Die Ostdeutschen waren Subjekt, nicht Objekt

Für ein neues Narrativ zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution

Liest man öffentliche Gedenkreden zum Mauerfall, der sich 2024 zum 35. Male jährt, so wird zwar anerkannt, dass die Friedliche Revolution in der DDR stattfand, oft ohne sich genauer deutlich zu machen, was da eigentlich geschah. Man ging auf die Straße… und das war mutig… Doch wendet man sich dann schnell der Deutschen Einheit zu und das Gedenken und die dazu gehaltenen Reden werden am 9. November denen des 3. Oktober sehr ähnlich.

Dabei entsteht dann der Eindruck, als ob damals Kanzler Helmut Kohl die Einheit geschaffen habe, unterstützt von US-Präsident George Bush sen. und mit letztlicher Zustimmung von Michail Gorbatschow. In dieser Erzählung sind die Ostdeutschen schließlich OBJEKT einer Wohltat des Westens. Aus dieser Perspektive – der eigentlich Handelnde war der Westen – entwickelte sich dann auch die in Ostdeutschland weit verbreitete Deutung einer schlichten Übernahme oder gar Kolonisierung der DDR. Doch diese öffentlich prägenden Erzählungen entsprechen in meinen Augen nicht den historischen Abläufen. Ich versuche es einmal anders, wenn auch nur verkürzt:

Die Vorgeschichte der Friedlichen Revolution

35 Jahre ist es her, dass in der DDR geschah, was viele nicht für möglich gehalten hatten: Die DDR erlebte im Herbst 1989 eine friedliche Revolution. Die kleine Opposition der 80er Jahre organisierte sich neu. Viele hatten vorher die Freiräume der Kirche wahrgenommen, jetzt traten sie aus ihr heraus – zuerst Ende August die Sozialdemokraten, die kurz darauf eine Partei gründeten, dann neue Bewegungen und demokratische Netzwerke, das „Neue Forum“, „Demokratie Jetzt“, der „Demokratische Aufbruch“, später erweiterte sich das Spektrum. Als die SED denen, die in den Westen wollten, die Wege über Ungarn erneut versperren wollte, gingen erst Zehn-, dann Hunderttausende an immer mehr Orten auf die Straße und stärkten der demokratischen Opposition den Rücken, so dass die SED und die anderen Blockparteien sie schließlich am „Runden Tisch“ als Gesprächspartner anerkennen mussten. In friedlichen Verhandlungen wurde der Weg zur demokratischen Wahl vorbereitet und diese fand schließlich am 18. März 1990 statt. Am 12. April 1990 hatte die DDR nach Koalitionsverhandlungen eine demokratische Regierung und bekannte sich am gleichen Tag – anders als die kommunistische DDR zuvor – in einer Erklärung der frei gewählten Volkskammer zur deutschen Schuld und zur Verantwortung aller Deutschen, die wir angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus tragen.

Die deutsche Gedenkkultur zu 1989 ist oft zu stark auf die Friedliche Revolution in der DDR fixiert, dabei war sie Teil eines mitteleuropäischen Umbruchs. Es war eine gewaltfreie Selbst-Demokratisierung der Polen und Ungarn, der Deutschen in der DDR sowie der Tschechen und Slowaken. Ähnliche Prozesse spielten sich etwa in den baltischen Staaten ab.

Seit der KSZE-Schlussakte von 1975 hatten sich in ganz Ost- und Mitteleuropa Helsinkigruppen gebildet, die sich auf die dort garantierten Menschenrechte beriefen. Trotz Repression und Gulag ließen sie von ihrem Engagement nicht ab. Gorbatschow begann seit 1985 mit der Politik von Glasnost und Perestroika. Im Dezember 1988 bekannte er sich vor der UNO zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht und erklärte die „Freiheit der Wahl“ für die Partnerstaaten. Wo vorher – 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR – Panzer vorrückten, wenn die Freiheit das Haupt erhob, eröffneten sich nun im europäischen Osten neue Handlungsspielräume zu Selbstbestimmung und Demokratie.

Seit 1980 war in Polen mit der Gewerkschaft Solidarność eine gesellschaftliche Kraft entstanden, die trotz Kriegsrecht und Repression immer mehr erstarkte und tief in der polnischen Gesellschaft verankert war. Hier erklärten sich die unter Druck stehenden kommunistischen Herrscher zuerst zu Verhandlungen bereit – im Februar 1989 begannen die Verhandlungen am Runden Tisch. So ereignete sich in Polen gewissermaßen eine „verhandelte Revolution“ – mit großer Wirkung auf die benachbarten Länder. Im August 1989 wurde Tadeusz Mazowiecki als erster nichtkommunistischer Ministerpräsident im bisher kommunistischen Europa gewählt.

In Ungarn hatte eine reformkommunistische Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh schon im Frühjahr 1989 die Fühler gen Westen ausgestreckt und die Grenzanlagen zu Österreich abgebaut. Im Sommer flohen mehr als 50 000 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen, andere suchten ihren Weg über Prag oder Warschau.

Mit den von Gorbatschow angestoßenen Reformen und der Selbstermächtigung der mitteleuropäischen Staaten und der DDR eröffneten sich Konturen einer Neuordnung Europas.

In Deutschland fiel im Zuge der Friedlichen Revolution am 9. November 1989 die Mauer. Die ganze Welt schaute zu und wusste, dass sich nun viel Neues entwickeln würde. Damit stand plötzlich die Frage nach der Einheit Deutschlands auf der politischen Tagesordnung – und war nicht nur Hoffnung, Traum oder verpflichtende Perspektive des Grundgesetzes.

Die Ostdeutschen verhandelten selbstbewusst

Doch wie konnte die Einheit erreicht werden? Die Einheit Deutschlands, die, wie sich schnell herausstellte, von der Mehrheit der DDR-Bürger gewollt war, musste verhandelt werden, sowohl zwischen den beiden deutschen Staaten wie international mit den Alliierten des Zweiten Weltkrieges.

Wer aber sollte die Einheit verhandeln?

Für uns, die demokratische Opposition in der DDR war klar, dass man diesen Prozess nicht der nicht gewählten Regierung der SED und der anderen Blockparteien überlassen konnte. Das musste Aufgabe einer aus demokratischen und freien Wahlen hervorgegangenen Regierung sein! Nur eine solche konnte für Verhandlungen zur deutschen Einheit das Mandat haben.

Und so kam es.

Vier Wochen nach dem Fall der Mauer begann der Zentrale Runde Tisch in der DDR. Neben zahlreichen weiteren regionalen Runden Tischen. Von hier aus erfolgten dann auch die ersten Schritte der demokratischen Transformation. In den Verhandlungen am Zentralen Runden Tisch wurde zwischen Dezember 1989 und März 1990 die freie Wahl in der DDR vorbereitet. Der friedliche Übergang in demokratische Verhältnisse begann. Die am 18. März 1990 gewählte und am 12. April etablierte Koalitions-Regierung hatte das Mandat, für die DDR-Bürger die Einheit zu verhandeln. Gleichermaßen begann sie unmittelbar mit der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft.

Wer hat nun die deutsche Einheit gemacht? Es macht m.E. doch einen erheblichen Unterschied, ob wir Ostdeutschen in diesem Prozess Objekt waren oder – wie ich behaupte – Subjekt. Wie diese Geschichte erzählt wird, macht da schon etwas aus.

Die große Mehrheit der DDR-Bürger wollte die deutsche Einheit möglichst schnell. Die rechtlich schnellste Möglichkeit wiederum war der „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ nach Art. 23 GG. Dieser Weg wurde dann auch gewählt, wobei die Sozialdemokraten in den Koalitionsverhandlungen darauf bestanden, dass dies auch bilateral nach Aushandlung von Verträgen über die Beitrittsbedingungen geschehen sollte. Mit den Verträgen zur Währungsunion und dem Einigungsvertrag wurden diese internen Bedingungen der Einheit innerhalb kürzester Zeit ausgehandelt.

Entsprechend diesem Weg kann und muss man von einer „verhandelten Einheit“ sprechen, ausgehandelt zwischen zwei demokratischen deutschen Staaten und mit den Alliierten. Wenn man den Prozess der deutschen Einheit 1989/90 so darstellt, wird deutlich: Die Ostdeutschen sind und waren SUBJEKT dieses Prozesses.

Man wird die deutsche Einheit als die Glücksstunde der Deutschen im 20. Jahrhundert ansehen müssen: 45 Jahre, nachdem wir Deutschen so viel Tod und Schrecken über ganz Europa gebracht hatten, nach Jahrzehnten der Teilung im Kalten Krieg, konnten wir Deutschen uns in Freiheit und Demokratie vereinigen, mit der Zustimmung unserer europäischen Nachbarn. In diesem Prozess war die dann demokratische DDR nicht Empfänger einer Wohltat, sondern verhandelnde Mitgestalterin.

Bis heute hat die Geschichte der „verhandelten Einheit“ mit den Ostdeutschen als Subjekt in unserer Gedenkkultur keinen angemessenen Ort. Das öffentliche Erinnern schreibt den Ostdeutschen allein die Friedliche Revolution zu – die Einheit dagegen gilt als Werk Helmut Kohls.

Dem ist zu widersprechen!

Die DDR hat sich, wie die anderen Länder Mitteleuropas, selbst demokratisiert. Nicht die DDR ging unter, sondern die kommunistische Herrschaft in der DDR. Die letzte und kurze Phase einer nun wirklich demokratischen DDR war die entscheidende Voraussetzung für den Prozess zur deutschen Einheit – und ein aktiver Part in diesem Prozess. Diese demokratische DDR und ihre Institutionen haben bis heute kaum Wahrnehmung gefunden, weder politisch noch in der historischen Forschung. Die Regierung der DDR nach der Wahl ist bis heute nicht als wirklich demokratische Regierung anerkannt. Ihre Staatssekretäre, die im Zuge der Vereinigung zum Teil auch internationale Verhandlungen geführt haben, werden nicht als Teil der Regierung angesehen.

Die Friedliche Revolution in der DDR gehört in den Zusammenhang des demokratischen Aufbruchs in ganz Mitteleuropa – einschließlich des Mauerfalls.

Der Prozess der deutschen Einheit vom Mauerfall bis zur Vereinigung im Oktober 1990 ist jedoch zusätzlich als aufrechter Gang der Ostdeutschen in diese Einheit zu beschreiben. Die Ostdeutschen wollten diese Einheit nicht nur, sondern trieben sie auch politisch voran und gestalteten sie durch die von ihr gewählte Regierung mit.

Doch dieser einen – positiven und zentralen – Perspektive ist auch eine weitere hinzuzufügen: die berechtigte Frage nach den Fehlern und Schwierigkeiten, die zu der nachträglich so negativen Einschätzung vieler Ostdeutscher geführt hat. Denn natürlich gab es in diesem Prozess auch vielerlei Fehleinschätzungen und problematisches Agieren bei den Handelnden in West und Ost. Da ist auch von fehlender Verständigungsbereitschaft, von konsequenter Durchsetzung der eigenen Interessen zu sprechen, vom Ausspielen der westlichen Dominanz, von fehlender Empathie und gelegentlich anmaßender Arroganz und Respektlosigkeit gegenüber den Vertretern der DDR. Da gibt es berechtigte Anfragen an die Akteure der Bundesregierung – doch gilt es, solches jeweils konkret zu benennen und von pauschalen Urteilen wegzukommen.

Zu dieser Geschichte gehört aber zugleich auch die Missachtung vieler DDR-Bürger gegenüber den Bemühungen der von ihnen selbst gewählten, eigenen Regierung. Diese verhandelte in deren Interesse und wurde vielfach dadurch geschwächt, dass die eigenen Bürger diese Verhandlungen als Zeitverschwendung auf dem Weg einer schnellen Einheit ansahen. So muss jeder sich einmal erinnern – und sich selbst kritisch befragen, was sie oder er damals dachte, wofür man eintrat und nicht zuletzt, wen man wählte. Wählen hat Folgen! Das gilt damals wie heute.

Nur in einem in dieser Weise differenzierenden Fragen und Befragen kommen wir weg von den rückblickend pauschalen Bewertungen und Schuldzuweisungen.

Aspekte der Einheit

Eine historische Darstellung der Positionen der Verhandlungspartner – und ihres Streites darüber – sowie den Verhandlungsverlauf gibt es bis heute nur zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag, nicht zu den bilateralen Verträgen. Ebenso wenig entsprechende Quellendokumentationen. In meinen Erinnerungen habe ich einige Aspekte dazu benannt, einschließlich einiger kritischen Bemerkungen auch zu meinen eigenen Verhandlungspositionen. Auch innerhalb der DDR-Regierung und der sie tragenden Fraktionen in der Volkskammer gab es ja mancherlei Auseinandersetzungen, die dann schließlich auch zum Bruch der Koalition führten.

Um über die üblichen pauschalen Aussagen und Anklagen hinauszukommen, bedarf es hier noch vielfältiger, differenzierender Forschung. Nach der Öffnung der Akten zur Arbeit der Treuhand hat eine solche zu diesem Themenfeld begonnen und das führt zunehmend zur Überwindung häufig wiederholter (Vor-)Urteile. Andere Themen sind noch wenig erforscht. Ich möchte nur zwei konkrete Punkte benennen, die mit in meinen Verantwortungsbereich als Außenminister der DDR gehörten.

Erstes Beispiel: Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland vor 30 Jahren. Ein Thema, das im Zuge der Vereinigung vertraglich geregelt werden musste. Im Juli 1990 sagte Gorbatschow im Kaukasus zu, dass das geeinte Deutschland der Nato angehören könne, entsprechend den Prinzipien der KSZE, nach der jedes Land seine Bündnispartner selbst wählen kann. So wurde dort auch festgelegt, dass der Rückzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland vertraglich geregelt werden sollte (sowie die Finanzierung für die Zeit des verbleibenden Aufenthalts). Die Bundesregierung sollte diese Verhandlungen in enger Abstimmung mit der Regierung der DDR vornehmen. Denn es ging ja um das Territorium der DDR – und hier hatte man die Erfahrungen mit diesen Truppen gemacht.

Wir hatten uns in der DDR-Regierung auf diese Fragen vorbereitet – und mussten dann feststellen, dass die Bundesregierung uns aus den Vorbereitungen zu diesem Vertrag ausschloss. Ich halte das bis heute für einen Skandal, denn bis zur Vereinigung war dies das Territorium der DDR und wir waren hier die gewählte Regierung. Dazu kam, dass die Bundesregierung keinerlei Ahnung von den konkreten Bedingungen hatte. So war das Ergebnis entsprechend. Es wurde vereinbart, dass die Sowjetunion für die benutzten Liegenschaften eine Summe X bekommt (die Höhe war anfangs sehr umstritten). Von dieser Summe sollte eine Summe Y abgezogen werden, die aus den Schäden an Umwelt-, Munitions- und anderen Belastungen errechnet werden sollte. Dies Verfahren führte natürlich dazu, dass alle diese Schäden von den sowjetischen Truppen möglichst versteckt wurden, um die Reduzierung der Zahlungen an die Sowjetunion zu verhindern. Unser Vorschlag und Interesse wäre dagegen eine pauschale, gewissermaßen politische Entschädigung gewesen – und von Anfang an die Bemühung, die Jahre bis zum endgültigen Abzug zu nutzen, um die Schäden gemeinsam zu beseitigen. Es dauerte zwei Jahre, bis dann auch die Bundesregierung umschwenkte, doch da war vieles nicht mehr zu retten.

Ein zweites Beispiel: Auch da, wo der Runde Tisch und dann die letzte, nun wirklich demokratische DDR-Regierung eine Entscheidung traf, die für das gegenwärtige Deutschland große und segensreiche Folgen hatte, wird dies bis heute immer wieder anders beschrieben. Ich meine die Einladung sowjetischer Juden in die DDR und damit nach Deutschland. Nach einer Forderung des Runden Tisches im Februar 1990 hatte die Volkskammer gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit in der oben schon erwähnten Erklärung vom 12. April 1990 beschlossen: „Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren.“

In den verschiedenen Republiken der Sowjetunion fühlten sich Juden zunehmend unsicher und verließen das Land – 1988 waren es etwa 20.000, 1989 schon mehr als 200.000 Menschen. Aus ganz verschiedenen Gründen wollten viele nicht nach Israel gehen und die im demokratischen Wandel begriffene DDR wurde für sie interessant. Wir als DDR-Regierung zeigten uns dafür offen und erließen dafür schließlich im Juli 1990 eine entsprechende Verordnung. Da hatte die faktische Einwanderung mit Touristenvisum auch schon begonnen und wurde dann in geregelte Bahnen überführt. Die Bundesregierung wollte diese Einwanderung verhindern – und dann wenigstens begrenzen, da sie Deutschland nicht als Einwanderungsland sah.

Bis zum 3. Oktober 1990 waren knapp 3000 Juden eingewandert, andere waren auf dem Weg. Der Strom ließ sich nicht mehr stoppen – und die Bundesregierung musste einsehen, dass sie Juden auch nicht wieder ausweisen konnte. Nach der Vereinigung wurde im Bundestag darüber diskutiert, wie weiter zu verfahren sei. Schließlich – nach der Bundestagswahl im Dezember 1990 – ging die Bundesregierung Anfang 1991 dazu über, die ankommenden Juden nach der sogenannten Kontingentregelung zu behandeln, die man früher für die sogenannten Bootsflüchtlinge aus Vietnam geschaffen hatte.

Als 2021 zum Holocaustgedenktag im Deutschen Bundestag an das jüdische Leben seit 1700 Jahren in heute deutschen Landen erinnert wurde und auch an das reiche jüdische Leben der Gegenwart dank der Einwanderung zur Sprache kam, wurde nicht erwähnt, woher diese Initiative kam. Entsprechend hat das Bundesinnenministerium 2021 (!) zu einer Feier zum 30. Jahrestag der Einwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion eingeladen, als wäre es eine Entscheidung der Bundesregierung nach der Vereinigung gewesen. Offensichtlich durfte auch selbst von der demokratischen DDR-Regierung 1990 nichts Gutes für Deutschland ausgehen…

In ganz Deutschland hat sich durch diese Initiative und die damit beginnende Einwanderung ein sehr differenziertes jüdisches Leben entwickelt. Eine schöne Frucht dieser bewegenden Zeit – aber bis heute als solche kaum im Blick. Im kommenden Jahr – 2025 – gäbe es die gute Gelegenheit, dieser schönen Entwicklung nach 35 Jahren zu gedenken. Gleichzeitig gehörte natürlich dazu, auch die gegenwärtige Gefährdung dieses Reichtums durch einen grassierenden Antisemitismus in den Blick zu nehmen.

Die Verfassungsdebatte 1989/1990

Schon in der Friedlichen Revolution spielte die Verfassungsfrage eine wichtige Rolle. Am 26. August 1989 jährte sich die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte der Französischen Revolution zum 200. Male. Als „Arbeitskreis Theologie und Philosophie“ bei der Studienabteilung des Bundes der evangelischen Kirchen veranstalteten wir aus diesem Anlass in der Golgathakirche in Berlin ein Menschenrechtsseminar, um die Grundfragen von Recht und Freiheit zu diskutieren. Am Ende dieses Seminars verlas ich im Plenum den von Martin Gutzeit und mir verfassten Aufruf zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), in welchem wir uns zu den westlichen Werten, zur Gewaltenteilung und einer parlamentarischen Demokratie westlichen Musters bekannten. Zentral war dabei, dass wir nicht nur Rechte einklagten, sondern dafür eintraten, Rechtsstaatlichkeit neu zu konstituieren.

In den folgenden Wochen, während der Friedlichen Revolution verfiel die Macht der SED zunehmend. Am 9. November wurde aus dem SED-Plan, mit einem begrenzten Reisegesetz wieder die politische Initiative zu ergreifen, im Zuge der Friedlichen Revolution und des Aufbruchs der Massen der Fall der Mauer. Am 1. Dezember 1989 wurde aus der DDR-Verfassung die führende Rolle der SED gestrichen. In der ersten Sitzung des Runden Tisches, der den friedlichen Weg zu freien Wahlen bereiten sollte, wurde beschlossen, eine neue Verfassung vorzubereiten. Dafür wurde eine Kommission gegründet.

Selbst innerhalb der Opposition gab es keine Einigkeit, wie weit diese Vorbereitung gehen sollte. Die meisten waren der Meinung, dass diese Kommission einen Verfassungsentwurf vorbereiten sollte, wir als Sozialdemokraten traten dafür ein, dies den künftigen, gewählten Mandatsträgern zu überlassen, dass es also nur um Vorarbeiten gehen könne. Durch die Entscheidung Ende Januar 1990, den ursprünglichen Wahltermin im Mai auf den 18. März 1990 vorzuziehen, lag in der letzten Sitzung des Runden Tisches am 12. März noch kein fertiger Entwurf vor. Für die Vorstellung dieser Arbeiten durch den Sprecher der Kommission, Gerd Poppe, hatte der Runde Tisch dann auch nur eine Stunde Zeit. Trotzdem war es dann beachtlich, dass es der weiterarbeitenden Kommission noch gelang, zur Ernennung der demokratischen Regierung in der Volkskammer am 12. April 1990 einen vollständigen Entwurf vorzulegen. Dabei soll auch daran erinnert werden, dass an dieser Arbeit auch Verfassungsexperten aus dem Westen eingeladen wurden, genannt seien nur Ulrich K. Preuß, Helmut Simon, Axel Azzola, Alexander von Brünneck und Bernhard Schlink.

Doch hatten sich mit der Wahl die Verhältnisse geändert. Die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung hatte für eine schnelle Vereinigung votiert. Mit diesem Wahlergebnis war klar, dass die Vereinigung rechtlich als Beitritt nach Art. 23 des GG vollzogen werden sollte. Wir als Sozialdemokraten hatten in den Koalitionsverhandlungen noch durchgesetzt, dass ausgehandelte Verträge eine Voraussetzung des Beitritts sind, nicht nur international in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen mit den Alliierten des Zweiten Weltkrieges, sondern auch bilateral.

So war mit dem Regierungsantritt der neuen Regierung klar, dass die Vorbereitung dieser Verträge zur deutschen Einheit und die Etablierung demokratischer Strukturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft absolute Priorität haben mussten. Dazu gehörte dann übrigens auch die Bildung der Länder und damit einer föderalen Struktur. In dieser Situation eine Diskussion über eine neue DDR-Verfassung zu beginnen, hätte bei der Mehrheit der Bevölkerung nur zu Kopfschütteln und heftigen Protesten geführt. Deshalb lehnte das die Große Koalition gegen den heftigen Protest der Abgeordneten aus den Bürgerbewegungen des Herbst 1989 auch ab.

Der Vorschlag Lothar de Maizières, die DDR-Verfassung von 1949 als Grundlage für demokratisch notwendige Transformation einzusetzen, erwies sich bei näherem Hinsehen als unrealistisch. Richard Schröder schlug mit Unterstützung der Sozialdemokraten vor, dem spanischen Beispiel der 1970er Jahre folgend, im „Bausteinverfahren“ die DDR-Verfassung an die jeweils notwendigen Herausforderungen der demokratischen Umgestaltung anzupassen. Im Wesentlichen wurde dann auch so verfahren. Im Zusammenhang mit dem Ersten Staatsvertrag zur Währungsunion wurde dann in einem Verfassungsgrundsätzegesetz alles außer Kraft gesetzt, was dem Grundgesetz widersprach.

Gerade denen, die im Herbst 1989 für Freiheit und Demokratie stritten, war nun gerade auf dem Hintergrund, dass die Vereinigung als Beitritt vollzogen wird, wichtig, dass es wenigstens einer gemeinsamen Überarbeitung des Grundgesetzes bedürfe, bei der die DDR-Bürger sich mit ihren Vorstellungen einbringen können. Diese neue Verfassung solle dann in einem Volksentscheid von allen Deutschen beschlossen werden. Dem verweigerte sich die Bundesregierung. In einem Spiegelgespräch mit Wolfgang Schäuble bin ich für eine solche Überarbeitung eingetreten. Es wurde vor der freien Wahl geführt, dann aber erst am 19. März 1990 veröffentlicht.

Übrig blieb, im Einigungsvertrag Art. 5 festgehalten, dass sich Bundestag und Bundesrat nach der Vereinigung noch einmal mit dem Grundgesetz befassen sollten, um es den neuen Verhältnissen anzupassen. Diese Verfassungskommission arbeitete dann von 1991 bis 1994. Die Regierung Kohl war jedoch nur zu geringfügigen Änderungen bereit. Der Beitrittsartikel 23 GG wurde zum Europaartikel. Darüber hinaus gab es schließlich nach heftigen Debatten nur die Bereitschaft, das Staatsziel zum Schutz der Umwelt mit aufzunehmen. Zwar forderte die Bundesregierung in diesen Jahren mit anderen europäischen Partnern mit Recht, dass die neuen Demokratien in Europa Minderheitenrechte anerkennen und einhalten müssten auf ihrem Weg in die EU, zudem gibt es diese Bestimmungen auch in deutschen Länderverfassungen, aber die CDU verweigerte die von uns geforderte Aufnahme dieser Rechte ins Grundgesetz. So erfüllte diese Kommission in keiner Weise die Erwartungen derer, die sich davon einen Akt der Selbstbestimmung und Identifikation aller Deutschen in Ost und West mit diesem vereinten Deutschland erhofften. So bleibt bis heute ein weit verbreitetes Unbehagen, dass nicht wenigstens diese Bereitschaft zu einer Ost und West integrierenden vorsichtigen Überarbeitung des Grundgesetzes mit dem Ziel einer neuen Verfassung vorhanden war.

Das vorläufige Grundgesetz zu unserer dauerhaften Verfassung machen!

Nach der Verfassungskommission sind 30 Jahre vergangen. Inzwischen haben auch wir Ostdeutschen gute Erfahrungen mit dem Grundgesetz machen können. Mehrfach wurde es verändert. Einige vereinbarte Änderungen – ich erwähne nur die „Kinderrechte“ oder das „Staatsziel Kultur“, Projekte der Großen Koalitionen 2013-2021 – haben bisher keine notwendige Mehrheit gefunden. Beobachtete man die jeweiligen Debatten zu diesen und anderen Themen, zeigte sich, dass die Diskussionslinien nirgendwo zwischen Ost und West verliefen.

2019 und 2024 wurden der 70. beziehungsweise 75. „Geburtstag des Grundgesetzes“ vielfach begangen. Sowohl 2019 wie 2024 wurde in zahlreichen Reden und Artikeln die grundlegende Bedeutung hervorgehoben, die dieses Grundgesetz in den Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland hatte. Das gilt dabei nicht nur für die gut 40 Jahre bis 1990, sondern auch für die fast 35 Jahre im vereinten Deutschland.

Nach den Schrecken und Verbrechen, die wir Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus über ganz Europa gebracht haben, nach millionenfacher grausiger Verletzung von Recht und Menschlichkeit waren die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes wie Paukenschläge, die Deutschland auf eine neue Grundlage stellen sollten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die 1948 von der UNO beschlossen worden waren, und die folgenden Grundrechtsartikel 1 – 20 sollten dauerhaft gelten.

Das Grundgesetz – 1949 noch ein Zeugnis der Teilung und der Abwehr gegenüber dem Kommunismus, der im Osten Europas und auch Deutschlands diese Würde und Grundrechte zutiefst missachtete – schrieb die Lehren aus der Vergangenheit fest und hatte zum Ziel, dass diese künftig einmal für alle Deutschen möglich werden sollten. Das Streben nach der Einheit in Freiheit und Demokratie, die vor 75 Jahren, im Kalten Krieg und der sich immer mehr manifestierenden Teilung Europas und der Welt nicht möglich war, bekam Verfassungsrang. Dafür hatte der alte Artikel 146 eine wesentliche Bedeutung.

Wer sich das Grundgesetz nun aus Anlass seines 75. Geburtstags einmal wieder zur Hand nimmt und darin liest, stellt am Ende plötzlich fest, dass es nur vorläufig gilt: Der letzte Artikel 146 schreibt nämlich fest, dass es seine Gültigkeit an dem Tage verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Man hat nach der Vereinigung im Jahr 1990 auch in der Verfassungskommission diesen Artikel erhalten, da die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen so groß war.

Heute, 30 Jahre später, müssen wir uns jedoch fragen, ob das sinnvoll ist.

Die Einheit Deutschlands ist Realität. Es gibt in den letzten 30 Jahren keine konkreten Forderungen für eine Grundgesetzänderung, die spezifisch Ostdeutschland betrifft. Gleichwohl hat sich das Grundgesetz nicht nur bewährt, sondern auch als anpassungsfähig für neue Herausforderungen erwiesen.

Deshalb: Warum dann heute noch diese Vorläufigkeit? Welcher Weg soll da offengehalten werden? Ich bin dafür, diese zu beenden und den Artikel 146 zu streichen!

Wenn das Grundgesetz so grundlegend ist, wie wir es in diesen Tagen hören – und wir das wohl auch in großer Mehrheit so empfinden und für richtig halten, dann braucht es kein Warten darauf, dass die Deutschen sich eine neue Verfassung geben.

Ja, es ist sogar kontraproduktiv und verunsichernd. Reichsbürger und andere Feinde unseres so verfassten demokratischen Gemeinwesens nehmen diese Vorläufigkeit als Begründung für ihre Infragestellung.

Wir haben eine Verfassung – das Grundgesetz, das wir nun auch formal zu einer solchen machen sollten! 2024 haben wir das Grundgesetz gefeiert, mit dem wir Ostdeutschen nun auch schon bald 35 Jahre lang beste Erfahrungen gemacht haben.

Ich kenne kein Land, dessen Verfassung mir lieber wäre! Gleichzeitig erleben wir, dass nicht nur in unserem Land, sondern in Europa und weltweit die freiheitliche und liberale Demokratie, die im Grundgesetz für Deutschland festgeschrieben ist, unter Druck steht. Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes und der 2025 anstehende 35. Jahrestag der Deutschen Einheit sollten uns Anlass nicht nur zu Feiertagsreden sein, sondern Gelegenheit zur Selbstvergewisserung geben.

Nehmen wir ernst, was wir im vergangenen Jahr wieder Wichtiges zu diesem Grundlagen-Text gesagt und gehört haben, und nehmen es als Orientierung für die Zukunft.

Man kann (historisch) erklären, wie es zum alten und dann jetzigen Artikel 146 kam. Sachlich begründen, weshalb wir ihn heute noch brauchen, aber wohl kaum.

Im Ernstnehmen des Grundgesetzes als bleibende Grundlage unseres Gemeinwesens auch für die Zukunft sollten wir uns vornehmen, zum 35. Jahrestag der Deutschen Einheit die Vorläufigkeit des Grundgesetzes durch Streichung des Artikels 146 aufzuheben und es so zu unserer Verfassung der Zukunft zu machen.

In den folgenden Monaten kann man sich das Grundgesetz anhand der Festreden noch einmal anschauen – Monate der Selbstvergewisserung und Prüfung der Tragfähigkeit dieser Grundlagen für die Zukunft – und dann spitzen wir nicht nur den Mund, sondern pfeifen auch und machen dieses Grundgesetz zu unserer dauerhaften Verfassung!

Vielleicht finden sich ja dann sogar noch die notwendigen Mehrheiten, um diese Verfassung dann noch besser zu machen – etwa durch die Sicherung von Kinderrechten, wie es die vergangene Große Koalition einmal wollte. Oder man findet eine Formulierung für das Staatsziel Kultur. Verschiedene Vorschläge für weitere Änderungen stehen im Raum, vielleicht sogar solche zur Sicherung von Minderheitenrechten, die bisher in Deutschland nur in Länderverfassungen und im Lissaboner Vertrag stehen.

2024 ist auch darauf hingewiesen worden, dass es wohl sinnvoll wäre, den Artikel 139 GG neu zu formulieren. Wir sollten uns für die Abweisung nazistischen Gedankengutes nicht mehr nur auf die Verbote der Alliierten beziehen, sondern dies aus eigener Überzeugung formulieren. Die Landesverfassung von Mecklenburg-Vorpommern hat dies in ihrem Artikel 18a getan und könnte hier Orientierung geben. Darauf hat Bodo Ramelow m Mai 2024 in der FAZ hingewiesen

Doch am Gelingen solcher Ergänzungen hängt es nicht.

Sich gerade angesichts vieler Anfragen an die Tragfähigkeit unserer Demokratie über unsere gesellschaftlichen und staatlichen Rechts-Grundlagen neu zu vergewissern und sie schließlich für dauerhaft zu erklären, wäre ein großer Gewinn.

So lasst uns zum 35. Tag der Deutschen Einheit 2025 durch Streichung des Vorläufigkeitsartikels 146 das Grundgesetz zu unserer Verfassung machen.

Aufarbeitung und Gedenken

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der kommunistischen Diktatur standen die neuen Demokratien mit der notwendigen staatlichen und gesellschaftlichen Transformation vor der großen Herausforderung, diese Diktaturen, ihre Geschichte und Nachwirkungen aufzuarbeiten. Dazu gehörte insbesondere die Würdigung der Opfer und die Frage des Umgangs mit den Verantwortlichen für die Verbrechen und das Unrecht der Vergangenheit.

Schon in der Zeit der demokratischen DDR nach der freien Wahl begann die Volkskammer 1990, sich diesen Aufgaben zuzuwenden, so trat sie für die Öffnung der Akten des Repressionssystems und der Staatssicherheit ein. Mit der Einsetzung eines Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, den Rehabilitationsgesetzen, der Einrichtung zweier Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages nahm das vereinte Deutschland mit beachtlichen Anstrengungen diese Herausforderung an. Entsprechend den Empfehlungen der 2. Enquete-Kommission schuf der Deutsche Bundestag die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ und erarbeitete eine Gedenkstättenkonzeption, durch welche nun Gedenkstätten und authentische Orte beider Diktaturen, des Nationalsozialismus und des Kommunismus, in ganz Deutschland gefördert werden.

Sowohl die „Bundesstiftung Aufarbeitung“ wie der „Bundesbeauftragte“ wurden aktiv in der Zusammenarbeit und Vernetzung mit anderen Institutionen in Europa, die sich ähnlichen Aufgaben in anderen Ländern widmen. Diese internationale Arbeit ist wichtig und muss weiter ausgebaut werden, wird doch gerade erst in der Gesamtsicht der Charakter des kommunistischen Systems erkennbar. Mit der Übertragung der Aufgaben des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen an das Bundesarchiv wurde beim Bundestag die neue Institution einer Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur geschaffen, welche mit großem Engagement der Verantwortung für die Opfer eine Stimme gibt und ihre Interessen ins politische Gespräch bringt. Ihren Forderungen entsprechend sollte zu den bevorstehenden 35. Jahrestagen die seit Jahren geforderte Umkehrung der Beweislast bei der Anerkennung gesundheitlicher Schäden beschlossen werden, wie sie bei den NS-Opfern seit Jahrzehnten Praxis ist. Ebenfalls sollte eine Lösung gefunden werden für die Entschädigung der Vertragsarbeiter aus Mosambik, die als relativ kleine Opfergruppe seit 1990 weitgehend vergessen wurde.

Wichtige Projekte, die schon vor Jahren vom Bundestag beschlossenen sind bzw. sich in der Planungsphase befinden, harren bis heute der Vollendung:

  • Das Denkmal zur Erinnerung und Mahnung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland.
  • Der Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals, dessen Vollendung schon mehrfach angekündigt wurde.
  • Schon die zweite Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages hatte 1998 empfohlen, in einer eigenständigen Institution an Opposition und Widerstand in der SBZ und DDR zu erinnern. In den letzten Jahren wurde die Errichtung eines „Forums Opposition und Widerstand 1945 – 1990“ vorbereitet. Dieses Forum sollte jedoch – anders als bisher geplant – in öffentlicher Trägerschaft im Zentrum Berlins entstehen. Opposition und Widerstand in der SBZ begannen unmittelbar nach dem Krieg und endeten mit der siegreichen Friedlichen Revolution in der DDR. Sie gehören in die deutsche Freiheitsgeschichte der beiden letzten Jahrhunderte und dürfen durch den Standort in Lichtenberg nicht von der Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit überschattet werden. Dieses Forum soll eine Dauerausstellung, die Möglichkeit für Wechselausstellungen, Bibliothek, ein Archiv und Ressourcen für Forschung und Bildungsarbeit erhalten. Es sollte mit den verschiedenen, oft privatrechtlichen Institutionen, die sich diesem Themenfeld widmen eng vernetzt sein.

Demokratie – Grundlage und Herausforderung

Die Opposition in der DDR der 1970er und 1980er Jahre sowie die Friedliche Revolution in der DDR vor 35 Jahren hatten vor allem eine Demokratisierung der DDR zum Ziel. Erst als sich mit dem Fall der Mauer und den Umbrüchen des Jahres 1989 in Mitteleuropa realistische Perspektiven auch auf die deutsche Einheit eröffneten, wurde sie zum zentralen operativen Ziel der Deutschen in Ost und West. Schon vorher hatten in den 80er Jahren wichtige Vertreter der Solidarnosc in Polen die deutsche Einheit als wichtige Bedingung für den eigenen Weg Richtung Westen benannt. In Polen und Ungarn wurde mit der Demokratisierung des eigenen Landes schon früh ein „Zurück nach Europa“ gefordert. Dabei wurde „Europa“ einerseits zum Symbol für Freiheit und Demokratie, für die liberalen Werte UN-Charta und der Menschenrechte, andererseits aber suchte man den Anschluss an die „Europäischen Gemeinschaften“ als Institutionen, in welchen diese Werte gesichert sind. Der Sieg von Freiheit und Demokratie 1989/90, die Überwindung des Kommunismus war damit sehr schnell verbunden mit dem Streben nach der deutschen Einheit in der DDR, mit dem Streben nach der Integration in die Europäischen Gemeinschaften.

Gleichzeitig hatte vielfach der Wunsch nach Selbstbestimmung und Demokratie auch eine nationale Dimension. Das galt einerseits besonders für die Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien, aber auch für die Satellitenstaaten der Sowjetunion, für die die nationale Souveränität eine besondere Rolle spielte. In diesen Zusammenhang gehört auch die friedliche Trennung der Tschechoslowakei und die Entstehung der unabhängigen Staaten Tschechien und Slowakei.

Schon früh gab es dann in den sich demokratisierenden Ländern in der Gesellschaft ein Anwachsen von Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit. So wuchs in der Sowjetunion der Druck auf Juden, so dass Abertausende schließlich auswanderten.

Auch in der DDR gab es Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit. Selbst bei den friedlichen Großdemonstrationen des Herbstes 1989 konnten etwa Vertragsarbeiter aus Mosambik solche Erfahrungen machen. Anfang der 1990er Jahre führten ausländerfeindliche Ausbrüche und rechte Gewalt in Rostock, Hoyerswerda und andernorts zu öffentlichem Erschrecken. Schnell entwickelten sich auch in Ostdeutschland rechte Strukturen, wobei die Drahtzieher vielfach aus dem Westen kamen. Wie in anderen postkommunistischen Staaten nicht nur Mitteleuropas entstanden auch in der DDR rechtspopulistische und nationalistische gesellschaftliche Kräfte, die die grundlegenden Werte der Europäischen Union und des Grundgesetzes infrage stellen.

Gleichwohl ist diese populistische Infragestellung der freiheitlichen Grundwerte nicht nur ein postkommunistisches Phänomen. Die Entwicklungen in Frankreich, den Niederlanden, Italien und nicht zuletzt in den USA machen deutlich, dass die Demokratie heute in einer Weise unter Druck steht, wie man es vor 35 Jahren nicht für möglich gehalten hätte.

Gerade in den letzten Jahren wird mehr und mehr deutlich: Die durch den Freiheitswillen der Menschen in Mitteleuropa und der DDR errungene Demokratie, die Europa in der Folge zusammenwachsen ließ, muss gesichert und verteidigt werden – innerhalb Deutschlands und der Europäischen Union wie gegenüber den Feinden von außerhalb, insbesondere vor Russland. Hier ist eine strategische Zusammenarbeit von EU und NATO von größter Bedeutung.

Eine wehrhafte Demokratie zu schaffen, ist eine gemeinsame Herausforderung in Deutschland und Europa. Um hier erfolgreich zu sein, braucht es einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Gewissheit, dass unsere Werte auch in Zukunft tragfähig sind, und den gemeinsamen Willen, sie zu verteidigen.

Markus Meckel, Berlin

Zum Weiterlesen:

  • Almuth Berger, Ein Tabu der Nachkriegsgeschichte wird gebrochen – Aufnahme russisch-jüdischer Emigranten in der DDR, in: Dmitrij Belkin / Raphael Gross, Hg., Ausgerechnet Deutschland! Begleitpublikation zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt 2010, Berlin 2010.
  • Katharina Kunter / Johannes Paulmann, Die unbekannten Politikverhandler im Umbruch Europas – Zeitzeugeninterviews mit ausgewählten Staatssekretären der letzten DDR-Regierung 1990, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2023.
  • Markus Meckel, Zu wandeln die Zeiten – Erinnerungen, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020.
  • Markus Meckel, Ein Abzug mit Stolpersteinen, In: Michael Daxner / Gerd Harms / Axel von Hoerschelmann / Jann Jakobs / Birgit-Katharine Seemann, Hg., Gut: gegangen – Der Abzug der sowjetischen/russischen Streitkräfte 1990 bis 1994, Potsdam, Strauss Edition, 2024
  • Patrice Poutrus, Umkämpftes Asyl – Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin, Ch. Links, 2019.
  • Richard Schröder, Deutschland schwierig Vaterland. Für eine neue politische Kultur, Freiburg, Herder, 1993.

Texte von und mit Markus Meckel im Demokratischen Salon:

Eine Ausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung:

Unter dem Titel „…denen mitzuwirken versagt war“ bietet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine zum Preis von 40 EUR erwerbbare Plakatausstellung, die all den Demokratinnen und Demokraten gewidmet ist, die an der Erarbeitung des Grundgesetzes nicht beteiligt werden konnten, weil sie auf dem Gebiet der SBZ beziehungsweise DDR lebten. Kuratiert wurde die Ausstellung von Anna Kaminsky und Alexander Frese unter Mitarbeit von Sara Brand und Carlotta Strauch. Die Ausstellung umfasst 20 Tafeln im Format DIN A 1, darunter 15 biografische Tafeln, die jeweils zwei Personen porträtieren. Jede Tafel enthält einen QR-Code, der auf Begleitmaterialien im Internet verweist. Wer im Köln-Bonner-Raum interessiert ist, kann sich an den Demokratischen Salon wenden.

(Anmerkungen: Dieser Essay ist eine leicht bearbeitete Fassung eines Artikels für das Periodikum „Erinnern! Aufgabe, Chance, Herausforderung“ 2/2024 – eine Zeitschrift der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Veröffentlichung im Demokratischen Salon im Oktober 2024, Internetzugriffe zuletzt am 12. Oktober 2024. Das Titelbild zeigt die Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz vom 4. November 1989, Foto: Bernd Settnik, Bundesarchiv Bild 183-1989-1104-437, Wikimedia Commons.)