Die demokratischen Muskeln trainieren!

Johanna Adam über die Ausstellung „Für Alle! Demokratie neu gestalten!“

„Denn die Realität ist komplex. Wir können nicht einfach sagen: Ihr müsst euch zwischen Erdbeer- und Schokoladeneis entscheiden. Das ist nicht Demokratie. Denn es gibt auch noch Nusseis und manche mögen sowieso lieber ein Salamibrötchen und halten Eis für eine überflüssige Erfindung.“ (Marina Weisband, Die neue Schule der Demokratie – Wilder denken, wirksam handeln, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2024)

Demokratie ist so eine Sache. Die einen wollen sie nutzen, um ihre Ansichten hundertprozentig durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass niemand sie mehr in Frage stellt, andere sind vorsichtig und sehen Demokratie als Möglichkeit zum Ausgleich von Interessen, aber das ist noch längst nicht alles: Es geht oft genug einfach um die vorgeblich „richtige“ Art zu leben, aber nicht jede Art dient der Gesamtheit. Und da passt das Beispiel der verschiedenen Eissorten, denn was steckt in dem Eis drin, was dahinter, wer stellt es her, unter welchen Bedingungen, wie kommt es überhaupt in die Eisdiele oder in die Tiefkühltruhe, wie viele dürfen überhaupt angeboten werden? Oder will gar etwa jemand vorschreiben, wer welche Eissorte essen darf? Marina Weisband gelingt es immer wieder, praktische Demokratie an solch einfachen Beispielen im besten Sinne des Wortes be-greifbar zu machen.

Eben dies gelingt auch der von Johanna Adam, Amelie Klein und Vera Sacchetti kuratierten Ausstellung „Für Alle! Demokratie neu gestalten“ Die Ausstellung präsentiert die Vielfalt der Demokratie ebenso wie die Vielfalt der Vorstellung dessen, was Demokratie vermag, mit beachtenswerten künstlerischen Projekten, die auch immer wieder mit historischen Informationen hinterlegt werden. Sie ist bis zum 13. Oktober 2024 in der Bonner Bundeskunsthalle und von Juni bis November 2025 im Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu sehen. Es geht um Wahlen, Parteien, die Beteiligung der Bürger:innen und nicht zuletzt die Frage, ob und wie unsere repräsentative Demokratie durch Formate deliberativer oder direkter Demokratie ergänzt werden könnte. Zu sehen sind künstlerische Annäherungen an demokratische Erfahrungen, aus Architektur, bildender Kunst, aus Film und Fotografie, sowie Dokumente und Zeugnisse der politischen Kulturgeschichte. Eine grundlegende Frage und eine ebenso grundlegende Antwort: „Braucht die Demokratie ein Update? Haben wir uns zu lange darauf verlassen, dass unsere Demokratie durch nichts zu erschüttern ist? Mit Demokratie ist es nämlich so: Es gibt sie nur, wenn wir fortwährend an ihr arbeiten.“

Kunstgeschichte als Zeitgeschichte erzählen

Norbert Reichel: Sie haben die Ausstellung „Für Alle! Demokratie neu gestalten!“ verantwortlich kuratiert. Darf ich Sie bitten, zunächst sich selbst und Ihren fachlichen Hintergrund vorzustellen?

Johanna Adam, Foto: Heike Sieber.

Johanna Adam: Ich bin Kuratorin an der Bundeskunsthalle, ich bin Kunsthistorikerin und Historikerin. Ich habe Kunstgeschichte, Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität in Göttingen studiert und habe sowohl in der Kunstgeschichte als auch in der Geschichte einen Schwerpunkt auf das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert gelegt, inzwischen auch auf das 21. Jahrhundert. Seit 2013 bin ich an der Bundeskunsthalle tätig und habe dort bereits mehrere Ausstellungen konzipieren dürfen.

Norbert Reichel: Vielleicht stellen Sie an einem Beispiel Ihre Arbeitsweise vor?

Johanna Adam: 2021 habe ich zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys die große Schau „Beuys – Lehmbruck – Denken ist Plastik“ kuratiert, eine Ausstellung, die Zeitgeschichte miterzählt hat und sich auf die geistesgeschichtlichen und ideellen Bezugspunkte von Josef Beuys und Wilhelm Lehmbruck bezogen hat. Nicht nur künstlerisch war Lehmbruck eine Bezugsperson für Josef Beuys. Er bezeichnete Lehmbruck als seinen „Lehrer“. Das ist nicht nur künstlerisch relevant, denn beide waren Menschen, die der Lebensreformbewegung nahestanden, die politische Ideale miteinander teilten. Lehmbruck gehörte noch kurz vor seinem Tod zu den Unterzeichnern von Rudolf Steiners „Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt!“ aus dem Jahr 1919. Auch Beuys stand der Theosophie und der Anthroposophie nahe. Insofern war die Vorbereitung dieser Ausstellung für mich eine interessante Recherche an den Grenzen von Geistes-, Zeit- und Kunstgeschichte.

Norbert Reichel: Nun sind Lehmbruck und Beuys, nicht zu schweigen von Rudolf Steiner, politisch nicht unproblematisch.

Johanna Adam: Absolut. Das haben wir auch thematisiert. Rudolf Steiner muss in seiner gesamten Problematik beleuchtet werden, nicht nur als Lebensreformer oder im Hinblick auf biodynamische Landwirtschaft, bis hin zu seinen in Rassetheorien mündenden Überlegungen zu Menschenklassen und Entwicklungsstufen. So wie er sich geäußert hat, kann man sich ihm heute nicht mehr kritiklos nähern. Das waren allerdings nicht die Aspekte, auf die sich Beuys bezogen hat. Beuys hat sich aber auch nicht kritisch mit den problematischen Äußerungen Lehmbrucks beschäftigt, er hat sich nicht merklich davon distanziert. Wie sich Lehmbruck nach Unterzeichnung des Aufrufs entwickelt hätte, wissen wir nicht. Der Aufruf erschien 1919, Lehmbruck hatte sich 1919 das Leben genommen. Auf der ersten Unterzeichnerliste ist er bereits als verstorben bezeichnet.

Ins demokratische Fitness-Studio!

zweintopf: „Langer Atem“, 2019, 2024 © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto zweintopf.

Norbert Reichel: Sie belegen mit Ihrer Arbeit aus meiner Sicht die Möglichkeit, über eine kunstgeschichtliche Annäherung zeitgeschichtliche und politische Entwicklungen sichtbar zu machen und umgekehrt kunstgeschichtliche Aspekte mit zeitgeschichtlichen und politischen Entwicklungen zu erklären. Bei der Ausstellung „Für alle! Demokratie neu gestalten“ ließe sich allerdings auch vermuten, dass eine solche Ausstellung im Haus der Geschichte, nur wenige Meter entfernt von der Bundeskunsthalle, anders aussähe als in der Bundeskunsthalle. In Ihrer Ausstellung steht die Kunst im Zentrum.

Johanna Adam: Das trifft den Nagel auf den Kopf: Bei uns steht die Kunst im Mittelpunkt all unserer Ausgangsüberlegungen. Die Ausstellung ist kein begehbares Geschichtsbuch, eher eine begehbare Ideenskizze, ein begehbares Notizbuch. Daher ist sie auch nicht chronologisch aufgebaut, sie ist keine Chronologie der Geschichte der Demokratie. Wir schauen auf verschiedene Aspekte der Demokratie und sehen, wie sich Künstler:innen damit auseinandersetzen, welche Aspekte sie aufgreifen und machen dies zum Ausgangspunkt unserer Erzählungen. Wir reichern dies mit historischen Dokumenten, mit Archivalien, mit Objekten aus der Alltags- und aus der Zeitgeschichte an, sodass man diese Wechselwirkung fruchtbar werden lassen kann. Erfahrbar werden so einerseits Fragekomplexe, die Künstler:innen aufwerfen, andererseits Realitätsabgleiche über historische Zeugnisse.

Norbert Reichel: Vielleicht machen wir das an konkreten Ausstellungstücken sichtbar.

zweintopf: „Langer Atem“. Langer Atem, 2019/2024, Foto: Tamara Lorenz © zweintopf/VG-Bild-Kunst, Bonn 2024 .

Johanna Adam: Mir fällt da eine Vielzahl von Ausstellungsstücken ein. Am deutlichsten wird es vielleicht am Ende der Ausstellung, im „Demokratie-Fitnessstudio“. Dort können wir unsere demokratischen Muskeln trainieren. Was kann denn jede:r Einzelne tun, abgesehen von der Teilnahme an den Wahlen, bei denen wir alle unsere Stimme abgeben können. Demokratie ist ja mehr: Demokratie spiegelt sich im alltäglichen Miteinander, in Rücksichtnahme aufeinander, im Aushalten von Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen, im Aushandeln von Kompromissen. Demokratie wird im zwischenmenschlichen Miteinander erlebt.

Wir haben unter anderem eine Arbeit mit dem Titel „Langer Atem“ vom Künstler:innenduo zweintopf aus Österreich. Wir sehen eine aufblasbare Skulptur, die Göttin der Demokratie, nachempfunden jener Statue, die 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Beijing von Kunststudierenden aufgestellt wurde, als friedliches Monument der Demokratie. Diese Figur haben die beiden Künstler:innen nachgenäht. Sie liegt – wenn man Pech hat – traurig und zusammengesunken auf dem Boden und man muss sie mit eigener Muskelkraft aufpumpen. Wenn man Glück hat, steht sie noch, vielleicht auch nur halb, und so kann man dazu beitragen, dass sie nicht weiter zusammensinkt. Genau dies wollen wir in der Ausstellung vermitteln: Demokratie ist kein Serviceangebot an uns. Demokratie ist nichts, in dem wir uns als Konsument:innen der Demokratie begreifen sollten. Wir sind die Betreiber:innen der Demokratie und wenn wir nichts tun, dann implodiert oder erodiert die Demokratie.

Archäologie der Friedlichen Revolution – die „Sturzlage“

Gabriele Dolff-Bonekämper, Sturzlage © Foto Gabriele Dolff-Bonekämper.

Norbert Reichel: Die Rettung der Demokratie davor zusammenzusinken, das ist das eine, die Skulptur „Sturzlage“ lässt anderes vermuten oder täusche ich mich?

Johanna Adam: Die „Sturzlage“ ist eine Mischung von künstlerischer Arbeit und Zeitzeugnis. Die Denkmalpflegerin Gabriele Dolff-Bonekämper hat sich gezielt auf die Suche nach dem Mobiliar des Zentralen Runden Tisches in Berlin gemacht. Dieser Teil unserer Geschichte kommt in kaum einem unserer erinnerungspolitischen Orte vor, nicht in den historischen Museen, nicht in zeitgeschichtlichen Foren. Das ist nichts, dem in der kollektiven Erinnerung ein eigener Platz eingeräumt wird.

Die Suche war erfolgreich. 2018 hat Gabriele Dolff-Bonekämper die Stühle gefunden und zwar in „Sturzlage“. „Sturzlage“ ist ein Begriff aus der klassischen Archäologie. So bezeichnet man in der Archäologie den Zustand eingestürzter Ruinen, beispielsweise Tempelruinen, in dem noch nichts gesichert, nichts gesäubert, nichts verändert wurde. Die Stühle, auf denen der Zentrale Runde Tisch tagte, wurden in einer solchen „Sturzlage“ vorgefunden und werden in der Ausstellung auch genau so präsentiert. Gabriele Dolff-Bonekämper hat mit „Sturzlage“ den treffenden Ausdruck dafür gefunden, wie sie diese Relikte aus der jüngsten Geschichte vorgefunden hat, nicht gelagert, einfach weggeräumt. In den Stühlen haben schon Hase und Fuchs genistet. Sie hat die Stühle hervorgezogen, sie hat sie zunächst in einer kurzen Präsentation in der Berliner Volksbühne, später im Museum der Bildenden Künste in Leipzig ausgestellt. Damit bezieht sie sich einerseits auf unseren erinnerungspolitischen Umgang mit jenem Teil unserer jüngsten deutsch-deutschen Geschichte, zum anderen bezieht sie sich auf das historische Ereignis selbst, dass die Ergebnisse des Zentralen Runden Tischs von der Geschichte überholt wurden und schließlich zu einer „Sturzlage“ der Geschichte wurden.

„Sturzlage“ – Ausstellungsansicht, 2019. Foto: Tamara Lorenz, Courtesy Gabriele Dolff-Bonekämper.

Norbert Reichel: Zur „Sturzlage“ zeigen Sie auch beachtenswerte Dokumente, die heute kaum noch jemand kennt, geschweige denn zitiert.

Johanna Adam: Das ist ein schönes Beispiel, wie sich Kunst mit tatsächlichen Dokumenten, Zeitzeugnissen rückkoppelt, diese anfüttert, anschaulich macht und zeigt, warum es so wichtig ist, noch einmal genauer hinzuschauen. Wir zeigen die handschriftlichen Entwürfe der Präambel zum Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tischs. Die Präambel stammt von Christa Wolf, der vielleicht bekanntesten Schriftstellerin der DDR, die angesprochen wurde, eine solche feierliche Präambel zum Verfassungsentwurf zu schreiben. Am Zentralen Runden Tisch saß man zunächst zusammen, um die Grundlagen für eine neue, wirklich demokratische DDR zu schaffen. Das Ziel der Bürgerrechtler:innen in der DDR war zunächst die Reform der DDR, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stand zunächst gar nicht zur Debatte. Sie war perspektivisch im Blick, so war der Verfassungsentwurf auch eine Adaption des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Man wollte eine Wiedervereinigung nicht unmöglich machen, sondern dazu einen Beitrag leisten.

Der Verfassungsentwurf orientierte sich am Grundgesetz, enthielt aber einige Updates, bemerkenswerterweise genau die Punkte, über die wir auch heute diskutieren, von denen einige in den letzten drei Dekaden auch aufgegriffen wurden. Dazu gehören die Rechte der Natur und der Umweltschutz, die Christa Wolf schon in der Präambel aufgegriffen hat. Es geht nicht nur um den Schutz, auch um die Nutzung der Umwelt mit einer Gemeinwohlorientierung, beispielsweise mit dem freien Zugang zu Wäldern und Seen. Das ist ein Ansatz, der sich gegen die Privatisierung öffentlicher Flächen richtet. Dazu kommt das Recht auf einen Arbeitsplatz, das Recht auf Wohnraum, die Verwirklichung der Gleichberechtigung. Auch in Formulierungen, die per se nichts mit Gleichberechtigung zu tun haben, wird deutlich, dass diese eine wesentliche Grundlage der Verfassung ist.

Christa Wolf, Präambel für einen Verfassungsentwurf der DDR, 1990. Akademie der Künste, Literaturarchiv.

Die Begründungen in der Präambel sind nicht nur wunderschön geschrieben, ein Stückchen Literatur, sondern berühren mich sehr im Hinblick auf die Progressivität, die darin steckt. Die Ausstellung heißt auch nicht ohne Grund: „Demokratie neu gestalten!“ Es geht um nichts Umstürzlerisches. Niemand hat damals gesagt, das Grundgesetz tauge nichts. Heute geht es im Kern darum, darüber nachzudenken, welche Themen heute virulent und dringlich sind, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes noch nicht im Blick hatten? Welche Themen prägen heute unser Selbstverständnis, wie müssten diese sich heute auch in unserer Verfassung spiegeln? Dazu lässt sich einiges im Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tischs finden. Dazu gehören eben auch Themen wie Umwelt- und Naturschutz.

Protest muss stören

Norbert Reichel: Die Bürgerrechtsbewegungen in der DDR sind nicht zuletzt aus einer Umweltbewegung entstanden. In der Zionskirche im Prenzlauer Berg gab es die Umweltbibliothek, die schon im Jahr 1986 gegründet wurde. Die von Ihnen kuratierte Ausstellung sorgt dafür, dass wir uns wieder an solche Traditionen der Bürgerrechtsbewegung erinnern. In Ihrer Ausstellung präsentieren Sie noch zwei weitere Punkte, die wir vorstellen sollten: das Thema Frauenstimmrecht und das Thema deliberative, direkte und / oder repräsentative Demokratie.

Johanna Adam: Ich finde es immer wieder frappierend, wie jung das allgemeine Wahlrecht ist. Man kann erst von einem allgemeinen Wahlrecht sprechen, seit Frauen – in Deutschland war das im Jahr 1919 – wählen dürfen, in anderen Ländern noch viel später, in manchen Kantonen in der Schweiz erst in den 1970er Jahren. In der Ausstellung zeigen wir auch Wahlplakate, die das Thema aufgreifen. Es gibt beispielsweise ein Plakat, auf dem zu lesen ist, die Mutter betreibe Politik, aber das Kind liegt auf dem Boden, die Katze sitzt in der Krippe, Sodom und Gomorrha, wenn die Mutter sich anschickt, Politik zu betreiben. Das Frauenwahlrecht ist im Kapitel Wahlrecht natürlich nur ein Aspekt, wenn auch ein grundlegender. Es gibt immer noch große Gruppen in verschiedenen Ländern, denen politische Teilhabe verwehrt wird, auf rechtlicher wie auf faktischer Basis, wenn das Stimmrecht auf dem Papier besteht, aber in der Praxis unmöglich gemacht wird. Das bezieht sich auf das aktive wie auch auf das passive Wahlrecht. Gruppen, denen es erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird zu wählen, haben kaum eine Chance, politische Ämter zu bekleiden. Dies muss man gleich mitdenken, auch im Hinblick auf das Thema Repräsentation.

Ein Thema, das wir in diesem Zusammenhang ebenso aufgreifen, ist das Thema Protest. Protest hat an vielen Stellen eine Menge bewirkt. Deshalb finde ich es auch interessant, vor einem historischen Kontext, beispielsweise der Geschichte der Suffragetten in Großbritannien, Strategien heutiger Protestbewegungen zu erklären. Da gibt es einige Parallelen, im Vergleich zu den Suffragetten gehen Gruppen wie Letzte Generation noch moderat vor. Proteste sorgten dafür, dass ein Thema erst einmal auf dem Tisch lag und auch nicht wieder wegzubekommen war.

Rebekka Benzenberg, Mary Richardson, 2024, Courtesy of the artist, Galerie Anton Janizewski, Berlin and MARTINETZ, Köln.

Eine junge Künstlerin, Rebekka Benzenberg aus Düsseldorf, hat sich in einer Arbeit mit Mary Richardson auseinandergesetzt. Mary Richardson ist in ein Londoner Museum eingedrungen und hat dort ein Gemälde angegriffen. Sie hat die „Venus vor dem Spiegel“ von Velázquez mit einem Hackmesser angegriffen und zerschnitten. Die Letzte Generation hat nur Kartoffelbrei auf Bilder geworfen, die auch noch verglast waren. Eine Restauratorin sagte mir, dass selbst wenn keine Glasscheibe vor dem Bild gewesen wäre, man den Kartoffelbrei ohne Schaden von der Leinwand hätte entfernen können. Das, was Mary Richardson tat, war kein rein destruktiver Akt, sie hat damit auch ein bestimmtes Frauenbild angegriffen, die nackte Venus auf einem Bild war für sie das passive Frauenbild ihrer Zeit. Sie hat dies auch so kommentiert, nicht die Venus sei für sie und ihrer Mitstreiterinnen die schönste Frau, sondern Emelinne Pankhurst, die für die Frauenrechte im Gefängnis saß. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Rebekka Benzenberg greift dies auf und hat aus textilen Patches, aus mehreren Jeansjacken mit Aufnähern, wie man sie beispielsweise aus Jeansjacken der Punk-Bewegung kennt, eine lange Robe genäht, die auch eine lange Schleppe hat und an einem Gestell hängt. Sie greift damit den Protest von Mary Richardson auf und transportiert ihn in die heutige Zeit. Jeansstoff als Stoff der Arbeiterklasse, ein egalisierender Stoff, denn Männer und Frauen tragen heute Jeans, klassen- und geschlechterübergreifend. Damit bezieht sich Rebekka Benzenberg natürlich auf heutige Proteste und will zeigen, dass wir damalige und heutige Proteste miteinander vergleichen sollen und dass es vielleicht auch richtig ist, dass wir gestört werden. Protest, der niemanden stört, hat auch keine Wirkung.

Repräsentative, deliberative und direkte Demokratie

Plakat: Die Mutter treibt Politik! 1927. Gesetaltung: Ernst Keiser. Museum für Gestaltung. Zürich.

Norbert Reichel: Protestkultur spiegelt im Grunde die Forderung nach Repräsentanz. Verschiedene Formen der Demokratie könnten diese Repräsentanz schaffen, wir haben repräsentative Demokratie in den Parlamenten, wir kennen direkte Demokratie, da wird oft die Schweiz als Beispiel herangezogen, wir haben deliberative Formen wie die Planungszelle von Peter Dienel, die als Modell zuletzt von der Bundesregierung über den Bürgerrat zur gesunden Ernährung aufgegriffen wurde.

Johanna Adam: Das ist der große zweite Kreis unserer Ausstellung. Man geht durch die Ausstellung in zwei Kreisen. Der erste Kreis ist der Demokratie, wie wir sie kennen, der zweite Kreis der Demokratie, wie sie auch sein könnte, gewidmet. Wir schauen uns nicht nur an, wie etwas sein könnte, sondern auch Formen der Demokratie, die in der Geschichte oder auch in der Gegenwart bereits erprobt wurden, Teil eines möglichen Ideenspektrums sind.

Wir beginnen mit dem griechischen Kleroterion, mit dem Gedanken, Demokratie nicht als Ergebnis von Wahlen, sondern als Ergebnis von Zufallsentscheidungen zu begreifen. Ämter werden nicht per Wahl vergeben, sondern ausgelost im Kreis der Bürgerinnen und Bürger. Das hat natürlich lauter Pferdefüße, denn in der attischen Demokratie galten nur Männer als Bürger, auch nur solche mit einem bestimmten Status als freie Bürger. Frauen, Sklaven, Ausländer waren ausgeschlossen. Es war ein elitärer Kreis von weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Dieses System scheint aber wieder auf in der Idee der Bürgerräte, deren Mitglieder ausgelost werden.

Wir haben auch für die Bundeskunsthalle einen Bürgerrat aufgestellt und uns damit ein beratendes Gremium geschaffen, das wir auch verstetigen möchte. Aus dem gesamten Einwohnermelderegister der Stadt Bonn wurden etwa 3.000 Menschen angeschrieben, von denen sich etwa 300 zurückgemeldet haben. Das ist eine sehr gute Quote, wie uns Expert:innen versicherten. Dann verlassen wir allerdings das Zufallsprinzip und verkleinern den Kreis nach demographischen Kriterien. Peter Dienel, der dieses System konzipiert hat, ging es um ein repräsentatives Abbild der Stadtgesellschaft. Sozusagen ein Mini-Bonn nach demographischen Kriterien wie Alter, Bildungsabschluss und so weiter. Die Politik greift heute bereits auf dieses System zurück. Wir könnten es vielleicht so sagen: Unser parlamentarisch-demokratisches System ist eine Käsescheibe mit Löchern. Das deliberativ-demokratische System ist eine zweite Käsescheibe, die aber ihre Löcher woanders hat, sodass man weniger Löcher hat, wenn man die Scheiben übereinanderlegt.

Volksabstimmungen spielen in anderen Gesellschaften eine größere Rolle als bei uns, beispielsweise in der Schweiz, die natürlich viel kleiner ist als Deutschland. Direkte Demokratie hat ihre Tücken, beispielsweise verschwindet bei solchen Abstimmungen oft der Minderheitenschutz. Auf der kommunalen Ebene ist dies machbar, weil dort Fragestellungen behandelt werden, die fast alle in der Kommune lebenden Menschen direkt betreffen. Das wäre eine dritte Käsescheibe.

Ich denke nicht, dass jemand der Meinung ist, wir sollten die Mitglieder der Bundesregierung per Losverfahren zusammenstellen. Bürgerräte können allerdings die repräsentativen Verfahren wunderbar ergänzen. In Irland gelang es, über einen Bürgerrat einen Konsens zum Thema Abtreibung herzustellen. Ein solches Thema gehört vielleicht wirklich nicht auf die repräsentative Ebene, weil damit sehr persönliche Fragestellungen verknüpft sind. Das Modell ist sicherlich nicht für jede politische Herausforderung anwendbar. Ohnehin ist nicht für jede Herausforderung dasselbe Mittel anzuwenden. Wir müssen darüber nachdenken, welche Herausforderung wir haben und welche Modelle der Demokratie besonders geeignet sind, ein möglichst konsensuales Ergebnis zu erreichen.

Vorsicht bei einfachen Antworten!

Norbert Reichel: In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht auf meine Gespräche mit Marina Weisband über ihr neues Buch „Die neue Schule der Demokratie“ und das darin vorgestellte aula-Projekt sowie mit Sandro Witt über das von ihm geleitete DGB-Projekt „Betriebliche Demokratiekompetenz“ verweisen. Der Kern beider Initiativen lautet: Erfahrungen der Selbstwirksamkeit schaffen, Eigenverantwortung stärken, Beteiligung organisieren.

Johanna Adam: Das ist ein wichtiger Punkt. Wir dürfen nicht hinnehmen, wenn zum Beispiel 30 oder 40 Prozent der Menschen eine rechtsextremistische Partei wählen. Zum Glück muss sich eine gewählte Regierung an das Grundgesetz und alle Gesetze halten.

Norbert Reichel: Aber wenn sie das nicht tut, was dann? Ein durchgehendes Thema auch Ihrer Ausstellung ist die Resilienz von Demokratie oder ich sage vielleicht besser: die Organisation und Sicherung von Resilienz. Gibt es in der Ausstellung Elemente, die dies besonders gut zeigen?

SCHAUM: Kiosk der einfachen Antworten, 2022, Foto: Tamara Lorenz © Artist Collective SCHAUM.

Johanna Adam: Das ist eigentlich ein Dilemma, aber es zeigt sich vielleicht am besten am „Kiosk der einfachen Antworten“. Es gibt natürlich Antidemokrat:innen, es gibt Menschen, die die Bedrohung durch Antidemokrat:innen nicht so ernst nehmen, es gibt diejenigen, die auf jede Frage eine einfache Antwort verlangen.

Der „Kiosk der einfachen Antworten“ ist eine Arbeit des Künstlerduos „Schaum“ aus Rostock. Sie haben ein schlichtes und doch so zutreffendes Bild gefunden. Es handelt sich um ein Holzhäuschen. Oben steht ganz ansprechend: „Kiosk der einfachen Antworten“. Der ist aber eben immer geschlossen. Einer der Journalisten, die uns besuchten, meinte: Können Sie den nicht so zwischendrin einmal öffnen? Da wollte schon jemand mal sehen, was da drin ist. Die Antwort war natürlich: Nein, sorry, der bleibt geschlossen. Und wenn Ihnen mal jemand eine einfache Antwort anbietet, seien Sie skeptisch, dann ist ein Haken daran. Es ist nun einmal so, es ist komplex.

Dieses Dilemma zeigt sich an vielen Exponaten. Ich nehme als Beispiel die Kampagne von Wolfgang Tillmans gegen den Brexit. Diese Kampagne hatte leider keine Chance gegen die brachiale Kampagnenmacht eines Medienmoguls wie Rupert Murdoch, der ein großes Interesse am Brexit hatte. Wie wir heute wissen, auf der Grundlage von Fake News, von Fehlinformationen.

Norbert Reichel: Und von einfachen Parolen wie „Take Back Control“. Die Remainers hatten keine so einfache und eingängige Parole.  

Johanna Adam: Hinzu kam, dass es Brit:innen im Ausland sehr erschwert wurde, an der Abstimmung teilzunehmen. Sie mussten sich sehr früh registrieren, viele dachten sicherlich, so weit wird es nicht kommen. Als sich dann abzeichnete, dass es doch eine enge Kiste würde, war es zu spät sich zu registrieren. Letztlich stellt sich die Frage, wie demokratisch ist eine solche Abstimmung? Es ist letztlich immer eine Frage der Gerechtigkeit.

Norbert Reichel: Deshalb müssen wir auch regelmäßig ins demokratische Fitness-Studio, um unsere demokratischen Muskeln zu trainieren.

Johanna Adam: Dazu gehört auch, dass wir Meinungen akzeptieren und respektieren, die wir nicht teilen, solange sie auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes sind. Das muss ich aushalten. Das wird deutlich in einer sehr intensiven Arbeit, die mir mehrfach die Augen geöffnet hat, die Arbeit „Über Angst und Bildung, Enttäuschung und Gerechtigkeit, Protest und Spaltung in Sachsen/Deutschland“, eine neunstündige Videoarbeit von Mario Pfeifer, der sich in den Jahren 2015 und 2016 mit vielen Menschen in Dresden und in Sachsen unterhalten hat, die in irgendeiner Weise mit dem Thema PEGIDA in Berührung gekommen sind. Es ist auch ein Mitgründer von PEGIDA dabei, es ist ein Journalist dabei, der die Entwicklung sehr kritisch begleitet hat, eine Bürgermeisterin aus einem kleinen Ort in der Nähe von Dresden, ein Firmenbesitzer, der viele Angestellte hat, die an den PEGIDA-Demonstrationen teilnehmen und sagt, wie schwierig es für ihn ist, in dieser Situation eine Haltung zu entwickeln, die immer noch integrativ ist, auch gegenüber Menschen, die seine Haltung nicht teilen. Das ist ungeheuer vielschichtig und spiegelt in keiner Weise unsere westdeutsche Schwarz-Weiß-Sicht auf dieses Phänomen.

Norbert Reichel: Ich denke, damit haben wir doch eine Menge vorstellen können, aber gibt es noch etwas, das wir vergessen haben?

Johanna Adam: Bestimmt. Ein Besuch der Ausstellung wird zu weiteren Entdeckungen führen, für alle Besucher:innen sicherlich andere, aber ich kann alle Leser:innen des Demokratischen Salons – natürlich nicht nur die – einladen, die Ausstellung im Jahr 2024 in Bonn und im Jahr 2025 in Dresden zu besuchen oder sich auch einmal umzuschauen, wo die hier genannten Künstler:innen ausstellen. 

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2024, Internetzugriffe zuletzt am 19. Juli 2024. Die Bilder wurden mir freundlicherweise von Johanna Adam zur Verfügung gestellt. Die Rechte liegen bei den Künstler:innen beziehungsweise bei der Bundeskunsthalle. Titelbild: Lerato Shadi, BATHO BA ME, 2019, Courtesy of the artist, im Vordergrund die Installation von Rebekka Benzenberg: Mary Richardson.)