„Die Mauer muss weg“
Kann noch zusammenwachsen, was zusammengehört?
„Der Fall der Mauer war für uns alle im Osten existenziell. Allerdings gehörte ich zu den Leuten, die dachten, es wäre eine gute Gelegenheit, mit diesem Land DDR etwas anderes, besseres zu versuchen, statt uns gleich von der Bundesrepublik schlucken zu lassen. Es ist schade, dass wir uns nicht die Zeit genommen haben, darüber nachzudenken, sondern dass die D-Mark und das, was man uns als Freiheit versprochen hat, verlockender war. Verpasste historische Chance, finde ich.“ (Marion Brasch in einem Interview mit Katrin Richter, nachzulesen in: Jüdische Allgemeine vom 31.10.2019)
„Während im Westen nach der Wende zunächst noch vieles beim Alten blieb, durchlief Ostdeutschland die Transformation von der Industriemoderne in die spätmoderne Dienstleistungsökonomie gleichsam im Zeitraffer, was bei vielen Ostdeutschen zu einer quasi-migrantischen Erfahrung führte – der Erfahrung, fremd im eigenen Land zu sein und über ungleich geringere Gestaltungsmöglichkeiten als die Westdeutschen zu verfügen.“ (Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns – Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld, transcript, 2019)
Im Herbst 1989 gibt es eine Gedenkveranstaltung nach der anderen. Im Mittelpunkt: die unverhoffte und wohl auch unbeabsichtigte Öffnung der deutsch-deutschen Grenze am 9. November. Andere Tage haben eine ebenso wichtige Bedeutung. Ich nenne nur drei:
- der 9. Oktober mit der Leipziger Demonstration, die friedlich verlief, weil es u.a. Wolfgang Herger, Egon Krenz und Günter Schabowski gelang, Erich Honecker eine chinesische „Lösung“ auszureden,
- der 23. Oktober, an dem vier Schüler*innen der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Pankow wegen „verräterischer Gruppenbildung“ auf Geheiß der Volksbildungsministerin relegiert wurden und
- die Berliner Demonstration vom 4. November 1989 in Berlin.
Die Mauer fiel, doch fiel sie wirklich? Am 10. Juli 2019 entstand in der südthüringischen Stadt Schmalkalden die Erklärung „Die Mauer muss weg!“. Die Kernbotschaft: „Der Zustand Deutschlands 30 Jahre nach dem Mauerfall ist beängstigend. Er trägt dazu bei, dass sich Fronten verhärten und von Populisten aller Couleur neue Mauern in den Köpfen errichtet werden. Das muss sich ändern!“ Dr. Jan Hofmann und Hannes Hofmann waren unter den Initiatoren der Schmalkalder Gesprächsrunde. Die beiden Brüder haben sich abgesprochen, dass die Antworten nicht einem von ihnen zugerechnet werden. Sie haben sich abgestimmt. Es ist ihre Antwort.
Norbert Reichel: Wie kam es zur Schmalkalder Erklärung? Und warum gerade in Schmalkalden?
Antwort: Die „Schmalkalder Erklärung“ ist das Ergebnis einer Talkrunde, zu der sich am 10.Juli in der thüringischen Fachwerkstatt Prominente aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zum öffentlichen Diskurs trafen. Darunter neben uns beiden Skisprunglegende Jens Weißflog, die Tochter der legendären Regine Hildebrandt, Frauke Hildebrandt, der Schriftsteller Landolf Scherzer, vom Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland Adriana Lettrari, der Dekan des Kirchenkreises Schmalkalden Ralf Gebauer und der Bürgermeister der Stadt, Thomas Kaminski.
Alle Beteiligten haben sich für ihr Zusammentreffen aus gutem Grund für das südthüringische Städtchen Schmalkalden entschieden. Schließlich war diese südthüringische (ehemals hessische) Stadt schon einmal ein Brennpunkt der deutschen und europäischen Geschichte.
Hier wurde in der letzten Dezemberwoche des Jahres 1530 der Schmalkaldische Bund gegründet. Vor allem die Zusammenkunft der Protagonisten 1537 gilt als der „glanzvollste Fürstentag“ seiner Zeit: 16 Fürsten, sechs Grafen, Gesandte des Kaisers, des Papstes, des französischen und des dänischen Königs, Vertreter von 28 Reichs- und Hansestädten, sowie 42 evangelische Theologen, an deren Spitze Martin Luther und Philipp Melanchthon standen, waren anwesend.
Ihnen legte Martin Luther seine Glaubenssätze vor, die sich als „Schmalkaldische Artikel“ bis heute im Konkordienbuch der evangelischen Kirche finden und Deutschland und Europa veränderten.
Wir dürfen zwei unserer Mitinitiatoren zitieren:
- Schmalkaldens Bürgermeister Thomas Kaminski: „Tradition verpflichtet. Und warum soll von hier aus nicht wieder ein Anstoß kommen, der – bei aller Bescheidenheit – auch ein wenig neuzeitliche Geschichte schreibt.“
- Frauke Hildebrandt: „Es geht uns bei unseren Vorschlägen in der Erklärung nicht um Jammerei aber auch nicht um Vorschläge zur Zahlenkosmetik, um die allbekannten Differenzen zwischen Ost- und West auszugleichen. Uns geht es um den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland. Dazu haben wir nun unsere Vorschläge gemacht. Jetzt haben auch führende Politiker sowie auch der Bundespräsident unser Papier auf dem Tisch. Und wir hoffen auf einen breiten gesellschaftlichen Diskurs.“
Norbert REichel: Viele Menschen, die heute wählen, haben die DDR nicht erlebt oder allenfalls als kleines Kind. Gibt es dennoch Kontinuitäten in der Wahrnehmung und Bewertung dessen, was die DDR einmal war? Was war der Anlass für diese Erklärung 30 Jahre nach Öffnung der Grenze zwischen DDR und Alt-Bundesrepublik?
Antwort: Wahrnehmung und Bewertung sind immer subjektiv, geprägt durch den soziokulturellen Hintergrund der Protagonisten und deren Erfahrungen. Und die sehen so aus: Die Menschen in der DDR haben in gewaltloser Aktion die SED-Diktatur überwunden und in freier Selbstbestimmung die deutsche Einheit herbeigeführt. Die Euphorie der Wiederbegegnung, die sich am 9. November 1989 auf den Straßen Berlins gezeigt hatte, und der Respekt vor den Menschen, die eine friedliche Revolution in Gang gesetzt hatten, blieb allerdings für viele nur eine kurze Episode, der schon bald die Ernüchterung folgte.
Die neue Freiheit im Osten war mit dem Verlust tausender Jobs und vieler altgewohnter Sicherheiten verbunden. Etwa 30 % der berufstätigen Bevölkerung in der DDR war in irgendeiner Form mit dem Staat verbunden und sei es nur als Elternbeirat oder in einer verantwortlichen Position im Betrieb. Nicht nur deren Bewertungs- und Koordinatensysteme, die bis dahin Gültigkeit hatten, verschwanden sozusagen über Nacht. Mit Zustimmung der Mehrheit der politischen Repräsentanten der Parlamente in Ost und West und mit großer Rückendeckung in der Bevölkerung wurden westliche Antworten auf östliche Fragen gegeben, ein Verfahren, dessen Fragwürdigkeit heute immer stärker ins Bewusstsein rückt.
Norbert Reichel: Könnt ihr dies an einem konkreten Beispiel illustrieren?
Antwort: In Brandenburg bestand im Bildungsministerium anfänglich das Ziel, die äußere Struktur der DDR-Schule vorerst zu belassen und binnendifferenziert mit einer inneren Schulreform zu beginnen. Doch dieser Plan war nicht mehrheitsfähig. Mit Transparenten forderte die aufgebrachte Öffentlichkeit eine Stichtagumstellung des Schulsystems: „Unseren Kindern wird mit dem POS/EOS-Abschluss die Chance genommen, gegen die Westabsolventen auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen!“ oder: „Daimler-Benz nimmt keine mit POS/EOS-Abschluss!“. Ähnliches geschah in den anderen „neuen“ Bundesländern. Das Ergebnis: die östlichen Bundesländer importierten westliche Probleme, beispielsweise die endlose Debatte zum gegliederten Schulsystem, die soziale Selektion in der Schule.
Norbert Reichel: Das erinnert mich ein wenig an den Ruf nach der schnellstmöglichen Einführung der D-Mark. Welche Folgen hatte dies?
Antwort: Der Druck aus der Bevölkerung war so stark, dass in Eile alle Strukturen aus dem Westen im Osten übernommen werden mussten, sodass sich dann aber viele sehr schnell fremd im eigenen Land fühlten. Kritische Stimmen, dass auch im Westen nicht alles Gold wäre, was in Werbung und Fernsehprogrammen glänzte, gerieten immer mehr in die Defensive und wurden mit der Zeit völlig ignoriert.
Die Anforderungen an die neuen Bundesbürger, sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess zu behaupten, der nahezu alle Lebensbereiche umfasste, waren gigantisch. Die Last der Vergangenheit, an der die Menschen, die in der DDR gelebt hatten, in höchst verschiedener Weise Anteil hatten – in Form von Mitwirkung, Anpassung, Resistenz, Verweigerung, Opposition oder Widerstand – teilte auch die Nachwendegesellschaft in Ostdeutschland.
Das Bündel der Probleme, vor dem die Menschen in der ehemaligen DDR standen, hatten im Grunde vier Dimensionen:
- Probleme, die aus der spezifischen Geschichte der DDR herrühren,
- Probleme, die ihren Ursprung in der Schwierigkeit der Anwendung westlicher Gesetze auf östliche Bedingungen haben,
- der Problemexport von West nach Ost,
- die Probleme, die aus der extrem rückläufigen demografischen Entwicklung herrührten.
Es zeigte sich rasch, dass es vielen Westdeutschen schwerfiel, die Belastungen zu erkennen, die von den ehemaligen DDR-Bürgern in kürzester Zeit bewältigt werden mussten. Sie sahen häufig über die Menschen hinweg nur noch die Struktur-, Organisations- und Finanzierungsprobleme des Transformationsprozesses, so dass sich schließlich wechselseitiges Unverständnis über die Unfähigkeit der anderen Deutschen ausprägte, die Gestaltung der deutschen Einheit gemeinsam zu realisieren. Symptomatisch für diese Irritation ist die befremdlich-provozierende Formel von der „Mauer in den Köpfen“ und die oft geäußerte pauschale Behauptung, in den neuen Ländern breite sich „Ostalgie“ aus.
Norbert Reichel: Die Inhalte der Schmalkalder Erklärung stimmen in vielen Punkten mit Fakten und Thesen überein, die Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch „Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde (München, C.H. Beck, 2019) formuliert hat. Auf der einen Seite sieht man durchaus etwas von den „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler versprochen hat. Auf der anderen Seite scheint es bei vielen Menschen in den Städten und Dörfern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR großes Unbehagen zu geben. Das Gefühl, man oder frau wären „Bürger*innen zweiter Klasse“, scheint weit verbreitet zu sein. Was ist falsch gelaufen?
Antwort: Was heißt „falsch“, was „richtig“? Die Frage was wäre wenn stellt die Geschichte nicht. Das gehört in den Bereich der Spekulation. Fest steht: Es stand mit der Einheit die wichtige politische Frage, wie soll das DDR-Volkseigentum privatisiert werden. Rasch und zügig oder staatlich und zeitlich begrenzt alimentiert, um die Betriebe marktwirtschaftlich fit zu machen. Die Frage wurde zugunsten der „schnellen“ Abwicklung entschieden. Das hat zu einem gigantischen Abbau von Arbeitsplätzen geführt, zur Stilllegung vieler Betriebe und auch manchem Glücksritter Tür und Tor geöffnet. Diese Entwicklung, einhergehend mit unzähligen neuen, bislang für DDR-Bürger völlig neuen Rechtsumständen, Verordnungen und Gesetzen führten beinahe in jeder Familie zu Problemen, hatte gebrochene Biografien zur Folge und nährte das Gefühl von Hilflosigkeit und als Bürger „zweiter Klasse“ ausgegrenzt zu sein.
Norbert Reichel: Nach 1989 gab es einen umfassenden Austausch der Eliten. Die alte Elite des Staates verschwand fast völlig. Die damalige Bürgerbewegung fand sich binnen kurzer Zeit nur noch am Rande wieder. Die Spitzen der Hochschulen, der Wirtschaftsunternehmen, in den Regierungen kommen fast alle aus dem „Westen“. Viele scheinen daran zu glauben, dass sie wie vor 1989 über nichts selbst entscheiden können, sondern dass andere das Sagen haben.
Antwort: Das sind Tatsachen, die weh tun: In den in Ostdeutschland angesiedelten Bereichen der Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft, der Medien und des Militärs besetzen Ostdeutsche gerade mal 25 bis 35 Prozent der Spitzenpositionen. Nur 13 Prozent der Richter stammen aus dem Osten und nur zwei von 13 östlichen Regionalzeitungen werden von Ostdeutschen geleitet. Bundesweit ist die Kluft noch größer: 2017 stammten von 109 Abteilungsleitern in allen Bundesministerien nur vier aus Ostdeutschland. Es gibt 180 Universitäten in Deutschland. Keine hat einen Rektor aus dem Osten. In den 100 größten Ostunternehmen sind nur ein Drittel Ostdeutsche. Und lediglich drei der 190 deutschen Dax-Vorstände haben eine ostdeutsche Vorgeschichte. Das ist kein kleiner Unterschied. Er ist gigantisch! Fazit: Der Osten hat knapp 30 Jahre nach der Wende kaum eine Lobby. Nun lassen sich dafür viele Erklärungen finden, doch die Fakten bleiben und sie nähren die Stimmung im Osten Deutschlands.
Norbert Reichel: Die Debatte um die Zukunft des Braunkohlegebiets in der Lausitz erscheint mir wie ein Déjà Vu. Viele Menschen verloren nach 1990 ihren Arbeitsplatz oder wurden in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Von denen, die 55 Jahre und älter waren, behielten nur wenige Menschen ihren Arbeitsplatz. Diese Menschen sind heute alle über 80 Jahre alt, aber ihre Kinder und Enkel*innen wissen, was geschah. Welchen Einfluss hat nach eurem Eindruck ein solches Déjà Vu auf die Stimmung und letztlich auch auf politische Positionierungen?
Antwort: Das ist schon möglich. Wer erlebt hat, dass die eigenen Eltern oder Großeltern in den 1990er Jahren bei all ihren Hoffnungen ihren Arbeitsplatz verloren, dürfte auf den angekündigten Kohleausstieg höchst skeptisch reagieren. In der DDR gab es keine Arbeitsplatzrisiken. Vor der Geburt bis zum Tode herrschte Sicherheit. Die Risiken trug der Staat. Womit wir wieder beim Thema Gefühlswelt oder nennen wir es mal gesellschaftlicher Psyche wären. Es reicht längst nicht, einer Familie, die seit Generationen vom Braunkohleabbau lebt, zu erklären, dass ihr Tun die Umwelt belastet und genauso wenig reicht es, mit Geldalmosen kurzfristig für Ruhe im Revier zu sorgen. Die Leute bangen um ihre Zukunft und Zukunft beginnt mit Visionen, die politisch benannt und je nach Region zielgerichtet staatlich gefördert werden. Da ist bislang wenig zu erkennen und insofern ist das Misstrauen der Betroffenen groß. Und dieses Misstrauen trifft den Staat und vor allem die regierenden Parteien.
Norbert Reichel: Wer hat eigentlich die „Friedliche Revolution“ betrieben und durchgesetzt? Gab es tatsächlich Mehrheiten oder war es eine Minderheit, die nach ihren „Erfolgen“, für die die Daten des 9. November 1989 und des 3. Oktober 1990 stehen mögen, in Vergessenheit geriet?
Antwort: Vergessenheit ist das falsche Wort. Will sagen: An der Spitze von gesellschaftlichen Veränderungen stehen historisch gesehen immer kleine Eliten, die Mängel und Hindernisse für die Entfaltung von Persönlichkeiten und auch der Wirtschaft klar benennen und Systemänderung einfordern. Das waren unzweifelhaft die Bürgerrechtsbewegungen im Osten Deutschlands. Sie haben mit ihren Aktivitäten die ohnehin seit Gorbatschows Reformkurs schon angeschlagenen politischen ostdeutschen Bestimmer Stück für Stück an ihre politischen und intellektuellen Grenzen gebracht. Und diese Aktivitäten fanden dann Widerhall bei der Mehrheit der Bevölkerung.
Allerdings hatte eine große Mehrheit der Bürgerrechtler in der Anfangsphase nicht die Einheit des Landes, sondern vielmehr einen reformierten, zukunftsorientierten zweiten deutschen Staat im Sinn. Diese Idee hatte sich dann aber durch die Eigendynamik der Proteste gegen die bestehende Ordnung, einhergehend aber auch mit außenpolitischen Intentionen, vor allem der UdSSR, rasch erledigt.
Hieß es anfangs in Leipzig noch: „Wir sind das Volk“, hieß es schon wenige Wochen später, mit Blick auf den gut betuchten West-Nachbarn Bundesrepublik, „Wir sind ein Volk“ und schon etwas darauf, (beinahe erpresserisch gerichtet an die Politiker im Nachbarland) „Kommt die DM nicht zu uns, dann kommen wir zu ihr…“ Diese Stimmung war dann am Ende auch das bestimmende Element für den Zuspruch der Mehrheit der DDR-Bürger zu Parteien, die ihnen einen raschen Weg zur Einheit und damit erhofftem westlichen Wohlstand versprachen – zum Kummer vieler Bürgerrechtler. Kurzum: Die Revolution fraß, wie allzu oft in der Geschichte, ihre Kinder, die einstige Elite auf Zeit. Die entsprechenden Beitrittsverträge wurden dann, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, längst nicht mehr von intellektuellen Bürgerrechtlern, sondern von populistisch-pragmatisch handelnden ostdeutschen Konservativen ausgehandelt.
Norbert Reichel: Erich Honecker verkündete 1971 die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ 1971. Dies bedeutete letztlich, dass dem Konsum eine zentrale Rolle eingeräumt wurde. Und in der Tat: alle hatten Arbeitsplätze, alle hatten genug zu essen. Ärger bekam nur, wer sich nicht der Parteilinie fügte. Es dauerte immerhin mehr als 15 Jahre, bis der Staat DDR so gut wie zahlungsunfähig wurde. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der von Honecker formulierte Anspruch unbeschadet der damaligen Erfahrungen immer noch nachwirkt und auch den „Westen“ erreicht hat. Der Staat soll es richten. Und wenn er das nicht tut, wählt man jemand anders. Könnte man nach eurem Eindruck die jüngsten Verwerfungen der „Parteienlandschaft“ mit einem solch konsumorientierten Staatsverständnis erklären?
Antwort: Kann man nicht. Was ist denn falsch an einem „konsumorientierten“ Staatsverständnis? Nichts, wenn man darunter versteht, dass der Staat die Aufgabe hat, für das Wohl und Wehe der Menschen, die in ihm daheim sind, Sorge zu tragen und Verteilungsverhältnisse zu schaffen, die es dem Einzelnen ermöglichen, sich persönlich so gut er es vermag, zu entfalten. Wozu ist der Staat denn da?
Aber wenn beispielsweise heutzutage Politiker eine CO2-Steuer ins Auge fassen, fragen sich viele Menschen auf dem Land, die auf einen PKW angewiesen sind, weil es keinen (möglicherweise auch staatlich gestützten) Nahverkehr mehr bei ihnen gibt, warum sie für diese politische Entscheidung nun herhalten sollen. Das macht schlechte Stimmung gegen jene abgehoben-weltfremden Minderheiten, die in Berlin und anderen Großstädten ja solche Sorgen nicht haben und das schürt dann Unlust auf die Wahl von traditionellen Parteien bzw. deren Repräsentanten. Im Osten, wie im Westen. Die Beteuerung, dass diejenigen, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, entlastet würden, ist viel zu unkonkret. Die nimmt der Politik niemand ab und damit sind wir wieder beim Glaubwürdigkeitsproblem.
Norbert Reichel: Wenn im „Westen“ von der DDR die Rede war und ist, fällt vielen Menschen als erstes die Stasi ein. Ich habe zwischen 1989 und1994 erlebt, dass Gesprächspartner*innen, unabhängig davon, ob sie zu den ehemaligen Kadern der SED oder zur Opposition gehörten, mich sehr schnell darauf hinwiesen, wer die größere Nähe zur Staatsführung der DDR und wer vielleicht andere Menschen „bespitzelt“ haben könnte. Mein Eindruck: eine verhängnisvolle Denunziationskultur, vor und nach 1989. Christoph Hein hat in „Verwirrnis“ einen tragischen Fall beschrieben. Wie können die Debatten um „Betroffene“ wie Gregor Gysi, Gerhard Gundermann, Anetta Kahane, Heiner Müller oder Christa Wolf verstanden werden? Wer verdient „Nachsicht“, wer nicht?
Antwort: Unsere Großmutter hat immer gesagt: Gepetzt wird nicht. Will sagen: Wer andere verpetzt oder bespitzelt und anderswo anschwärzt um seines persönlichen Vorteils Willen, ist ein Lump. Wer es tut, weil er davon überzeugt ist, einer (ja, auch bösen oder auch bloß falschen) Idee zu dienen, ist fehlgeleitet und wer das ehrlich erkennt, hat auch Nachsicht verdient. Aber wer sich mit seiner Spitzelei außerhalb der geltenden Gesetze bewegt und anderen Menschen nachweislich geschadet hat, muss juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Letztlich kann diese Frage nicht abschließend beantwortet werden. Im Grunde steht jeder Einzelfall für sich und sollte auch als Einzelfall bewertet werden, gerade auch wegen der Dilemmata, in denen sich viele befanden.
Norbert Reichel: Ein immer wieder kontrovers diskutierter Begriff der politischen Debatten der vergangenen Jahre war die „Willkommenskultur“. Lassen sich die zum Teil recht heftigen Vorbehalte einer solchen Willkommenskultur in Sachsen, in Brandenburg und an anderen Orten möglicherweise mit der fehlenden „Willkommenskultur“ im „Westen“ nach 1989 erklären? Petra Köppings „Integriert doch erst mal uns“ scheint mir darauf hinzuweisen.
Antwort: Der Satz von Frau Köpping zeigt, wes Geistes Kind sie ist. Hier bandelt sie machtpolitisch beseelt am Grundgefühl vieler Ostdeutscher an und fischt damit – ob bewusst oder unbewusst – im Teich der rechten politischen Konkurrenz. Tatsache ist, dass natürlich Städte wie Cottbus mit einer Forderung nach „Willkommenskultur“ total überfordert wurden, weil ihr Anteil an Ausländern ohne Vorwarnung und Vorbereitung unverhältnismäßig gewachsen ist. Das schuf Probleme und stieß auf den Widerstand der Einheimischen, die ja aktuell auch noch ihre eigenen Probleme (Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Perspektivlosigkeit) zu ertragen haben. Das hat gewiss nichts mit einem Anknüpfen an 1989 zu tun.
Norbert Reichel: Ines Geipel vertritt in ihrem Buch „Umkämpfte Zone – Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Stuttgart, Klett-Cotta, 2019) die These, dass die Erfolge rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Ansichten in den neuen Bundesländern darauf zurückzuführen seien, dass in der DDR die NS-Vergangenheit nicht aufgearbeitet worden wäre. Die Pflichtbesuche in Buchenwald hätten nicht Empathie für verfolgte und ermordete Menschen bewirkt, sondern vorhandene Aversionen gegen die Staatsführung gestärkt, vielleicht auch deshalb, weil vorrangig der kommunistische Widerstand der Zeit von 1933 bis 1945 gewürdigt worden sei. Und als Zeitzeug*innen lernten Schüler*innen vor allem Kommunist*innen aus dem Widerstand gegen die Nazis kennen. Ist die These von Ines Geipel haltbar?
Antwort: Die heute 25-30jährigen sind die erste Generation in dem Gebiet der ehemaligen DDR, die eine zusammenhängende Demokratie-Erfahrung haben. Die vorangehenden Generationen hatten dies alle nicht. Und die junge Generation erlebt Demokratie auch vor dem Hintergrund der Belastungen, unter denen ihre Eltern und Großeltern sich angesichts des Strukturwandels nach 1990 neu orientieren mussten. Die Thesen von Ines Geipel sind möglicherweise jedoch zu kurz und intellektuell ambitioniert gedacht. Aber sie benennen sicherlich einen wichtigen Aspekt bei der Bewertung der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der DDR. Andererseits: Geschichte ist konkret: Ein Globke oder ein Kiesinger oder auch ein BND-Chef Gehlen waren in der DDR nicht denkbar. Kurzum: Rechtspopulistische Ansichten haben / hatten in beiden Teilen des Landes zwar gleiche Wurzeln, aber ganz gewiss andere Nährböden und Auslöser.
Norbert Reichel: Im „Westen“ höre ich immer wieder, die Menschen in den neuen Bundesländern bräuchten einfach mehr „Politische Bildung“. Empfohlen werden beispielsweise mehr Politikunterricht in der Schule, Pflichtbesuche in Konzentrationslagern. Ich bin da eher skeptisch. Wie seht ihr das?
Antwort: Für politische Bildung in den Schulen ist im Grunde gesorgt, jedoch ein Pflichtbesuch in einem Konzentrationslager, um an das dunkelste Kapitel unserer deutschen Geschichte zu erinnern, könnte Schülern im Osten wie auch im Westen nicht schaden. Wie warnte Brecht doch richtig: „Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch…“ Politikunterricht reicht jedoch nicht aus. Demokratie muss als Lebensform erlebbar sein. Demokratie muss sich in den Schulen – aber auch an anderen Orten – in Strukturen, in Arbeitsformen bewähren. Das betrifft letztlich alle Lebensbereiche, nicht nur die Schule, und in der Schule nicht nur das Fach Politik. Gedenkstättenbesuche sind möglicherweise im Bewusstsein der Älteren negativ belegt, doch ist dies kein Grund, sie nicht zu machen. Es kommt aber darauf an, wie sie in das Gesamtkonzept der Schulen eingebunden sind, als Teil einer demokratisch orientierten Bildung.
Norbert Reichel: Die Parteien des „Westens“ hatten nach 1989 unterschiedliche Ausgangslagen. Während CDU und FDP Mitglieder der „Blockparteien“ aufnahmen, konnte und wollte dies die SPD nicht. Die Grünen schienen sich in den Jahren nach 1989 zunächst überhaupt nicht für den „Osten“ zu interessieren. Es blieb die PDS, die sich als „Kümmerpartei“ verstehen wollte (Ilko-Sascha Kowalczuk). In den jüngsten Wahlen (außer in Thüringen) hatte die PDS-Nachfolgepartei Die Linke, große Stimmeneinbußen hinzunehmen. Viele ihrer ehemaligen Wähler*innen wählten AfD. Auch wenn man die Nicht-Wähler*innen herausrechnet, bleiben etwa 15 % aller Bürger*innen in den neuen Bundesländern übrig, die es nicht zu stören scheint, dass sich die von ihnen gewählte Partei mit Rechtsextremist*innen einlässt. Ist das auf mangelndes Demokratiebewusstsein zurückzuführen oder gibt es andere Gründe?
Antwort: Einige Gründe wurden schon benannt. Siehe die Antworten auf die eingangs gestellten Fragen. Fazit: Gesellschaftliche Verwerfungen haben Folgen: In den neuen Ländern finden sich zu wenig ostdeutsche Aufstiege, zu wenig ostdeutsche Karrieren, zu wenig Führungskräfte aus den neuen Ländern. Dieses Vakuum an Vorbildern mit ostdeutschem soziokulturellem Hintergrund die unsere Gesellschaft tragen könnten, schafft Raum, für demokratiefeindliche Parolen. Denn wer drei Jahrzehnte lang so gut wie keine Macht hat, resigniert oder reagiert hilflos wütend – mal bei der einen, mal bei der aktuell anderen „Protest-Partei“.
Norbert Reichel: Die DDR war ein literarisch interessiertes Land. Im „Westen“ sprach man nach 1989 in manchen Kreisen anerkennend vom „Leseland DDR“. Allerdings waren viele Autor*innen, die in der DDR schrieben, im „Westen“ völlig unbekannt. Das betraf nicht nur diejenigen, deren Texte fast nur in der „Gesperrten Ablage“ der Stasi zu finden waren (Ines Geipel / Joachim Walther: Gesperrte Ablage, Düsseldorf, Lilienfeld, 2015). Manche Autor*innen wurden erst beachtet, als sie in die Alt-Bundesrepublik abgeschoben wurden. Wie vielfältig war das „Leseland DDR“ und welchen Einfluss hatte Literatur auf die Entwicklungen, die zum 9. November 1989 führten?
Antwort: Mythen halten länger als Buchbinder-Kleister. Auch wenn die Fakten das vielmals relativieren: Einer ist der vom „Leseland DDR“. Ältere Ostdeutsche erinnern sich gewiss an den berühmten Slogan: „Das richtige Buch, zur richtigen Zeit, in den richtigen Händen“. Er beleuchtet schlaglichtartig die besondere Wertschätzung des geschriebenen Wortes, aber auch die Schattenseiten.
Anders geschrieben: Die Mächtigen nahmen die Literatur sehr ernst und versuchten gleichzeitig, sie für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Einmal im Jahr inszenierte die DDR-Partei und Staatsführung, assistiert von der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Kulturministerium im Frühjahr zur Buchmesse das Stück „Leseland DDR“. Und eine erwartungsfrohe Leserschaft stürmte die Messehallen, traf sich mit Buchhändlern und Verlegern – auch aus dem Westen. Das nährte die Mär vom Leseland.
Jedoch: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) im Ministerium für Kultur der DDR war eine literaturpolitische Superbehörde, die als ökonomische Planzentrale die 78 lizenzierten Buchverlage, deren zentrale Auslieferung, die Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft (LKG), die über siebenhundert Filialen des Volksbuchhandels, den Buchaußenhandel (Buchexport und Messe), das zentralisierte Antiquariatwesen und die Bibliotheken steuerte, beziehungsweise, so die Selbstbeschreibung, „anleitete“. Das „Leseland“, wie es vom stellvertretenden Minister für Kultur und Leiter der HV, Klaus Höpcke, proklamiert wurde, war demnach im Prinzip (die Lebenswirklichkeit und das Selbstverständnis von Büchermachern, Autoren und Lesern geht in einer abstrakten institutionellen Verortung nicht auf) das mehr oder weniger wohl organisierte Hinterland, der Herrschaftsbereich dieser Behörde im Zensur-Auftrag der SED, denn nur was hier genehmigt wurde, eine sogenannte Druckgenehmigung bekam, konnte auch erscheinen.
Fazit: So intellektuell stimulierend und kritisch manche dann doch noch zugelassenen Bücher auch waren – sie blieben, gemessen an der Gesamtleserschaft, einer kleinen Schar von Intellektuellen vorbehalten und vermutlich hat seit dem „Hessischen Landboten“ von Georg Büchner wohl kaum ein Buch in Deutschland zur Revolution geführt.
Norbert Reichel: Je mehr ein bestimmter Begriff genannt wird, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Inhalt Wirklichkeit wird. So könnte es sich auch mit dem Begriff „Mauer“ verhalten. Wenn ich jemandem lange genug sage, dass er oder sie benachteiligt ist, wird er oder sie es für selbstverständlich hinnehmen, so zu sein. Je öfter ich von der „Mauer“ spreche, umso höher wird sie. Das sind Grundregeln des Priming und des Framing. Könnte die Schmalkalder Erklärung mit ihrem Titel möglicherweise auch „kontraproduktiv“ wirken?
Antwort: Diese Gefahr besteht in der Tat immer. Wir haben uns dennoch für die Veröffentlichung der Erklärung entschieden, um populistischen Versuchen, sich dieser Themen zu bedienen, Paroli zu bieten. Und vor allem auch, weil es hohe Zeit ist, sich dieser Tatsachen bewusst zu werden. Oder mit den Worten des ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg Manfred Stolpe gesagt: „Es geht nicht um Zahlenkosmetik, es geht um den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland.“
Norbert Reichel: Ich habe meine Fragen aus der Perspektive eines im äußersten „Westen“ der Bundesrepublik sozialisierten Menschen gestellt. Kann jemand aus dieser „westlichen“ Perspektive mit meinen sporadischen Erfahrungen „östlicher“ Perspektiven überhaupt nachvollziehen, was nach 1989 geschah? Bräuchten die Menschen im „Westen“ nicht einen grundlegenden Perspektivwechsel?
Antwort: Ja. Siehe unsere Erklärung. Da steht drin, wie dieser Perspektivwechsel aussehen sollte.
Norbert Reichel: Eure Prognose: Kann noch zusammenwachsen, was zusammengehört? Oder gehört manches einfach nicht zusammen?
Antwort: Aber ja doch. Nur: Gut Ding will halt Weile haben. Allein mit blühenden Landschaften und kleinen Wahlpräsenten ist es längst nicht getan. Und im Übrigen: Die Unterschiedlichkeiten zwischen Schleswig-Holstein und Bayern gehören undiskutiert zum bundesrepublikanischen Alltag und niemand käme auf die Forderung, beide in allem gleich zu machen. So wird es früher oder später auch bei dieser Thematik sein – und dann wäre es vielleicht geschafft.
Dr. Jan Hofmann ist Philosoph und Pädagoge. Er arbeitete bis 1990 in der Akademie der Wissenschaften, war Bildungspolitischer Sprecher der Arbeitsgruppe Bildung und Erziehung am Zentralen Runden Tisch der DDR, ab 1992 Leiter des Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg in Ludwigsfelde. Er wurde 2007 Gründungsrektor des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg und war von 2011 bis 2016 Staatssekretär im Kultusministerium von Sachsen-Anhalt.
Hannes Hofmann ist Germanist und Journalist. Der Publizist war bis zum Mauerfall Programmchef eines DDR-Verlages, des Tourist-Verlages, arbeitete später u.a. als stellv. Redaktionsleiter bei BILD, war Chefreporter bei Burda-Medien und ist seit 2017 Stadtschreiber in Schmalkalden.
(Erstveröffentlichung im November 2019.)