Die verfolgte Unschuld

Zu den Folgen unzureichender Aufarbeitung

„Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein. Sondern man will einen Schlussstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.“ (Theodor W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, Vortrag vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Herbst 1959)

Eine der gängigsten Einleitungen antisemitischer Propaganda beginnt mit der Aussage: „Ich bin kein Antisemit“. Dann folgt das große „Aber“. Der einleitende Hauptsatz macht es schwer, wenn nicht unmöglich, nachzuweisen, dass nach dem große „Aber“ eine antisemitische Äußerung folgt. Der steht wie in Stein gemeißelt, und mit Steinen werden Menschen erschlagen, nicht nur metaphorisch, ganz real.

Nach diesem Muster funktioniert in der Regel die Zurückweisung jeder Schuld der Mitwirkung an den Verbrechen des Nationalsozialismus, auch und gerade im Namen von Eltern, Groß- und Urgroßeltern. Im Jahr 2020, 75 Jahre nach der Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Herrschaft, 87 Jahre nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, leben nur noch wenige Menschen, die für ihre zwischen 1933 und 1945 begangenen Taten zur Verantwortung gezogen werden können. Und dennoch ist es vielen Deutschen ein wichtiges Anliegen, die Unschuld ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern zu behaupten und durchzusetzen. Niemand war Antisemit*in, niemand wurde schuldig.

„Kollektive Unschuld“

Samuel Salzborn hat in Anlehnung an den Begriff der „Kollektivschuld“ den Begriff „Kollektive Unschuld“ eingeführt. Niemand hatte zwar jemals ernsthaft eine solche „Kollektivschuld“ behauptet, doch gibt es unter Deutschen ein immer wiederkehrendes Bedürfnis, eine solche Schuld abzuwehren. „Kollektive Unschuld“ – das ist der Titel des 2020 bei Hentrich & Hentrich erschienenen Buches von Samuel Salzborn (Untertitel: „Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“).

Samuel Salzborn beginnt mit der Gegenüberstellung der Begriffe „Geschichtsvergessenheit“ und „Geschichtsversessenheit“, die Aleida Assmann und Ute Frevert in ihrem Buch „Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit – Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945“ (Stuttgart, DVA, 1990) analysiert hatten. Diese „Geschichtsversessenheit“ hat viel mit dem Bestreben zu tun, deutsche Unschuld zu beweisen. „History“-Dokumentationen sind populär, fiktive und halb-dokumentarische Fernsehserien über die Vergangenheit haben hohe Einschaltquoten. Hitler verkauft sich gut. „Er ist wieder da“, nicht nur dank Timur Vernes populär in Buch und Film. Guido Knopp hat eine ganze Reihe über Hitlers Entourage veröffentlicht, über „Hitlers Helfer“ (zwei Teile), „Hitlers Kinder“, „Hitlers Kriege“, „Hitlers Frauen“. Auch die diversen Hitlerbiographien des Buchmarkts sind durchweg Bestseller.

Der Eindruck drängt sich auf, dass es in all diesen Dokumentationen vor allem darum geht, den einen großen Verbrecher zu präsentieren, der mit seiner satanischen Allmacht die Unschuld aller anderen garantiert, die in seinem Reich des Schreckens lebten. So wird Hitler der „Sündenbock“, dem man alle eigenen Sünden und Verbrechen auferlegen kann und der darüber hinaus den Vorteil bietet, dass er diese Sünden und Verbrechen und noch viel Schlimmeres auch nachweislich begangen hat.

Die Deutschen bekommen die Fernsehspiele und -serien, die sie verdienen. Beispielhaft für die allgemeine Sehnsucht nach Unschuld ist die Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“, die die BILD-Zeitung veranlasste, auf ihrer Titelseite zu fragen, ob es wirklich so gewesen wäre. Natürlich war es so, das war der Subtext dieser rhetorisch gemeinten Frage, und die Deutschen, die dies lasen und die Serie sahen, konnten ruhig schlafen, denn ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern waren keine Täter*innen, sondern Opfer.

Die von Theodor W. Adorno 1959 geforderte „Aufarbeitung der Vergangenheit“ wurde damit selbst zur verdrängten Vergangenheit. Samuel Salzborn konstatiert, „dass vielmehr die deutsche Gesellschaft über die Jahrzehnte hinweg aus der Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus zur Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik geworden ist, die durch antisemitische Projektionen und ethnische Selbstviktimisierungsphantasien zusammengehalten wird.“ Charakteristisch für diese Entwicklung ist, dass „Opfer- und Täterdiskurs nicht mehr voneinander getrennt betrachtet werden, sondern in einem postmodernen Nebel der historischen Entkontextualisierung verschwimmen.“

Konkret: Die Bombardierungen von Dresden, Hamburg und Köln, die Vertreibung Deutscher aus den Regionen östlich von Oder und Lausitzer Neiße, die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten, die Leiden deutscher Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft – all dies drängt die Shoah und die Verbrechen der Wehrmacht, von SS und SA sowie anderer NS-Organe in den Hintergrund. Die Tatsache, dass es die Bombardierungen deutscher Städte, die Vertreibungen, die Vergewaltigungen und Gefangenenlager ohne die nationalsozialistische Aggression und ohne die Verbrechen der Wehrmacht gar nicht gegeben hätte, wird verdrängt, unterschlagen, vergessen.

Strategien der Schuldabwehr

Eine im Ton besonders aggressive Form der Schuldabwehr ist die Leugnung von jedem Antisemitismus. Samuel Salzborn: „Diese von AntisemitInnen aller politischen Spektren geteilte Schuldabwehr steht in direktem Zusammenhang zu dem gegen Israel gerichteten Antisemitismus und dessen propalästinensischer Orientierung.“ So entstehen Legenden: Die Schuld für diese andauernden Debatten um die Shoah liegt bei den Opfern und ihren Nachfahren, die nicht müde werden, die Verbrechen der Vergangenheit zu zitieren. Haben die Deutschen nicht genug gebüßt? Zvi Rix (1909-1981) wird oft als Urheber des Satzes genannt: „Die Deutschen werden den Juden den Holocaust nie verzeihen.“ (Zitiert nach Anja Siegel), Zwi Rix dort wie auch an anderen Orten als Zwi Rex zitiert, hierzu lohnenswert der Wikipedia-Eintrag.

Und wer spricht über die Verbrechen der anderen? Während im sogenannten „Historikerstreit“ Ernst Nolte und der ihn unterstützende Joachim Fest versuchten, die nationalsozialistischen Verbrechen durch den Vergleich mit sowjetischen Verbrechen zu relativieren und zu rechtfertigen, finden heute Vergleiche zwischen israelischer Besatzungspolitik und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft ihr Publikum. Sie finden in rechten, linken und muslimischen Milieus gleichermaßen Zustimmung, sodass letztlich „Schuldabwehr“ nicht mehr begründet werden muss, weil die fälschlicherweise für schuldig Befundenen die eigentlichen Opfer sind, die sich das moralische Recht nehmen dürfen, die Verbrechen der anderen zu brandmarken.

Die Legendenbildung geht noch weiter: Die Deutschen waren in der NS-Zeit nicht nur selbst unschuldig, sie waren selbst Opfer, sie halfen den damaligen Opfern. Samuel Salzborn zitiert die MEMO-Studie 2019 der Universität Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (Stiftung EVZ): 69,8 % der an der Untersuchung Beteiligten glauben, dass ihre Vorfahren keine Täter, 35,9 % glauben, dass sie Opfer des Nationalsozialismus gewesen wären, 28,7 %, dass sie „potentiellen Opfern geholfen hätten“, Mehrfachnennungen waren möglich (MEMO ist die Abkürzung von „Multidimensionaler Erinnerungs-Monitor“).

Der Glaube an die eigene Unschuld lässt sich keiner politischen Richtung zuordnen. Samuel Salzborn stellt fest: „Die Abwehr der eigenen Schuld ist ein verbindendes Band zwischen den politischen Spektren.“ Dies entspricht der von Dan Diner formulierten „Komplizenschaft der Generationen“, die Anja Siegel zitiert. Allerdings gibt es Unterschiede politischer Art. Samuel Salzborn beschreibt die unterschiedlichen Ausprägungen und Strategien der „Schuldabwehr“ in Westdeutschland, d.h. der ehemaligen Bundesrepublik, in der DDR und in Österreich.

Die DDR hat sich als „antikapitalistischer Staat (…) qua definitionem jeder Verantwortung entledigt“. In marxistischen Termini gesprochen hätte die Veränderung des Seins, die Überwindung des Kapitalismus, als dessen brutalste Form der Faschismus und der Nationalsozialismus galten, nicht nur das Bewusstsein der in der DDR lebenden Menschen verändert, sondern auch gleich vergangene Täter*innenschaft getilgt. Der DDR gelang somit eine Form kollektiver Absolution durch kollektive Umkehr. Österreich inszenierte sich „als erstes NS-Opfer“ und trug vor, es habe aufgrund des „Anschlusses“ vom März 1938 während des Krieges als Land gar nicht existiert. Österreicher*innen könnten daher auch nicht für die in dieser Zeit begangenen Verbrechen verantwortlich gemacht werden.

Westdeutschland wurde von der DDR wie von der Republik Österreich als Erbe des NS-Staates verstanden und hatte es schon schwerer, sich der vergangenen Schuld zu entledigen. „Friedliche Revolution und „Deutsche Einheit“ kamen da wie gerufen. In Westdeutschland wurde in den vergangenen 30 Jahren seit 1990 der Vergleich zwischen der kommunistischer und nationalsozialistischer Diktatur nicht ohne Grund populär. Allerdings stand die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur dabei nicht im Vordergrund, sie war lediglich Mittel zum Zweck. Samuel Salzborn: „Es geht im Kern nicht um die Herausarbeitung des Unrechtscharakters mit Blick auf die DDR, sondern die Verharmlosung des NS-Regimes und die Stilisierung der Deutschen zu überwachten und kontrollierten Opfern (und eben nicht ihr Begreifen als überwachende und kontrollierende TäterInnen).“ Anders gesagt: die Deutschen waren weder für den Nationalsozialismus noch für die DDR verantwortlich.

Samuel Salzborn benennt mehrere Instrumente dieser selbstwirksamen Strategie, sich vor der Geschichte und vor allem vor der Zeitgenoss*innenschaft der Staatengemeinschaft zu exkulpieren: „Trivialisierung“, „Bagatellisierung“, „Dethematisierung“, „Distanzgewinnung“, nicht zuletzt „Analogisierung“ mit anderen Einstellungen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, beispielsweise der „Islamophobie“, schließlich „Universalisierung“ der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sodass die NS-Zeit nur noch als eine Diktatur unter anderen erscheint.

Schuldumkehr und Opferkonkurrenz

Das Einzigartige der Shoah verschwindet nach und nach aus dem öffentlichen Bewusstsein. Sie wird ein Verbrechen unter vielen. Samuel Salzborn hält dagegen und zitiert Steffen Klävers („Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung“, Berlin 2019): „Im NS-Antisemitismus sollte jeder einzelne jüdische Mensch vernichtet werden, weil er als Teil einer verderblichen, verborgenen, abstrakten und übermächtigen Gegenrasse betrachtet wurde. Im kolonialen Rassismus gibt es keine Entsprechungen zu dieser Zuschreibung – weder auf Seiten der Kolonisierenden noch auf Seiten der Kolonisierten (…): Antisemitismus und Rassismus sind nicht kommensurabel, und damit kann Antisemitismus auch keine Unterform von oder kein Beispiel für Rassismus sein.“

Jede Subsummierung des Antisemitismus unter „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ relativiert die Einzigartigkeit der Shoah relativiert und verharmlost Antisemitismus. So wird es erforderlich, die Einzigartigkeit der Shoah ständig neu zu begründen und bewusst zu machen. Samuel Salzborn benennt in seinem Buch „Globaler Antisemitismus“ (Weinheim / Basel, Beltz Juventa, 2018) beispielhaft für solch unzulässige Vergleiche der Opferkonkurrenz „die Unterschiede von Antisemitismus und Islamophobie“: „Es hat nicht nur niemals einen Versuch zur Massenvernichtung von Muslimen gegeben, sondern im Gegenteil sind islamische Staaten wie der Iran, Saudi-Arabien oder Katar direkt oder über den Umweg der logistischen und / oder finanziellen Unterstützung des islamistischen Terrorismus heute die treibende Kraft beim Versuch der Wiederholung der antisemitischen Barbarei.“

Umso haltloser erscheint dann auch auf Israel bezogene „Kritik“. Samuel Salzborn hebt mit Recht hervor, dass Israel der einzige demokratische Staat in der im Allgemeinen als „Naher Osten“ bezeichneten Region ist. Man mag israelische Regierungspolitik kritisieren, aber diese Kritik bekommt viel zu oft einen antisemischen Zungenschlag. So legen auch westliche Demokratien immer wieder „doppelte Standards“ an. Verteidigt sich Israel gegen Raketenangriffe von Hamas oder Hisbollah, wird die israelische Reaktion kritisiert. Über die eigentlichen Urheber der Gewalt schaut man gnädig hinweg, ein im Antisemitismus gängiges Bild der Täter-Opfer-Umkehr.

Ein Schlüsselereignis für die Popularisierung der deutschen „Schuldabwehr“ war im Jahr 1998 Martin „Walsers Paulskirchen-Rede“. Mit ihr – so Samuel Salzborn (in „Kollektive Unschuld“) – „stieg nicht nur die Zahl der antisemitischen Schmähbriefe, die wöchentlich beispielsweise beim Zentralrat der Juden eingehen, sondern sehen sich auch zahlreiche Bürgerinnen und Bürger bestärkt, nicht mehr anonym, sondern mit voller Anschrift versehen ihren antisemitischen Affekten freien Lauf zu lassen. Denn ein großer Teil der Bevölkerung, so resümierte Ignatz Bubis seinerzeit, denke bereits seit langem wie Walser und wolle somit unter die NS-Vergangenheit einen ‚Schlussstrich‘ ziehen, um unbelastet von Erinnerung und Gedenken in die Zukunft blicken zu können.“

Da aber offenbar die Defensive der „Schuldabwehr“ nicht ausreichte, gingen viele in die Offensive der „Schuldumkehr“: Der Schrecken der Shoah wird nicht bestritten, aber die Deutschen waren ja nicht so, sie waren selbst Opfer, und sie waren im Widerstand, sie halfen verfolgten Jüdinnen und Juden. Wer selbst aus seiner Heimat vertrieben, deportiert wurde, konnte doch nicht Täter*in sein, sondern war verfolgte Unschuld – so beispielsweise die Erzählung der Vertriebenenverbände. Und die Russen waren mindestens genauso schlimm. So erzählten man und frau es sich gerne bei Kaffee und Kuchen oder beim Bier. Erstaunlich war nicht, dass die Werke von Alexander Solschenizyn über den Gulag sich gut verkauften, erstaunlich war, dass diese Werke in Westdeutschland einen Wettbewerb entfachten, in dem von der rechten Seite der Nationalsozialismus, von der linken Seite der Kommunismus verharmlost wurden. Zur Opferkonkurrenz gehörte der Streit, wer die schlimmeren Verbrechen begangen hätte.

In diesem Kontext ist erklärbar, warum die in den 1990er Jahren von Hannes Heer kuratierten Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht – allgemein als „Wehrmachtsausstellung“ bezeichnet – und das 1996 in deutscher Übersetzung erschienene Buch „Hitlers willige Vollstrecker – Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ von Daniel Goldhagen (englischer Originaltitel: „Hitler’s Willing Executioners – Ordinary Germans and the Holocaust“) in der Öffentlichkeit äußerst kontrovers diskutiert wurden.

Der von Goldhagens Buch ausgelöste „Perspektivwechsel in der Auseinandersetzung über die TäterInnen der Shoah“ (Samuel Salzborn) ging an die Substanz deutscher Erinnerungskultur. An wen sollten und wollten sich die Deutschen erinnern? An sich selbst als Täter*innen? An ihre Opfer? An sich selbst als Opfer? An die Opfer der anderen und damit an deren Täterschaft? Die von Goldhagens Buch ausgelöste Debatte wurde mit der Zeit immer leiser, ein Zeichen, dass sich diejenigen durchsetzten, die nicht an deutsche Täter*innenschaft erinnert werden wollten. Lauter hingegen wurde die Opferdebatte, für die die Fernsehserie „Unsere Mütter, unsere Väter“ bereits exemplarisch genannt wurde. So sollte es gewesen sein: wir waren Opfer, Täter*innen waren die anderen, zumindest waren sie auch welche. Vielleicht lohnt es sich, die aktuellen polnischen Debatten um die Mitwirkung beziehungsweise Nicht-Mitwirkung von Pol*innen an der Shoah in Polen einmal unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren. Es wäre zumindest nachvollziehbar, wenn sich die polnische Regierung dagegen wehrt, unbeschadet der Pogrome von Jedwabne 1941 und Kielce 1946, für nationalsozialistische Verbrechen mitverantwortlich gemacht zu werden und damit den westlichen Nachbarn zu entlasten. Geschichtsrevisionistische Tendenzen sollen damit nicht heruntergespielt werden, doch wird es möglicherweise leichter, ihnen argumentativ zu widersprechen, wenn die Motivationslage geklärt ist.

Lebenslügen

Samuel Salzborns Fazit: „Es ist nicht weniger als die größte Lebenslüge der Bundesrepublik: der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit. Dabei hält eine kleine gebildete, linksliberale Elite etwas für ein gesellschaftliches Phänomen, das zwar im intellektuellen Diskurs tatsächlich existiert, aber im gesamtgesellschaftlichen Raum nur rudimentär verankert ist – und im Gegenteil heute hartnäckiger denn je abgewehrt wird: die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der Abschied vom eigenen Opfermythos und die Auseinandersetzung mit der antisemitischen Täterschaft in so gut wie allen Familiengeschichten der Bundesrepublik (was freilich nicht nur den westlichen sondern ohne jede Abstriche auch den östlichen Teil Deutschlands meint).“

Polemischer, aber nicht weniger treffsicher argumentiert Max Czollek, beispielsweise in seinem Buch „Desintegriert euch“ (München, Hanser, 2018). Auch er befasst sich mit der Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“, die er als „Schmonzette“ bezeichnet. „Keine*r von den Deutschen ist Nazi, und der Jude Viktor selbstverständlich ganz wie sie eine Figur voller Licht und Schatten, ein ganz normaler Mensch in einer extremen Zeit. Krieg ist eben für alle eine schlimme Erfahrung.“ Deutschland geht es mit dieser Erinnerung ganz gut. „Deutschland schafft also nicht sich selbst, sondern vor allem seine Täter*innenerinnerung ab – und erfindet sich damit neu.“ Da wird es banal, wenn Martin Walser und Björn Höcke im Abstand von etwa 20 Jahren angesichts des Holocaust-Mahnmals in Berlin von einem „Denkmal der Schande“ beziehungsweise einer „Monumentalisierung der Schande“ sprechen.

Auch auf höherem Niveau lässt sich die Shoah aus dem Gedächtnis verbannen. Generationen von Schüler*innen haben in der Schule das Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan gelesen. Max Czollek weist mit Recht darauf hin, dass Paul Celan gerne „als radikal subjektivistischer Dichter beschrieben“ wird, dessen Texte einen „Hermetikstempel“ erhalten. Ich habe dies selbst in meiner Schulzeit zu Beginn der 1970er Jahre erlebt, als wir die „Todesfuge“ auf Metaphern, Allegorien und was weiß ich untersuchen sollten. Niemand sagte uns, dass es in diesem Text kein einziges Wort gibt, das nicht real ist. Niemand sprach darüber, was in Auschwitz geschah und wie es den Menschen, die dort eingesperrt und ermordet wurden, erging. Vielleicht ist die „Todesfuge“ sogar eines der wenigen Gedichte, das auf jede Metaphorik verzichten kann, eben weil jedes Wort eine reale Bedeutung hat. „Grab in den Wolken“, „Meister aus Deutschland“, „dein aschenes Haar Sulamith“, „schwarze Milch“ – genau das war Auschwitz, das war die Shoah.

Max Czollek beruft sich in seiner Analyse der Erinnerungskultur in Deutschland auf Michal Bodemann: „Gedächtnistheater – Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung“ (Hamburg 1996). „Das Gedächtnistheater ist eine deutsche Inszenierung: auf der einen Seite die Erinnerungswilligen (…), Nachgeborene mit bester Absicht, die sich ihrer Geschichte bewusst sind und darum vehement für eine verantwortungsvolle Erinnerungsarbeit einstehen. Ich respektiere das. Auf der anderen Seite Höcke und die Neuen Rechten, die diese Gedenkpraxis als Schuldkult von sich weisen wollen, um zu alter deutscher Größe zu finden. Ich respektiere das nicht. Bezeichnend für diese Debatte ist, dass sich beide Seiten letztlich mit derselben Frage befassen: Wie kann und soll eine deutsche Identität nach 1945 aussehen? Die Dominanz dieser Frage hat zur Folge, dass sich Juden und Jüdinnen am deutschen Koordinatenfeld ausrichten müssen, um über die Shoah zu sprechen.“

Die deutsche Beschäftigung mit der Shoah und damit auch große Teile der „Erinnerungskultur“ haben für Max Czollek den Charakter von Selbstreferentialität. „Gedächtnistheater bedeutet, mit der eigenen Erinnerung deutsche Probleme zu bewältigen.“ Die Haltung der Höckes und Walsers ist Teil des Gesamtbilds deutscher Erinnerungskultur, denn nicht alle erinnern sich auf dieselbe Art und Weise. Im Gegenteil.

„Machloket“ und „Desintegration“

Erinnerung verkompliziert und diversifiziert sich angesichts der Ein- und Zuwanderung. Es wird schwieriger, einen Konsens über das zu Erinnernde zu schaffen. Max Czolleks Forderung nach „Desintegration“ anstelle von Integration bedeutet dann zunächst, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem Status, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Weltanschauung das Recht haben, ihre eigene Geschichte in den Vordergrund ihrer Erinnerungen zu stellen, dass aber nicht vorausgesetzt werden kann, dass die in Deutschland gepflegten Erinnerungskulturen auch von allen Ein- und Zugewanderten verstanden werden müssen. Max Czollek: „Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Desintegration als einen jüdischen Beitrag zum postmigrantischen Projekt, dessen Ziel es ist, radikale Diversität als Grundlage der deutschen Gesellschaft ernst zu nehmen und ästhetisch durchzusetzen.“

Max Czollek lässt keinen Zweifel daran, dass eine solche Strategie der „Desintegration“, nicht bedeutet, dass alle denkbaren Auffassungen gleichberechtigt wären. Max Czollek ergreift Partei und fordert, dass das, was in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, im Namen von Demokratie und Menschenrechten inakzeptabel ist, auch inakzeptabel genannt wird. Sind Pegida und die AfD wirklich nur „Protestbewegung“, „das Resultat einer Art Politikverdrossenheit“? „Mir begegneten auch Leute, die in den AfDler*innen irritierte und verlorene Deutsche sahen, die es zurückzuholen gelte. Eine Zärtlichkeit klang da mit, die mich rasend machte. Als hätten wir vergessen, diese Leute mitzunehmen auf unsere antirassistische und anti-antisemitische Bildungsreise.“

In der Tat: ein sozialpädagogischer Ansatz hilft beim Kampf gegen Antisemitismus nicht. Auch die Projektion von Antisemitismus auf Ein- und Zugewanderte, vor allem auf Muslime, hilft nicht weiter, denn Antisemitismus lässt sich nicht mit Integrationspolitik allein bekämpfen. Hannah Peaceman, die mit Max Czollek und anderen die Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ herausgibt, plädiert für mehr Streit, für mehr „Machloket“ und provoziert mit der These, dass mit der „Behauptung, Geflüchtete aus arabischen Ländern würden den Antisemitismus erst importieren (…) der eigene traditionsreiche Antisemitismus der deutschen Dominanzgesellschaft auf ‚die Anderen‘ ausgelagert wird. Jüdinnen und Juden sollen bereitstehen, um der deutschen Dominanzgesellschaft ihre erfolgreiche Aufarbeitung zu attestieren.“ (nachzulesen in dem von Walter Homolka / Jonas Fegert / Jo Frank herausgegebenen Buch „‚Weil ich hier leben will…‘ – Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas“, Freiburg / Basel / Wien, Herder, 2018).

In diesem Zusammenhang wenden sich Max Czollek und Hannah Peaceman beide gegen die Zauberformel von der „jüdisch-christlichen Tradition“, die deutsche Politiker*innen fast aller Farben während der Hochzeiten der Ein- und Zuwanderung aus muslimisch geprägten Ländern nicht müde wurden zu wiederholen. Mit einer solchen Formel wird von christlicher Seite das Judentum vereinnahmt, um den Antisemitismus ausschließlich der muslimischen Seite zuzuschreiben. Das Böse in sich wird externalisiert, vom Christen zum Muslim, das Gute im anderen wird integriert, vom Juden zum Christen, anmaßende, aber viel zu oft erfolgreiche Projektionen, die den Antisemitismus immer zum Problem der Anderen machen. Übrig bleiben gute Christ*innen, die sich darüber freuen dürfen, dass Islam und Judentum dazu beitragen, die eigene Identität und Integrität zu bestätigen: Wir sind die Guten!

Eine „grundlegende Haltung zur Welt“

Lesenswert – und meines Erachtens ein Pflichtexemplar für jede Geschichte, Politik und Religion versammelnde Handbibliothek – ist das von der liberalen muslimischen Autorin Lamya Kaddor gemeinsam mit Michael Rubinstein, seit Frühjahr 2020 Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, herausgegebene Buch „So fremd und doch so nah – Juden und Muslime in Deutschland“ (Ostfildern, Patmos, 2013). Dieses Buch belegt, wie ein Dialog der Religionen auf Augenhöhe und ohne selbstreferentielle Hintergedanken ausgestaltet werden könnte.

Lamya Kaddor hatte als Lehrerin für islamischen Religionsunterricht in Dinslaken (Nordrhein-Westfalen) Erfahrungen mit islamistischen Jugendlichen, die – vorsichtig gesagt – den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) und andere Organisationen dieser Art bewunderten. Es gab sogar so etwas wie eine Art „IS-Zelle“ in Dinslaken. Als liberale Muslima erhielt sie Morddrohungen. Ihr Engagement setzt sie gleichwohl in Büchern und in öffentlichen Auftritten nach wie vor fort. Lamya Kaddor plädiert für eine Erinnerungskultur, die „Geschichte und Gegenwart“ verbindet, aber auch vor allem der nicht-jüdischen Seite in aller Klarheit die Aufgabe zuweist, den Antisemitismus „in den eigenen Reihen (zu) bekämpfen.“ „Daher darf es nicht nur darum gehen, die historischen Grausamkeiten aufzuzeigen, sondern man muss gleichzeitig klarmachen, dass jüdischer Glaube ein Teil des deutschen Alltagslebens ist. Eine gelungene Erinnerungskultur ruht stets auf zwei Komponenten: Geschichte und Gegenwart. / Aber Vorsicht! Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht primäre Aufgabe von Jüdinnen und Juden, sondern von Nichtjüdinnen und Nichtjuden. Die Feindseligkeit basiert schließlich nicht auf dem tatsächlichem Verhalten von Juden, sondern auf Klischees, Vorurteilen und Verschwörungstheorien, die sich Nichtjuden erdacht haben. / Deshalb sind wir als Gesellschaft im Allgemeinen und als nichtjüdische Gruppen im Speziellen zum Handeln gegen Antisemitismus aufgerufen. Ob in Parteien, Vereinen, unter Christen, Muslimen oder sonstwo – jeder muss diese Geißel der Menschheit in den eigenen Reihen bekämpfen.“

Der Kampf gegen den Antisemitismus kann nur gewonnen werden, wenn das Spezifikum, das Alleinstellungsmerkmal des Antisemitismus, verstanden und ernst genommen wird. Samuel Salzborn hat dieses Alleinstellungsmerkmal in dem gemeinsam mit Alexandra Kurth verfassten Text „Antisemitismus in der Schule – Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven“ zusammengefasst: „Antisemitismus, (…) ist nicht einfach eine Form von Diskriminierung neben anderen, nicht einfach ein Vorurteil wie viele andere. Antisemitismus ist eine grundlegende Haltung zur Welt, die zwar durchaus mit anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie verbunden auftritt, aber in ihrer Konstituierung grundlegend von diesen unterschieden ist (…) Er bietet als Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen (…).“

Diese „grundlegende Haltung zur Welt“, die der Antisemitismus ist, lässt sich nicht mit symbolischer Politik, Sozialpädagogik und behördlichen Fleißarbeiten verändern. Der Ort, der erreicht werden muss, ist der Alltag der Menschen. Dann könnte vielleicht auch die Praxis der Vielfalt der Kulturen in Deutschland eine andere werden.

Erfolgsaussichten und Lichtblicke

Lamya Kaddor fragt, wie es wäre, wenn die Bundeskanzlerin und der Innenminister vielleicht mal das Alltägliche erprobten und „einfach mal an einem x-beliebigen Tag in einem koscheren Restaurant essen und posten davon ein Selfie? Vielleicht mit dem Koch? So funktionieren soziale Medien. Das wäre menschlich und das würde viel mehr bewirken, als die amtliche Auflistung eigener Leistungen. Ein Restaurantbesuch spiegelt eine Alltagssituation wider, die jeder nachvollziehen kann.“ Dies wäre wirkungsvoller als jedes „Großereignis (…) mit Medientraube an einem hohen jüdischen Feiertag oder nach einem schrecklichen Ereignis wie in Halle.“ Es wäre ein Zeichen von „Normalität“ und würde wegführen von medialer Inszenierung eines Integrationstheaters und wahrscheinlich auch hilfreich gegen jede Versuchung der Aufführung des von Michal Bodemann und Max Czollek beschriebenen „Gedächtnistheaters“. Es wäre ein erster Schritt zu authentischer und ehrlich gemeinter Begegnung.

Ein Lichtblick zu solch authentischer und ehrlich gemeinter Begegnung darf genannt werden: Die Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) „Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung“ vom Dezember 2014 sowie die gemeinsame Erklärung von Zentralrat der Juden und KMK zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule“ vom Dezember 2016 (nachlesbar unter www.kmk.org) benennen den historisch-politischen Rahmen, in dem Aufarbeitung und Begegnung im Sinne von Theodor W. Adorno und Lamya Kaddor möglich werden könnten.

Die diesen Dokumenten folgenden Berichte leuchten jedoch leider nicht allzu hell. Ihnen fehlt die von Lamya Kaddor angemahnte „Normalität“. So wirken manche Berichte von Antisemitismusbeauftragten lebensfern, als Pflichtübung und Fleißarbeit brav arbeitender Behörden. Auch dies ist eine Strategie, sich von Verantwortung loszusprechen: Bericht geschrieben, Antisemitismus besiegt, zu den Akten.

Alle denkbaren „Maßnahmen“ – so nennen das Bürokratien, Lehrer*innen, Richter*innen, Regierungsrät*innen bilden sich nicht weiter, sie besuchen eine „Fortbildungsmaßnahme“ – werden in wortreichen Berichten wie in einem Warenhauskatalog aufgelistet, auch wenn sie nur am Rande etwas mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun haben. Es ist in etwa so, als besuche ein*e Minister*in eine*n Krebskranke*n im Endstadium, um zum Troste die Leistungen der Regierung für Krebsforschung und Krebsvorsorge zu verkünden.

Ein Beispiel für solch dilatorischen Umgang mit dem Antisemitismus ist der erste Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen. Als Gegenbeispiel und Lichtblick sei auf den Bericht des Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg verwiesen.

Wer nicht bereit und in der Lage ist, die Geschichte, die Gegenwart, die kulturellen, die psychologischen und die sozialen Aspekte des Antisemitismus zu analysieren und für die Konzeption und Umsetzung wirksamer „Maßnahmen“ zu beachten, wird scheitern. Mehr oder weniger große Veranstaltungen und Workshops sowie gelegentliche Reisen ausgewählter Lehrkräfte, Richter*innen und anderer Repräsentant*innen des Staates nach Yad Vashem sind hilfreich und gut, nachhaltig wirken sie nur bei denen, die die Ehre und das Glück haben, an einer solchen Reise teilzunehmen. Eine größere Öffentlichkeit ist damit nicht erreichbar. Wer es jedoch dabei belässt, sich für solche „Maßnahmen“ zu loben, missbraucht sie als stellvertretenden Bußgang und wird den Vorwurf der Inszenierung von Symbolpolitik nicht entkräften können.

Theodor W. Adorno benannte 1959 in seinem bereits zitierten Vortrag die Grenzen „der aufklärenden Pädagogik“: „Mag sie nun soziologisch oder psychologisch sein, praktisch erreicht sie ohnehin wohl meist nur die, welche dafür offen und eben darum für den Faschismus kaum anfällig sind.“ Adorno fährt fort: „Andererseits jedoch ist es keineswegs überflüssig, auch diese Gruppe gegen die nicht-öffentliche Meinung durch Aufklärung zu stärken. Im Gegenteil, man könnte sich wohl vorstellen, dass sich aus ihr so etwas wie Kaders bilden, deren Wirken in den verschiedensten Bereichen dann doch das Ganze erreicht, und die Chancen dafür sind um so günstiger, je bewusster sie selbst werden.“

Nächstes Jahr in Jerusalem?

Hannah Arendt wird gerne mit dem Satz zitiert: „Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher.“ Als sie dies sagte oder schrieb, hatte noch kein Mensch den Mond besucht. Zurzeit wohnt noch niemand auf dem Mond. Eine jüdische Gemeinde auf dem Mond? Noch nicht vorhanden.

Alija ist in den jüdischen Gemeinden vieler Länder Thema, inzwischen auch wieder in Deutschland. Es gibt Befürchtungen, dass Deutschland den aktuellen Antisemitismus nicht mehr in den Griff bekommt und dass rechtsextreme Politiker*innen – wie in Österreich oder Italien zumindest zeitweise schon geschehen – Minister*innenämter übernehmen. Der einzige sichere Ort wäre dann Israel. Allerdings wäre das nicht die Alija, die sich Theodor Herzl vorgestellt hatte.

Josef Roth hat 1927 den Essay „Juden auf Wanderschaft“ veröffentlicht. Zwei Textstellen illustrieren das Dilemma. Während die eine die Alltäglichkeit des Lebens der Jüdinnen und Juden in ihren Ländern beschreibt, evoziert die andere das Bild der Unbehaustheit, der ewigen Wanderschaft von einem ins andere Land, wenn auch nicht unbedingt nach Jerusalem, sondern eher nach Brooklyn.

Der Alltag ist der Alltag, für alle: „Die Sorgen der kleinen Bürger waren ihre Sorgen. Sie zahlten Steuern, bekamen Meldezettel, wurden registriert und bekannten sich zu einer ‚Nationalität‘, zu einer ‚Staatsbürgerschaft‘, die ihnen mit vielen Schikanen ‚erteilt‘ wurde, sie benutzten die Straßenbahnen, die Lifts, alle Segnungen der Kultur. Sie hatten sogar ein ‚Vaterland‘.“ Es folgt der relativierende Satz: „Es ist ein provisorisches Vaterland.“

Josef Roth beschreibt die Ängste von Jüdinnen und Juden angesichts der erlittenen Schikanen, Verfolgungen und Pogrome. Doch auch die Flucht ins Ungewisse ängstigt. Wer nach Amerika flüchtet, muss das Meer überqueren, eine gefährliche Reise, die alles Gewohnte verschwinden macht. „Auf dem Meer weiß man nicht, wo Gott wohnt. Man erkennt nicht, wo der Misrach liegt. Man kennt seine Stellung zur Welt nicht. Man ist nicht frei. Man ist abhängig vom Kurs, den das Schiff genommen hat. (…) Wohin kann er sich retten, wenn etwas geschieht? Seit Jahrtausenden rettet er sich. Seit Jahrtausenden geschieht immer etwas Drohendes. Seit Jahrtausenden flieht er immer. Was geschehen kann? Wer weiß es? Können nicht auch auf einem Schiff Pogrome ausbrechen? Wohin dann?“

Nächstes Jahr nach Jerusalem? Wenn die Sehnsucht des Pessach-Festes, das ein Fest der Befreiung ist, Wirklichkeit werden muss, weil es an keinem anderen Ort mehr Sicherheit vor Antisemitismus, vor Exklusion, Verfolgung und Pogromen, gibt, weil die Menschenwürde antastbar geworden ist, dann sind Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat bedroht. Und das betrifft nicht nur Jüdinnen und Juden. Das betrifft uns alle.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)