnten, entscheiden können, ob sie an dem Seminar teilnehmen oder nicht. Oder es wird gleich verlangt, diese Texte aus dem Lehrplan zu streichen.

Eine weitere Übung ist der Kampf gegen “Cultural Appropriation“. Dann werden ein Indianerkostüm oder ein indisches Menü, das nicht von Inder*innen hergestellt wird, zum rassistischen Akt. Jeder Versuch, ein Gericht fremder Herkunft nachzukochen, wird politisch verdächtig. Über Sexismus und Rassismus dürfen sich dann nur Betroffene äußern, denn alle anderen sind als Mitglieder einer angeblichen „Dominanzgesellschaft“ (auch so ein Killerbegriff, der andere zum Schweigen bringen soll) per se sexistisch und rassistisch, auch wenn sie das nicht wissen. Sie sollten bitte schweigen und Selbstkritik üben.

In Deutschland nicht denkbar? Mariam Lau belegt in ihrem Essay „Dein Unglück ist mein Unglück“ (Die ZEIT vom 25.7.2019), dass solche Dinge in Deutschland nicht nur denkbar sind, sondern geschehen. Die Kernthese im Untertitel: „Der Kampf gegen Sexismus und Rassismus hat die Menschen befreit. Doch jetzt fördert er bisweilen ein plumpes Stammesdenken.“

Ich empfehle die Lektüre der von Mariam Lau genannten Beispiele. Eines als Kostprobe: Es ist schon absurd, wenn auf einer Demonstration gegen Rassismus (#unteilbar) alle Fahnen gezeigt werden dürfen, nur eine nicht, die deutsche. Aber Schwarz-Rot-Gold war ja bekanntlich immer schon die „Täter-Fahne“, während alle anderen die „Fahnen der Opfer“ sind. Wer das nicht begreift, … (Nur so eine Frage: wurde eigentlich auf #unteilbar die israelische Fahne zugelassen, die schon bei einem Fußballspiel zwischen Union Berlin und FC Ingolstadt, da „Provokation“, auf Geheiß der Berliner Polizei abgehängt werden musste?)

Das Ding muss weg

Ich erlaube mir, die Absurdität dieser Debatte mit einem Beispiel zu illustrieren, das ich lange nur für einer Fußnote wertgehalten hätte. Ich habe mich geirrt. Bei einem kulturpolitischen Abend der Bundestagsfraktion der Grünen am 14. Mai 2019 in Berlin stritten sich Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, und Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters, erneut darüber. Olaf Zimmermann forderte eine Stellungnahme gegen linke Intoleranz, Shermin Langhoff wies dies zurück und redete über etwas völlig anderes. Gegenstand des Streits war das Gedicht von Eugen Gomringer, das seit 2011 an einer Wand der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin zu lesen war und auf Betreiben der Studierendenvertretung entfernt werden musste. Es wäre sexistisch.

Hier der Text:

avenidas
avenidas y flores
flores
flores y mujeres
avenidas
avenidas y mujeres
avenidas y flores y mujeres y
un admirador

(In deutscher Übersetzung: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer„)

Der AStA der Hochschule stellte fest: „Das Gedicht wiederhole das patriarchale Muster ‚Mann guckt Frau als Muse an und wird dadurch schöpferisch tätig‘, außerdem erinnere der Text an die sexuelle Belästigung, die für Frauen Alltag sei – auch an der Uni.“ Dies zitiere ich aus einem Essay von Margarete Stokowski (Spiegel-Online am 5.9.2017), die dafür plädiert, „diese Form von Debatten (eine Lyrik-Debatte, wie schön eigentlich!) zu führen, ohne dass es allzu bald darum geht, wem etwas weggenommen wird: ein Liebesgedicht der Uni, Komplimente den Frauen, Augenbewegungsfreiheit den Männern. Sondern ganz, ganz vielleicht könnte das mal eine Debatte sein, in der am Ende rauskommt, dass Leute Dinge unterschiedlich wahrnehmen, ohne dass jemand ‚politische Korrektheit‘ ruft, denn sobald dieser Begriff fällt, kann man meistens direkt schlafen gehen, ist gesünder.

Eine Frage in dieser Debatte könnte beispielsweise lauten: Wie geht es weiter? Der polysyndetische Aufbau des Gedichts lässt einen offenen Schluss vermuten. Es gibt nur einen Hinweis, dass das Gedicht mit „un admirador“ enden müsste, die Verschiebung des letzten „y“ (und) an das Ende des vorletzten Verses. Aber vielleicht ist diese Verschiebung, die – liest man das Gedicht laut vor – eine Pause nach sich ziehen dürfte, nur ein Zeichen der Unsicherheit, wie es weitergehen sollte oder könnte, bei einem bewundernden, möglicherweise sprachlos gewordenen Menschen durchaus denkbar. Eine andere denkbare Interpretation wäre vielleicht ein Verständnis dieser Pause als verwunderter Kommentar zum Verhalten des Bewunderers, der die Fortführung der Reihung stört.

Endet das Gedicht nun mit dem Hinweis auf die bewundernde Person, die von den Berliner Studierenden als Imago eines sexistisch eingestellten Mannes identifiziert wurde, oder kann man es fortsetzen? Sind Autor und die bewundernde Person einer Meinung? Betrachtet der oder die Sprechende eine Szene? Und was haben Alleen, Blumen und Frauen überhaupt miteinander zu tun? Handelt es sich um eine zufällige Reihung oder darf ein Zusammenhang vermutet werden? Oder entsteht der Zusammenhang erst bei denen, die den Text lesen? Und wer spricht da überhaupt?

Eigentlich genug Stoff, um in einem Seminar oder in einer anderen dialogorientierten Veranstaltung über den Text und vor allem über die Vieldeutigkeit von Texten zu diskutieren. Genau das lehnten die Studierenden jedoch ab. Der Text musste weg.

Mehrheit eben

Die Studierenden der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin begeben sich aus meiner Sicht auf das Niveau der Tea Party. Ihr Vorbild scheint ein ebenfalls aus den USA importiertes ‚linkes‘ Gegenstück zur Tea Party zu sein, die Critical-Whiteness, deren Prophet*innen genauso intolerant agieren.

Wie ging es weiter am 14. Mai? Olaf Zimmermann ließ nicht locker. Daraufhin wurde von jemandem, der durchaus Rang und Namen hat, der Wille der Studierenden als entscheidendes Kriterium für Pro und Contra benannt. Dies blieb unwidersprochen. Ich bin mir sicher, kaum jemand im Saal merkte, was aus diesem Kriterium abgeleitet werden könnte. Die Nationalsozialisten konnten sich schon Ende der 1920er Jahre vor allem auf die Studierenden verlassen. Was am 10. Mai 1933 geschah, wurde maßgeblich von den NS-Studierenden organisiert, die schon lange über Mehrheiten in der Studentenschaft verfügten. Mehrheit eben. Mit diesem Kriterium könnte man auch heute Bücher aus Bibliotheken entfernen. Man muss sie ja nicht gleich verbrennen. Manchmal wiederholt sich eben die Tragödie als „lumpige Farce“.

Den Gedanken, dass das Vorgehen gegen das Gedicht von Eugen Gomringer „die Erinnerung an Bücherverbrennungen“ weckt, führt Lena Gorelik in ihrem Essay „Oder kann das weg?“ aus: „Ein schmerzendes Schlagwort, beinahe ein Totschlagargument, obwohl auf der anderen Seite – offensichtlich – hehre Ziele stehen: der respektvolle Umgang mit Frauen, die Bekämpfung von Sexismus, der Schutz von Minderheiten, der Kampf gegen Rassismus. So hehr (wiederum aus meiner individuellen Sicht) die Ziele, so groß das Fragezeichen. Auch in ihrem Namen kann Kunst nicht verboten werden. Sie darf aber – und kann und soll und muss – diskutiert und angezweifelt werden. Aber eben nicht zerstört, verbrannt.“

Wie weit die Freiheit der Kunst tatsächlich jedoch gehen mag, lässt sich an einem anderen Beispiel diskutieren. Soll die sogenannte „Judensau“ am Wittenberger Dom entfernt oder bloß mit einer Tafel kommentiert werden? Der Kontext lässt hier allerdings nur eine Antwort zu. Während das Gedicht von Eugen Gomringer als Einladung an die Fantasie der Lesenden gelesen werden kann, hat die „Judensau“ von Wittenberg die eindeutige und einzige Funktion, Menschen, die nicht lesen noch schreiben konnten, und nicht nur diese, durch ein drastisches Bild zu indoktrinieren und durch die ständige Präsenz in ihrem Antisemitismus zu bestätigen.

Bei der Skulptur am Wittenberger Dom gibt es keine Zwei- oder Mehrdeutigkeit. Sie ist eindeutig antisemitisch und wurde angebracht, um Antisemitismus zu verbreiten und – da an einer Kirche angebracht – als unabdingbaren Inhalt christlichen Glaubens zu legitimieren. Sie ist noch nicht einmal als Geschmacklosigkeit entschuldbar, wie dies bei den auch seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2005 immer noch diskutierten Karikaturen des Propheten Mohammed von Kurt Westergaard durchaus möglich wäre. Aber könnte diese Entschuldigung dann auch für die Karikaturenwettbewerbe des Iran zum Holocaust angeführt werden? Freiheit der Kunst? Geschmacklosigkeit? Indoktrination?

Die Rückkehr des Carl Schmitt

Natürlich gibt es Grenzen der Kunst oder von als Kunst bezeichneten Werken. Meines Erachtens gibt es durchaus ein eindeutiges Kriterium, um Kunstobjekte in ihrem künstlerischen und in ihrem moralischen Wert voneinander zu unterscheiden. Indoktrination ist inakzeptabel. Ebenso ließen sich die Motive streitender Parteien analysieren und bewerten. Lena Gorelik: „Kunst vermag das: die Spannungsfelder einer Gesellschaft aufdecken, den Schmerzpunkt finden, den, bei dem man aufschreit, wenn jemand ihn berührt. Dafür sind wir der Kunst zu Dank verpflichtet, sie kann (darf/soll/muss/wird, suchen Sie sich das passende Hilfsverb einfach aus) ein Spiegel sein unserer Gedanken wie Gefühle, sie kann ein Marker sein, der uns hinweist auf jene Streitfelder, die unsere Zukunft bestimmen.“ (Lena Gorelik: Oder kann das weg? – Über Sexismus, Rassismus und die Freiheit der Kunst, in: Eva Berendsen / Saba-Nur Cheema / Meron Mendel (Hrsg.), Triggerwarnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen, Berlin, Verbrecher Verlag, 2019.)

Der eigentliche Skandal der Farce um Gomringers Gedicht ist die Verweigerung von Debatten. Das gilt ebenso wie für die (nicht als Kunstaktion gedachte und auch nicht so verstehbare) Verwendung der deutschen Fahne bei der #unteilbar-Demonstration: Es wäre mehr als hilfreich und angesichts des politischen Kontextes auch angebracht, sich mit der Geschichte der schwarz-rot-goldenen Flagge und der Art und Weise, wie sie von wem auch immer eingesetzt, gebraucht oder missbraucht wird, auseinanderzusetzen, in der Schule, in der Universität, in Volkshochschulen oder auch in politischen Versammlungen. Peter Tauber am 22.3.2015: „Nehmt Pegida die Deutschlandfahne weg.“ Nein, sagen die #unteilbaren, die Fahne muss weg.

Die Anhänger*innen der Critical Whiteness und vergleichbarer Anschauungen bringen jedes berechtigte Bemühen in Verruf, gegen Intoleranz und Diskriminierung vorzugehen, gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Sexismus. Shermin Langhoff hat in einem Interview (Die ZEIT vom 21.5.2017) sehr deutlich gesagt, welchem Problem unsere Aufmerksamkeit gehören sollte: „In Dresden wurden viele freie Kulturprojekte mit einer Koalition aus AfD, CDU und FDP abgeschafft. Das sind gefährliche Entwicklungen. Und ich höre von Theaterkollegen in Freiberg und Cottbus, die sich unter Druck gesetzt fühlen. Auf einmal wird ein Neutralitätsgebot in der Kunst verhandelt. Was soll das? Noch vor wenigen Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die Kunstfreiheit jeden Tag im Parlament von der AfD infrage gestellt wird.“ Das ist dann keine „lumpige Farce“ mehr.

Es gibt einen Beigeschmack von Kulturrevolution in the nutshell. Ich bezweifele, ob jemand aus den Kreisen von Tea Party und Critical Whiteness jemals Carl Schmitt gelesen hat, den Apologeten einer Politik, die sich durch „Freund-Feind-Unterscheidungen“ definiert, die von oben angewiesen werden. (hierzu Remko Lemhuis in der Jüdischen Allgemeinen vom 25.7.2019). Wer den Teufel mit Beelzebub austreibt, sollte sich nicht wundern, wenn man oder frau oder they in der Hölle aufwachen, in die sie ihre Gegner*innen verwünscht haben.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2019, Internetlinks wurden am 22. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)