Der gewandelte Jurist

Ein Portrait von Lothar Kreyssig, Gründer der Aktion Sühnezeichen

„Musste nicht die Juden, Polen, Russen, Franzosen das Unterfangen, gewissermaßen mit einem Blumenstrauß und einem Gastgeschenk in der Hand, besuchsweise Versöhnung zu stiften, genauso deutsch anmuten wie zuvor der Kampf von Rassenwahn und Weltgeltung?“ (Lothar Kreyssig, Autobiographischer Bericht: „Warum? Wozu? Wieso?“, 1979, abgedruckt in: Hans Joachim Döring, Hg., Lothar Kreyssig – Aufsätze, Autobiografie und Dokumente, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2011)

Ob und wie weit sich die deutsche Gesellschaft von ihren mörderischen Traditionen – Antisemitismus, Rassismen und völkischer Nationalismus – gelöst hat, ist umstritten. In diesem Essay wird nacherzählt, wie weit sich Lothar Kreyssig aus seinen familiären Ideenwelten und Traditionen löste. Lothar Kreyssig (geboren am 30. Oktober 1898, verstorben am 5. Juli 1986) war Soldat, Burschenschaftler und Jurist. Der glühende Nationalist, der sich als Schüler 1916 freiwillig in den Ersten Weltkrieg meldete, veränderte seine ethischen Lebensmaximen so weit, dass er als einziger deutscher Jurist und Mitglied der Bekennenden Kirche Klage gegen die Euthanasie-Verbrechen erhob und auf seinem Bauernhof in Brandenburg, gemeinsam mit seiner Frau, während des Nationalsozialismus zwei Jüdinnen das Leben rettete. Kreyssig und seine Frau werden heute in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Lothar Kreyssig rief im Jahr 1958 die protestantische Aktion Sühnezeichen ins Leben. Er leitete die DDR-Sektion des in beiden deutschen Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus existierenden christlichen Netzwerks bis 1969. Vielen Jugendlichen war sein Widerstand ein Vorbild. Sein bedeutendster Biograf, der DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß (*1942), sieht ihn am Ende seiner Wandlungen als einen „leidenschaftlichen Demokraten“. Kreyssig hat das Ende der DDR nicht erlebt und dennoch entscheidend geprägt.

„Schreibknecht Gottes“

Lothar Kreyssig wurde 1898 im sächsischen Flöha geboren. Sein Vater Paul war Getreidegroßhändler, seine Mutter Anna stammte aus dem Vogtland. Der Vater, ein Alkoholiker, war streng, aber liebte Bücher und Musik. Lothar besuchte die Grundschule und wechselte dann auf das Gymnasium nach Chemnitz. Er las gerne, schrieb Gedichte und lernte Geige. Die Familie war wohlhabend.

Zu seiner Jugend gibt es nur wenige Quellen. Jedoch ist erkennbar, dass er sich als Teil der deutschen Elite sah. Seine Zukunft sah er als „Marineoffizier“.  Er meldete sich als Kriegsfreiwilliger, legte ein Notabitur ab und wurde 1917 in ein Artillerieregiment eingezogen. Zum Marineoffizier fehlten ihm die adeligen Eltern.

Als Soldat zog er in die Vogesen, dann nach Französisch-Flandern, an die Ostfront nach Livland und Estland. Seinem Tagebuch vertraute er an, der Krieg habe in ihm „Gefühlsstürme“ entfacht, „die ihn mit der Sehnsucht nach endlicher aktiver Beteiligung ohne rechte Besinnung von Tag zu Tag“ fortrissen.

Diese Leidenschaften legten sich mit der deutschen Niederlage, den Versailler Verträgen und der Entstehung der ersten demokratischen Republik nicht. Da der Traum Marineoffizier nicht verwirklichbar war, wollte er nun als Jurist der deutschen Elite angehören. Er studierte in Leipzig und schloss sich der schlagenden Burschenschaft Grimensia an. Eine große Narbe entstellte seither sein Gesicht. In seinem autobiografischen Bericht schrieb er: „In Leipzig Vertreter der Waffenstudenten in der studentischen Selbstverwaltung, bei jedem nationalen Krawall dabei, Mitglied einer alten schlagenden Korporation, sogar Soldat im Zeitfreiwilligenregiment mit Gewehr und Handgranaten im Kleiderschrank der Studentenbude.“

Seine erste Studenten-Wohnung fand Kreyssig bei einem Freund seines Vaters. Er verliebte sich in dessen Tochter Johanna. Sie heirateten und hatten drei Söhne. Peter wurde 1924 geboren, Jochen 1929 und Uwe 1930. Seine berufliche Karriere als Richter begann Kreyssig 1926 am Landgericht Chemnitz.

Der Tod seines Vaters 1928 traf ihn hart. Ein Freund empfahl ihm als Tröstung die Schriften des Musikers, christlichen Mystikers und Autors Jakob Lorber (1800 – 1864, hierzu: Jakob Lorber / Hutten, Kurt: Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 1982). Ihre Lektüre bildete für Kreyssig, so schrieb er, „eine das Gehäuse sprengende, geballte Ladung.“ Lorber selbst begriff seine Texte als „Diktat Gottes“, das ihn veranlasst hatte, seinen Dirigentenberuf aufzugeben und sich in einen „Schreibknecht Gottes“ zu verwandeln. Kreyssig regten Lorbers Texte dazu an, sein Leben in den Dienst des christlichen Glaubens zu stellen.

Angeregt durch Werke Oswald Spenglers und Rudolf Steiners besuchte er außerdem Kurse des „Versuchsrings Anthroposophischer Landwirte“ und begann sich mit seiner Frau auf eine Existenz als Bauer vorzubereiten.

Rettungswiderstand in der NS-Zeit

Als Hitler 1933 die Macht übergeben wurde und die Nationalsozialisten eine Terrorkampagne gegen Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten starteten, reagierte Kreyssig zunächst nicht. Er entwarf ein Gesuch zur Entlassung aus dem Richteramt, schickte es aber nicht ab. Stattdessen bereitete er sich auf einen „Konfliktfall im richterlichen Amtsbereich“ vor.

1934 trat er der „Bekennenden Kirche“ bei, die, anders als die „Deutschen Christen“, das Alte Testament, die jüdische Bibel als Teil ihrer eigenen Tradition annahm. Kreyssig sprach von Juden als den „älteren Brüdern“ der Christen. Von einer Auseinandersetzung mit jüdischen Traditionen außerhalb des Alten Testamentes ist bei ihm jedoch nichts bekannt. Das unterschied ihn von einem anderen Mitglied der „Bekennenden Kirche“: Hermann Maas (1877 – 1970, siehe Markus Geiger, Hermann Maas – Eine Liebe zum Judentum. Heidelberg 2016). Dieser Pfarrer aus Heidelberg betrieb während des Nationalsozialismus ein ganzes Netzwerk zur Rettung von Juden, er hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg den 6. Zionistenkongress in Basel besucht.

Lothar Kreyssig 1974, Foto: Jürgen Pieplow

Zum Konflikt mit dem Justizapparat kam es – Kreyssig hatte sich inzwischen nach Brandenburg versetzen lassen und war als Vormundschaftsrichter tätig –, als er erfuhr, dass einige der Menschen mit geistiger Behinderung, für die er die Vormundschaft ausübte, spurlos aus Kliniken verschwanden. Er ordnete einen Stopp der Verlegungen an. In einem Schreiben an den Justizminister protestierte er, dass im Namen der Ideologie „Recht ist was dem Volke nützt“ ganze „Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen“ seien, zum Beispiel Konzentrationslager, Heil- und Pflegeanstalten.

Der drohende Hinweis, dass die Euthanasiemorde von Hitler befohlen und daher als Recht anzusehen wären, bremste ihn nicht. Als er bei einer Vorladung ins Justizministerium erfuhr, dass Reichsleiter Philipp Bouhler (1899-1945) für die Morde der Aktion T4 zuständig war, erstattete er Anzeige gegen ihn. Der Anzeige ging niemand nach, die Anstaltsmorde fanden weiterhin statt, Kreyssig wurde in den Ruhestand versetzt. Er blieb der einzige deutsche Richter, der Euthanasiemorde anzeigte und die ihm anvertrauten Menschen zu retten versuchte.

Lothar Kreyssig und seine Frau erwarben 1937 einen Bauernhof in Hohenferchesahr. Um zu renovieren und mit biologisch-dynamischer Wirtschaftsweise zu beginnen, beantragte Kreyssig unbezahlten Urlaub. Er schrieb, dass er sein gesamtes Eigentum „im Sinne des Vierjahresplanes“ mobilisiere, um „drei Jungens zu echten und handfesten Deutschen zu erziehen.“

Trotz solcher Worte verstand er den Hof nicht als völkische Siedlung, sondern als Glaubensgemeinschaft und nannte ihn „Bruderhof“. Hier wurden später auch zwei Jüdinnen, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und andere Menschen aufgenommen. Man aß gemeinsam und fand sich mehrmals am Tag zum Gebet zusammen.

Kreyssig begann sich aktiv an der Rettung von Juden zu beteiligen, seit es ihm im Winter 1942 nicht gelang, einen jüdischen Flüchtling zu retten. Als er den Mann gerade aus Berlin auf seinen Hof mitnehmen wollte, klingelte es an dessen Türe. Der Flüchtling wurde zur Deportation abgeholt. Kreyssig versprach ihm beim Abschied, ihn am kommenden Tag in einem Zwischenlager von Berlin aufzusuchen und ihn dort herauszuholen. Da er jedoch von anderen Mitgliedern der „Bekennenden Kirche“ beschworen wurde, sich selbst nicht zu gefährden und den Flüchtling nicht aus dem Lager zu holen, brach er sein Versprechen. Das Foto des Flüchtlings, das dieser Kreyssig beim Abschied geschenkt hatte, trug er seit dieser Zeit bei sich.

Gnade vor Recht?

Mit dem Ende des Krieges brach Kreyssigs Engagement nicht ab. Ein Friedensvertrag, in dem der Umfang der Verbrechen der Deutschen zusammengefasst und Wege zur Entschädigung und Hilfe für Opfer und Überlebende festgelegt worden wäre, kam weder auf der Potsdamer Konferenz noch danach zustande. Die Bundesrepublik begann immerhin im Jahr 1952 mit dem Luxemburger Abkommen (siehe hierzu Dan Diner, Rituelle Distanz – Israels deutsche Frage, München 2015). Die DDR verweigerte selbst dies mit Verweis auf die neue antifaschistische Ordnung des Arbeiter- und Bauernstaates.

Kreyssig machte sich vor allem Sorgen um eine mögliche Teilung Deutschlands. Er übernahm deshalb auch ohne Vorbehalte den Auftrag des sowjetischen Oberstkommandierenden von Halle, Konrad Adenauer ein neutralisiertes Gesamtdeutschland anzubieten, wenn er auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik verzichte: „Dass Deutschland, soeben durch den frevelhaftesten Krieg aller Zeiten gezeichnet, Kristallisationspunkt für einen lebensnotwendigen Weltfrieden werden könnte (…) war mir ganz nach dem Sinn.“

Die Entnazifizierung der Alliierten schätzte Kreyssig nicht. Als 1946 in Nürnberg die Urteilsverkündung gegen die Hauptkriegsverbrecher herannahte, schlug er einen Fürbittegottesdienst vor. In einem Brief, den Konrad Weiß in seiner Biographie von Konrad Weiß „Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung“ (Gerlingen 1998) zitiert, argumentierte er, man werde erleben, „dass die Welt von Rechts wegen in der Verurteilung der Angeklagten einig ist. Umso mehr muss die Kirche dieser Überwältigung durch den Nomos das Zeugnis entgegensetzen, daß bei Gott vielmehr Gnade“ sei. Zwar müsse ein Christ dem Recht „den Lauf lassen“, aber auf „dem Weg zum Henker der fremden Sieger“ gebühre den Verurteilten „das Geleit der Deutschen.“ Kreyssig praktizierte diese „Solidarität der begnadigten Sünder“. Wie ein Informant des Ministeriums für Staatssicherheit im Sommer 1957 notierte, intervenierte – wie Hans-Joachim Döring dokumentiert – Kreyssig mehrfach für angeklagte Nationalsozialisten. Welcher Vergehen die von ihm unterstützten Nationalsozialisten beschuldigt wurden, erläutert der Bericht des MfS nicht.

Versöhnung oder Sühne?

Kreyssig wusste, dass er in der DDR als Richter keine Chance haben würde und begann eine Karriere als Kirchenfunktionär. Am Rande einer Synode der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) verlas er am 30. April 1958 den Gründungsaufruf zu einer „Aktion Versöhnungszeichen“ und sammelte unterstützende Unterschriften. Eine Chronik zur Geschichte der Aktion Sühnezeichen bietet die Festschrift zum 60jährigen Bestehen des Netzwerks.

Aktion Sühnezeichen – Wand in Coventry Cathedral, Kunstschmied Fritz Kühn, Fotorechte: Aktion Sühnezeichen

Der Aufruf, überschrieben mit „Wir bitten um Frieden“, begann mit der Feststellung, Deutsche hätten den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und damit „mehr als andere unmeßbares Leiden der Menschheit“ verschuldet. Deutsche hätte in „frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden“ ermordet, sie hätten „nicht genug getan, es zu verhindern“. Es gäbe bislang immer noch keinen Frieden, weil „zu wenig Versöhnung“ geschehe. Man könne Bitterkeit und Hass in Deutschland etwas entgegensetzen, „wenn wir selbst wirklich vergeben, Vergebung erbitten“ und diese „Gesinnung“ praktiziert werde. „Des zum Zeichen“ bitte man die „Völker“, die Gewalt von den Deutschen „erlitten haben“, zu „erlauben“, dass man in „ihrem Lande etwas Gutes“ tue. Ein Dorf, ein Krankenhaus wolle man als „Sühnezeichen“ errichten. Mit Polen, Russland und Israel wolle man beginnen.

Nach kritischen Diskussionen benannte er die Organisation im Juli 1958 in „Aktion Sühnezeichen“ um. Die Tätigkeiten junger Deutscher in den von den Deutschen überfallenen Ländern und Israel wurden jedoch von Lothar Kreyssig nicht als symbolische Anerkennung der verletzten Rechte der Ermordeten und auch nicht als nur deren symbolische Entschädigung angesehen, die einer noch ausstehenden Verurteilung der Täter und Entschädigung der Opfer lediglich den Weg bahnen sollte, sondern als „Versöhnungstat“ selbst, mit der die Beteiligten begännen, sich Gottes Worten zu öffnen.

Es fehlte in dem Aufruf jeder Hinweis, dass eine wesentliche Voraussetzung der Shoah der christliche Antisemitismus war. Es fehlte auch jeder Hinweis, dass weder die Zahlungen der Bundesrepublik noch die verweigerten Reparationen der DDR und die in beiden Gesellschaften abgebrochene Entnazifizierung in irgendeiner Weise eine angemessene Reaktion auf die Shoah und die anderen deutschen Verbrechen darstellten. Eine ausführliche Darstellung dieser Defizite formuliert Anton Legerer in dem Buch mit dem vielsagenden Titel „Tatort: Versöhnung“.

Ob die Teilnehmenden der Projekte von „Aktion Sühnezeichen“ ihr Engagement so verstanden, wie es der Aufruf formulierte, wissen wir nicht. Eine umfassende Untersuchung fehlt. Das Netzwerk existiert bis heute und betreut Projekte in vielen von den Deutschen überfallenen Ländern und in Israel. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pflegen KZ-Gedenkstätten, unterstützen Shoah-Überlebende oder arbeiten in sozialen Einrichtungen. Vorliegende Berichte zeigen, dass vor allem die Besuche an den Orten der deutschen Verbrechen und die Begegnung mit überlebenden Opfern den Beteiligten eine Vergegenwärtigung der Untaten ermöglichen und dadurch ein Überdenken familiärer Prägungen anstoßen können.

Das Vermächtnis

Lothar Kreyssig beendete seine Arbeit für „Aktion Sühnezeichen“ 1969 und zog mit seiner Frau 1971 in die Bundesrepublik. Er verfasste 1979 seinen bereits zitierten autobiografischen Bericht. Er starb 1986.

Lothar Kreyssig, 1979, Foto: Frithjof Meußling

„Aktion Sühnezeichen“ hatte in beiden deutschen Gesellschaften erheblichen Einfluss auf die Auseinandersetzung von Jugendlichen mit den deutschen Verbrechen, insbesondere mit der Ermordung der europäischen Juden. Im offiziösen antifaschistischen Gedenken der DDR wurde der christliche Widerständler Lothar Kreyssig nicht geehrt. Auch in der Bundesrepublik Deutschland geschah das kaum. Hier waren erneut viele der Juristen im Amt, die nationalsozialistisches Unrecht juristisch vorbereitet, umgesetzt und gerechtfertigt hatten. Erardo Rautenberg dokumentiert dies in seinem Aufsatz „Lothar Kreyssig – Ein ‚verwandelter‘ Jurist“, der ebenfalls in dem bereits zitierten von Hans-Joachim Döring herausgegebenen Band nachlesbar ist.

Viele Jugendliche orientierten sich in beiden deutschen Staaten an Lothar Kreyssigs Beispiel und beteiligten sich an Projekten von „Aktion Sühnezeichen“. Der Filmregisseur, Politiker und Publizist Konrad Weiß, der die bis heute maßgebliche Biographie Kreyssigs schrieb, war einer dieser Jugendlichen. 1942 in Lubań (Polen) geboren, wuchs er in Genthin auf. Sein Vater starb an den Folgen der Flucht aus Polen. Nach dem Abitur arbeitete Konrad Weiß beim katholischen Seelsorgeamt in Magdeburg. In dieser Zeit beteiligte er sich 1965 an der ersten Reise von „Aktion Sühnezeichen“ nach Auschwitz und publizierte im Samisdat.

Als einen seiner besten Texte sieht Weiß, der am 18. März 1990 als Abgeordneter von Bündnis 90 in die DDR-Volkskammer gewählt wurde, die erste Grundsatzerklärung des neuen Parlaments vom 12. April 1990. Sie wurde maßgeblich von ihm formuliert und später dem Einigungsvertrag der beiden deutschen Staaten als Begleitmaterial beigefügt. Es ist die erste und einzige Erklärung einer DDR-Institution, in der Verantwortung und Haftung für die Shoah und die anderen deutschen Verbrechen übernommen wurde.

Der 12. April 1990 war auch der Tag, an dem die Volkskammer – auf Forderungen des Jüdischen Kulturvereins und des Runden Tisches am 12. Februar 1990 hin – beschloss, in der Sowjetunion verfolgten Jüdinnen und Juden in der DDR eine neue Heimat anzubieten. Die westdeutsche Bundesregierung versuchte die Übernahme dieses Beschlusses für die vereinigte Bundesrepublik zu verhindern. Die Ministerpräsidenten der vereinigten Bundesrepublik übernahmen jedoch, auf Anregung der ersten Ausländerbeauftragten Ost-Berlins Anetta Kahane, die Regelung. Diese Geschichte kann man sehr gut in der Autobiographie Anetta Kahanes „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ (Berlin 2004) nachlesen.

Die Präambel der Grundsatzerklärung vom 12. April 1990 liest sich wie die ersten Zeilen des Gründungsaufrufs von „Aktion Sühnezeichen“. Konrad Weiß war, als er den Aufruf formulierte, Leitungsmitglied der Organisation. Es heißt dort, dass durch Deutsche während des Nationalsozialismus „den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt“ worden sei. „Nationalismus und Rassenwahn“ hätten zum Völkermord insbesondere an „den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma“ geführt. Die Erklärung ist jedoch frei von der entschuldenden Versöhnungs- und Friedensrhetorik, die den Kreyssigschen Aufruf 1958 auszeichnete. Konrad Weiß schrieb in seiner Kreyssig-Biografie, es könne nicht „Sache der Deutschen sein, Vergebung zu gewähren und Versöhnung zu verlangen.“

Das Foto des ermordeten jüdischen Flüchtlings

Mit Lothar Kreyssig begegnet uns ein Mensch, der beeindruckt und geprägt durch seine Lektüre der Bibel seine früheren Haltungen änderte, in der NS-Zeit sogar seine Karriere als Jurist riskierte, um wenigstens zu versuchen, die Rechte bedrohter, geistig behinderter Menschen einzuklagen, sie zu retten und der gemeinsam mit seiner Frau zwei Jüdinnen das Leben rettete. Kreyssig trug, sich selbst zur Mahnung, sein Leben lang die Fotografie des jüdischen Flüchtlings mit sich, den er im Dezember 1942 in Berlin nicht gerettet hatte.

Kreyssigs Blick für die Rechte der Ermordeten und Überlebenden der deutschen Verbrechen trübte sich nach der Shoah. Statt weiter unbeirrt ihre Rechte einzufordern, die Geschichten ihrer Verfolgung und Ermordung zu berichten, christlichen Antisemitismus als Voraussetzung der deutschen Verbrechen anzuprangern, wie das der ebenfalls zur „Bekennenden Kirche“ gehörende Pfarrer Herman Maas tat, plädierte Kreyssig für eine „Solidarität der begnadigten Sünder“ und ermunterte frühere Täter und ihre Nachfahren lediglich zur Umkehr zum christlichen Glauben und zu karitativer Hilfe für Opfer deutscher Verbrechen, die er als „Versöhnungstat“ ansah.

Trotzdem eröffnet die von ihm gegründete „Aktion Sühnezeichen“ Räume in beiden postnationalsozialistischen Gesellschaften, in denen Täter, Täterkinder und Täterenkel bis heute beginnen können, die Shoah und die anderen deutschen Verbrechen zu erkennen. Die Begegnung mit dem christlichen Widerständler Lothar Kreyssig, die Besuche an den Orten der deutschen Verbrechen und die Begegnung mit Überlebenden ermutigten manche, die ausgebliebene Verurteilung vieler Täter und ausstehende Entschädigung vieler Opfer anzumahnen und das Versprechen abzugeben, Verantwortung und Haftung für die Verbrechen ihrer Eltern und Großeltern zu übernehmen. Außerdem organisieren sie selbst Unterstützung für Überlebende der Shoah und anderer deutscher Verbrechen. Das ersetzt ausgebliebene Verurteilungen der Täter, Würdigung und Entschädigungen der Opfer nicht, aber mildert sie ein wenig.

Zum Weiterlesen:

  • Irene Aue-Ben-David, Aya Elyada, Moshe Sluhovsky, Christian Wiese: Jews and Protestants, Berlin, De Gruyter, 2020.
  • Christiane Baltes: Der Umgang mit dem Sühnebegriff in der frühen Bundesrepublik am Beispiel der Reaktion der Evangelischen Kirche auf die Aktion Sühnezeichen (1958–1964), Norderstedt, Magisterarbeit GRIN, 2006.
  • M. Martin Chung: Repentance for the Holocaust. Lessons from Jewish Thought for Confronting the German Past, New York, Cornell University Press, 2017.
  • Dan Diner, Rituelle Distanz – Israels deutsche Frage, München 2015.
  • Hans Joachim Döring (Hg.): Lothar Kreyssig. Aufsätze, Autobiografie und Dokumente, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2011.
  • Hans Joachim Döring (Hg.): Lothar Kreyssig und Walter Grundmann, Evangelische Verlagsanstalt, Weimar, 2014.
  • Markus Geiger: Hermann Maas – Eine Liebe zum Judentum, Buchreihe Stadt Heidelberg, Heidelberg, 2016.
  • Kurt Hutten: Seher, Grübler, Enthusiasten, Evangelische Verlagsanstalt, Stuttgart 1982.
  • Ute Jeromin: Sommerlager-Geschichten, Sensus Verlag, Leipzig, 2014.
  • Anetta Kahane: Ich sehe was, was Du nicht siehst, rowohlt Berlin, Berlin 2004.
  • Gabriele Kammerer: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Lamuv, Berlin, 2008.
  • Lothar Kreyssig: Gerechtigkeit für David, Evangelische Verlagsanstalt, Berlin, 1949.
  • Anton, Legerer: Tatort: Versöhnung. Aktion Sühnezeichen in der BRD und in der DDR und Gedenkdienst in Österreich, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2011.
  • Karl-Klaus Rabe: Umkehr in die Zukunft, Lamuv, Bornheim-Merten, 1983.
  • Ansgar Skriver: Aktion Sühnezeichen, Kreuz-Verlag, Stuttgart, 1962.
  • Konrad Weiß: Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung, Bleicher Verlag, Gerlingen 1998.
  • Susanne Willems: Lothar Kreyssig. Vom eigenen verantwortlichen Handeln, Verlag Aktion Sühnezeichen, Berlin, 1995.

Martin Jander, Berlin

(Anmerkungen: Martin Jander (*1955) ist promovierter Historiker. Seine Dissertation verfasste er 1995 zum Themenbereich DDR-Opposition. Er unterrichtet moderne deutsche Geschichte im europäischen Kontext an den Dependancen der Stanford University in Berlin sowie im Programm von FU-BEST. Letzte Publikationen, gemeinsam herausgegeben mit Anetta Kahane: Gesichter der Antimoderne, Baden-Baden 2020, sowie Juden in der DDR, Leipzig 2021. Erstveröffentlichung im Dezember 2022, Internetzugriffe zuletzt am 29. November 2022. Verwendung aller Fotos im Text nur nach Genehmigung durch die Aktion Sühnezeichen. Das Titelbild zeigt ein Denkmal in Babyn Jar, Foto und Rechte: Katja Makhotina.)