Dezemberblues 2020

Eine Polemik und viele viele viele Fragen

In meinen bisherigen Essays zur Pandemie habe ich mich um eine möglichst sachliche Darstellung der vielen verschiedenen Aspekte bemüht, die eine kohärente Strategie schaffen, fördern oder auch verhindern könnten. Einige satirische Spitzen sind davon unbenommen.  Meine bisherigen Texte zur Pandemie referieren vielfältige Forschungsergebnisse und Statements, die verschiedene Buchverlage, Zeitungen und Organisationen in dieser Zeit jenseits der dominanten Disziplin unserer Zeit, der Virologie veröffentlicht haben. Viele Dinge, die damals aufgeschrieben wurden, gelten weitestgehend nach wie vor.

Doch am 14. Dezember 2020 – einem Tag nach der Verkündung des zweiten sogenannten „harten Lockdown“ durch Bundeskanzlerin und Ministerpräsident*innen – halte ich einen weniger sachlichen Ton für angebracht, mit einem Hauch von Blues, einem Schuss Polemik, alles gewürzt mit einer Prise Sarkasmus, nicht wegen der Entscheidungen, sondern weil die Frage beantwortet werden sollte, was in den vergangenen Monaten nicht entschieden und nicht bedacht worden ist.

Die vergangenen Monate – ich bin versucht, das gesamte Jahr 2020 zu nennen, zu dessen Beginn der Bundesgesundheitsminister noch davon überzeugt war, dass die Entwicklung in China uns nicht beträfe – sind eine Zeit, in der politische Ad-Hoc-Entscheidungen, Entscheidungen von der Hand in den Mund, die sich nicht immer an Infektionszahlen, oft genug an Stimmungslagen diverser Gruppen der Bevölkerung orientierten, mit einer Fülle verpasster Gelegenheiten einhergehen. Es sind meines Erachtens weniger die Entscheidungen, die jetzt unser alltägliches Leben erschweren und zumindest die berufliche Zukunft großer Teile der Bevölkerung gefährden, als die Entscheidungen, die nicht getroffen wurden. Manche dieser Gefährdungen, die jetzt absehbar sind, gäbe es bei frühzeitigen und angemessenen Entscheidungen möglicherweise gar nicht.

Ein solcher Rückblick hat nichts mit Vergangenheitsbewältigung oder nachtragender Schuldzuweisung zu tun. Wir brauchen einen solchen Rückblick, um die Zukunft überhaupt gestalten zu können. Wir brauchen nicht nur eine langfristige Strategie zur deutlichen Senkung der Infektionszahlen, sondern auch eine umfassende Analyse, welche Gelegenheiten wir verpasst, welche Entscheidungen nicht getroffen, auf die lange Bank geschoben, aus welchen Gründen auch immer verhindert wurden.

Stubenarrest für alle

In der Süddeutschen Zeitung erschien am 14. Dezember ein Artikel von Stefan Braun mit dem Titel „Das haben sich alle gemeinsam eingebrockt“. Der Titel erweckt den Eindruck, als hätten wir alle verdient, was jetzt geschieht, unterschiedslos. Es geht mir nicht um diesen konkreten Artikel. Er ist meines Erachtens ein Symptom für die dominierende Kommunikationsstrategie der verantwortlichen Politiker*innen und vieler Medien. Zur Ehrenrettung des Autors: er nennt in der Tat einige der Versäumnisse der vergangenen Monate und schließt somit in seine Philippika das Gros der verantwortlichen Politiker*innen mit ein, was diese in der Regel, selbst dann, wenn sie den Gestus affektierter Bescheidenheit pflegen, eher vermeiden.

Mir fällt aber auch auf, dass sich der Autor in das „sich“ offenbar nicht sich selbst mit einbezieht, denn sonst hätte er „uns“ geschrieben. Ich habe den Eindruck, dass dieser Artikel etwas sichtbar macht, das sich wie ein roter Faden durch die meisten politischen Statements der letzten Wochen zieht. Der Titel klingt sehr nach einer Gardinenpredigt mit unbestimmten Adressat*innen. Verantwortlich für die steigenden Infektionszahlen sind offenbar auch all diejenigen, die sich an die Regeln zur Vermeidung weiterer Ansteckungen gehalten und jegliche Kontakte, selbst zu engen Vertrauten und Verwandten drastisch eingeschränkt oder sogar gemieden haben. Sie sind offenbar genauso verantwortlich für die Einschränkung unser aller Freiheit(en) wie all diejenigen, die sich offensichtlich nicht eingeschränkt haben. Diese Einschränkungen verfolgen das Prinzip der Sippenhaft oder wenn man*frau so will der Kollektivstrafe.

Im Grunde passt dieses Vorgehen – Strategie darf man*frau das nicht nennen – zum Begriff des „Lockdowns“. Der Begriff wurde aus dem amerikanischen Strafvollzug entnommen und den Einschluss aller Häftlinge in ihre Zellen, wenn Unruhe, Aufstände oder andere einen geordneten Strafvollzug beeinträchtigte Ereignisse unterbunden werden sollen. Dann wird auch die Bewegungsfreiheit derjenigen auf ihre Zelle beschränkt, die keinen Anlass für eine solche Maßnahme gegeben haben. Etwas weniger martialisch formuliert: Stubenarrest für alle.

Präventionsparadox und optimistischer Fehlschluss

Ich gestehe, dass ich als jemand, der sich seit März sehr strikt an die Kontaktbeschränkungen gehalten hat, der keine Urlaubsreisen unternommen hat, Freund*innen und Verwandte während der bisherigen „Lockdown“-Zeiten, ob „light“ oder „hart“ – unklar, warum das eine eigentlich in englischer das andere in deutscher Sprache ausgesprochen wird –, nur per Telefon oder per Skype oder Zoom gesehen hat, anhaltend sauer, aufgebracht, wütend werden könnte, wenn ich nicht auch die Gabe hätte, mich schnell wieder zu beruhigen und die Argumente rational abzuwägen. Dies tue ich, indem ich – am 14. Dezember 2020 – dieses Statement schreibe und versuche, diejenigen zu benennen, die für die aktuelle Lage aus meiner Sicht verantwortlich sind, wie gesagt nicht wegen ihrer Entscheidungen, sondern wegen der Entscheidungen, die sie nicht getroffen haben.

Ich spreche nicht von denjenigen als Hauptverantwortlichen, die offenbar ohne das Zusammenstehen beim Glühwein keine Adventszeit feiern können, nicht von denjenigen, die auf ihren Strandurlaub nicht verzichten wollten, nicht von denjenigen, die – wenn ihre Stammlokale geschlossen sind – meinen, sich in engen unbelüfteten Wohnungen oder Garagenpartys zusammenfinden zu müssen.

Das Verhalten dieser Menschen ist leicht erklärbar. Ihr Verhängnis ist das sogenannte „Präventionsparadox“ . Gefährdet sind die anderen, nicht ich, die Zahlen steigen in den USA, in Frankreich, in Brasilien, aber nicht bei uns, sie sinken sogar, sie bedrohen die Menschen in den Städten, nicht die auf dem Land, die im Westen, nicht die im Osten, die in Bayern, nicht die an den Küsten und so ist ja alles in Ordnung. Ich könnte noch einige dieser Fehlschlüsse hinzufügen. Mit solchen Sätzen pflegten viele eine Variante des „optimistischen Fehlschlusses“, jenes „Zwillings der Hypochondrie“ – so Christian Heinrich am 31. Mai 2020 in ZEIT Online. Und in der Tat: Sorglosigkeit aufgrund „optimistischen Fehlschlusses“ ist nicht mehr und nicht weniger als die andere Seite der „Hypochondrie“.

Dieses Verhalten kennen wir aus unser aller Alltag. Es gibt viele Bürger*innen, die trotz besseren Wissens mit überhöhter Geschwindigkeit durch Innenstädte oder über Autobahnen und Landstraßen rasen, Kette rauchen, Alkohol in großen Mengen konsumieren, oder sich gelegentlich den ein oder anderen Joint, die ein oder andere Line reinziehen. Mein Großvater pflegte immer zu sagen: „Gut dass wir nicht so sind.“ Er zwinkerte dabei mit den Augen, aber viele meinen das todernst, im wahrsten Sinne des Wortes: unbegrenztes Rasen, Rauchen, Saufen, Kiffen als Menschenrecht. Und wehe den Politiker*innen, die versuchen, solch ungesundes Verhalten einzuschränken!

Es hatte schon etwas Absurdes, als vor dem 13. Dezember 2020 öffentlich über Alkoholverbote – Stichwort Glühwein – gestritten wurde, als würde ein solches Verbot unsere Zivilisation dem Untergang weihen. Und vielleicht lohnt es sich auch darüber nachzudenken, warum diejenigen, die sich am lautesten gegen Verbote von Rasen, Rauchen, Saufen wehren, gleichzeitig ebenso laut ein Verbot vehement vertreten, das Kiff-Verbot. Ich nenne das Ablenkung vom eigentlichen Problem, Symbolpolitik.

Der verschlafene Sommer

Ich spreche hier in dieser Polemik von den Politiker*innen, die nicht in der Lage waren und es auch nach wie vor nicht zu sein scheinen, vorausschauend zu denken geschweige denn vorausschauend zu handeln.

Ich darf eine (sicherlich unvollständige) Liste von Fragen auflisten, die wir stellen könnten:

  • Warum müssen Theater, Restaurants, Fitnessstudios und vergleichbare Einrichtungen, die in gute Hygienekonzepte und Durchlüftung ihrer Räume, in Trennwände zwischen den Besucher*innen, Anmeldesysteme und vieles mehr investiert haben, genauso schließen wie diejenigen, die das nicht getan haben? Warum wurden diese guten Beispiele nicht im Frühjahr und im Frühsommer zertifiziert und die anderen, die dies nicht taten, zunächst beraten, dann aufgefordert und schließlich vorsorglich geschlossen? Auch eine staatliche Unterstützung bei entsprechenden Investitionen wäre sicherlich hilfreich gewesen.
  • Warum werden Schulen, die sich schon lange auf Hybridunterricht vorbereitet haben, von den zuständigen Ministerien gegängelt? Warum beharren die Schulminister*innen bis zum letzten Augenblick auf Präsenzunterricht vollständiger Klassen? Warum setzten sie Lehrer*innen dem Infektionsrisiko in großen Gruppen aus? Die Ausrede, dass dann Schüler*innen, die zu Hause keine lernfördernden Voraussetzungen vorfänden, benachteiligt würden, wirkt doch recht scheinheilig, denn es gibt Schulen, die gerade für diese Schüler*innen Konzepte haben, verlässlichen Unterricht zu ermöglichen. Warum werden solche Konzepte nicht allen Schulen zugänglich gemacht? Die Sommerpause hätte Gelegenheit geboten, dies zu tun. Oder fürchteten die Schulminister*innen, dass bei einer Aufweichung der harten Linie „Präsenzunterricht um jeden Preis“ die digitalen Versäumnisse der Vergangenheit ans Tageslicht getreten wären? Wenn dies so gewesen wäre, hätte das etwas von der Politik, die wir mit dem Namen eines großen Laufvogels bezeichnen.
  • Warum haben es die Schulminister*innen seit Vorliegen des sogenannten „Digitalpaktes“ – das war 2016 – bis heute nicht geschafft, Schulen auf den Stand zu bringen, mit denen ein digitales Unterrichten ohne Probleme möglich wäre? Warum haben sich die Länder jahrelang – und dann auch noch mit Erfolg – wehren können, die Kosten für die Umsetzung zu einem angemessenen Betrag zu übernehmen? Warum versuchen die Länder systematisch, alle Kosten auf Bund oder Kommunen abzuwälzen? Nicht einmal ein verbindliches Fortbildungsprogramm, vor allem für die Lehrkräfte, die noch nie mit digitalen Werkzeugen gearbeitet haben, soll durchsetzbar gewesen sein? Und warum haben die Länder, denen aus dem Kreis der IT-Wirtschaft zeitnah nach dem 2016er Beschluss geeignete Vorschläge vorgelegt wurden, es bis heute nicht geschafft, ein abgestimmtes und bundesweites Programm für Ausstattung und Fortbildung ins Werk zu setzen?
  • Warum setzen Bund und Länder darauf, dass alle Unternehmen, die Gesundheitsämter und Schulen mit digitalen Werkzeugen ausstatten könnten, mit jeder Kommune einzeln verhandeln müssen? Das Ergebnis hängt dann davon ab, wie kundig und wie engagiert die jeweiligen kommunalen Spitzen sind, und nicht zuletzt davon, ob genug (gesundes) Personal vorhanden ist, dies umzusetzen. Dabei dürfte eigentlich klar sein, dass es für Unternehmen wenig interessant ist, für eine Handvoll Schulen oder ein einzelnes Gesundheitsamt mit jeder Kommune einzeln zu verhandeln. Zur Illustration nur eine Zahl: allein in Nordrhein-Westfalen gibt es 396 öffentliche Schulträger (nur Städte und Gemeinden, ohne Kreise, ohne Ersatzschulträger). Da verhandeln Unternehmen lieber mit einem Staat, der dies zentral organisiert, und so wundert sich der Bundesgesundheitsminister, dass in Nigeria ein in Deutschland entwickeltes System erfolgreich verwendet wird, das in Deutschland selbst nur in einigen wenigen Gesundheitsämtern verwendet wird.
  • Warum gibt es in Deutschland kein flächendeckendes WLAN? In Portugal oder im Negev – ich nenne beispielhaft Orte auf dieser Welt, denen deutsche Selbstverliebtheit das nicht zutraut – funktioniert es, nicht aber in Deutschland, wo sich Unternehmen und Politiker*innen fragen, ob wirklich „jede Milchkanne“ (O-Ton Bundesbildungsministerin) angeschlossen werden müsste und damit die vielen Orte abhängen, die leider etwas ländlicher liegen. Abgesehen davon: ich kenne eine Großstadt im Westen, in der Schulen mit mehreren Standorten an einem Standort schnelles und verlässliches Internet haben, am anderen nicht.
  • Was geschieht, wenn die Infektionszahlen bis Mitte Januar nur unwesentlich oder gar nicht sinken? Was geschieht, wenn sich die Impfungen länger hinziehen als wünschenswert? Was geschieht, wenn viele Bürger*innen sich nicht impfen lassen (können)? In welchen Schritten werden Wirtschaft, Kultur und Amateursport wieder hochgefahren? Nach welchen Kriterien? Niemand vermag in die Zukunft zu schauen, aber wenn einem prominenten Ministerpräsidenten, der auch gerne Bundeskanzler wäre, für den Misserfolgsfall nach den Beschlüssen vom 13. Dezember nichts anderes einfällt als zu mutmaßen, dass der „harte Lockdown“ gegebenenfalls auch für die Zeit nach dem 10. Januar 2021 verlängert werden müsste, wird die Geduld der Bürger*innen überstrapaziert: „Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln.“ Am 9. Dezember sagte der zitierte Ministerpräsident noch etwas anderes: „Deshalb schlage ich diesen End-Lockdown für Deutschland vor.“
  • Mit Recht verlangen einige Politiker*innen, auch im Deutschen Bundestag, und Wissenschaftler*innen jetzt ein langfristiges Konzept. Allerdings muss sich der Politiker, der die nach Umfragen zurzeit kleinste Oppositionspartei anführt, bei seiner Philippika für eine langfristige Planung – der ich zustimme – auch fragen lassen, warum er in der Vergangenheit nichts Konstruktives zur Bekämpfung der Pandemie beigetragen, sondern lieber alle Maßnahmen grundsätzlich in Frage gestellt hat, weil er offenbar je nach Publikum der Versuchung erlegen ist, auch bei selbsternannten „Querdenker*innen“ Stimmen abzuwerben. Diese Strategie misslang ihm doch schon bei der Migrationspolitik.
  • Warum dankt ein*e Bildungsminister*in den Eltern, den Schüler*innen für ihr Verständnis, übersieht aber, was Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen leisten? Warum keine Anerkennung, kein Dank für all die Engagierten, die sich im Sommer auf eine zweite Welle vorbereitet haben? Ein großes Unternehmen wie die Telekom vergibt Gratifikationen für die Mitarbeiter*innen, für Bildung und Betreuung zuständige Minister*innen sagen nicht einmal Danke. Und wo bleibt das versprochene zusätzliche Personal, wo bleibt die angemessene Bezahlung von Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen?
  • Wie können Schul- und Familienminister*innen Garantien für Betreuung und Unterricht geben, ohne etwas dazu zu sagen, wie das funktionieren soll? Was versprach der Bundesgesundheitsminister am 1. September 2020? Hier der O-Ton: „Man würde mit dem Wissen heute, das kann ich Ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen. Das wird nicht noch mal passieren.“ Sie werden jetzt vor Weihnachten 2020 wortbrüchig, nicht weil Politiker*innen es mit der Wahrheit nicht so genau nähmen, sondern weil sie meines Erachtens geglaubt haben, sie könnten sich durch die Pandemie hindurchmogeln und die Verantwortung an die Menschen in den Kindertageseinrichtungen, in den Schulen, in den Gesundheitsämtern rückdelegieren.
  • Was ist mit all den Künstler*innen, die seit März ohne Einkommen dastehen, aber auch von den Wirtschaftshilfen nicht profitieren, weil sie weder Umsätze noch Fixkosten haben, abgesehen von der Miete für ihre Wohnung, die schon immer gleichzeitig ihr Büro war, aber auch immer schon nicht unter die Kriterien für die steuerliche Absetzung eines Arbeitszimmers fiel? Offenbar vermögen die Beamt*innen in den Wirtschaftsministerien sich solche Arbeitsformen überhaupt nicht vorzustellen, sondern halten immer noch den klassischen VW-Arbeiter (männlich!) oder mittelständisch-patriarchalischen Unternehmer (auch männlich!) für das Maß aller Dinge? Wie kompetent ist ein Wirtschaftsminister, der im November 2020 das Einkaufen zur „patriotischen Pflicht“ erklärte, um dann am 14. Dezember 2020 dafür zu werben, dass die Deutschen zum Weihnachtsfest Gutscheine verschenken sollten? Und wie nachvollziehbar ist es, die Fußballbundesliga und andere Profisportarten mit dem Hinweis auf Freiheit der Berufsausübung weiter zu betreiben, dies aber anderen Branchen, Kulturschaffenden, der Gastronomie und Hotellerie oder auch der Sexarbeit zu untersagen? Viele der Menschen, die in diesen Branchen arbeiten, erleiden das, was Fußballprofis nicht erleiden: ein Berufs- und Beschäftigungsverbot.
  • Und warum arbeiten sich die Regierungen in Bund und Ländern an selbsternannten „Querdenkern“ und anderen unappetitlichen Gesell*innen ab statt mit denjenigen zu reden, die die für die Bekämpfung der Pandemie erforderlichen Einschränkungen grundsätzlich akzeptieren, die aber überzeugt werden müssen, dass die Maßnahmen ihnen nicht schaden und die mit Recht auch die Berücksichtigung ihrer jeweiligen Lebenslagen einfordern? Die Auswirkungen der Pandemie und der jeweiligen Maßnahmen auf Frauen, Kinder, alte Menschen, Künstler*innen, Behinderte, Obdachlose – es ist mir peinlich, eine solche Liste in einem Atemzug aufzuschreiben – erhalten in den Medien erheblich weniger Aufmerksamkeit als die verwirrten Ansichten von Verschwörungstheoretiker*innen und Impfgegner*innen. Anders kann ich mir die gebetsmühlenhafte Wiederholung des Mantras nicht erklären, dass die Impfung freiwillig ist. Oder geht es dabei nur um das vorsorgliche Eingeständnis, dass nicht genügend Impfstoff zur Verfügung stehen wird? Honni soit qui mal y pense.

Vorausschauende Politik? Bisher Fehlanzeige

Das sind nur einige Punkte, die mir am 14. Dezember 2020 spontan einfallen. Es gäbe sicherlich noch einige mehr, und ich gehe davon aus, dass meinen Leser*innen vieles ein- und auffallen wird, das mir weder ein- noch auffiel. Mein Fazit: Politik lebt von der Hand in den Mund, handelt im Grunde „end of the pipe“, reaktiv, nicht gestaltend, vorausschauende Planung Fehlanzeige. Schlechte Luft? Erhöhen wir die Schornsteine! Stau auf der Straße? Bauen wir noch eine Autobahn!

Der gesamte Sommer wurde verschlafen. Und das geht offenbar so weiter: die politisch Verantwortlichen wurschteln sich durch die Pandemie, als wäre es der groß angelegte Versuch einer Katastrophenübung, nach deren Bewältigung für alle Bürger*innen das Paradies auf Erden ansteht. Aber was ist mit weiteren zukünftigen Pandemien, die wir nicht ausschließen können, was ist mit zukünftigen Wirtschaftskrisen, was mit Klimaschutz und Artenvielfalt? Was ist mit der Ungleichheit und Armut, nicht nur in unserem wohlhabenden Land, gerade auch im Verhältnis zwischen Nord und Süd auf diesem Planeten? Was ist mit Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Sexismus, der Attraktivität von Verschwörungstheorien?

Und wann reift die Erkenntnis, dass und wie die Pandemie die Fehlentwicklungen des Neoliberalismus, den fast alle, auch die sich sozialdemokratisch nennenden Parteien, gemeinsam für das „Ende der Geschichte“ hielten, sichtbar macht und verschärft? Aber darüber möchte wohl kaum jemand offen sprechen. Es ist doch so viel leichter, den Bürger*innen pauschal und kollektiv ein schlechtes Gewissen einzureden und dabei zu murmeln, dass man*frau sich eben gerade nicht in Vergangenheitsbewältigung ergehen solle.

Und warum werden alle Bürger*innen – unterschiedslos – behandelt wie eine Horde ungehorsamer Kinder oder für den Fall, dass Politiker*innen die Bürger*innen, die sie gewählt haben, für Erwachsene halten, wie eine Horde aufgebrachter Häftlinge, die ihren „Lockdown“ nun wirklich verdient hätten? Strafe muss sein! Auch wenn der Vergleich nicht unbedingt passt: im Grunde ist eine solche Kommunikationsstrategie genauso effektiv wie die Forderung nach einem Kopftuchverbot für den Kampf gegen islamistischen Terrorismus.

Ein Nachtrag vom 17. Dezember 2020

Die ZEIT veröffentlichte am 17. Dezember 2020 ein Portrait der Physikerin Viola Priesemann, die Modellierungen möglicher Entwicklungen erstellt. Das Ergebnis zeigt, dass möglicherweise – aus meiner Sicht sehr wahrscheinlich – ein völliger Stillstand des öffentlichen und privaten Lebens für einen Zeitraum von vielleicht vier bis sechs Wochen auch die Pandemie zum Stillstand hätte bringen können. Stattdessen gab es in der sogenannten „Ersten Welle“ sehr schnell Debatten über die „Lockerungen“, die den Bürger*innen signalisierte, dass es so schlimm doch nicht sein könne, wenn prominente Politiker*innen die Einschränkungen zumindest zum Teil wieder aufheben wollten. Ergebnis: man*frau ging es eben lockerer an und erlaubte sich – auch ohne staatlichen Segen – eben „Lockerungen“. Und daran erinnerten sich alle im Oktober 2020. So schlimm wird es schon nicht kommen, die Politiker*innen versprechen uns doch Weihnachten und Sylvester! Funktionierte nicht.

Zu allen Entscheidungen, die in der Vergangenheit nicht getroffen wurden, gesellen sich die Entscheidungen, die zwar getroffen, aber ständig prominent in Frage gestellt werden. Auch das ist eine Folge des hochherrschaftlichen der 17 Regierungschef*innen in Deutschland und der fehlenden öffentlichen Debatte. Die Bundeskanzlerin hat es wenigstens versucht, als sie die Zahl von 19.200 Infektionen pro Tag zu Weihnachten in die Debatte einführte, um für einen „harten“ Kurs zu werben. Vielleicht wäre es gut gewesen, von Anfang an, nicht nur Virologie, sondern auch andere Wissenschaften, und darunter eben auch Mathematik und Physik zu Rate zu ziehen und dies in der Öffentlichkeit vorzustellen. Auch in allen mit der Pandemie befassten Ministerien gibt es Menschen, die sich mit solchen Modellierungen auskennen. Und warum kein Mathematikunterricht in den Schulen, der solche Berechnungen verständlich macht? Vielleicht hätte das geholfen. Jetzt könnte es zu spät sein, denn zu viele Menschen werden die Weihnachtszeit und den Jahreswechsel nutzen, um sich trotz eindringlicher Appelle dies nicht zu tun, in größeren Gruppen treffen. Die Art und Weise, wie die Pandemie von Anfang an kommuniziert wurde, hat die Zweifel, die manche an ihrer Existenz oder Reichweite haben, selbst hervorgebracht. Wie gesagt: „Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln.“     

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2020, alle in diesem Text aufgeführten Internetseiten wurden am 15. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)