Die DDR in der Südsee

Vom Ende zur Wende der Geschichte

„Das Leben ist offen! So – nach vorn. Immer.“ (Rollo Schultz als Erzähler in: Wendekreis)

Stefan Körbel hat 2019 den Roman „Wendekreis oder Die Vollendung der deutschen Einheit im Südpazifik“ veröffentlicht (Berlin, edition schwarzdruck), etwa 30 Jahre nach seiner CD „Restbestände“, die er im März 1990 aufgenommen hatte. Der Roman ist nicht der einzige Roman der 2010er Jahre, in dem versucht wird, die Geschichte der DDR vor 1989 mit der nach 1989 zu verbinden.

Bücher, in denen sich Fiktives und Dokumentarisches über die Zeit rund um das Jahr 1989 miteinander kunstvoll vermischt, haben in den 2010er Jahren durchaus Konjunktur. Zwei Beispiele: Regina Scheer, Machandel (München, Albrecht Knaus Verlag, 2014), Manja Präkels, „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (Berlin, Verbrecher Verlag 2017). Der Roman von Stefan Körbel ist jedoch das einzige mir bekannte Buch zu diesem Thema, dass die Geschichte eines Menschen in den Mittelpunkt stellt, der den Traum von einer menschlichen DDR träumte und diesen Traum auch vor 1989 zu leben versuchte.

Eine Art Abenteuerroman

Der Verleger nennt Stefan Körbels Roman eine „Robinsonade mit Schwäbin“. Der Ostberliner Musiker Rollo Schultz, der Erzähler des Romans, heuert auf einem Kreuzfahrtsegelschiff an, der „Erynnia“, die im Südpazifik versinkt. Er rettet sich auf eine einsame Insel, aber er ist dort nicht allein. Die zweite Hauptperson des Romans ist Schwäbin: Stella. Sterne gibt es genug am Südseehimmel, doch dieser Stern leuchtet exklusiv für Rollo. So erhält der Roman so etwas wie eine Liebesgeschichte. Wie diese ausgeht, wird nicht verraten, wohl aber, dass Stella bei der Havarie ein Auge verliert, sich umbringen möchte, Rollo dies mit einer gewissen durchaus auch leicht gewalttätigen Konsequenz zu verhindern weiß, bis Stella sich in ihr Schicksal ergibt und mit ihm ein gemeinsames Leben auf einer Südseeinsel aufbaut. Vorerst.

Eine Kette rätselhafter Ereignisse: Es entwickelt sich eine Entdeckungsgeschichte, irgendwie auch ein Krimi, ein Abenteuerroman, eine fantastische Geschichte, deren zweiter Teil nicht zufällig Edgar Allan Poes „A Descent into the Malström“ zitiert (und nicht nur diese Geschichte), vielleicht auch ein geschichtsphilosophisches Buch: „Man kann die Geschichte der SU als Kriminalgeschichte lesen. Okay. Kann man. Stalin als Konterrevolution, wie es die deutsche KPD-Chefin Ruth Fischer als erste tat, der ich, obwohl das völlig Wurst ist und niemanden interessiert, darin vollständig zustimme. / Aber hat man damit nicht erklärt, wieso die Utopie, der Traum vom wirklichen Kommunismus, irgendwie trotzdem überleben konnte. Und am anderen Ende: den würdelosen Abgang kann auch keiner so richtig erklären.“ Wie kam es zum Untergang der DDR? Wie kam es zur Havarie der „Erynnia“? Das bleibt mehr oder weniger offen.

Der Roman spielt mit verschiedenen Textsorten und Sprachregistern. Dazu passt der Stil, der mich mitunter an den Stil eines anderen Aufarbeiters, an die Romane Wolfgang Koeppens erinnert. Der assoziative Stil verbindet ganze Welten, sodass es nicht bei einem zufälligen stream of consciousness bleibt, sondern ein Panorama einer Geschichte (im doppelten Sinne zu verstehen) entsteht, wie sie vielleicht war, wie sie hätte sein können oder auch wie sie sich in der Rückschau je nach Gemütsverfassung und Träumen desjenigen, der sich erinnert oder träumt, zusammenfügt.

Rollo Schultz, der Erzähler, der in vielen Details an den Autor erinnern mag, obwohl dieser dies in seinem Nachwort – wie das Autoren in biografisch angehauchten Texten gerne tun – von sich weist, ist ein historisch, literarisch und musikalisch gebildeter Mensch, der aber nicht „mit angehäuftem Lesewissen, das sowieso keinen Pfifferling mehr wert ist“ „prahle(n)“ möchte. Tut er auch nicht. Die vielen durch den Text ausgelösten Assoziationen wirken nie aufdringlich. Kurze Absätze, oft ohne Verb, viele Absätze, über die sich erst einmal nachzudenken lohnte, bevor man weiterliest, folgen aufeinander, sodass man in vielen Passagen fast an einen lyrischen Text, an eine Art Prosagedicht, vielleicht auch an Rimbauds „Une saison en enfer“, denken könnte, gerade in den Zeilensprüngen, Ausrufen und Formeln, die nie zu hastigem Lesen verführen, stets in sich geschlossen erscheinen und die sich doch auf etwas Folgendes öffnen, das sich erst viele viele Seiten später auflöst.

Der assoziative Stil sorgt dafür, dass man jederzeit Lust bekommt, in seinen eigenen Bücherschrank hineinzugreifen oder die nächste Bibliothek oder Buchhandlung aufzusuchen. Und genau dies ist offenbar auch die Absicht des Autors: „Falls jemand geneigt ist, die etlichen ‚Nebenbei-Geschichten‘ für sich zu entdecken, wäre das durchaus in meinem Sinne. Es würde mich freuen: Queen Emma. Engelhardt. Gorschkow. Solf. Chamisso. Forster. / Die Bounty. Nauru.‘“ Geschichte vollendet sich im Weiterlesen, Weiterdenken.

Geschichten in der Geschichte

Wie wichtig ist die Geschichte eines Einzelnen? Eigentlich gar nicht. Die Leser*innen werden relativ früh darauf eingestimmt, dass es nicht viel zu erwarten gibt: „Eine Erzählung also. Mehr nicht. / Mehr solltet ihr nicht erwarten. Sagte ich ja schon. / Vielleicht – ein bißchen Spannung, Exotik. Irritation, vielleicht. / Aber hoffentlich nicht zu sehr. Es ist – es ist nur meine Geschichte. / Nur meine, so.“ Mich erinnert diese Stelle an den Einstieg in Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Bei Kundera geht es um einen Krieg zwischen zwei afrikanischen Ländern im 14. Jahrhundert, der in der Weltgeschichte nichts bedeutet, obwohl der gesamte Roman (wie das gesamte Werk Kunderas) eigentlich nichts anderes belegt, als dass die historischen Ereignisse, Entwicklungen für jeden Einzelnen von höchster Bedeutung sind. Viele Seiten später wird Kundera dann zitiert: „The uglyfication oft the world. Zitat aus … Na, wißt ihr’s noch? Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Genau.“

Worte verlieren in der Geschichte ihre Eindeutigkeit, beispielsweise das Wort „Kapitän“: „Wie Kapitän Smith auf der Titanic. / Wie Kapitän Schettino auf der Costa Condordia. / Das Wort Kapitän wird fragwürdig dabei.“ Der Kapitän der „Eriynnia“, deren Name an eine vereinsamte Rachegöttin denken lassen könnte, wird zu einem Kapitän Bligh, den viele nur durch den Film kennen, in dem Marlon Brando einen heroischen Fletcher Christian und Trevor Howard einen tyrannischen Kapitän William Bligh spielen.

„Wendekreis“ räumt mit dieser Version auf. William Bligh ist nicht einfach der Böse, Fletcher Christian nicht einfach der Gute. Gute und weniger gute Eigenschafen sind in beiden Personen zu finden. Eine Meuterei, die den Namen Meuterei verdiente, die keine Rebellion gegen einen Tyrannen war, ruinierte den Ruf William Blighs, der mit seinem kleinen Boot eine nautische Meisterleistung vollbrachte, während Fletcher Christian an nichts anderem interessiert war als das Südsee-Mädchen, in das er sich verliebt hatte, zu behalten. Aber vielleicht stimmt auch diese Version nicht. Zitiert wird jemand, der sich sicherlich auch für den Kapitän eines Schiffes hielt: „Der Kapitän liebt sie doch alle, alle seine Menschen, und besonders diesen Fletcher Christian, den hoffnungsvollen Burschen (…) den er wohl als sowas wie seinen persönlichen Schützling sieht.“ Das Kapitel, das die Geschichte der Bounty und seiner Besatzung enthält, beginnt folgerichtig mit dem Satz: „Nun aber schweifen die Gedanken.“ So hätte es sein können, aber vielleicht auch ganz anders.

Gibt es ein „Ende der Geschichte“, wie es geneigte Rezipient*innen im vielleicht bekanntesten Buch von Francis Fukuyama zu finden glaubten? Sicherlich nicht, aber vielleicht doch immerhin ein Ende von Geschichten, denn Rollo Schultz berichtet, wie er „Die Alternative“ von Rudolf Bahro, für deren Verbreitung in Ost und West man als DDR-Bürger*in sehr schnell viel Ärger bekommen konnte, in einer Ramschkiste findet. Das bewusst verdrehte Adorno-Zitat aus den „Minima Moralia“ vom nicht möglichen „richtigem Leben im falschen“ wird zum „Werbe-Slogan bei der Tütenfirma Maggi (…) Suppen wie im richtigen Leben.“ Ich führte / fühlte (Tippfehler: führte. Nee, Tippfehler: fühlte …) / Ich führte und fühlte ein Falsches im Richtigen.“

Paradox erscheint, was bleibt. So wundert sich der Erzähler (mit Recht), dass Thälmann seinen Namen in dem bekannten Park am Prenzlauer Berg behalten durfte, Dimitroff und Bersarin jedoch nicht (ein Nebengedanke meinerseits: hierzu lohnt sich die Lektüre von Götz Aly, Bersarins Straße, in: Jürgen Danyel, Hg., Ost-Berlin – 30 Erkundungen, Berlin, Ch. Links Verlag, 2019). Aber das sind andere Geschichten in der Geschichte.

Die DDR – ein Traum?

Die Geschichte der DDR, wie sie war, wie sie hätte sein können, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Die Geschichte der Bounty: „Fast eine Art DDR-Parabel. So irgendwie wollte ichs erzählen.“ Es gibt kaum einen Satz, der mit einer Formulierung wie der, die ich gerade zitiert habe, nicht relativiert wird. Aber das ist kein Wunder, denn wie soll man die Geschichte rund um das Jahr 1989 denn nun wirklich erinnern?

Vielleicht so: „Noch nie gab es bisher Volkseigentum mit Demokratie. / Sagt Volker Braun. / Und er hat recht damit. Natürlich. / Die DDR hatte eine winzige historische Chance dafür. / Von der formalen Vergesellschaftung zur realen überzugehen. / Wir standen vielleicht kurz davor. Vielleicht. / In diesem kurzen historischen Zeitfenster, was da, nun ja: was da Michail S. Gorbatschow hieß. / Vielleicht aber war auch das einfach mal wieder ein strapazierter Irrtum. Man hofft auf was, oh ja, man hofft so sehr: / Möge die Geschichte sich doch tatsächlich aufwärts entwickeln! / Gar nichts tut sie, die Geschichte. / Sie folgt eher der Chaostheorie. / Dahin, dahin. Schade aber auch.“

Auf der „Erynnia“ trifft Rollo eine alte Gefährtin, Jutta Konz, „Jugendklubleiterin in Anklam“. Die beiden sprechen darüber, ob es möglich gewesen wäre, „die DDR von links (zu) kritisieren“. Was sollten die örtlichen Funktionäre denn wirklich verstehen? „Daß die Leute abhauen wollten? Ja, das kannten sie. Aber hierbleiben wollen, und auch Sozialismus, aber eben nicht diesen: das nicht. Das begriffen die doch gar nicht.“

Jutta Konz wirkt in ihrer gehetzten Sprache verbittert, während Rollo versucht, sich der Wirklichkeit der DDR mit einer abwägenden Sprache zu nähern. Er hält fest, dass der Begriff „links“ in der DDR eigentlich gar nicht benutzt wurde. „Die Linke in Frankreich, sowas. In der DDR gabs keine Linke. Unüblich, das Wort. Der Begriff wurde einfach nicht benutzt. (…) Wer kannte Biermann. Wer kannte Bahro. / Wir waren wenige. / (…) Man diskutierte über Luxemburg versus Lenin. Über Trotzki versus Stalin, oder besser gesagt: über das wenige, was man überhaupt über diese Konflikte wußte. War ja alles nebulös. Tabu. Vermintes Terrain.“

Dieses Gespräch zwischen Jutta Konz und Rollo Schultz auf der „Erynnia“ ist eine Schlüsselszene im Roman. Es ist eines der Gespräche, wie sie nach 1989 bis heute an vielen Orten zwischen zwei Menschen stattfinden konnten und können, die sich mit einer DDR identifizierten, wie sie hätte sein können, die den ursprünglichen Anspruch eines sozialistischen Staates ernst nahmen, diesen Traum von einem gerechten und menschlichen Sozialismus aber spätestens am 23. März 1990 zerplatzen sahen.

Die Gespräche zwischen Rollo und Stella haben einen anderen Charakter. Stella kennt sich im Osten nicht aus, aber sie ist neugierig und fragt interessiert nach, denn sie ist „alles so weit weg. Aus deinem Ost-Berlin. Von vor meiner Geburt. Von irgendwoher hinter so einem absurden eisernen Vorhang. Klingt für mich alles so fern wie Eskimomärchen aus dem fernen Grönland … verstehste?“

Rollo denkt darüber nach, ob es vielleicht doch ein „richtiges Leben im falschen“ gab, vielleicht in der Musik, im Kabarett? „Wir hatten eine seiltänzerisch hochgespannte Ironie entwickelt. Einen ätzenden Sarkasmus, einen abgründigen Zynismus. Eine Sprache, eine Kunst, die heute keiner mehr versteht. Die es auch nie wieder so geben wird. Die was ganz ganz eigens war. Die uns mit Verlaub, zu Virtuosen machte. Carlo, später mich. Und einige andere auch noch. Zwieback Krause, Peter Waschinsky, Dieter Becker, Wenzel & Mensching, das Puppentheater Zinnober…Na, das kannst du alles nicht kennen, Stella…“

Doch auch diese Schwärmerei Rollos hat bald ein Ende: „Das Richtige im Falschen, könnte man jetzt denken. / Präziser wäre vielleicht: das Richtigere im leider immer schneller Mißlingenden. Im sich immer mehr vom Richtigen entfernende. // Ich quatsche also und quatsche. / Stella fragte immer mal was.“

Schwäbelnde DDR

War es im „Westen“ anders? Irgendwie lässt sich auch die Geschichte des sogenannten „Westens“ vor 1989 nicht auf einen Begriff bringen. Es ist wie in der Schülerszene des „Faust“. Mephistos ironische Anweisung, jedem „Wort“ einen „Begriff“ zuzuordnen, kann nur scheitern. Und wie im richtigen Leben dient eine besondere Spielart des „Wessis“, der „Schwabe“ in „Wendekreis“ dazu, diese Absurdität zu illustrieren. Es gibt in dem Roman zwar keine „schwäbische Hausfrau“, auch nicht das Schreckgespenst des von West nach Ost migrierten Schwaben, das Wolfgang Thierse in seinem Kiez fürchtet, wohl aber eine Liste von schwäbischen Intellektuellen, die eigentlich nur eines miteinander gemeinsam zu haben scheinen: die schwäbische Herkunft: „Die Heimat von Hölderlin und Hegel, Schiller und Schubart (nein, nicht Schubert, der Komponist, sondern Schubart, der aufmüpfige Dichter (icke jetze ma so, wa, als immerhin diplomierter, wenn auch ostdeutscher Kulturwissenschaftler…)), die Heimat auch von Clara Zetkin und Gudrun Ensslin, Wolfgang Fritz Haug und Erwin Rommel. Die Wahlheimat von Hans Mayer und Walter Jens.“

Schwaben ist das Land der protestantischen Pfarrhäuser, die es auch im Osten gab und die dort immerhin einen Bundespräsidenten hervorbrachten: „Die wunderbare deutsche Eliten-Kinderstube. Das deutsche Pfarrhaus – das macht uns keiner nach! Kriegt einen Hegel, eine Gudrun Ensslin genauso hin wie diesen hier. Und irgend ein Oberdepp ernannte ihn dann auch noch zum ‚Präsidenten der Herzen‘“ Joachim Gauck und Wolfgang Thierse kommen bei Rollo nicht gut weg. Gauck wird zum „Gauckler“ und hier ist es auch zu Ende mit Rollos Versuchen, Worte zu finden, die ihn als jemanden ausweisen, der über den Dingen steht.

Rollo hat – anders als Jutta Konz – weniger Probleme damit, wie sich die diversen Parteistrategen in der DDR verhielten. Ihm sind diejenigen verdächtig, die es – wie auch immer – schafften, sich in dem Deutschland, das heute als „wiedervereinigt“ bezeichnet wird, als ehemalige DDR-Oppositionelle zu inszenieren und so zu Amt und Würden gekommen sind, auch schwäbische Hausfrauen. „Merkeln kann ja russisch. Als Ossa. / Wie soll das gehen – unendliches Wachstum, auf einem endlichen, fragilen Planeten? Der jetzt schon am Ende ist? / Sie ist Physikerin. Sie weiß, was schwarze Materie ist und kennt die Infinitesimalrechnung und weiß der Kuckuck was sonst noch. / Eins plus eins allerdings ist offenbar nicht mehr ganz so ihr Ding.“

Gibt es darin Logik? Für Havarierte offenbar nicht. „Wie gesagt: hier ging nichts mehr mit Logik zu. Jedenfalls nicht unser beider Verhalten. Ihres nicht, meines nicht. / Keine Rettungshubschrauber. (…) Den lieben Gott kann man nicht beschimpfen. Der’s eigentlich war. Wohl aber den Kerl, den man da vor sich hat.“ In dieser Szene fesselt Rollo Stella, damit sie sich nicht umbringt. In der Südsee ein Havarie-Gefühl, wie es sich bei vielen nach der Implosion der DDR als Staat oder als System – wie auch immer man das nennen möchte – einstellte.

Spätestens nach dem 23. März 1990 gab es keine „Rettungshubschrauber“ mehr. Ein Parlament wurde gewählt, das sich selbst abschaffen sollte. Die DDR verschwand, als wenn es sie nie gegeben hätte, und diejenigen, die sich eine andere DDR erhofft hatten, hatte keine Chance, jemanden für das Verschwinden verantwortlich zu machen. Es blieb vielleicht, sich untereinander zu zerstreiten, in der eigenen privaten Südsee, die vielleicht auch so etwas wie ein misslingendes „richtiges Leben im falschen“ wurde. Jutta Konz: „Verstehste, Rollo? So sind die Zeiten. Genau so. Ganze Gesellschaften kollabieren- und die spielen hier eben eine abgeschmackte Piratenoperette.“

„Das Leben ist anderswo“

In der Südsee? Auf einer Insel? Im Abseits der Weltgeschichte? Das war mal ein Traum der 1968er in der Westversion, die gerne Sprüche formulierten wie den vom Leben, das „anderswo“ zu finden wäre, oder den vom „Strand“, der unter dem „Pflaster“ vermutet wurde. Milan Kundera hat einen Roman mit dem Titel „Das Leben ist anderswo“ geschrieben. Hauptperson ist ein jugendlicher Dichter, ein tschechischer Rimbaud, der die Aufbruchstimmung des sogenannten „Prager Frühlings“ durchlebt, allerdings nicht unbedingt im demokratischen Geist.

Die Südsee und die DDR sind vielleicht die wahren Hauptpersonen des Romans. Die Südsee könnte der Traum sein, den die DDR nie erfüllte. „Natürlich. Stella. Wir sind im Paradies. / Allerdings fehlen Schlange und Apfel und Sündenfall.“ Verdächtig ist Rollo dieses Paradies doch schon recht früh. Er weiß kurz nach der unfreiwillig-glücklichen Landung selbst nicht, ob es so richtig ist, „angekommen“ zu sein. „Selber schuld, wenn man hier das Paradies erwartet hatte. / Hätte ich doch nie den Hörer abgenommen. / Grad eben. Vor zehn Tagen.“

Mit der Zeit wird die Südsee heimelig, auch dank Stella, in irgendeiner Art sogar „romantisch“. Mit Musik! Rollo singt Stella „Die Internationale“ vor. Sie schlägt vor, das Lied umzudichten, er weigert sich. Stella: „Oh, Pardon. Wußte nicht, daß ihr sowieso unkapierbaren Anarchokommunisten auch noch sensibel seid. Romantisch. Verpeilt Sentimental.“ Rollo: „Ohne Romantik wären wir aber auch Stalinisten geworden.“

Vielleicht ist die Südsee nur eine Masche für die „immer gleichen gräßlichen Dreiteiler“ im ZDF und in anderen öffentlich-rechtlichen oder auch nicht öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Die „Erynnia“ war kein Traumschiff, vielleicht aber hätte die Insel, auf der Rollo und Stella landeten, eine Trauminsel sein können. Immerhin musste Robinson Rollo nicht auf einen Freitag warten, sondern hatte schon von Anfang an eine Stella dabei, auch wenn er sie erst davon überzeugen musste, sich nicht umzubringen.

Kitsch-Verdacht bleibt immer. Es ist wie in einer Szene von Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, als Sabrina sich eine Welt vorstellt, die den Bildern des sogenannten „sozialistischen Realismus“ entspräche und die man heute noch auf der Fassade des Bundesfinanzministeriums in Berlin besichtigen kann. Ein Leben im Kitsch – das ist für sie unerträglich. Rollo versucht sich ein wenig in Existenzialismus als Gegenmittel: „Die Natur hat keinen Sinn. / Das Leben – auch nicht. Nein. Gar nicht. / Nur, wenn man schafft, ihm einen zu geben. / Schaffen nicht viele. / Oder sich Krücken schnitzt. / Die Religion. Die Revolution. Die ewige Kunst. / Die ja aber, letztere, meistens doch bloß Kitsch wird. / Der ewige Kitsch.“ Ein solcher Kitsch ist kein Ost-Privileg, gab es auch im Westen: „Zwischen Janis Joplin und Johnnie Mitchell drängeln sich immer wieder Bärbel Wachholz und Mireille Mathieu.“ Entziehen kann sich dem niemand, denn „im Ohr bleibt das trotzdem. Der Kitsch. Der Müll.“

Es ist nicht nur musikalischer Kitsch, der hier als „Müll“ bezeichnet wird. Es gibt realen „Müll“ auf der Trauminsel. „Nicht die geringste Beziehung zur Zivilisation hier, aber: Müll.“ An anderer Stelle: „Das Element der Zukunft. Die erste Probe davon, schon mal.“ Unter all diesem Müll finden Rollo und Stella dann einen Container mit Material und Werkzeug, das sie für den Bau eines Bootes nutzen wollen. Und schon wird Vorpommern zur neuen Trauminsel. Rollo träumt: „Ich bring sie nach Vorpommern. Die kleine schwäbische Nymphe. Na klar doch. Meine Stella. Meine kleine riesige große Liebe.“

Und er stellt sich vor, wie der Hochzeitstag mit weißer Kutsche, Stella in grünem Kleid und ihm mit Fliege und Frack ausschaue. Sogar „zum Christentum konvertieren“ käme in Frage, um mit Pfarrer zu heiraten. Das wäre dann so eine Art kleinbürgerlicher Version der Fantasien eines Humbert Humbert, dessen „Nymphe“ nur 12 Jahre alt war. Immerhin ist Stella mit 20 Jahren volljährig. Rollos Fantasie folgt immer wieder demselben Muster, gleichviel, ob er von einer anderen DDR, von einem gemeinsamen Leben mit Stella oder einfach von einer gleichermaßen romantischen und gerechten, in sich solidarischen Gesellschaft träumt, in der all das, was ihn gesellschaftlich, politisch stört, keine Rolle mehr spielt.

Das durch den Fund des Containers mögliche Boot verbindet Rollo und Stella, als „Projekt“, als mögliches Arbeitsergebnis, als Zukunftsfantasie, aber auch als Schreckensfantasie: „Ein Boot würde alles verändern. / Das Paradies wäre zu Ende. (…) // Kaum hat man grad mal wieder was, das kleinste bißchen / Irgendwas – schon isses einem nicht gut genug. / Wahrscheinlich ist das ein ewiges menschliches Dilemma.“

Wie gesagt – das Ende des Romans wird hier nicht verraten, nur so viel: nicht nur Rollo und Stella haben überlebt, das Boot wird fertig und die beiden landen auf Tonga. Die Geschichte endet in Berlin, in einem nieseligen November, ein Jahr nach dem Aufbruch.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2020.)