Die Bürgerrechte und die Polizei

Ein Gespräch mit der Innenpolitikerin Julia Höller, Grüne NRW

„Wenn ein Räuber überrascht wird und das Weglaufen vergisst, ja wer schützt den Polizist, ja wer schützt den Polizist? Oder sag‘n wir, ein Student geht spazier’n vor’m Parlament, ja was denkt sich der dabei? Schützen wir die Polizei?“ (Georg Kreisler)

Georg Keisler sel. A. schrieb Text und Musik zu seinem Chanson „Schützen wir die Polizei“ im Jahr 1968. So viel hat sich seit dieser Zeit vielleicht gar nicht verändert. Es gab die bekannten Forderungen nach einer besseren, sprich militanteren Ausstattung der Polizei schon damals: „Statt der Funkstreifwagen Panzer! Wer drin sitzt kann zwar nichts seh’n, doch es kann ihm nichts gescheh’n. Außerdem an jeder Ecke zwei Kanonen für die Leut‘, sie wer’n seh’n wie sich Ihr Schutzmann drüber freut.“ All das im wunderschön-fröhlichem B-Dur.

Heute spazieren keine Studenten (1968 noch nicht gegendert) vor dem Parlament daher, dafür gibt es andere „Spaziergänger:innen“. Aktivist:innen der Letzten Generation kleben sich auf Straßen an, damit auch jede:r merkt, dass Autofahren das Klima schädigt. Manche junge Männer verausgaben ihr Testosteron bei Schlägereien im Freibad. Sogenannte „Clans“ scheinen ganze Stadtviertel zu kontrollieren. Die Medien berichten ausführlich.

Andererseits ist die öffentliche Aufmerksamkeit für Übergriffe der Polizei, auch über den Tod von Inhaftierten im Polizeigewahrsam gestiegen. In Deutschland wurde in den letzten Jahren auch immer wieder darüber diskutiert, wie rechtsextremistische Chat-Gruppen innerhalb der Polizei zu bewerten wären oder welche Rolle Polizeibehörden bei Ermittlungsverfahren gegen rechtsterroristische Gruppen wie den NSU spielen beziehungsweise gespielt hätten. Und dennoch tun sich Innenminister:innen, gleichviel von welcher Partei, mitunter recht schwer, solche Übergriffe und Missstände aufzuklären.

Polizei – das ist und bleibt ein kontroverses Thema. Auf der einen Seite stehen die Rechte der Bürger:innen, auf der anderen steht das öffentliche Interesse nach Sicherheit. Und auch die Rechte der Polizist:innen sollten nicht vergessen werden. Wie kann ein Ausgleich, eine Balance dieser Ziele erreicht werden. Welche Chancen bietet eine schwarz-grüne Koalition, wie wir sie inzwischen in einigen Ländern haben, so auch in Nordrhein-Westfalen? Wenn sich der nordrhein-westfälische Innenminister Nordrhein-Westfalens, Herbert Reul, CDU, zu rechtsextremistischen Umtrieben in der Polizei äußert, tut er dies aufrichtig und engagiert. Andererseits orientierten sich die Entwürfe seines Versammlungsgesetzes vor der Landtagswahl doch sehr am bayerischen Vorbild, nicht zuletzt im Hinblick auf die dort mögliche Präventivhaft. Der Einsatz von sieben Hundertschaften im Hambacher Wald gegen die Demonstrant:innen für ein Ende der Kohleförderung erschien manchen nicht zu Unrecht überzogen. Lassen sich die unterschiedlichen Zugänge von CDU und Grünen überhaupt miteinander vereinen? Oder sind die Gegensätze unüberwindbar?

Foto: Nele Jansen

Über solche Fragen habe ich mit der Innenpolitikerin Julia Höller gesprochen, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und innenpolitische Sprecherin der nordrhein-westfälischen Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Julia Höller hat in Bonn Geographie studiert und zehn Jahre beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe gearbeitet, bevor sie im Jahr 2022 in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt wurde. In ihrer Doktorarbeit hat sie sich mit Katastrophenvorsorge befasst und den systemtheoretischen Ansatz von Niklas Luhmann auf die Katastrophenvorsorge angewendet. Sie war lange Zeit Sprecherin der Bonner Grünen und von 2018 bis 2021 Mitglied des Landesvorstands der nordrhein-westfälischen Grünen. Sie ist seit 2022 eine von fünf Bonner Landtagsabgeordneten, zwei stellt die CDU, zwei stellen die Grünen, eine Abgeordnete die FDP. Einer der beiden CDU-Kollegen ist der innenpolitische Sprecher seiner Landtagsfraktion. Die nächste Landtagswahl findet 2027 statt.

Unabhängige Polizeibeauftragte

Norbert Reichel: Die Polizei wird in Deutschland sicherlich nicht so kontrovers diskutiert wie in den USA, in denen es ernstzunehmende Stimmen gibt, auch in Teilen der Demokratischen Partei, die sich unter der Parole „Defund the police“ gefunden haben. Andere eher konservativ gestimmte Politiker:innen fordern, dass die Polizei härter gegen Gewalt und gegen Straftäter:innen vorgehen müsse, bis hin zu einer gewissen Militarisierung. Gleichzeitig erfreut sich die Polizei in der Bevölkerung eines großen Vertrauens. Wie würdest du in diesem Spannungsfeld den Zustand der Polizei in Deutschland beschreiben?

Julia Höller: Ich antworte zunächst mit einigen wenigen grundsätzlichen Anmerkungen. Die Polizei erfüllt eine wichtige Funktion in der Gesellschaft. Sie ist unsere Staatsgewalt. Sie hat das Gewaltmonopol und ist die einzige Institution, die Gewalt anwenden darf, sie sorgt für unseren Schutz und unsere Sicherheit. Wir verfügen in Nordrhein-Westfalen auch im Vergleich zu anderen Bundesländern über eine gute Ausstattung der Polizei. Gleichzeitig hat die Polizei so weitgehende Eingriffsrechte, dass sie einer besonderen Kontrolle und einer besonderen Beobachtung – auch durch das Parlament bedarf.

Norbert Reichel: Das sind die Grundsätze. Wenn ich mir die Realitäten anschaue, ist es komplizierter. Mein Eindruck: Polizist:innen finden sich oft in einer Sandwichposition wieder. Sie haben einen staatlichen Auftrag, können sich aber nie sicher sein, ob der Staat die jeweils konkrete Ausübung ihres Auftrags immer billigt. Wenden sie bei aller Berechtigung des Gewaltmonopols, das ich nie in Frage stellen würde, zu viel oder zu wenig Gewalt an? Das sind schon verschiedene Welten, in den sich Polizist:innen zurechtfinden müssen.

Julia Höller: Auch als Politiker:innen befinden wir uns zwischen diesen beiden Welten. Wir müssen unserer Polizei die bestmöglichen Rahmenbedingungen bieten, damit sie ihre Aufgaben erfüllen kann. Wir müssen aber auch bei allen Vorfällen, Verdachtsfällen, bei denen das Vorgehen der Polizei Fragen aufwirft, , sehr genau hinschauen. Als Grüne sind wir diejenigen, die immer darauf hinweisen, die Fälle genau anzuschauen, in denen Menschen sagen, sie würden von der Polizei ungerecht behandelt. Ich habe in letzter Zeit immer wieder erlebt, wie schwierig diese Aufgabe ist. Wenn wir Übergriffe der Polizei benennen, werfen uns manche vor, wir wendeten uns gegen die Polizei. Wenn wir darüber sprechen, dass wir unsere Polizei besser ausstatten, besser ausbilden müssen, wird uns von anderen vorgeworfen, wir sähen die Verfehlungen nicht. Es ist jedoch wichtig, beides zu sehen und zu thematisieren. Ein Schwarz-Weiß-Denken wird der Polizei nicht gerecht.

Die Polizei bildet auch ab, was in unserer Gesellschaft geschieht, im Guten wie im Schlechten. Weil wir gerade die Fälle haben, in denen Menschen sagen, sie fühlten sich von der Polizei ungerecht behandelt, brauchen wir eine unabhängige Stelle, die solche Beschwerden bearbeitet. Wir haben uns daher in der aktuellen schwarz-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen darauf verständigt, eine/n Unabhängige/n Polizeibeauftragte/n beim Landtag einzurichten.

Norbert Reichel: Solche Unabhängigen Polizeibeauftragte gibt es ja in anderen Ländern bereits. Die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags haben zuletzt im April 2022 einen Überblick erstellt.

Julia Höller: Ich nenne beispielhaft Rheinland-Pfalz, Hessen, Bremen, Schleswig-Holstein. Für Nordrhein-Westfalen ist es sicherlich wegen der Größe des Landes eine besondere Herausforderung. Diese unabhängige Stelle soll sowohl für Bürger:innen als auch für Polizist:innen ansprechbar sein. Wichtig ist uns die Ansiedlung beim Landtag, damit sie auch wirklich unabhängig agieren kann. Bisher gibt es nur einen Polizeibeauftragten beim Innenministerium, damit ist er aber nicht unabhängig.

Bei Kritik an der Polizei geht es nicht nur um Gewalt, sondern auch um unangemessenes Verhalten gegenüber Demonstrierenden. Auch solcher Kritik muss nachgegangen werden.

Der nordrhein-westfälische Innenminister spricht davon, dass wir in der Polizei eine „Fehlerkultur“ bräuchten. Oft haben auch Polizist:innen das Gefühl, dass etwas nicht richtig läuft. Der Dienstweg ist in Behörden der Weg, der ein ordnungsgemäßes Verfahren gewährleistet, der aber auch einer Aufarbeitung von Missständen im Wege stehen kann. Polizist:innen müssen daher die Möglichkeit haben, sich auch außerhalb des Dienstweges an eine unabhängige Stelle wenden zu können.

Uns Grünen wird oft vorgeworfen, beispielsweise von Polizeigewerkschaften, wir wollten die Stelle eines Unabhängigen Polizeibeauftragten, weil wir als Grüne ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Polizei hätten. Das ist falsch und wird auch gerne dazu genutzt, Stimmung gegen uns und den Polizeibeauftragten zu machen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Polizei immer besser machen können und dass es den Polizist:innen dient, wenn es eine solche unabhängige Stelle gibt. Es dient der Transparenz und stärkt damit das Vertrauen in die Polizei. Wir sprechen überall so viel von Fehlerkultur: wenn die Stelle richtig wirken kann, trägt sie zu einer gesunden Fehlerkultur bei.

Gerade weil die Polizei das Gewaltmonopol hat, müssen wir genauer hinschauen, weil die Auswirkungen polizeilichen Handelns wegen der möglichen Gewaltanwendung viel größer sind als die Auswirkungen in anderen Bereichen.

Die Erfahrungen aus den Bundesländern, in denen es bereits Unabhängige Polizeibeauftragte gibt, zeigen, dass es den Menschen, die sich an diese wenden, nicht immer unbedingt darum geht, dass ein Strafverfahren gegen bestimmte Polizist:innen eröffnet wird. Oft reicht ein Gespräch, in dem erklärt wird, was passiert ist und warum die Polizei so vorgegangen ist.

Norbert Reichel: Das wäre ein Mediationsprozess, vielleicht analog zu einem Täter-Opfer-Ausgleich?

Julia Höller: Ja, sodass beide Seiten in einem solchen Gespräch vielleicht erkennen, wie das eigene Verhalten beim Gegenüber ankommt und gegenseitiges Verständnis erzeugt wird. Wir schauen uns die Gesetze und Erfahrungen in den anderen Bundesländern sehr genau an, um daraus für Nordrhein-Westfalen zu lernen.

Nur ein Spiegelbild der Gesellschaft?

Norbert Reichel: Das, was wir bisher besprochen haben, bezieht sich auf den Umgang mit konkreten Fällen. Aber wie sieht es mit allgemeinen Einstellungen aus, mit Rassismus, Antisemitismus bei Polizist:innen, der Teilnahme an rechtsextremen Chat-Gruppen? In der Zeit des Bundesinnenministers Horst Seehofer hatten wir eine kontroverse Debatte um Racial Profiling. Seehofer lehnte eine Studie zum Racial Profiling ab. Er argumentierte, dass es kein Racial Profiling gäbe, weil es verboten sei. Mehrere Bundesländer haben inzwischen eigene Studien aufgelegt. Eine erschien zum Beispiel im Oktober 2022 in Berlin. Sie war am 25. Mai 2023 Thema in der StreitBar der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Es diskutierten Thilo Cablitz, ehemaliger Pressesprecher der Berliner Polizei, und Daniela Hunold, Soziologieprofessorin an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht.

Begleitung eines Rettungsdienstes (Rettungsdienste gehören in die Zuständigkeit des Gesundheitsministeriums, aber im Wahlkreis sind Abgeordnete Ansprechpersonen für alle Themen). Foto: privat

Julia Höller: Wir müssen über Rassismus in allen gesellschaftlichen Bereichen sprechen, also auch in der Polizei. Bei der Polizei haben menschenverachtende Einstellungen ganz andere Auswirkungen als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ich denke an das exzeptionelle Recht der Polizei zur Gewaltanwendung. Aufgrund dieses Rechts müssen wir hier besonders hinschauen. Wir müssen Menschen, die Rassismus erlebt haben, mehr beteiligen. Wir müssen das Thema in der Ausbildung berücksichtigen. Wir brauchen Fortbildungen, die als Anti-Rassismus-Training angelegt werden. Wir müssen klug überlegen, wie dieser Bedarf formuliert wird und wie in der Aus- und Fortbildung umgesetzt wird, damit sich nicht sofort Türen verschließen.

Ganz grundsätzlich – und das betont der Innenminister ja auch immer sehr klar – ist für Menschen, die menschenfeindliche Einstellungen haben, die nicht mit beiden Füßen fest auf dem Boden unserer Demokratie stehen, kein Platz in unserer Polizei.

Norbert Reichel: Was bedeutet das für den Dienstherrn der Polizei? Wie weit geht die Pflicht zur Fürsorge für die Beamt:innen, die Pflicht, sie vor Anwürfen und Anschuldigungen in Schutz zu nehmen?

Julia Höller: Es ist für Vorgesetzte richtig und wichtig, sich vor die Mitarbeiter:innen zu stellen. Gleichzeitig ist es aber genauso richtig und wichtig, Vorwürfen nachzugehen und zu schauen, was tatsächlich passiert ist. Es ist unsere Aufgabe als Politik, dass wir uns mit den Strukturen der Polizei beschäftigen. Das ist aber deshalb so schwierig, weil häufig verschiedene Themen miteinander vermischt werden. Das gilt beispielsweise für die rechtsextremen Chats.

Es ist Konsens unter den demokratischen Parteien: das Posten von rechtsextremen Inhalten ist natürlich nicht hinnehmbar. Da gilt null Toleranz. Aber wie gesagt: die Polizei ist ein Spiegel der Gesellschaft. Deshalb müssen wir eben auch damit rechnen, dass es auch bei der Polizei Menschen mit menschenverachtenden Einstellungen gibt, die nicht direkt in rechtsextremen Chats münden. Und eben genau dagegen müssen wir auch etwas tun.

Norbert Reichel: Der Berliner Tagesspiegel veröffentlichte im Juli 2023 ein Interview mit Heike Nelles, seit 2022 interne Extremismusbeauftragte der Kölner Polizei, die u.a. sagte, dass sie bereits Kollegen habe anzeigen müssen. Eine solche Einrichtung gibt es nur in Nordrhein-Westfalen und in Berlin. Die Lehrerin Bahar Aslan wies in einem Tweet darauf hin, dass ihr „der gesamte braune Dreck in den Sicherheitsbehörden“ Sorgen machte. Ihre Dienststelle, die Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Münster beendete daraufhin die Zusammenarbeit. Von der Kündigung erfuhr sie aus den Medien. Eine Anhörung fand nicht statt. Zahlreiche Kolleg:innen haben sie mit einem Offenen Brief unterstützt, den die ZEIT veröffentlichte. Diese beiden Vorgehensweisen – beide im selben Bundesland – widersprechen einander doch erheblich. Auf der einen Seite reagiert das Land vorbildlich, auf der anderen lässt es eine Lehrerin, die ein Problem benennt, im Stich.

Julia Höller: Dass Bahar Aslan einem solchen Shitstorm von Hass und Hetze ausgesetzt ist, ist durch nichts zu rechtfertigen. Der besagte Tweet war unglücklich formuliert und ich kann emotional nachvollziehen, dass sich Polizistinnen und Polizisten pauschal angegriffen fühlen. Wir brauchen eine differenzierte Debatte über strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft und genau deshalb ist Bahar Aslan die Richtige für einen Lehrauftrag an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen. Es ist wichtig, die Perspektiven marginalisierter migrantischer Communities in die Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten einzubinden. Die Auseinandersetzung mit Rassismus muss weiter gestärkt werden und dafür ist die Einbindung der Perspektive von Rassismus betroffener Personen unerlässlich. Ich hoffe, dass die Hochschule und Bahar Aslan einen gemeinsamen Weg in der Sache finden.

Konsequenzen der Empirie

Norbert Reichel: Welche empirischen Grundlagen gibt es?

Julia Höller: Es gibt verschiedene Studien von Tobias Singelnstein zur Polizeigewalt. Die letzte Studie erschien im Mai 2023 unter dem Titel „Gewalt im Amt – Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung“ in Zusammenarbeit mit Laila Abdul-Rahman, Hannah Espin Grau, Luise Klaus (Frankfurt am Main / New York, Campus, 2023). Während der Laufzeit des Projekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, wechselte Tobias Singelnstein von der Ruhr-Universität Bochum zur Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Ergebnisse sind für Nordrhein-Westfalen relevant.

Zum Beispiel haben die Forschenden festgestellt, dass die Polizei und die übrigen Beteiligten oft ähnliche Umstände für eine Eskalation identifizieren. Die Einschätzung, wer verantwortlich ist und wie die Umstände zu deuten sind, widersprechen sich jedoch häufig und werden oft beim jeweiligen Gegenüber verortet. Die Ursachen dafür sind voneinander abweichende Informationslagen, misslungene Kommunikationsprozesse sowie unterschiedliche soziale Rollen. Zum Beispiel stellten die Forschenden fest, dass Betroffene nicht per se das „Ob“ der polizeilichen Maßnahmen in Frage stellten, sondern zu großen Teilen das „Wie“. So bewerteten nur 19% der Befragten den ursprünglichen Einsatzgrund der Polizei als rechtswidrig, häufiger wurde der Zeitpunkt der Gewalt oder das Maß kritisiert. Diese Erkenntnisse sind für die Ausgestaltung der Stelle eines Unabhängigen Polizeibeauftragten relevant, weil sie das erhebliche Potential einer unabhängigen Mediation zwischen den Beteiligten aufzeigen.

Außerdem verwiesen die Forschenden auf die Definitionsmacht der Polizei bei der nachträglichen Betrachtung von Einsätzen. Ohne Mechanismen, die dem entgegenwirken, können Betroffene den Forschenden zu Folge in der Praxis kaum zu ihrem Recht kommen. Dabei ist, wie die Studie ebenfalls herausarbeitet, für die meisten Betroffenen gerade die Anerkennung von erfahrenem Unrecht bedeutsam. Diese Ergebnisse berücksichtigen wir selbstverständlich auch bei der Ausgestaltung der Stelle eines Unabhängigen Polizeibeauftragten.

Norbert Reichel: Die von dir zitierte Studie stellt fest, dass die Aufarbeitung von der polizeilichen Wahrnehmung dominiert wird, Tobias Singelnstein und sein Team sprechen von „einer strukturellen Dominanz der Polizei“, die dazu führe, dass „Position und Beschwerdemacht der Betroffenen (…) als unterlegen“ erweisen. Das erschwere „Prozesse des Hinterfragens“. Anders gesagt: bei Ermittlungen hat die Polizei einen Platzvorteil.

Julia Höller: Wir müssen daher auch über die Rolle der Staatsanwaltschaften sprechen und die Hürden, die dazu führen, dass nur eine geringe Anzahl von Vorfällen zur Anklage gebracht werden. Eine wichtige Antwort, natürlich nicht die einzige, auf diese Frage ist eben auch die Einrichtung Unabhängiger Polizeibeauftragten.

Norbert Reichel: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die vom Bundesinnenministerium bei der Deutschen Hochschule für Polizei in Auftrag gegebene MEGAVO-Studie? Immerhin gibt es etwa 50.000 ausgefüllte Fragebögen und einen Zwischenbericht. Außer Hamburg und Baden-Württemberg beteiligten sich alle Länder, dazu die Bundespolizei. Der Zwischenbericht ist auf der BMI-Seite verfügbar. Ein interessanter Satz: „Beobachtetes Fehlverhalten ist keine Alltäglichkeit, aber auch keine absolute Ausnahme.“ Zur Entwarnung besteht kein Anlass.

Julia Höller: Diese Studie befasst sich unter anderem auch mit Einstellungen in der Polizei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Ich denke, sie belegt bereits jetzt den Handlungsbedarf, den wir haben, auch wenn die Ergebnisse zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht alle vorliegen. Als Grüne sind wir auch die Stimme der Menschen, die sich nicht so laut äußern können, von Rassismus Betroffene, Menschen, die sich nicht direkt an die Polizei wenden.

Norbert Reichel: Ich nenne ein vorläufiges Ergebnis der MEGAVO-Studie, das uns beunruhigen sollte. Polizist:innen unterschieden sich in ihren Einstellungen nicht von denen anderer Bürger:innen in Deutschland. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen: Wohnungslose und muslimisch gelesene Menschen. Das zweite Ergebnis zitiert auch der Bericht des Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM), der im Juni 2023 vorgestellt worden ist. Erstaunlicherweise ist die Polizei der einzige Bereich, zu dem es überhaupt belastbare Studien zu diesem Thema gibt. Der UEM beruft sich im Übrigen auch auf die Arbeiten der Forschungsgruppe um Tobias Singelnstein.

Ich nenne mal ein Beispiel. Da ruft jemand die Polizei an und beklagt sich, dass sich vor der Haustüre mehrere Wohnungslose aufhielten, die wären schmutzig, machten Lärm. Polizei kommt, nimmt die Wohnungslosen in Gewahrsam. Da jedoch nichts vorliegt, um sie länger festzuhalten, werden sie wieder entlassen. Am nächsten Tag sind sie wieder vor besagter Haustür oder in der Straße nebenan. Der nächste Anruf. Ich kann mir vorstellen, dass Polizist:innen dann selbst schon ob ihrer eigenen Ohnmacht unangenehme Gedanken bekommen. Auch Politiker:innen. Ich will jetzt nicht ausführen, wie die Sache weitergeht, wenn – wie das oft so heißt – „südländisches Aussehen“ gemeldet wird, womit in der Regel auch eine Migrantisierung und oft dazu auch noch eine Muslimisierung der Gemeldeten einhergeht.

Julia Höller: Das ist der Punkt. Die Polizei wird gerufen, wenn etwas schief gegangen ist oder jemand meint, dass etwas schief gegangen sei. Sie kommen in dem Beispiel zu einem Zeitpunkt, in dem andere Institutionen bereits versagt haben, nämlich die Institutionen, die dafür sorgen sollten, dass Wohnungslose ein Dach über dem Kopf haben. Die Polizei wird da eingesetzt, wo Sozialpolitik, Migrationspolitik, Kinder-, Jugend- oder Familienpolitik in der Vergangenheit keine Antworten gefunden haben.

Norbert Reichel: Und wie verbinde ich all diese Politikbereiche? Mit möglichst viel Erfolg, damit die Polizei im Grunde auch entlastet wird? Ich weiß, dass ich jetzt fast Unmögliches formuliere.

Julia Höller: Das ist in der Tat die Eier legende Wollmilchsau. Das können wir nicht von heute auf morgen schaffen. Aber nehmen wir einmal all diese Debatten um die letzten Silvesterkrawallen, als Jugendliche aus benachteiligten Vierteln, oft migrantisch gelesene Jugendliche, Polizist:innen angriffen. Die Debatte wurde vor allem innenpolitisch geführt. Es müsste aber eigentlich eine sozialpolitische Debatte sein. Der innenpolitische Instrumentenkasten reicht hier nicht aus. Selbstverständlich müssen wir unsere polizeilichen Einsatzkräfte so gut wie nur möglich schützen. Angriffe auf Einsatzkräfte sind ein absolutes No-Go. Das muss verfolgt werden.

Norbert Reichel: Ähnliches erleben auch Rettungskräfte, Ärzt:innen. Die ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft forderte vor etwa zwölf Jahren als Gegenmittel eine „Woche des Respekts“; die dann ein einziges Mal stattfand, aber mit einer Woche ist es natürlich nicht getan. Das ist eine Frage gesellschaftlicher Stimmungen, Entwicklungen, die eine Regierung langfristig beobachten und begleiten sollte.

Julia Höller: Wir müssen die Ursachen angehen. Es ist eben nicht allein mit polizeilichen, innenpolitischen oder mit rechtspolitischen Maßnahmen getan. Es reicht nicht aus, schärfere Gesetze zu fordern, wenn wir ein Vollzugsdefizit haben. Es reicht auch nicht, nur eine Beschleunigung von Verfahren zu fordern, wenn das Personal dafür fehlt. All das passt auch zu dem Beispiel des Wohnungslosen. Die Polizei ist nicht dazu da, die Probleme in der Gesellschaft zu lösen. Und dennoch ist es falsch, wenn dann Polizist:innen die Hutschnur platzt und er oder sie dann Dinge tun, die sie nicht tun sollten. Denn sie werden dafür ausgebildet, auch in schwierigsten Situationen die Ruhe zu bewahren.

Parlamentarische Beobachterin in Lützerath

Norbert Reichel: Ein häufiger Konfliktfall sind Demonstrationen. Du warst als parlamentarische Beobachterin bei den Protesten in Lützerath zugegen. Es gibt Polizist:innen, die sicherlich nicht sonderlich begeistert sind, in einer solchen Situation Dienst zu tun. Manche halten das Anliegen der Demonstrierenden für falsch, andere denken, eigentlich hätten die doch ganz recht. Das ist doch höchster Stress.

Als parlamentarische Beobachterin in Lützerath. Foto: privat

Julia Höller: Ich habe aus den Erfahrungen in Lützerath viel gelernt. Als Beobachterin habe ich gesehen, dass Kommunikation und Deeskalation als erste Einsatzmittel funktionieren können. Ich möchte nichts beschönigen, aber ich möchte eine Szene nennen, die mich nachhaltig beeindruckt hat. Da waren Polizist:innen, die Demonstrierende fragten, ob sie weggetragen werden oder freiwillig gehen wollten, ihnen halfen, auch ihr Gepäck mitzunehmen, und dabei auch noch mit ihnen über Klimaschutz diskutierten. Diese Szene hat mich fasziniert. Dazu gehören auch die Aktivist:innen, die sich entsprechend kooperativ verhalten haben. Die Deeskalation hat hier meines Erachtens meistens gut funktioniert. Ich habe aber natürlich auch Situationen beobachtet, die nicht gut gelaufen sind. Insgesamt war die Zeit um Lützerath emotional und physisch die vielleicht schwerste Phase meiner Zeit als Abgeordnete.

Norbert Reichel: Das ist noch eine andere Frage, über die sich diskutieren ließe, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Medienaufkommen. Salopp gesagt hatte ich manchmal den Eindruck, es gab mehr Medienvertreter:innen als Demonstrant:innen. Aber das ist ja nicht nur in Lützerath der Fall. Der Aufwand, mit dem vor Kurzem die Medien die Wahlen in Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz von den Medien begleitet haben, gab diesen Wahlen eine Bedeutung, die sie auf keinen Fall verdienten. Ohne den Medienaufwand im Vorfeld hätte das Ergebnis vielleicht sogar anders ausgesehen. Und den Medienaufwand bei Klebeaktionen der Letzten Generation ist vielleicht auch überzogen. Aber noch einmal zurück nach Lützerath. Es gab schon einige, die ein Interesse daran hatten, die Demonstration zu skandalisieren und den Grünen vorzuwerfen, sie machten sich mit gewaltbereiten Demonstrierenden gemein. Gegen die Polizei.

Julia Höller: Ich habe über den Räumungseinsatz gesprochen, nicht über das Demonstrationsgeschehen bei der Demonstration gegen die Räumung am Samstag. Ich glaube auch, dass der Räumungseinsatz so gut gelaufen ist, weil wir als Grüne sehr genau hingeschaut haben, von vorneherein die Planung genau beobachtet haben und dann eben auch vor Ort waren. Aber die Skandalisierung, von der du sprichst, ist unser tägliches Brot. Das ist ein populistisches Spiel. Das kann man machen, aber es findet auf dem Rücken junger engagierter Menschen statt und schadet der gesellschaftlichen Akzeptanz des Klimaschutzes. Ich denke hierbei an die vielen Aktivist:innen, die sich friedlich für unser aller Zukunft einsetzen.

Norbert Reichel: Die Aktivist:innen der Letzten Generation sind auch friedlich. Die haben sich nur festgeklebt und werden von manchen wie eine Mafiaorganisation oder eine Terrorgruppe gebrandmarkt.

Julia Höller: „Festkleben“ ist erstmal friedlich und gewaltfrei, aber trotzdem nicht meine Aktionsform. Es stellt sich bei jeder Protestform die Frage, ob sie der Sache dient. Angesichts der allgemeinen Ablehnung dieser Aktionsform in der Breite der Gesellschaft, auch durch die teilweise polemische Berichterstattung in den Medien, fürchte ich, dass das ein Bärendienst für die Akzeptanz des Klimaschutzes ist und letztlich auch all denjenigen schadet, die seit Jahren mit vielfältigen originellen Protestaktionen für Klimaschutz demonstrieren.

Norbert Reichel: Aber gäbe es nicht auch Möglichkeiten, die Demonstrierenden einzubinden und vielleicht von solch kontraproduktiven Aktionen abzuhalten? Ich denke beispielsweise an Belit Onay, den Oberbürgermeister von Hannover, der mit der Letzten Generation vereinbart hat, die Ziele – die ja so gewaltig nicht sind – als Stadt zu unterstützen, wenn sie ihre Blockaden unterließen. Das wäre doch eine Chance für friedliche Bündnisse und gleichzeitig eine Verhinderung von Straftaten. Es würde vielleicht auch bei vielen Bürger:innen zu mehr Akzeptanz für die Sache des Klimaschutzes bewirken.

Julia Höller: Dialog und Gespräche sind immer die Basis, um das gegenseitige Verständnis zu fördern. Denn bei dem Ziel, dass es schnellen und wirksamen Klimaschutz braucht, sind wir uns ja alle einig.

Ausbildung, Fortbildung, Supervision

Norbert Reichel: Am 20. Juni 2023 war auf ZEIT online ein Portrait der Hauptkommissarin Chiara Malz zu lesen, die sich bei der Letzten Generation engagiert. Es gab eine Menge zustimmende Kommentare für ihr Engagement, zumindest waren alle von Respekt geprägt. Dieser Fall zeigt meines Erachtens sehr gut, in welchem Dilemma sich Polizist:innen mitunter befinden. Vielleicht kein sehr typischer Fall, aber er zeigt meines Erachtens, wie wichtig es wäre, wenn Polizist:innen die Möglichkeit hätten, das im Einsatz Erlebte auch psychologisch aufzuarbeiten.

Julia Höller: Wir brauchen mehr Stellen für Supervision und haben deshalb zahlreiche solcher Stellen im Haushalt neu bewilligt. Wir wollen Polizist:innen die Möglichkeit geben, ihren Alltag und spezielle Einsätze zu reflektieren. Dafür brauchen sie auch Zeit und Räume. Schon in der Ausbildung müssen wir darauf hinwirken, dass Supervision nicht als ein störendes Thema abgetan wird. Wir brauchen Offenheit für Selbstreflexion: Wie hinterfrage ich einen Einsatz, wie hinterfrage ich meine Einstellung? Die Grundlagen werden in der Ausbildung gelegt. Im Dezember letzten Jahres wurden bereits 52 Stellen im Bereich Supervision, Führungskräfteberatung und Coaching ausgeschrieben. Zukünftig soll in den sechs größten Polizeipräsidien Münster, Bielefeld, Essen, Dortmund, Düsseldorf und Köln eine Regionalstelle für psychosoziale Unterstützung mit jeweils zwei neu eingestellten Psycholog:innen eingerichtet werden.

Norbert Reichel: In Berlin wurden eigene Reflexionsräume eingerichtet, beispielsweise für Einsätze rund um den Görlitzer Park, einer der zentralen Räume des Drogenhandels mit entsprechender Kleinkriminalität, manchmal auch mit größeren Delikten. Die Polizei kontrolliert, oft – weil sie eben da sind – viele junge Männer, die migrantisch gelesen werden. In den Reflexionsräumen wird beispielsweise darüber gesprochen, warum man jetzt den einen und nicht den anderen kontrolliert hat, warum den Schwarzen und nicht den weißen. Thilo Cablitz beschrieb dies in der schon erwähnten StreitBar der Bildungsstätte Anne Frank als Erfolgsmodell.

Julia Höller: Unser Ziel muss es sein, dass Menschen bereit sind, ihr Verhalten zu hinterfragen. Es gibt natürlich auch viele Menschen, die erst einmal denken, dass sie das nicht brauchen. Aber wir müssen auch diese dafür gewinnen, die Polizeiseelsorge oder Angebote beim Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) in Münster in Anspruch zu nehmen. Das LAFP hat Angebote zur Reflexionsübung, die auch gut wahrgenommen werden.

Norbert Reichel: Gibt es eine pflichtige Teilnahme?

Julia Höller: Die Teilnahme an dem Supervisionsangebot des LAFP ist im Bereich der Bekämpfung von Abbildung sexualisierter Gewalt gegen Kinder verpflichtend. In den anderen Bereichen ist die Teilnahme dagegen freiwillig. Und da müssen wir uns natürlich fragen, ob möglicherweise nur diejenigen teilnehmen, die schon ein selbstkritisches Bewusstsein entwickelt haben und wie wir diejenigen gewinnen, die die Vorteile der Wahrnehmung eines solchen Angebots für ihre persönliche Entwicklung noch nicht sehen. Wir brauchen Supervision, Team-Supervision, Schulungen und Reflexionen für alle Polizist:innen aber ganz besonders für Führungskräfte.

Norbert Reichel: Über diese Fragen habe ich im Herbst 2020 auch mit Irene Mihalic gesprochen. Sie war damals noch innenpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion. Sie wies mich auf ein wichtiges Problem hin. Seit einigen Jahren werden zusätzliche Stellen für Polizist:innen geschaffen. Die Kapazitäten werden daher hauptsächlich für die Ausbildung der neuen Polizist:innen genutzt, sodass die Kapazitäten für Fortbildung und Supervision fehlen, auch die Finanzmittel.

Julia Höller: Über die Frage, ob man Fortbildungen und Supervision zur Pflicht machen sollte oder nicht, lässt sich streiten. Wenn jemand nur pflichtgemäß teilnimmt, ohne eigene Einsicht und Motivation, kann das auch kontraproduktiv wirken. Wir sollten uns daher zunächst auf die Führungskräfte konzentrieren.

Norbert Reichel: Für Führungskräfte ist das in Berlin Pflicht.

Bei der Wasserschutzpolizei. Foto: privat

Julia Höller: Natürlich sind Fortbildungen in der Polizei verpflichtend. Gerade haben wir in NRW das verpflichtende Einsatztraining für Polizist:innen im Wachdienst von fünf auf sieben Tage erhöht. Dabei wird der Fokus auf dem Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmesituationen liegen. Außerdem geht es darum, den Umgang der Polizei mit Menschen aus marginalisierten Communities in die Fortbildung einzubinden. Zu Fortbildung gehört nach meinem Verständnis auch immer Reflexion. Supervision selbst ist bisher in der Polizei keine Pflicht. Es wird allerdings allen Polizist:innen regelmäßig und besonders nach belastenden Einsätzen angeboten.

Vertrauen schaffen

Norbert Reichel: Haben wir ein Erkenntnis- oder ein Vollzugsproblem oder beides?

Julia Höller: Wir haben eigentlich kein Erkenntnisproblem. Das macht aber keine der genannten Studien überflüssig. Im Gegenteil: sie helfen, vorhandene Erkenntnisse zu konkretisieren und den Handlungsbedarf zu untermauern. Wir müssen aber vor allem die Umsetzung fördern.

Norbert Reichel: Die Polizeibeauftragten könnten hierbei eine Schlüsselstellung einnehmen. Aber die brauchen natürlich eine entsprechende Ausstattung.

Julia Höller: Zuerst muss klar sein, welche Befugnisse die Stelle hat. Und danach geht es natürlich auch um die Personalausstattung. Um wirken zu können braucht sie eine entsprechende Ausstattung. Auf jeden Fall ist es mehr als das bereits vorhandene Beschwerdemanagement.

Norbert Reichel: Bei Umfragen, welchen Berufsgruppen die Menschen in Deutschland vertrauen, stehen Polizist:innen eigentlich ganz gut da.

Julia Höller: Die stehen weit vorn. Wir Politiker:innen stehen leider ziemlich hinten, so viel ich weiß, knapp vor den Gebrauchtwarenhändler:innen.

Norbert Reichel: Die will ich jetzt nicht als nicht vertrauenswürdig markieren. Es gibt auch ganz gute, aber wie das so ist, vielleicht hängt manches Ranking in solchen Listen eher mit gefühlten und unterstellten Eigenschaften zusammen als mit realen Erfahrungen mit einer Personengruppe.

Mit dem nordrhein-westfälischen Justizminister Benjamin Limbach habe ich im Frühjahr 2023 darüber gesprochen, dass er bei den Staatsanwaltschaften Antisemitismusbeauftragte einführen will. Es soll auch Beauftragte für die Rechte von queeren Menschen geben. Gibt es ähnliche Pläne für die Polizei und ist das auch ein Thema für die Arbeit der Stelle des unabhängigen Polizeibeauftragten?

Julia Höller: In den einzelnen Behörden gibt es Ansprechpersonen für Rechte von queeren Menschen. Das halte ich für absolut notwendig, das dürfen aber nicht die einzigen Maßnahmen bleiben.

Das Thema Antisemitismus ist sehr präsent und natürlich auch in der Ausbildung ein Thema. Zum Beispiel werden meines Wissens nach regelmäßig Synagogenbesuche durchgeführt. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob eine weitere örtliche Beauftragtenfunktion die Probleme lösen kann. Auch hier spielt der beziehungsweise die Unabhängige Polizeibeauftragte hoffentlich eine wichtige Rolle bei der Meldung von Vorfällen.

Norbert Reichel: Ich glaube nicht, dass das reicht. Aus den jüdischen Gemeinden höre ich immer wieder, dass man Vorfälle nicht so gerne bei der Polizei meldet, weil man nicht weiß, wie die jeweiligen Beamt:innen reagieren. Ähnlich ist das auch in Schulen. Daher gibt es jetzt in Nordrhein-Westfalen – wie schon zuvor in einigen anderen Ländern – die nach Berliner Vorbild eingerichtete Meldestelle RIAS. Dort arbeiten Jüdinnen:Juden, die genau wissen, was es heißt, antisemitisch angegangen zu werden. So entsteht Vertrauen und es entsteht auch die Möglichkeit, Fälle zur Anzeige zu bringen, die sonst unter den Teppich gekehrt worden wären. Nur ein Beispiel: eine Studie aus dem Jahr 2020 belegte, dass bei der Schulaufsicht gerade einmal sechs Meldungen eingegangen waren. Das belegt, wie viel Vertrauen dieser Institution entgegengebracht beziehungsweise nicht entgegengebracht wird. Wir sprachen über fehlendes Vertrauen in migrantischen Communities. Das ist in den jüdischen Communities nicht anders. Ein vergleichbares Portal zum Thema Muslimfeindlichkeit bietet „I Report“, immerhin mit EU-Förderung und einer Förderung durch die Stiftung Mercator.

Julia Höller: RIAS ist sicherlich ein sehr gutes Beispiel. Wir sollten sehr genau prüfen, in welchen Bereichen Meldestellen helfen. Dazu müssen wir mit den jeweiligen Communities reden. Das entspricht auch unserem grünen Politikverständnis. Wir wollen die Betroffenen einbeziehen. Das Problem liegt meines Erachtens aber nicht allein bei fehlenden Meldestellen, sondern bei der grundsätzlichen Frage, was dahintersteckt. Wie gehen wir mit menschenfeindlichen Einstellungen unter Beamt:innen um? Welche disziplinarischen Möglichkeiten haben wir? Hier gibt es sicherlich einige Punkte, bei denen wir noch ein Stück besser werden müssten Es gab ja mehrere Vorfälle in NRW, nach denen es rechtlich zunächst nicht möglich war, Polizist:innen die an rechtsextremen Chats beteiligt waren, aus dem Dienst zu entfernen. Da bleiben die juristischen Möglichkeiten hinter den Erwartungen zurück. Ich denke man muss darüber nachdenken, ob man neue Möglichkeiten auf Bundesebene im StGB findet. Es ist einfach ätzend, dass wir jedes Mal neu darüber diskutieren, „wie es sein kann“, dass die Beteiligung an rechtsextremen und menschenverachtenden Chatgruppen, die nicht öffentlich sind, keine Konsequenzen haben. Das ist ein bestürzendes Signal nach Innen und nach Außen. Da muss man nachbessern.

„Eine Herausforderung für den Innenminister“

Norbert Reichel: Gibt es ein Monitoring für die Polizei, vielleicht analog zu den Berichten der Wehrbeauftragten auf Bundesebene?

Julia Höller: Wir fordern als Grüne schon seit Jahren periodische Sicherheitsberichte, die eine solche Funktion erfüllen. Im Koalitionsvertrag ist das leider nicht enthalten. Wir haben mit den Lagebildern, Lageberichten, dem Verfassungsschutzbericht und der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) eine solide Grundlage, die allerdings teilweise methodische Schwächen aufweisen. Diese könnte mit dem periodischen Sicherheitsbericht verbessert werden.

Norbert Reichel: Könnte die Stelle des Unabhängigen Polizeibeauftragten solche Berichte bündeln?

Julia Höller: Die Stelle soll ja auch noch mal einen jährlichen Bericht verfassen. Evtl. kann man da auch einiges bündeln und zusammenfassen. Den Bedarf für periodische Sicherheitsberichte sehen wir aber dennoch. Wir machen als Grüne faktenorientierten Politik und in meinem Bereich bedeutet dies eben faktenorientierten Innenpolitik. Das bedeutet, dass wir immer wieder wissenschaftlich unabhängige Berichte einfordern. Das haben wir zuletzt angesichts der in der Polizeilichen Kriminalstatistik dokumentierten und beunruhigenden gestiegenen Daten zur Kinder- und Jugendkriminalität getan.

Sofort gab es eine Menge verschiedener Vorschläge, darunter auch den Vorschlag, das Strafmündigkeitsalter zu senken. Aber Schnellschüsse haben noch nie jemandem geholfen und ich bezweifle, dass das eine zielführende Maßnahme ist.

Norbert Reichel: Das hat auch Benjamin Limbach in dem genannten Gespräch so gesagt. Die grüne Position scheint mir da eindeutig.

Julia Höller: Ja. Wir sind da sehr klar in der Sache. Wir brauchen eine gesicherte Faktenlage. Die Zahlen sind lange Zeit gesunken, jetzt sind sie wieder gestiegen. Corona spielt sicherlich eine Rolle, aber das ist ein Bauchgefühl und vielleicht nicht der alleinige Grund. Es ist wichtig zu wissen, ob sich der Anstieg fortsetzt, wie stabil die Zahlen sind, und was die Gründe und Ursachen dafür sind. Deshalb haben wir einen Antrag im Landtag eingebracht, in dem die Landesregierung aufgefordert wird, eine unabhängige Studie zu beauftragen, die diese Fragen beantwortet, damit wir daraus dann die richtigen Maßnahmen ableiten können.

Norbert Reichel: Wie bewertest du das Verhältnis zwischen den Koalitionspartnern in all diesen Fragen. In den Programmen gibt es da ja recht unterschiedliche Vorstellungen.

© Landtag NRW / Bernd Schälte

Julia Höller: Wir sind schon eine Herausforderung für die CDU So viel hat die CDU noch nie diskutieren müssen, weil wir aus unterschiedlichen politischen Kulturen kommen, von unterschiedlichen politischen Standpunkten. Ich war schon bei den Koalitionsverhandlungen dabei. Es dauerte ziemlich lange, überhaupt erstmal ein gemeinsames Verständnis über bestimmte Dinge herzustellen, um daraus dann gemeinsame Positionen entwickeln zu können. In einigen Bereichen gelang dies, in anderen nicht.

Norbert Reichel: Ich nenne das Stichwort Präventivhaft. Der Regierende Bürgermeister in Berlin ist dafür und wie lange die SPD dort der Versuchung widersteht, wissen wir noch nicht.

Julia Höller: Es ist nicht immer die große Schlagzeile, die wir suchen. Dafür bin ich auch persönlich sicher nicht der Typ. Wir fokussieren uns auf die inhaltliche Arbeit und konnten viele Dinge verändern, beispielsweise die strukturellen Lehren, die wir aus dem schrecklichen Tod des sechzehnjährigen Senegalesen Mouhamed Dramé durch Polizeischüsse in Dortmund gezogen haben. Eine der Lehren war die Anpassung der Fortbildung. Es gibt jetzt sieben statt fünf Tage pflichtige Fortbildung und zusätzliches Thema ist nicht nur der Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, sondern auch der Umgang mit Menschen aus migrantisch gelesenen Communities. Eine bessere Aus- und Fortbildung macht eine bessere Polizei. Das verändert viel.

Norbert Reichel: Wie sieht das in der Partei aus?

Julia Höller: Die Debatten in und mit der Partei sind wichtig. Wir kommen aus einer Bürgerrechtsbewegung. Gerade in der Innenpolitik haben mehrere kluge Frauen die Grundlagen für eine bürgerrechtsorientierte Innenpolitik gelegt: Irene Mihalic, Monika Düker und Verena Schaeffer haben die Innenpolitik für uns Grüne stark geprägt. Eine Landesarbeitsgemeinschaft darf selbstverständlich eine andere Position haben als die, die ich in einer Koalition als innenpolitische Sprecherin dann vertrete. Deswegen ist es so wichtig, dass wir im engen Austausch bleiben und unsere Positionen und Argumente immer wieder miteinander abwägen. Aber dabei ist auch klar, dass das Regierungsprogramm nicht identisch mit unserem grünen Wahlprogramm sein kann. CDU und Grüne versuchen immer, einen gemeinsamen Weg zu finden. Aber die Erwartung, dass wir mit 18 Prozent alles durchsetzen und urgrüne Politik machen können, muss ich leider enttäuschen. Aber trotzdem sorgen wir, manchmal leise, manchmal laut, dafür, dass unsere Positionen deutlich werden und auch vieles in unserem Sinne geschieht. Es ist ein wenig die Arbeit des Brückenbauens. Ich versuche Brücken über bestehende Differenzen hinweg zu bauen. Es gelingt nicht immer, aber wenn das gelingt, dann eröffnen sich häufig gute Wege.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2023, Internetzugriffe zuletzt am 23. Juli 2023.)