„Die Antwort heißt: Wir machen Kunst“

Cristina Collao und Alvaro Solar über die Kraft des Erzählens

„Eine leere Seite wartet darauf, gefüllt zu werden. // Hinein passen Kristallschmetterlinge, zitternd zwischen den Wünschen, / diese blaue und nächtliche Traurigkeit der stummen Eulen, / ein gelber müder Elefant, der Tautropfen trinkt, / ein trauriges, nachdenkliches Kind, das seine unruhige Weisheit singt, / und ein alter Mann, vom Leben in den Tiefen seines Herzens verwundet.“ (Alvaro Solar, Leere Seite, aus: Metamorphose)

Mit diesen Versen beginnt das erste Gedicht des Gedichtbandes „Metamorphose – Die tödliche Entschlossenheit zu leben“ von Alvaro Solar. Die Originaltexte wurden im chilenischen Spanisch geschrieben, sie wurden von Melanie Lucas Solar ins Deutsche übersetzt, Cristina Collao hat den Band mit ihren Bildern bereichert. Er erschien 2021 im Hirnkost Verlag.

Die Band: Christian Vasquez (Flöte), Cristina Collao (Bass), Alvaro Solar (Gitarre und Gesang), Nicolás Aros (Schlagzeug).

Im Jahr 2012 haben Alvaro Solar und Cristina Collao in Bremen das Ensemble Theater Aber Andersrum gegründet. Kennengelernt habe ich sie über das Buch „Grenzenlose Hoffnung“, das Klaus Farin im Hirnkostverlag veröffentlichte und das ich in meinem Essay mit dem Titel „Sag mir wer die Menschen sind“ vorgestellt habe. Es folgten Gespräche per zoom und vor Ort in Bremen sowie eine Performance am 6. September 2024 im Rahmen der Bonner Tage des Exils. Texte aus „Grenzenlose Hoffnung“ sind als Podcasts auch auf spotify präsent. (Link?) Der Kontakt zwischen Alvaro Solar, Cristina Collao und dem Verlag wurde von Rolf Gössner, Publizist und Mitglied der Liga für Menschenrechte, hergestellt, der auch das Vorwort des Buches schrieb.

Die Bremer Wohnung der beiden ist voller Bilder Cristinas, in einem schönen Altbau in der Nähe des Stadtzentrums. Sie reisen viel und arbeiten nicht nur mit Künstler:innen zusammen, sondern auch mit Menschen, die mit ihnen lernen, ihre biografischen Geschichten zu erzählen. Gerade dies ist ein zentrales Anliegen von Produktionen wie „Grenzenlose Hoffnung“. Und dazu gibt es immer viel Musik.

Von Chile nach Deutschland

„Alles passt in uns.

Dein Dasein und das meine,
die Körper und unseren Geist durchdringend,
damit wir sie gemeinsam einfangen können,
diese geheimnisvolle und unerreichbare Seele
der Ewigkeit.“

(Alvaro Solar, Alles)

Cristina Collao, Astronauta, Kohlestift auf Cansons Papier 180 gr., 19×23 cm, 2021.

Norbert Reichel: Von Chile nach Deutschland – das ist ein weiter Weg.

Cristina Collao: Ich bin erst im Jahr 2011 nach Deutschland gekommen, um mit Alvaro und seiner Familie zusammen zu sein und zu beobachten, wie ich mich in der deutschen Kultur fühlen würde. 2012 haben wir geheiratet und wir wohnen seit dieser Zeit in Bremen. Ich bin aus Liebe nach Deutschland gekommen. Es war aber auch eine Art selbstgewähltes Exil aus Chile.

Alvaro Solar: Wir wollten unbedingt zusammen sein. Wir kannten uns professionell schon seit einigen Jahren. Kennengelernt haben wir uns in Chile. Ich war dort mit dem Goethe-Institut unterwegs.

Cristina Collao: Ich habe ihn zum ersten Mal auf der Bühne eines Theaters gesehen.

Alvaro Solar: Ich hatte mit dem Goethe-Institut mehrere Projekte in Chile und auf Kuba durchgeführt. Auf Kuba war ich mit dem Stück „Johan Padan entdeckt Amerika“, das erste Stück, das mit dem Goethe-Institut dort aufgeführt wurde, ein Stück von einem Italiener, dem Nobelpreisträger Dario Fo. Eine exotische und umstrittene Geschichte. Aber es war für das Goethe-Institut gut.

Ich war viel in Mittelamerika unterwegs. Nach Deutschland bin ich bereits 1978 gekommen, direkt nach Bremen. Ich hatte dort Bekannte, alle waren politische Menschen, Linke, Anhänger des Präsidenten Salvador Allende, die das Land nach dem Putsch vom 11. September 1973 verlassen mussten. Ich hatte damals in Chile Architektur studiert. Ende 1974 hatten mich die Geheimdienstler verhaftet, direkt nach meiner Architekturprüfung. Ich hatte für die Prüfung drei Tage nicht geschlafen, Tabletten genommen, um wach zu bleiben, und dann kam diese ganze Geschichte. Ich war in einem chilenischen Konzentrationslager inhaftiert, im Folterzentrum, dann in einem regulären Gefängnis mit Kriminellen zusammen, in den unteren Etagen. Wir, die politischen Gefangenen waren eigentlich in den oberen Etagen untergebracht. Aus dem Gefängnis wurde ich aber wieder entlassen. In Chile kennt jeder jeden. Ein älterer Bruder war Anwalt, ein Kommilitone von ihm war der Militärstaatsanwalt in Valparaíso. Mit Gesprächen, Erklärungen hat er es geschafft, mich aus dem Gefängnis herauszukommen.

Ich habe versucht, weiter zu studieren, aber es wurde schwierig, unsicher. Ich wurde schikaniert, bekam an der Universität nur noch schlechte Noten. Es ging nicht mehr. Ich hatte auch das Gefühl, ich will woanders hin. Ich war früher schon einmal ein Jahr lang in den USA. 1978 ging es dann nach Deutschland.

Norbert Reichel: Viele Chilen:innen sind in die DDR gegangen.

Alvaro Solar: Die hatten es dort aber nicht so gut. Viele wollten schnell wieder raus und nach Westdeutschland. Für die Menschen aus Chile war es hier eine gute Situation. Wir waren so etwas wie Luxus-Ausländer. Henning Scherf, der damalige Bürgermeister, die SPD, sie alle haben sich sehr für uns eingesetzt. Auch für die Iraner. Wir durften studieren, bekamen eine Wohnung.

Mein Fall war von Anfang an klar. Es ging sehr schnell mit der Bewilligung des Asylantrags. Ich musste nur bei einem Verhör dabei sein, in Zirndorf in Süddeutschland. Es waren Leute vom Verfassungsschutz und vom CIA dabei. Alles in einem kleinen Raum, sehr ähnlich wie die Räume in dem Folterzentrum in Valparaíso. Ich musste alles erklären, habe auch Skizzen gezeichnet. In Valparaíso hatte ich immer eine Kapuze über dem Kopf, konnte mich aber gut an die Räumlichkeiten erinnern, weil ich eben Architektur studiert hatte.

Norbert Reichel: Die waren wohl weniger an dir interessiert als an den Informationen über Chile.

Cristina Collao, Heimatbaum, Kohlestift auf Cansons papier 180 gr., 19×23 cm, 2021.

Alvaro Solar: Das ist sehr gut möglich. Ich glaube, die Skizzen haben in dieser Situation sehr geholfen. Es war für sie sehr real, sehr nachvollziehbar, wie ich meine Geschichte erzählt habe. Ich bin ein Erzähler. Das wusste ich damals noch nicht, aber ich kann wohl gut erzählen.

Norbert Reichel: Da ist der Weg zum Theater nicht weit.

Alvaro Solar: Mein Vater wollte, dass ich studiere. Und ich wollte immer etwas mit Kunst machen.

Cristina Collao: Das Theater eröffnet die Möglichkeit, sich einen eigenen Raum zu schaffen. Du bist der Architekt deines eigenen Lebens. Als Schauspieler, als Mensch, als Künstler, hast du dein Schicksal in deine eigenen Hände genommen. Am Ende warst du immer ein Architekt, auch aus philosophischer, spiritueller Sicht.

Alvaro Solar: Sehe ich genauso. Alles hatte mit Theater zu tun. Ich habe in Deutschland auch Graphik Design studiert, um mein Diplom zu machen. Ich habe die Plakate, die Flyer, die Broschüren alle selbst entworfen, auch für andere Theaterleute, für Festivals. Das Bewusstsein des Raumes, der Bühne, hat mir, ausgehend von der Architektur, vieles beigebracht, was ich dann als Regisseur anwenden konnte. Dazu die Musik, die Möglichkeit der Poesie, das Buch „Metamorphose“. Ich bin Klaus Farin sehr dankbar, dass er das Buch veröffentlicht hat.

Das Theater Aber Andersrum

Cristina Collao, Singularida, Öl auf Leinwand, 50×60 cm, 2018-2019, Cover des Gedichtbandes von Alvaro Solar „Metamorphose“.

„Gedächtnis, das versucht, einen letzten Sprung ins Leere zu wagen,
um mit einem Schlag einzutauchen in die zukünftige Zeit
der Erinnerungen.

Unberührtes Gedächtnis der Gegenwart,
gesättigt mit seinem Nichts.“

(Alvaro Solar, Gedächtnis)

Norbert Reichel: Und das Theater Aber Andersrum?

Cristina Collao: Das haben wir gemeinsam gegründet, als ich nach Deutschland gekommen bin. Ich wollte im Theater weiterarbeiten. Ich konnte kaum Deutsch, kaum Englisch, meine Arbeit war die Verbindung zu meinem neuen Leben. Wir haben deshalb einen Verein gegründet, den Verein für Kunst und Menschenrechte – Eine verkehrte Welt e.V. und ein Ensemble für unsere künstlerischen Projekte.

Ich hatte in Chile Design studiert und danach direkt mit der Tanzszene und Theaterszene in Chile zusammengearbeitet. Für mich war es immer wichtig, meine Kenntnisse zu erweitern. Ich bin dann noch einmal zur Universität gegangen und habe fünf Jahre Bühnenbild, Licht, Design und ein bisschen Regie studiert. Dabei habe ich dann im Goethe-Institut Alvaro kennengelernt. Und einige Jahre später habe ich für Alvaro Licht und Design für eine Tournee in Chile gemacht, so kamen wir wieder in Kontakt.

Norbert Reichel: Wie entstand die Idee zum Theater in Bremen?

Cristina Collao: Das war 2013, 40 Jahre nach dem Putsch. Ich dachte, diese Geschichte ist nicht zu Ende. Wir müssen etwas machen! Alvaro hat das Konzept für das Stück „Der Tod und das Mädchen“ von Ariel Dorfman geschrieben, ich habe das Bühnenbild, das Licht gestaltet und das Management übernommen. Ich hatte Freunde von Alvaro, die Anwälte waren, gefragt, in welcher Rechtsform wir arbeiten sollten, um auch Geld für unsere Projekte zu acquirieren. Daraufhin haben wir den Verein gegründet.

Alvaro Solar: Roman Polański hat die Geschichte von Ariel Dorfman 1994 übrigens verfilmt. Cristina hat das Bühnenbild für unsere Aufführung entworfen. Es war eine Art Käfig aus Holz, sehr schlicht, sehr transparent, eine der ersten wunderbaren Ideen meiner Frau. Die Menschen waren in diesem Käfig wie in einer eigenen Welt gefangen. Es war ein großer Erfolg. Der Bürgermeister war da, der Konsul. Wir hatten auch sehr gute Schauspieler:innen und eine Musikerin.

Cristina Collao: Wir haben bei unseren Planungen darüber nachgedacht, wer sich in Deutschland für eine solche Geschichte interessieren könnte. Wir dachten zuerst, das wäre nur für Chile interessant, aber es gab sehr viele Leute in Deutschland, die sich noch gut an den Putsch gegen Allende erinnerten.

Alvaro Solar: Es ist ein universelles Stück. Es geht um Wahrheit, um Lüge, um Schuld, um Unterdrückung – es sind so viele Themen darin. Es ist nicht nur politisch, es ist auch menschlich existenziell.

Norbert Reichel: Nur dann ist es aus meiner Sicht wirklich interessant. Sonst wäre es bloß Agitprop.

Cristina Collao, Phoenix Paradigma, Öl und Acryl auf Leinwand, 80×100 cm, 2018.

Alvaro Solar: Agitprop hat mich nicht interessiert. Ich erinnere mich an meine ersten Theatererfahrungen in Deutschland: Viele Lehrer dabei, es war nur politisch, es gab auch nichts zu lachen. Das war meine erste Erfahrung mit Theater in Deutschland.

Norbert Reichel: Ich verstehe euren Anspruch als einen künstlerischen Anspruch. Es ist politisch, aber das Politische kommt nicht mit dem Zeigefinger daher. Ihr erzählt Geschichten, eure Theaterstücke sind keine Traktate.

Alvaro Solar: Bei allen meinen Stücken ist das Politische drin, ohne Ausnahme, aber eben nicht dieses – wie du sagst – Agitprop.

Cristina Collao: Wir arbeiten immer auf der Suche nach der Wahrheit, nach der Conditio Humana. Das ist die Hauptfrage meiner Arbeit, in der Malerei und im Theater. Ich war 1973 ein Jahr alt, ich habe 17 Jahre in einer Diktatur gelebt. Meine Eltern waren Linke, sie wurden nach dem Putsch sehr schnell arbeitslos, mit zwei kleinen Kindern. Wir hatten große Schwierigkeiten zu überleben. Es war eine lange Zeit des Überlebens. Meine Eltern waren nicht so politisch, eher mein Vater. Dann das Jahr 1990. Der Gesang auf der Straße: Wir werden Nein sagen. Es war zum ersten Mal nach 17 Jahren möglich zu wählen. Ich konnte nicht wählen, weil ich noch nicht 18 Jahre alt war. Aber wir wollten diese Faschisten nicht mehr.

Die eigene Geschichte spielen

„Irgendwann werde ich an einem neuen Tag erwachen,
mit zwei schmalen schwarzen Flügeln an den Seiten.“

(Alvaro Solar, Metamorphose)

Norbert Reichel: Kennengelernt habe ich euch über das Theaterprojekt „Grenzenlose Hoffnung“. Wie ist das Projekt entstanden?

Alvaro Solar: Das war ein Konzept von dir, Cristina.

Cristina Collao: Das hieß zuerst „Bremer Kultur ohne Grenzen“. Erste Ideen gab es schon 2015 in Chile. Wir haben dort in Valparaiso ein Seminar gegeben, in dem wir die Topografie der Stadt mit der Autobiografie der Teilnehmer:innen verbunden haben. Es war eine künstlerische Recherche, die die große soziale Geschichte von Chile und die intime Geschichte in Verbindung gebracht hat.

Zurück in Deutschland haben wir das Projekt „Bremer Kultur ohne Grenzen“ initiiert, wo wir hauptsächlich mit Migranten und Flüchtlingen arbeiteten, die in Bremen ankamen. Die Sitzungen der biografischen Theaterworkshops begannen immer mit Yoga.

Alvaro Solar: Viele der Teilnehmer:innen kannten diese Körperarbeit nicht. Für einige war es außerdem sehr ungewöhnlich, eine Frau als Leiterin zu haben.

Cristina Collao: Für mich war dies kein Hindernis für meine Arbeit. Manche Kulturen haben keine Lust, körperlich mit einer Frau zu arbeiten, die dann auch noch Leiterin ist. Ich hatte aber einen interessanten Text über das Ulysses-Syndrom gelesen. Wenn ein Mensch emigriert, wirkt sich das auch körperlich aus. Es ist die Trauer, die Sprache, die Familie, die Kultur, die Freunde, die Landschaft. Alles das habe ich auch selbst erlebt. Ich fand diesen medizinischen Text genial und dachte, dass wir das mit künstlerischen Werkzeugen zu einer Methode entwickeln und perfektionieren sollten. Es war eigentlich ganz natürlich, das mit den Leuten durchzugehen: Was geschieht mit einem Menschen, der sein Land verlässt und allein in eine ganz andere Kultur kommt, mit Trauer, mit Hoffnungen? Das ist keine kurze Phase, das sind etwa zwei Jahre, in denen wir immer wieder Dinge aus der Vergangenheit suchen. Ich hatte z. B. immer ganz deutlich in meinem Kopf ein Bild, von einer Werkzeugkiste, die aber in Chile war und nicht in Bremen. Man hat Löcher im Kopf. Man ist unsicher, bei alltäglichen Dingen, einkaufen zu gehen zum Beispiel.

Alvaro Solar: Einer sagt im Buch, er fühle sich wie ein Kind, müsse alles neu lernen, sogar die Sprache.

Cristina Collao: Ich war schon 40 Jahre alt, als ich nach Deutschland kam. Ich hatte schon ein Leben, war Professorin an der Universität. Plötzlich war ich hier wieder ein kleines Mädchen, das ständig etwas fragen musste, um zu kommunizieren. Abhängig, verunsichert. Ohne Arbeit. Eine lange Phase. Aber Kunst ist eine Verbindung, eine Brücke zwischen den Kulturen.

Alvaro Solar: Ich glaube, diese Erfahrung machte es uns möglich, mit all diesen Menschen zu arbeiten, mit Menschen aus allen möglichen Ecken der Welt. Sie hatten Vertrauen zu uns. Sie hatten das Gefühl, wir wissen, was das ist. Ich konnte auch meine Geschichte erzählen. Es ging nicht nur darum, dass sie uns etwas über sich erzählen, wir haben immer damit angefangen, etwas über uns zu erzählen, zu zeigen, dass wir das selber erlebt haben, uns öffnen, dass wir keine Angst haben, etwas zu erzählen. Der zentrale Punkt ist immer die Angst.

Du hast immer nur Ängste. Das war eine der ersten Mauern, die wir zerbrechen mussten, als Person, als Betreuer, als Lehrende, wie auch immer man das bezeichnen will. Den Weg finden, wie schaffe ich das, mit jemandem kommunizieren, der verschlossen ist, schlimme Erfahrungen hinter sich hat. Das ist ein Wahnsinn, was die meisten erlebt haben.

Cristina Collao: Wir mussten sehen, wie wir mit Menschen zusammenarbeiten, die kein Deutsch sprechen, kaum Englisch. Da war Spiel eine Lösung. Spielen war eine Art körperlicher Kommunikation. Einige sprachen dann ein wenig italienisch, weil sie als Flüchtlinge zuerst in Italien waren. Wir haben es immer irgendwie geschafft, ich weiß gar nicht wie. Nur sehr selten haben wir jemanden von außen eingeladen, um uns zu helfen. So fing das an.

Ulysses-Syndrom

Cristina Collao, El Perro Saudade, Öl auf Leinwand, 50×60 cm, 2019.

„Das wahre Lachen ignoriert die Sterblichkeit,
wie ein ewiger Engel hat es auch kein Alter,
es wurde geboren und stirbt und ersteht wieder auf,
es ist wie ein nie geborenes Kind, das immer leben wird.“

(Alvaro Solar, Das Lachen)

Norbert Reichel: Wie habt ihr die Leute gefunden, mit denen ihr gearbeitet habt?

Cristina Collao: Über verschiedene Institutionen. Zum Beispiel die AWO.

Alvaro Solar: Wir haben auch mit GRONE zusammengearbeitet, einer Institution, die Ausbildungen für Langzeitarbeitslose machten. Darunter sind viele Ausländer, aber auch viele Deutsche, die in prekären sozialen Verhältnissen leben. Da haben wir das erste Mal auch mit Deutschen gearbeitet. Ältere Leute, jüngere Leute. Wir haben auch später mit türkischen Frauen der ersten Gastarbeitergeneration gearbeitet, alle über 80 Jahre alt. Ich habe lange nicht so viel gelacht wie mit diesen Frauen. Die haben uns geliebt und so tolle Geschichten erzählt. Die sind auch in dem Buch drin.

Es hat sich einfach auch herumgesprochen, wir hatten Material erstellt und verteilt, den Leuten erklärt, was sie erwartet. Wir haben an der Volkshochschule Workshops gegeben. Das Projekt „Bremer Kultur ohne Grenzen“ gibt es seit 2016 bis heute.

Cristina Collao: Wir werden immer gefragt, wie arbeitet ihr, die ihr doch keine Therapeuten seid, keine Pädagogen? Wir haben immer dieselbe Antwort gegeben. Wir wollen nicht therapeutisch arbeiten, wir arbeiten mit Kunst. Kunst hat immer die Fähigkeit, Menschen in Kontakt mit ihrer eigenen Biographie zu bringen. Wir haben uns nie als Therapeuten gesehen, wir haben als Künstler gearbeitet. Das ergab dann natürlich auch irgendwie etwas Therapeutisches, eine Art Therapie, denn es hilft, die eigene Geschichte einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Alvaro hat die Erinnerungen der Teilnehmer:innen dramaturgisch bearbeitet, um sie in Texte zu verwandeln, die sie dann vor einem Publikum vorgetragen haben. Eine der dramaturgischen Strategien bestand manchmal darin, die Perspektive der erlebten Geschichte zu verändern. Das hat immer eine sehr positive Wirkung auf die Teilnehmenden.

Übrigens, mittlerweile wissen wir, dass es inzwischen eine große Bewegung gibt, Kunst als Werkzeug für Menschen anzuwenden, die keine Therapie finden, das vielleicht auch nicht wollen.

Alvaro Solar: Kunst ist irgendwie Therapie. Die Katharsis ist so entstanden. Die Griechen haben deswegen Theater gespielt. Theater ist eine Spiegelung der Gesellschaft, der Welt.

Norbert Reichel: Und Theater macht die Geschichten sichtbar, fühlbar. Es gibt den schönen Satz von Joan Didion: „Wir erzählen uns Geschichten um zu leben.“ Sie schreibt „live“, nicht „survive“, aber vielleicht ist das der Subtext?

Cristina Collao, Naturaleza Viva, Öl, Acryl und echtes 24K Blattgold auf Leinwand, 50×70 cm, 2022.

Alvaro Solar: Ein Leben ohne Geschichten wird hart. Das geht gar nicht. Aber man kann es auch verlernen. Die junge Generation mit ihren Videos und Telefonen erzählt nicht mehr.

Norbert Reichel: Ich sehe die Gefahr, dass sie sich keine Geschichten mehr erzählen, sondern nur noch Bruchstücke und Emojis. Und viele rezipieren nur, was ihnen andere vorsetzen, they are influenced by influencers.

Alvaro Solar: Und viele glauben an Dinge, die gar nicht stimmen. Geschichten erzählen – wie du sagst – ist total wichtig.

Cristina Collao: Mit der Thematik von „Grenzenlose Hoffnung“ haben wir in verschiedenen Formen acht Jahre lang gearbeitet. Wir haben sogar ein Theaterstück mit unseren eigenen Biografien inszeniert: „Ulysses-Syndrom“. Das hatte auch für uns einen Effekt. Wir waren immer wieder in Kontakt mit solch traurigen Geschichten. Wir waren am Ende ganz müde. Ich bin immer noch mit diesen Geschichten in Verbindung. Wir hatten diese Menschen ganz nah erlebt. Es entstand auch eine Art Liebe.

Alvaro Solar: Es ist immer sehr schön, jemanden von diesen Menschen auf der Straße zu treffen, wie sie dann strahlen, wenn sie uns sehen. Es ist unglaublich. Sie alle hatten ihre eigene Erfahrung. Es ist etwas mit ihnen geschehen, in ihnen geschehen. Da waren wir als jemand, die zugehört hatten, mit viel Geduld dabei waren, sich um sie bemühten und sie dazu brachten zu erzählen, sich zu bewegen, teilzuhaben.

Norbert Reichel: Mich hat die Form beeindruckt, in der ihr diese Geschichten im Buch präsentiert habt. Zentriert gedruckt, irgendwie wie lyrische Texte. Es hat Erzählerisches, Dramatisches, Lyrisches.

Alvaro Solar: Einer der Gründe war, dass viele, die zu uns kommen, von rechts nach links schreiben. Wir treffen uns dann in der Mitte. Aber es stimmt: es ist fast lyrisch.

Norbert Reichel: Der Text ist immer sehr kompakt.

Alvaro Solar: Es ist so wie Cristina gesagt hat. Wir waren lange zusammen, ich habe immer geschrieben. Notizen, Notizen, Notizen. Sogar in den Pausen. Die Pausen waren kurz, aber die haben sich weiter unterhalten, ich habe weitergeschrieben. Ein schönes Beispiel: da war ein Deutscher, Sohn eines Syrers, der kein Interesse hatte, immer nur über die anderen lachte, mal einen Witz machte. Ich fange damit gar nicht an – das war seine Haltung. Dann kam die Pause und ich fragte, wann fängst du an zu erzählen? Er sagte, was soll ich erzählen, soll ich erzählen, dass mein Vater aus Syrien kommt, dass er meine Mutter verlassen hat, dass ich als Kind geschlagen wurde? Ich habe ihm gesagt, du hast schon angefangen, du erzählst doch schon. Das ist der Junge, der zum Militär ging. Er war nachher so dankbar.

Norbert Reichel: Veränderung, Verwandlung heißt auf griechisch Metamorphose. Und so heißt auch der Gedichtband.

Alvaro Solar: Das war in der Tat eine Metamorphose. Während der Pandemie. Cristina hat angefangen wieder in Öl zu malen, sie hat gemalt wie eine Wahnsinnige, konnte nicht mehr aufhören. Dahinten bei uns in der Werkstatt. Ich saß neben ihr und habe Gedichte geschrieben. Sie hat zugehört. Es war eine Fusion, das entwickelte sich langsam.

Norbert Reichel: „Metamorphose“ ist ein Pandemie-Produkt?

Cristina Collao, Fragile wie ein Sekunde, Öl auf Leinwand, 90×100 cm, 2020.

Alvaro Solar: Könnte man vielleicht so sagen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass damals alles geschlossen war. Es gibt das Bild des Papstes, ganz allein auf dem Petersplatz. Das war so traurig. Cristina hat ihn in ein Gemälde eingebaut („Fragile wie eine Sekunde“). Ich habe ein Gedicht dazu geschrieben, „Paradigma 2020“, unter anderem mit den folgenden Versen:

„Überwältigt von so viel neuer Realität,
in einem verzweifelten Versuch,
jemanden zu erreichen,
mitten in der Unermesslichkeit
des stillen Petersplatz, ein Quijote
vom Wind der Windmühlen gestürzt,
der Papst des 21. Jahrhunderts, allein, dort verlassen
mitten in der Dunkelheit der tristen Stadt,
betet zum leeren Geist des schwarzen Sonnenuntergangs.“

Die letzten vier Verse:

„Der Raum leerte sich
und eine Wolke der Ungewissheit
fliegt durch die stumme Stadt.

In Berlin durchquert eine einsame Ente das Brandenburger Tor.“

Erzählen für die Zukunft – in der Zukunft

Cristina Collao, At die End, Öl auf Leinwand, 60×80 cm, 2018.

„Es gibt einen Zeitvogel
angekettet in einem offenen Käfig.
Er hat schwarze Federn
voller Minuten,
einen langen Schnabel,
wie Zeiger
einer Uhr.“

(Alvaro Solar, Zeitvogel)

Norbert Reichel: Worum geht es in eurem neuesten Projekt? Die Premiere fand am 16. August 2024 statt.

Alvaro Solar: Ich hatte die Anfrage, ein Märchen um Adam und Eva zu schreiben und das mit dem Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ zu verbinden. Ich habe einen fast kabarettistischen Text für zwei Schauspieler geschrieben, dazu dann auch die Lieder geschrieben und komponiert. Das Stück heißt jetzt: „In der Bar Paradies ist der Teufel los!“ Ich habe auch die erste Frau Adams, Lilith, hineingebracht. Irgendwann geht es dann zu der Teufelsgeschichte. Der Teufel sitzt in einer Bar Cristina hat das Bühnenbild gestaltet. Es war wunderbar! Sie hat zwei Puppen gebaut, einen König und eine Königin, Masken für die Großmutter des Teufels und den Teufel. Man springt von einer Szene zur anderen, von einem Stil zum anderen. Die Schauspieler springen zu den Masken, zu den Puppen. Dazu die Musik mit all den Liedern. Es war nicht einfach, aber wir haben es mit viel Geduld und viel Ruhe hinbekommen. Das war Open Air, bei einem Festival hier im Norden. Mit dem Theater Metronom wird es im Herbst ein neues Spektakel geben, das wir produzieren.

Norbert Reichel: Die Musik spielt immer eine wichtige Rolle bei euch.

Alvaro Solar: Ohne Musik kann ich mir nichts vorstellen. Die Musik erzeugt beim Betrachter einen inneren Zustand, der ihn noch mehr öffnet. Es ist ähnlich wie beim Lachen. Das Gefühl des Glücks öffnet den Menschen. Dann ist es für die Person auf der Bühne leichter, einen Zustand der Gemeinschaft mit dem Publikum herzustellen.

Cristina Collao: Wir führen in diesem Jahr auch noch soziokulturelle Projekte durch. „Cuerpo e identidad“ („Körper und Identität“), ein Projekt mit Frauen, die Künstlerinnen sind, aber nicht als Künstlerinnen tätig sein dürfen, weil sie davon nicht leben können. Video-Performances, auch mit Texten, die von Alvaro dramaturgisch bearbeitet wurden, künstlerische Antworten auf Rassismus. Wie erfahren wir Rassismus, Mikrorassismus als Frau, als Künstlerin. Was machen wir mit unseren Gefühlen? Die Antwort heißt: Wir machen Kunst.

Ein anderes Projekt befasst sich mit dem Thema „Subjekt und Gesellschaft“, eine künstlerische Recherche, auch mit Migrant:innen, erste und zweite Generation. Unsere soziokulturellen Projekte haben immer mit unserer Stadt Bremen zu tun.

Mir ist noch wichtig zu sagen, dass diese aktuelle Entwicklung in Deutschland, all das, was mit Migrant:innen geschieht, was Rechtsextremisten tun, mich in meinem Leben und in meiner Arbeit stark beeinflusst. Ich beobachte mein Leben in diesem Kontext und finde es sehr schwierig, berührt, beeinflusst, beeinträchtigt. All das, das zurzeit in Deutschland – nicht nur in Deutschland – in Europa geschieht, in der Welt. Und wir fragen uns: warum? In der Pandemie habe ich gedacht, wir kommen uns als Menschen näher. Wir sind durch Luft, Atmen, Natur alle miteinander verbunden. Das Gegenteil ist passiert. Wir sind auseinandergegangen. Wir werden das in unserer Arbeit merken. Es gibt Reaktionen, es gibt Gegenreaktionen.

Alvaro Solar: Und dann geschieht etwas wie Ende August 2024 in Solingen!

Cristina Collao: Ich kann verstehen, was in einer Gesellschaft geschieht, wenn so etwas passiert. Aber es ist etwas anderes, alle Migrant:innen gleichermaßen schlecht zu machen. Wir wünschen uns für dieses Land etwas anderes. Ich habe von Anfang an sozial gearbeitet. Ich möchte in der Gesellschaft, in der ich lebe, für unsere Gesellschaft etwas Gutes schaffen.

Norbert Reichel: Und über Solingen sollten wir Hanau, Halle und den NSU nicht vergessen! Würde ein Projekt wie „Grenzenlose Hoffnung“ heute anders aussehen?

Cristina Collao: Das fragen wir uns auch. Es wird immer schwieriger, denn wir bekommen für unsere Projekte auch immer weniger Förderung.

Norbert Reichel: Das erleben zurzeit viele Kultur- und Demokratieprojekte. Es geht in eine völlig falsche Richtung.

Cristina Collao: Wir sind ein freies Theaterensemble ohne festes Haus. Wir wissen, was Unsicherheit bedeutet. Trotzdem, in diesem neuen Kontext werden wir mit unseren Themen weitermachen!

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2024, Internetzugriffe zuletzt am 10. September 2024. Alle zitierten Verse stammen aus Gedichten des Bandes „Metamorphose“ von Alvaro Solar, alle Bilder wurden von Cristina Collao gemalt, auch das Titelbild mit dem Titel „Die Nacht“, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, 2019, alle Rechte der Bilder bei der Künstlerin).