Der 29. Januar 2025

Phänomenologie einer planlosen Zeitenwende

„Nota bene: Ich fürchte nicht, dass CDU und CSU sich in faschistische Parteien verwandeln. Nein, ich fürchte, dass sie zerbrechen; dass sie sich in je einen Pro- und einen Anti-AfD-Verein spalten. Jeder Politikwissenschaftler weiß, dass es gegen rechten Extremismus nur einen Schutz gibt: eine starke konservative Partei. Wenn das Wasser anfängt, aus diesem Damm zu rieseln, dauert es nicht mehr lange, bis die Schlammflut kommt.“ (Hannes Stein, Wir machen uns Sorgen um euch, in: Jüdische Allgemeine 28. September 2023)

Österreich darf als Beispiel gelten, was geschieht, wenn eine konservative Partei nicht so recht weiß, wohin sie will. Verena Mayer kommentierte in der Süddeutschen Zeitung den Auftrag an Herbert Kickl, eine Regierung zu bilden, mit dem lapidaren Satz: „Die ÖVP hatte keinen Plan A, keinen Plan B, keinen Plan C“: „Es ist fast tragisch mitanzusehen, wie kopflos eine frühere Großpartei agieren kann, die über Jahrzehnte die Geschicke ihres Landes bestimmt hat. Wie sie auf der Suche nach sich selbst ist und zerrieben wird zwischen Kräften, die bei der Zusammenarbeit mit Herbert Kickl Schmerzgrenzen haben, und denen, die um jeden Preis ihren politischen Einfluss sichern wollen. Wie sich die einen nun verbiegen und die anderen abspringen, weil sie das nicht mitmachen wollen.“

Die Abstimmung am 29. Januar 2025 im Deutschen Bundestag über die zukünftige deutsche Migrationspolitik erlebte einen Friedrich Merz, bei dem sich angesichts seines ausdrücklichen Bedauerns nach der Abstimmung nicht sagen lässt, ob er wirklich geglaubt hat, SPD und Grüne für den (weitgehend grundgesetz- und europarechtswidrigen) Fünf-Punkte-Plan der CDU gewinnen zu können, oder ob er einfach nur Krokodilstränen weinte (sorry, liebe Krokodile, für eure Physiologie könnt ihr nichts). Unerwartet wurde dann am 31. Januar das von der CDU eingebrachte „Zustrombegrenzungsgesetz“ abgelehnt. CDU, CSU, FDP, AfD und BSW haben 372 Abgeordnete, das Gesetz erhielt jedoch nur 338 Stimmen, 350 Abgeordnete stimmten mit nein, fünf enthielten sich. 12 CDU- und 16 FDP-Abgeordnete beteiligten sich nicht an der Abstimmung.

Ob der 29. Januar 2025 ungeachtet des Ergebnisses vom 31. Januar ein Schritt in Richtung österreichische Verhältnisse war, werden wir sehen, nicht zuletzt, wenn nach der Wahl vom 23. Februar CDU und CSU mit SPD oder Grünen über eine neue Regierungsbildung verhandeln müssen, Verhandlungen, deren Scheitern sich die Union eigentlich nicht erlauben kann. Die Atmosphäre zwischen den demokratischen Parteien darf vorerst als vergiftet bezeichnet werden. Noch schwieriger dürfte es werden, wenn Friedrich Merz als Bundeskanzler seine Ankündigung vom 1. Februar 2025 mit dem Versuch wahrmachen sollte, die Inhalte des vom Bundestag abgelehnten Gesetzes per Richtlinienkompetenz zu erlassen.

Generalisierte Angststörung in der CDU?

Der Katholik Friedrich Merz spielte ein wenig den Luther, da stand er und konnte offenbar nicht anders („alternativlos“?). Ihn schien die Angst umzutreiben, dass die AfD nur noch stärker würde, wenn er nicht deren Positionen zur Migration verträte. Diese Angst war in Stimmlage und Mimik seines Generalsekretärs deutlich erkennbar: Wenn wir nicht heute …, dann droht morgen …! Irgendwie glaubt er wohl, die Bürger:innen hielten die Parteien für einen Lieferdienst. Was sie wirklich wollen, hat er nie gefragt. Meinungsumfragen sind keine Bürgerbeteiligung, sondern spiegeln lediglich den Duktus der jeweiligen Debatten. All das, was wir in den Tagen rund um den 29. Januar erlebten, war im Grunde pure lähmende Angst.

Schaufel für Schaufel grub sich die CDU eine Grube. Und sie ist schon so weit hineingefallen, dass es bald schwer werden könnte, wieder herauszuklettern. Die ÖVP wird es wohl nicht mehr schaffen. Christian Bangel, einer der besten Kenner der verschiedenen Szenen des Rechtsextremismus, kommentierte in der ZEIT die österreichischen Koalitionsverhandlungen: „Es kann ganz schnell gehen“, allen Unterschieden zum Trotz: „Grundlegend unterscheiden sich die Parteien bei der Frage der Westbindung, dem Verhältnis zu Russland und dem Krieg in der Ukraine. Bei Fragen der Migration, in der Klima-, Wirtschafts- und Sozialpolitik und auch in den sogenannten Kulturkämpfen hingegen stehen die beiden Parteien nicht in unterschiedlichen Lagern, sondern unterscheiden sich nur mehr in ihrer Radikalität.“

So weit sind wir in Deutschland nicht. Noch kann die CDU sich aus der selbst gegrabenen Grube befreien, um dem Schicksal anderer konservativer Parteien in Europa zu entgehen. Es sind aber erste Spaltungstendenzen in der CDU zu erkennen.

Acht CDU-Abgeordnete, darunter Monika Grütters und Annette Widmann-Mauz, die Kulturstaatsministerin und die Integrationsbeauftragte der letzten Regierung unter Angela Merkel, Marko Wanderwitz, die Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, Roderich Kiesewetter, Thomas Heilmann, Sabine Weiss und Astrid Timmermann-Fechter beteiligten sich wie auch acht FDP-Abgeordnete – wohl aus (meines Erachtens falsch verstandener) Fraktionsdisziplin – nicht an der Abstimmung. Die CDU-Abgeordnete Antje Tillmann stimmte gegen den Antrag, zwei FDP-Abgeordnete enthielten sich. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (parteilos) und Stefan Seidler vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW) stimmten gegen den Antrag. Wie sich ausgewiesene CDU-Integrationspolitiker wie Armin Laschet und Serap Güler oder ein liberaler Politiker wie Norbert Roettgen bei oder nach ihrer Zustimmung fühlen, wäre sicherlich interessant zu erfahren. Der Tagesspiegel dokumentierte das Abstimmungsverhalten , ebenso wie die Süddeutsche Zeitung. Michel Friedman kündigte seinen Austritt aus der CDU an.

Angela Merkel distanzierte sich nach der Abstimmung vom Vorgehen des Friedrich Merz (hier im vollen Wortlaut zitiert): „In seiner Rede am 13. November 2024 im Deutschen Bundestag hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Kanzlerkandidat von CDU und CSU, Friedrich Merz, ausweislich des stenografischen Protokolls des Deutschen Bundestags unter anderem erklärt: ‘Für die wenigen verbleibenden Entscheidungen, die ohne Bundeshaushalt möglich sein könnten, will ich Ihnen hier einen Vorschlag machen: Wir sollten mit Ihnen, den Sozialdemokraten, und Ihnen, die Grünen, vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, sodass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt. Diese Verabredung möchte ich Ihnen ausdrücklich vorschlagen, meine Damen und Herren. Denn das hätten diese Damen und Herren von rechts außen doch gerne, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen, und sei es mit Ihnen von den beiden Minderheitsfraktionen bei der Bestimmung der Tagesordnung. Wir wollen das nicht. Ich hoffe, Sie sehen das auch so, liebe Kolleginnen und Kollegen.’ Dieser Vorschlag und die mit ihm verbundene Haltung waren Ausdruck großer staatspolitischer Verantwortung, die ich vollumfänglich unterstütze. Für falsch halte ich es, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen und dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen. Stattdessen ist es erforderlich, dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können.”

Im Prinzip verhalten sich Friedrich Merz, die CDU und die CSU wie so manche (nicht nur konservative) Partei wie das sprichwörtliche Kaninchen. Es ließe sich sogar spekulieren, vor wem oder was sie größere Angst verspüren: vor Migranten, zu hohen Schulden, Gendersternchen, Windrädern und Lastenrädern oder vor der AfD und gewaltbereiten Rechtsextremisten? Jede Angst ist gefährlich und kann sich schnell, wenn man sie pflegt, zu einer Art kollektiver generalisierter Angststörung (GSA) auswachsen.

Kompromisslosigkeit ist keine Standfestigkeit

Niemand darf sich jetzt in die Schmollecke zurückziehen. Friedrich Merz schien das vor dem 29. Januar begriffen zu haben, siehe seine Rede vom 13. November 2024. Aber auch in anderen Themen wirkte er versöhnlich. So ließ Merz schon verlautbaren, die Reaktivierung abgeschalteter Atomkraftwerke werde von Tag zu Tag weniger wahrscheinlich und es gebe noch zu wenig Wärmepumpen, bei der Migration könne man auf dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz aufbauen. Friedensangebote für Schwarz-Grün? Könnte man meinen. Ohnehin geben sich die Grünen ausgesprochen kompromissbereit, auch wenn sie Grünen die Schmerzgrenze der Kompromisse in der Ampel schon so weit ausgereizt haben, dass sie einen Teil ihrer Klientel an Kleinparteien wie Klimaliste und Tierschutzpartei verloren. Die bürgerlich-linksliberale vor allem an Europa orientierte Klientel hatte in den Europawahlen VOLT in vielen größeren Städten zu ansehnlichen Ergebnissen deutlich über der Fünf-Prozent-Hürde verholfen.

Der 29. Januar 2025 erweckte einen anderen Eindruck. Es sah so aus, als wollte die CDU – entschuldigen Sie bitte die saloppe Ausdruckweise – mit dem Hintern wieder abräumen, was man mit den Händen, auch in Abgrenzung zu Markus Söder, aufgebaut hat. Die rechtliche Unzulässigkeit hat in der Süddeutschen Zeitung Ronen Steinke aufgearbeitet, der Tagesspiegel in einem Faktencheck. Unbegrenzte Abschiebehaft verstößt gegen das Grundgesetz, Grenzschließungen verstoßen gegen europäisches Recht, Haftbefehle können nur Staatsanwaltschaften erlassen, nicht die Polizei, Länderzuständigkeiten lassen sich nicht so einfach mit einem Bundesgesetz außer Kraft setzen. Abgesehen davon ändern die CDU-Vorschläge nichts an „den Lebensumständen, die in Flüchtlingsunterkünften bewirken, dass viel zu viele junge Männer auf die schiefe Bahn geraten oder krank werden“. Auch nicht an den offenen Strukturfragen der Zusammenarbeit der Sicherheits- und Ausländerbehörden in Bund, Ländern und Kommunen.

Hat Friedrich Merz am 29. Januar 2025 seinen Kemmerich-Moment erlebt? Nach der Zustimmung des Bundestags könnte die CDU liberale Stimmen an SPD und Grüne verlieren. Hätte der Bundestag nicht zugestimmt, hätte die CDU vielleicht riskiert, Stimmen an die AfD zu verlieren. Auch die SPD läuft nach wie vor Gefahr, dass sie angesichts der Popularität der Forderungen der CDU und der CSU in der Bevölkerung Stimmen verliert. So oder so – alles war und ist Wahlkampf pur und schlug Pflöcke für die Koalitionsverhandlungen ein, die CDU und CSU nach derzeitigem Stand auf jeden Fall mit der SPD oder den Grünen führen müssen. Nicht mehr und nicht weniger. Oder doch mehr?

Wäre es denkbar, dass sich eine CDU/CSU-Minderheitenregierung von der AfD tolerieren (und erpressen) ließe? Nach den derzeitigen Aussagen von Merz nicht. Udo Knapp hält in seinem Kommentar in taz Futur 2 eine Koalition zwischen CDU und AfD nach der Bundestagswahl jedoch für nicht unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich vielleicht noch 2025, aber nicht mehr nach der Wahl im Jahr 2029, bei der wir möglicherweise eine Erosion der CDU als großer konservativer Partei erleben, sodass sich die Prophezeiung von Hannes Stein bewahrheiten könnte, dass sich in der CDU radikal konservative Kräfte und liberal konservative Kräfte gegenüberstehen, sich die Partei spaltet und in Teilen marginalisiert wie bereits in Frankreich, Italien oder Österreich geschehen. Udo Knapp benennt den Grund, der ein solches Szenario Wirklichkeit werden lassen könnte: „Die Zukunftslosigkeit des liberaldemokratischen Spektrums“. Sein Vorwurf an die demokratischen Parteien lautet: „Keine diese Parteien zeigt die Kraft und den Willen, ein Land und seine Gesellschaft in die Zukunft zu führen. Die Erfolge und Fortschritte in allen Zukunftsfragen der Zivilisation bieten dazu beste Voraussetzungen. Eigentlich. Stattdessen agieren sie alle im Klein-Klein ihrer eigenen, auf Wahlperioden bezogenen Machtträume. Und jenseits jeder Vernunft- und Verantwortungsethik.“

Robert Pausch diagnostiziert „eine Kaskade des Kontrollverlusts“: „Womit wir also bei Friedrich Merz wären, dessen Kanzlerkandidatur derzeit auf einen ähnlich gefährlichen Punkt zusteuert. Plötzlich macht er Fehler, die er eigentlich sorgsam vermieden hatte. Und plötzlich bestätigt er Klischees, die er eigentlich vertreiben wollte.“ Vor allem die signalisierte Kompromisslosigkeit sorge dafür, dass die CDU, nicht zuletzt angesichts der Äußerungen ihres Generalsekretärs, massiven Schaden nehmen könnte: „Will die CDU wirklich in die Opposition gehen, wenn nicht einhundert Prozent ihrer Forderungen erfüllt sind? Sind nicht gerade die Christdemokraten eine Partei, deren Wesenskern der Kompromiss ist? Ist es nicht gerade das, was sie seit je von den prinzipienreiterischen Linken unterscheidet? Ist dem CDU-Generalsekretär überhaupt klar, was er da redet?“

Man sollte Standfestigkeit nicht mit Kompromisslosigkeit verwechseln. Diese Verwechslung gibt es auch bei Linken und Grünen. Sie sollten endlich damit aufhören, sich mit verschiedenen Spielarten einer falsch verstandenen „Identitätspolitik“ und falsch verstandener „Prinzipien“ zu schwächen. Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, man schütze die falschen, wenn man sich beispielsweise gegen die Abschiebung verurteilter Straftäter nach Afghanistan oder in andere vergleichbare Staaten ausspricht, das Auslesen von Handy-Daten bei der Einreise ablehnt oder auf Datenschutzregelungen beharrt, die verhindern, dass sich Sicherheitsbehörden effektiv und effizient über Gefährder austauschen. Der Kern des Problems liegt in der Tat an der völlig unzureichenden Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, ein Thema, auf das Irene Mihalic und andere bereits schon vor längerer Zeit immer wieder hingewiesen haben, die aber offenbar ebenso regelmäßig an den Egoismen der jeweiligen Behörden scheitert. Darüber sollte die CDU mit SPD und Grünen verhandeln!

„Wir“ gegen die Anderen

Was hier geschieht, ist die Personalisierung einer dringend erforderlichen Strukturdebatte. Es reicht nicht aus, sich mit migrantischen Straftätern und Gefährdern zu befassen und zu hoffen, dass man sie aus dem Verkehr ziehen könnte. Abgesehen davon: Was ist mit den rechtsextremen und über jedes Maß hinaus bewaffneten Gefährdern und Straftätern der Neo-Nazi- und Reichsbürgerszene? Mitunter könnte man den Eindruck haben, in konservativen Kreisen wäre man froh, endlich nicht mehr über Rechtsextremismus reden zu müssen.

Es ist jetzt etwa 15 Jahre her, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble vehement für die strikte Einhaltung sogenannter Stabilitätskriterien eintraten, damit (fast) alle Kollegen in der Europäischen Union drangsalierten. Deutsche Bürgerinnen und Bürger schimpften heftig auf die Griechen, die angeblich mit ihrer Schuldenkrise den Wohlstand in Deutschland gefährdeten. Robert Menasse beschrieb am 20. Mai 2010 in der ZEIT, wie er erlebte, wie deutsche Touristen in einem Brüsseler Lokal aufführten so unflätig über „die Griechen“ schimpften, dass sich der Kellner genötigt sah, sie zu bitten, das Lokal zu verlassen.

Déjà Vu im Jahr 2025? Mit anderen Akteuren, aber mit derselben Stimmung, die inzwischen sogar eine Partei gefunden hat, die wie keine andere die Welt in „Wir“ und „die Anderen“ unterscheidet und nicht müde wird zu fordern, man müsse nur alle anderen loswerden, Migranten, die Bundesregierung, die EU-Kommission, wen auch immer und es herrsche wieder Ordnung im Land. Die AfD hat schon mehrfach betont, dass es ihr Ziel ist, die CDU so sehr zu destabilisieren, dass sie gar nicht mehr anders könne, als spätestens nach den Wahlen 2029 mit ihr zu koalieren.

Manchmal versuchen demokratische Politiker und Politikerinnen „Zusammenhalt“ zu beschwören, so der Bundespräsident, der sein im Jahr 2024 bei Suhrkamp erschienenes Buch demonstrativ mit dem Titel „Wir“ überschrieb, aber auch nicht so genau zu sagen weiß, wen er alles in dieses „Wir“ integrierte und wen nicht (da war Christian Wulff präziser). Doch je lauter Bundespräsident und Bundeskanzler in Weihnachts- und Sylvesteransprachen sowie so manch andere den „Zusammenhalt“ der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beschwören, desto weniger glaubt ihnen jemand, es gäbe keine „Spaltung“ in der Gesellschaft. Es hat etwas von einem Pfeifen im Walde.

Nach den Festtagen sieht es wieder etwas anders aus, ungeachtet der zum Teil kriegsähnlichen Auswüchse privater Sylvesterfeuerwerke. Fast jede politische Auseinandersetzung wird inzwischen als „Spaltung“ geframt. Die sogenannte „Migrationskrise“ ist mit all ihren Lebenslügen das ständig wiederkehrende Beispiel für einen solchen Diskurs, weil sich da so schön eine ganze Gruppe ins Abseits stellen lässt, um die eigene Wohlanständigkeit zu preisen. Eine andere Gruppe, die immer wieder einmal gerne ins Abseits gestellt wird, sind „die Faulen“, denen „die Fleißigen“ gegenübergestellt werden, für die sich ihr Fleiß wieder lohnen solle – eine Parole, die schon mehrere Wahlkämpfe überstanden hat. Wer nun wirklich „faul“ ist, wer „fleißig“, wird nicht näher definiert, aber Krankenschwestern, Pflegekräfte, Erzieherinnen und Erzieher in den Kindertagesstätten, Menschen, die gerade einmal den Mindestlohn erhalten oder mit dem sogenannten „Bürgergeld“ das geringe Verdienst aufstocken müssen, werden sich ihren eigenen Reim auf solche Parolen machen.

„Ich“ ist „Wir“!

Und dann ist da noch Donald Trump, für manche ein Vorbild (Stichwort: Klartext, der tut, was er sagt), für andere ein Schreckgespenst (Stichwort: Abschaffung der Demokratie). Solche Ängste kann man weder aussitzen noch durch Appeasement bewältigen. Richard Sennett hatte sich bereiterklärt, gemeinsam mit Peter Kümmel die Amtseinführung Trumps im Fernsehen anzuschauen. Sein Kommentar: „Trumps Rückkehr ist eine enorme Bedrohung für Deutschland. Ich habe nicht das Gefühl, dass Ihr das schon so recht realisiert habt. Es würde ihm nicht das Geringste ausmachen, sollte Deutschland den Bach runtergehen; das würde er als Gelegenheit, als wirtschaftliche Chance sehen. Und auf der anderen Seite ist Putin. Ihr Deutschen seid jetzt in der Mitte des Konflikts.“ Es geht eben nicht darum, wie Europa die kommenden vier Jahre einfach übersteht, sondern dass Europa (und maßgeblich Deutschland) eine Strategie entwickelt, die diversen Krisen so weit möglich aus eigener Kraft zu bewältigen und zu steuern. Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung. Die Präsidentin der EU-Kommission verdient all unsere Unterstützung. Ob alle politisch Verantwortlichen in Europa das begriffen haben, ist eine andere Frage.

Wer zu laut von einem fiktiven, nicht näher definierbaren „wir“ spricht, sollte sich nicht wundern, wenn sich mit der Zeit jemand in den Vordergrund schiebt, der laut „Ich“ ruft. Jemand, der sich für den Kopf seiner Partei halten darf, aber nicht bei der Partei Halt machen möchte, ist Markus Söder. Ob Markus Söder immer tut, was er sagt, ist eine gute Frage. Niemand sollte darauf wetten, welche Positionen er in vier oder gar in acht Jahren vertreten wird. Anfang Januar 2025 verkündete er, er wolle nach einem Wahlsieg von CDU und CSU die E-Mobilität fördern. Anzunehmen ist, dass er auch seine Plädoyers für Atom- und gegen Windkraft schnell abräumen wird. Und dass er niemals, wirklich niemals, nein, auf gar keinen Fall, mit den Grünen in einer Regierung zusammenarbeiten wird, ist letztlich – wie vieles in seiner Biographie – wandlungsfähig. Er persönlich wird dies sicherlich nicht tun, denn er wird nach dem 23. Februar 2025 bayerischer Ministerpräsident bleiben und kann daher immer verkünden, dass er nun wirklich nicht mit den Grünen in einer Regierung säße und Bundeskanzler und Koalitionspartner von der Seitenlinie attackieren.

Aber Markus Söder ist nicht das Problem. CDU und CSU bilden immer noch einen der größten konservativen Blöcke in den verschiedenen europäischen Ländern. Viele konservative Parteien wurden in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren marginalisiert (zum Beispiel in Frankreich und in Italien), manche haben sich mehr oder weniger nach rechts radikalisiert (zum Beispiel in Großbritannien und in Polen) oder sehen ihre potenziellen Bündnispartner vorwiegend auf Rechtsaußen (zum Beispiel in Österreich und Spanien). Thomas Biebricher hat diese auf rechts gedrehte Parteienwelt in seinem Buch „Mitte / Rechts“ (Berlin, Suhrkamp, 2023) beschrieben, aber (damals) auch darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland noch weit davon entfernt sind. Stets gab es Personen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die diese Rechtswendung verkörperten: Nicolas Sarkozy, Boris Johnson, Giorgia Meloni, oder auch die großen Vorbilder aller autoritär gestrickten Politiker, Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński.

Die programmatische Annäherung zwischen Konservativen und der politischen Rechten ist ein schleichender Prozess. Ein Vergleich der CSU- und der AfD-Programmatik von 2021 und 2025 ergab, dass sich die CSU zunehmend den Positionen der AfD annäherte, während diese sich noch weiter radikalisierte und so ihren Druck erhöhte. Thomas Balbierer belegte dies in der Süddeutschen Zeitung an den Beispielen Migrationspolitik, Klimaschutz, Energie und geschlechtsgerechter Sprache (vulgo: „Gendern“). Ungeachtet der hohen Zustimmungswerte der CSU in Umfragen erinnert dies doch an den Weg der britischen Tories, der letztlich aber nicht so erfolgreich war wie Boris Johnson und andere sich das vorgestellt hatten. Eine vom Volksverpetzer zusammengefasste Studie belegt, dass nach dem Brexit der Zuzug aus EU-Staaten gesunken, der Zuzug aus Ländern außerhalb der EU jedoch deutlich gestiegen ist. Attraktiv sind offenbar vor allem für wenig Geld arbeitende Arbeitsmigrant:innen.

Die Gefahr einer Verkleinerung des konservativen Blocks in Deutschland zugunsten einer rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Partei sollten wir jedoch nicht unterschätzen, erst recht nicht, wenn die CDU die Regierung nach dem 23. Februar 2025 führen wird, auf jeden Fall mehr oder weniger gemeinsam mit der CSU, gleichviel ob mit der SPD oder den Grünen oder gegebenenfalls noch einem weiteren Partner. Die Regierungsparteien dürften erleben, dass ihre Zustimmungswerte bröckeln. Das kann sich in mancher Landtagswahl auswirken und entspräche im Grunde den Erfahrungen der diversen Bundesregierungen der vergangenen 50 Jahre. Die Landtagswahlen, die deutschen Midterms, waren schon immer ein schwieriges Feld für die jeweiligen Regierungen, nur haben die Wähler:innen heute mehr Alternativen. Es gibt eben schon lange nicht mehr den verlässlichen Wechsel zwischen einer konservativ-christdemokratischen und einer sozialdemokratischen Partei. Noch gibt es keine Koalitionen der CDU mit der AfD auf Landesebene, das unterscheidet Deutschland von Österreich, wo es inzwischen fünf Landesregierungen mit Koalitionen aus ÖVP und FPÖ gibt.

Wenn nun Markus Söder und Friedrich Merz nicht müde werden zu betonen, dass sie mit der AfD keine Regierung bilden werden, ist dies keine Botschaft an die AfD, die das ohnehin schon weiß und für ihre Propaganda zu nutzen versteht, sondern eine Botschaft an eigene Parteimitglieder, die sich erinnern, dass so manche AfD-Position doch vor etwa 40 Jahren in der CDU und in der CSU mehrheitsfähig war. Man muss sich nur damalige Reden und Statements aus konservativen Kreisen zur deutschen Geschichte anhören und mit heutigen Reden aus Kreisen der AfD vergleichen.

Auch in den anderen Parteien setzt man auf einzelne Personen. Robert Habeck wurde der Wunsch nach „Beinfreiheit“ angedichtet, für die eigentlich Peer Steinbrück das Urheberrecht hat. Die SPD setzt auf Olaf Scholz und von der Seitenlinie kommentieren wahlweise Boris Pistorius und Rolf Mützenich. Erstmals kandidiert in Deutschland eine Partei, die ihre Spitzenkandidatin im Namen trägt. Die AfD hat eine Kanzlerkandidatin, die sich als Kanzlerin im Wartestand inszeniert, dazu allerdings dann auch Hilfe von außen zu brauchen scheint, sodass man den Eindruck gewinnen könnte, eigentlich wäre Elon Musk der Spitzenkandidat dieser Partei. Nur die FDP hat keinen Kanzlerkandidaten, aber den braucht sie auch nicht so sehr, weil alle wissen, dass sie eigentlich nur noch aus Christian Lindner besteht. Die FDP hat aber durchaus Chancen, für eine Regierungsbildung nach dem 23. Februar gebraucht zu werden und in einer anderen Konstellation den destruktiven Kurs fortzusetzen, den sie während der Ampel-Ära pflegte. Sofern sie die Fünf-Prozent-Hürde überspringt.

Markus Linden hat diesen Hang zur Personalisierung in einem Essay für den Merkur „neuer Präsidentialismus“ genannt: „Le choix c’est moi“. So agierten in Deutschland zwei Ministerpräsidenten im Herbst 2024. Dietmar Woidke erklärte in Brandenburg, er wolle nur im Amt bleiben, wenn seine Partei vorne läge, und Kevin Kühnert fügte hinzu, es sei „die entscheidende Frage dieses Abends, wer auf Platz eins liegt“. Markus Linden stellt lakonisch fest: „Er verwechselte das parlamentarische mit einem präsidentiellen Regierungssystem.“ Dies tut im Übrigen erst recht, wer das Gerede eines Herbert Kickl, er werde „Volkskanzler“, für wichtiger hält als die erschreckenden anti-europäischen, anti-demokratischen und anti-liberalen Ziele seiner Partei. Es geht „um die Schaffung einer Identitätsfaktion“, mit dem „Ich“, das das neue „Wir“ verkörpert. Allerdings gibt es auch einen anderen Aspekt: „Personen sind abwählbar, Verhandlungsprozesse nicht.“ Daher die ständige Kritik von Oppositionsparteien, die jeweilige Regierung sei einfach nicht in der Lage, das zu liefern, was sie versprochen habe. Im Grunde haben die CDU und die CSU sowie die an der Regierung beteiligte FDP in der letzten Legislaturperiode nichts anderes getan: Alles ist schlecht, nur wir sind gut, wir sind für Atomkraftwerke, Verbrennerautos, gegen Gendern in der Schule, gegen das Bürgergeld, eine lange Liste ließe sich anfügen. Schuld an der wirtschaftlichen Flaute sei die Regierung, vorwiegend SPD und Grüne, und wenn das nicht reicht, muss auch die EU-Kommission einmal als Sündenbock herhalten. Das Ergebnis: In einer Umfrage von Forsa liegen die Europäische Union mit 35 Prozent und der Bundestag mit 31 Prozent ganz weit hinten auf der Liste der Institutionen, denen die Menschen vertrauen.

Immerhin liegt das Bundesverfassungsgericht mit 74 Prozent auf dem dritten Platz hinter Ärzten und Polizei – beide jeweils mit 81 Prozent. Dies ist einerseits ein gutes Zeichen, andererseits aber auch ein weiterer Beleg für die These von Philip Manow, der eine zu weit gehende Verrechtlichung der Politik kritisierte. Anders gesagt: Wenn die Parlamente versagen, holen wir eben die Polizei und ziehen vor Gericht. Die Erfahrung zeigt: Einmal in der Regierung sorgen populistische Parteien sehr schnell dafür, dass Polizei und Gerichte von ihren Parteigängern besetzt werden, damit diese in ihrem Sinne entscheiden. Das ist dann – wie wir zurzeit in Polen erleben – schwer rückgängig zu machen. Donald Trump hat es in seiner ersten Amtszeit geschafft, den Supreme Court mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit republikanischer und zum Teil erzkonservativer Personen zu besetzen. Markus Linden: „Der neue Präsidentialismus verdient sein Adjektiv nicht zuletzt deshalb, weil er über die Nähe zum Populismus hinaus im Kontext anderer Trends steht, die ebenfalls die vermittelnde Sphäre aus angestammten Medien, Parteien und Parlamenten unter Druck setzen.“

Spitze des Eisbergs: Die Debatte um Elon Musk

Der Aufstieg Vladimir Putins hatte viel damit zu tun, dass Oligarchen in den 1990er Jahren im Grunde machten was sie wollten, es aber keine demokratischen Kräfte gab, die sich ihnen wirksam entgegenstellten. Putin wirkte dagegen bescheiden und verlässlich, er galt in einem in Russland verbreiteten Pop-Song als der Mann, der nicht trinkt, der seine Frau nicht schlägt und – wie man dann sah – Oligarchen bekämpfte (außer denen, die ihm selbst nützten). Ob alle, die den Song hörten, gemerkt haben, dass das eine Satire war? Ich möchte Donald Trump nicht mit Putin vergleichen, aber ein Trump hat es überhaupt nicht nötig, sich als jemand Sittenstrenges zu inszenieren, der Frauenrechte achtet und auf Alkohol verzichtet. Man könnte dies geradezu als ein Freiheits-Paradox bezeichnen. Trump ist auch abhängiger von seinen Oligarchen-Freunden als Putin. Man mag ihm alles Mögliche zutrauen, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass demnächst ihm unbotmäßig erscheinende Menschen irgendwo im Ausland aus Fenstern fallen oder vergiftet werden. Ob es in den USA vermeintliche oder gegebenenfalls auf realen Grundlagen beruhende Korruptionsprozesse geben wird wie sie Putin gegen Michail Khodorkovski, Alexej Nawalny und andere betrieb, ist eher denkbar, wenn auch mit anderen Ergebnissen. Finanzieller Ruin in Folge eines solchen Prozesses wäre eine durchaus ernst zu nehmende Drohung.

Mit den Trump verehrenden Oligarchen erleben wir die Macht derjenigen, die es sich leisten können, ihre Position in der Welt zu verbreiten. Das waren früher Zeitungs- und Medienmagnaten vom Schlage eines Rupert Murdoch, Axel Springer oder Silvio Berlusconi. Heute reicht dies nicht aus und man kauft sich ein soziales Netzwerk. Siehe Elon Musk. Kate Conger und Ryan Mac haben ausführlich belegt, wie Elon Musk Twitter zerstörte („Character Limit: How Elon Musk Destroyed Twitter“). Die deutsche Ausgabe erschien im November 2024 bei Rowohlt. Es ist auch eine Beziehungsgeschichte zwischen Trump und Musk: „Einige von Musks Ansichten im Jahr 2024 waren nicht mehr von den Parolen zu unterscheiden, die Trump im letzten Wahlkampf von sich gegeben hatte.“ Die Gründer von Twitter „hatten nichtsahnend eine Plattform entwickelt, die zu einflussreich war, als dass die Superreichen ihr hätten widerstehen können, und so rissen diese sich darum, sie zu kontrollieren.“

Die Debatte um Elon Musk geht aber an den eigentlichen Problemen vorbei. Sie ist nur die Spitze des Eisbergs. Äußern kann sich Elon Musk so viel er möchte. Ob eine deutsche Zeitung ihm ein Forum geben sollte, wie es die WELT tat, ist eine andere Frage. Im Übrigen mischt sich Elon Musk nicht nur in Deutschland ein, auch in Italien und in Großbritannien kritisierte er die jeweiligen Regierungen mit mitunter recht heftigen Worten. WELT-Chefredakteur Jan Philipp Burgard begründete seine Entscheidung im Gespräch mit Michael Hanfeld, das in der FAZ am 2. Januar 2025 veröffentlicht wurde. Burgard sagte, „unsere Aufgabe als Journalisten ist es, Meinungen abzubilden, auch solche, die nicht unseren eigenen und nicht unseren Werten entsprechen. So haben wir in der ‚Welt‘ einen Gastbeitrag des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek gedruckt, der sich offen zum Kommunismus bekennt. Wir hatten Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi als Gastautoren. Wir wollen Debatten anstoßen, wir stehen für Klartext, Kontext, Meinungsfreiheit.“ Er verwies auch auf Wahlaufrufe von Olaf Scholz für Emmanuel Macron und den Abdruck eines Putins-Artikels in der ZEIT im Juni 2021.

Ronen Steinke reagierte in der Süddeutschen Zeitung gelassen: Einmischungen in andere Wahlkämpfe habe es auch von deutscher Seite gegeben, Luisa Neubauer machte Haustürwahlkampf in den USA, Steinmeyer bezeichnete Trump als „Hassprediger“ (und da war er nicht der einzige, der das tat). Der Vorstand der Grünen rief 2023 in der Türkei zur Abwahl von Erdoǧan auf. „Das wirkliche, ernste Problem beginnt erst dort, wo ein Tech-Milliardär deutschen Politikern nicht bloß die Meinung sagen, sondern ihnen im Diskurs effektiv auch den Saft abdrehen kann. Das ist eine Möglichkeit, über die Elon Musk verfügt – zumindest sektoral, in dem sozialen Medium X, das er mitsamt der dort seit Jahren eingespielten Gesprächsräume gekauft hat. Es braucht bloß ein paar kleine Änderungen am Algorithmus. Ein paar interne Klicks, die unter das Betriebsgeheimnis fallen. Schon werden die Stimmen der Rechtspopulisten stärker gepusht, die Stimmen der Moderaten gedimmt.“

Bisher hat keine demokratische Partei ein Konzept, wie man mit der Macht der sozialen Medien umgehen soll. Stattdessen wird – in der Regel wirkungslos – reguliert, reguliert und noch einmal reguliert. Jetzt auch noch Facebook?! Aber warum fluten Demokrat:innen und Liberale nicht Facebook oder X mit ihren Botschaften? Warum unterstützt man nicht in großem Stil Faktenchecker wie CORRECTIV? Auch von der israelischen Armee ließe sich einiges lernen. Warum streicht man Mittel für Demokratieprojekte in Bundes- und Landeshaushalten? Warum sorgt man in den Schulen nicht für eine umfassende Medienbildung, sondern debattiert stattdessen nur darüber, ob Kinder und Jugendliche überhaupt Zugang zu sozialen Netzwerken haben sollten? Augen zu und durch? Was machen die Kinder und Jugendlichen denn dann wohl in der Freizeit?

Die Strategie der populistischen Medien und Partei ist recht einfach: „Antipolitik“ und „Grenzüberschreitung“. Tania Martini merkte anlässlich des 100. Geburtstags von Gilles Deleuze in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an, dass dies ursprünglich eine linke Strategie gewesen sei, die die Rechte okkupiert habe: „Trump und die neue Rechte praktizieren eine Antipolitik, die Politik durch Grenzüberschreitung ersetzt. Ob demokratische Regeln oder institutionelle Verfahrensweisen, ob moralische Übereinkünfte oder geopolitische Verträge. Alles kann zur Spielmasse werden. Darin liegt auch etwas zutiefst Anarchisches. Rhetorik und Praxis der Grenzüberschreitung sind zu einer Domäne der neuen Rechten geworden. Das war nicht immer so.“ Die sozialen Medien sind heute im Grunde das, was unter Linken früher „Gegenöffentlichkeit“ genannt wurde. Autoritäre Regierungen sorgen sehr schnell dafür, dass die gängigen öffentlichen Medien geschwächt und die ihnen wohl gesonnenen Medien so weit gestärkt werden, dass sie sogar eine Monopolstellung einnehmen können. Wir erleben dies zurzeit beispielsweise in der Slowakei. Die Medienunternehmen von Berlusconi profitierten erheblich von seiner Zeit als Regierungschef. Giorgia Meloni kann bei ihren Initiativen zur Schwächung des unabhängigen Journalismus in der RAI darauf aufbauen.

Wir befinden uns in einem hybriden Krieg mit Putins und Musks Netzwerken. In der ZEIT schrieb Georg Diez: „Der Feudalismus ist zurück“. Das, was Musk, Trump, Putin und manch andere ihres Schlags praktizieren, ist „das Gegenteil des demokratischen Diskurses, der auf die Macht des Arguments aufbaut und Streit als etwas sieht, das eine Gesellschaft weiterbringt. In der Brachiallogik von Musks X, das er vom offenen Kommunikationsmedium, das Twitter trotz aller Schwächen war, zu einer algorithmusgetriebenen Propagandamaschine umgebaut hat, gibt es nur Sieger und Verlierer – und die Sieger, das zeigt sich immer deutlicher, profitieren von der machtvollen Verbindung von wirtschaftlichen und technologischen Faktoren.“ Die Strategie ist „Schock“ und „Sprengkraft“ und manche derjenigen, die dies kritisieren, gehen dieser Strategie auf den Leim. „Hier agiert jemand mit fürstlichem Selbstverständnis.“ Es gibt allerdings auch einen Unterschied: Musk versucht die Wahlen in Deutschland ganz offen zu beeinflussen, Putin braucht hingegen dafür seine Geheimdienste.

Libertäre Versuchungen

Verbunden ist der Erfolg einer solchen Schock-Strategie mit dem „Immerschlimmerismus“, so nannte es Bernd Matthies im Tagesspiegel. Jede Kleinigkeit wird hochgespielt, nichts funktioniert mehr, alles geht den Bach runter: „Der Immerschlimmerismus, die deutsche Generalideologie des neuen Jahrtausends, ist dabei nicht hilfreich, er macht nur schlechte Laune, stärkt das Trennende statt des Gemeinsamen. Unzählige Menschen auf der ganzen Welt möchten unsere Probleme haben – behalten wir sie lieber selbst.“ Ein Gegenbild versucht Robert Habeck mit seinem Buch „Den Bach rauf“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2025). Er plakatiert: „Zuversicht“. Ob sich diese Redefigur durchsetzen wird, wird sich zeigen. Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, dass von den drei Regierungsparteien der Ampel die Grünen als einzige die Wahl am 23. Februar 2025 ohne Verluste überstehen könnten.

Die von den demokratischen Parteien im Wahlkampf betriebene Gegenstrategie lautet, alles mit Geld zuzuschütten. Mehr vom Netto, mehr Geld für alle, Steuererleichterungen, Leistung müsse sich wieder lohnen – das gesamte bekannte Arsenal vergangener Wahlkämpfe wird bemüht, aber aus der Erfahrung vergangenen Wahlen weiß die Wahlbevölkerung sehr gut, dass die Versprechungen unerfüllbar sind. Krankenschwestern, Pflegekräfte, Erzieherinnen, Verkäuferinnen an den Supermarktkassen – sie alle werden sich ihren eigenen Reim auf solche Versprechungen machen.

Die Süddeutsche Zeitung hat die versprochenen Wohltaten aufgelistet: „Als Erstes fällt auf, dass die Parteien ihre geplanten finanziellen Verbesserungen sehr unterschiedlich auf die einzelnen Einkommensgruppen verteilen. Sie zerfallen grob in zwei Lager. SPD, Grüne, BSW und Linke wollen vor allem Haushalte mit niedrigen Einkommen und die Mittelschicht finanziell besserstellen – und Beziehern hoher Einkommen eher Geld wegnehmen. / Ganz anders dagegen Union, FDP und AfD: Sie versprechen ein Finanzplus, das mit zunehmendem Gehalt nicht nur in Euro und Cent immer höher ausfallen soll, sondern auch prozentual. Anders gesagt: Je mehr ein Haushalt verdient, desto stärker wird er im Verhältnis zum bisherigen Einkommen entlastet. Fünf bis zehn Prozent mehr sind so für Topverdiener drin, während alle anderen gesellschaftlichen Gruppen weniger bis nichts erhalten.“ Union und FDP scheinen noch an Reagans Trickle-Down-Versprechen zu glauben. Die AfD interessiert sich in keiner Weise für ein solches Trickle-Down. Sie hat ein extrem libertäres Wirtschafts- und Sozialprogramm, das in Thesen der sogenannten „Chicago Boys“ wurzelt und in Javier Millei und Elon Musk die Apolegeten gefunden hat, die am lautesten sagen können: „Alles meins!“

Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn man über die fatalen Konsequenzen der Politik der von Musk gelobten AfD spräche statt sich an einer einzelnen Person, so reich sie auch sein mag, abzuarbeiten? Wer – wie die AfD – den Austritt aus der EU und einen Anschluss an die von Russland geführte Eurasische Wirtschaftsunion in Erwägung zieht, plädiert letztlich für die Zerstörung von Wohlstand, Sozialstaat und Demokratie und sorgt für Abhängigkeit von Russland.

Daraus ließe sich eine Debatte über soziale (Un-)Gerechtigkeit ableiten. Aber wird diese geführt? Zurzeit wohl nur von der Linken, die auf drei Direktmandate hofft, um in den Bundestag einzuziehen, in einigen Umfragen aber auch wieder bei fünf Prozent liegt, zum Teil sogar vor dem BSW. Es bleibt bei CDU, CSU, FDP und SPD, weniger bei den Grünen, bei der Hoffnung auf ein Trickle-Down. Wenn es denen oben besser geht, wird es auch irgendwann denen da unten besser. Dass das nicht funktioniert, ist bekannt, also muss man diese Lücke wiederum damit schließen, dass die Sozialleistungen nicht mehr an Leute ausgezahlt werden, die es angeblich nicht verdienen, weil sie nicht dazugehören oder nicht „fleißig“ genug. Und schon sind wir wieder bei der Migrationsdebatte, die im Grunde in vielen Punkten die Kehrseite der nicht geführten Gerechtigkeitsdebatte ist. Wer aber diese Debatte nicht führt, wird die von Hannes Stein beschriebene Gefahr verstärken.

Europa in höchster Gefahr? Europa ist die Lösung!

All das, was zurzeit geschieht, ist nichts Neues. Es ließe sich gut analysieren, wenn man den Peleponnesischen Krieg von Thukydides läse. Andreas Kilb empfahl allen Politiker:innen, dieses Buch „im Reisegepäck (zu) haben“. „Die attische Volksherrschaft war nie demokratisch in unserem heutigen Sinn; nur Vollbürger, also ein Bruchteil der Bevölkerung, nahmen aktiv an ihr teil. Trotzdem hatte das komplizierte, von Kleisthenes ersonnene Regelwerk etwa siebzig Jahre lang funktioniert. Aber schon bald war die eigentliche Macht in die Hände einzelner Männer gelangt, die die Volksversammlung in ihrem Sinn zu lenken verstanden, und nach Kriegsausbruch wurde der athenische Staat endgültig zum Spielball von Demagogen. Auf den maßvollen Perikles folgte der rabiate Populist Kleon, auf diesen der neureiche und abergläubische Nikias, und zuletzt kam mit Alkibiades eine Mischung aus Popstar und Despot ans Ruder, ein ebenso genialer wie skrupelloser Abenteurer, der mal seine Landsleute an Spartaner und Perser, mal diese an die Athener verriet.“ Eine Schlüsselstelle ist der Melier-Dialog im fünften Buch, der sich auf das Verhältnis zwischen Putins Russland und der Ukraine und auch manch andere imperialistische Aktion anwenden ließe. Die Melier hatten keine Unterstützung, das war ihr Untergang. Die Ukraine hat Unterstützung. Noch hat sie sie, aber haben die Europäer begriffen, dass Putin nicht nur die besetzten Teile der Ukraine beansprucht?

Wer meint, jedes Bemühen um eine funktionierende – das heißt auch abschreckende – Verteidigungspolitik als „Kriegstreiberei“ anprangern zu müssen, hat nicht verstanden, in welcher Gefahr Europa ist. Ich würde sogar von „Realitätsverlust“ sprechen. Es gibt nun wirklich niemanden in der EU oder in der NATO, der einen Angriffskrieg vorbereiten wollte. Claudia Major, die ab März 2025 beim transatlantischen Thinktank German Marshall Fund für transatlantische Sicherheit zuständig sein wird, formulierte im Gespräch mit Jörg Lau und Rieke Havertz für die ZEIT eine entscheidende Frage, der sich die europäischen Staaten stellen müssen, nicht zuletzt Deutschland, das aufgrund seiner Größe die Rolle einer Führungsmacht hat, gleichviel ob Deutschland das will oder nicht. „Militärische Gewalt löst keine Probleme? Aus russischer Sicht funktioniert das super. Wir sind in einer Umbruchphase, in der unsere liberalen Demokratien infrage gestellt und unterwandert werden. Nicht nur über Kriege, auch über Propaganda und Sabotage, etwa von kritischer Infrastruktur. Darauf sind wir verdammt schlecht vorbereitet.“

Zurzeit sieht es so aus, dass Europa vor allem auf Giorgia Meloni, Donald Tusk und Ursula von der Leyen zählen kann. Es ist dringend an der Zeit, dass auch Deutschland und Frankreich wieder ernst zu nehmende Akteure in der Europäischen Union werden und aufhören, sich an Trump, Musk und Orbán abzuarbeiten. Noch weiß niemand, wie viel Show hinter Trumps Inszenierung am 20. Januar 2025 stand und wie viel davon in den nächsten Wochen oder Monaten noch Bestand haben wird. Trumps Antrittsrede war eine Fortsetzung seines Wahlkampfs, in den Worten eines Kommentars von Andreas Ross in der FAZ: „Trump überwältigt Freund und Feind“. Und so geht es mit seinen „executive orders“ weiter, gleichviel wie viele davon Bestand haben werden. Die Demokraten sind noch in Schockstarre, sodass zurzeit nur Gerichte ein Gegengewicht bilden können. Es ist bekannt, dass Trump nur diejenigen leiden mag, die sich ihm unterwerfen. Aber genau den Gefallen sollte ihm niemand tun. Das werden übrigens nicht einmal die Milliardäre tun, die ihn jetzt noch hofieren. Auch das ist Show.

Es gibt Hoffnungsschimmer, die polnische Wahl vom 15. Oktober 2023, die Stärke der Zivilgesellschaften in vielen Ländern, in der Slowakei, in Italien, in Georgien, auch der Sturz von Assad in Syrien oder die Regierungswechsel in Bangladesh und im Senegal. Selbst in Ungarn gab es bei den Europawahlen keine Mehrheit mehr für die Partei von Viktor Orbán. Es spaltete sich eine neue konservativ-liberale Partei unter Peter Magyar ab. Autokraten können sich nicht darauf verlassen, dass sie auf Dauer ihre Mehrheit behalten, so zuletzt in Indien geschehen. Und nicht zuletzt: Die Ukraine hat sich gegen Putins Truppen gut behauptet und hätte dies sicherlich noch besser tun können, wenn die NATO-Staaten, nicht zuletzt Deutschland zumindest mehr Luftabwehrsysteme geliefert hätten. Im Grunde ist Putin nicht viel weitergekommen als er schon 2014 war. Nur könnte er jetzt möglicherweise endlich das erreichen, was er immer schon wollte: Verhandlungen mit den USA, möglichst ohne Ukraine und Europa, Zeit sich zu regenerieren und dann in einigen Jahren auch den Rest der Ukraine (und nicht nur diese) anzugreifen.

Wer mehr über die europäischen Irrungen und Wirrungen lesen möchte, lese Robert Menasse, seine Romane und seine Essays. Am 20. Mai 2010, auf dem Höhepunkt der damaligen Finanzkrise rund um Griechenland, schrieb er in der ZEIT: „Die Regierungschefs, die im Rat sitzen, haben weder den Mut, ihren Wählern die Wahrheit zuzumuten, noch (in der Regel) die politische Größe, über die Legislaturperiode hinaus zu denken.“ Und heute? Es wird nicht nur, aber viel von der deutschen Positionierung abhängen. Vor allem sollten wir einen Donald Trump oder Elon Musk nicht zur Schlange und uns nicht zu Kaninchen machen (lassen). Navid Kermani brachte es in seinem Gastbeitrag „Musk gegen die Demokratie“ in der ZEIT auf den Punkt: „Viel wichtiger als die Frage, ob der nächste Bundeskanzler auf die Neuaufnahme von Schulden oder die Reduzierung von Ausgaben setzt, ist daher: Wird er ein entschiedener Europäer wie zuletzt Helmut Kohl sein?“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2025, Internetzugriffe zuletzt am 31. Januar 2025. Titelbild: Hans Peter Schaefer aus der Serie „Deciphering Photographs“.)