Die wiedergeborenen Lieder
Sefer HaShirim – Das jüdisch -deutsche Liederbuch von 1912
Sefer HaShirim – das jüdisch-deutsche Liederbuch von 1912 ist in Art und Konzeption weltweit einzigartig. Der Autor Abraham Zwi Idelsohn (1882–1938) schuf es als Sammlung der beliebtesten hebräischen und deutschen Lieder. Er konzipierte es als grundlegendes musikpädagogisches Werk für den Musikunterricht in Kindergärten, Volks- und höheren Schulen in Palästina, Deutschland und in der Diaspora. Das in der Israelischen Nationalbibliothek von Jerusalem erhaltene Original ist ein herausragender Beleg der gleichberechtigten Verwendung hebräischer und deutscher Musik.
Innovativ war Idelsohns Idee, das Liederbuch zweisprachig anzulegen und im hebräischen Teil der Sammlung die Notenschrift analog der hebräischen Schrift von rechts nach links zu notieren. Erhalten sind nur sechs Exemplare, vier in Israel, eines in der Staatsbibliothek Berlin und eines in der Forschungsbibliothek der „Arche Musica“. Die Friede Springer Stiftung hatte durch ihre Projektfinanzierung maßgeblichen Anteil an der Entschlüsselung des Liederbuchs, das in altashkenasischer Schrift überliefert ist. Die musikwissenschaftliche Bearbeitung der 149 Musikstücke erfolgte durch Gila Flam, Direktorin des Musikarchivs der Israelischen Nationalbibliothek.
Realisiert wurden die Transliteration der Texte und die Übertragung der Noten maßgeblich durch Dr. Gila Flam, der Direktorin des Musikarchiv der Israelischen Nationalbibliothek. Sie zählt zu den führenden jüdischen Musikwissenschaftler*innen weltweit. Auf dieser Datenbasis entstand, durch Schott Music, eine komplette Neuausgabe, die allen interessierten Musikerinnen und Musikern, Solisten und Chören die 149 Lieder des „jüdisch-deutschen Liederbuchs“ in moderner Notation präsentiert.
Gila Flam wurde in Israel geboren, studierte Musikwissenschaften an der Hebrew University of Jerusalem. Ihren Doktortitel im Fach Musik erwarb sie 1988 an der University of California, Los Angeles. Sie war die Gründerin der Musikabteilung des Holocaust Memorial Museum in Washington DC.
Nach ihrer Rückkehr nach Israel arbeitete sie als Direktorin des Music Department and National Sound Archives of the National Library of Israel. In dieser Position hat sie die größte Sammlung jüdischer und israelischer Musik im Druck, in Manuskripten und Aufnahmen aufgebaut. Sie organisierte auf der Grundlage dieser Sammlung Konzerte. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel und Bücher über israelische Musik und jiddische Lieder Ihr. Buch „Singing for Survival“ wurde 1992 von der University of Illinois Press veröffentlicht und ist eines der grundlegenden Werke über die Musik des Holocaust. Gila Flam hält Vorlesungen, Workshops und Kurse auf verschiedenen Universitäten und Bildungseinrichtungen, um die Sammlung, die Forschung und die Wiederbelebung jüdischer und israelischer Musik voranzubringen.
Geplant ist eine intensive und langfristige Zusammenarbeit mit dem Deutschen Chorverband (DCV), dem über 15.000 Chöre mit einer Million singenden und fördernden Mitgliedern angehören. Der Verein „Jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ hat den Druck von 1.000 Liederbüchern ermöglicht, die nach Absprache u.a. mit dem Zentralrat der Juden, der Union der liberalen Juden und der israelischen Botschaft den jüdischen Gemeinden, Chören und weiteren Institutionen zur Verfügung gestellt werden. Das Liederbuch kann im Schott-Verlag bestellt werden.
Gila Flam: Ein einzigartiger Beitrag zur hebräischen und zur deutschen Musikkultur
„Ein Schatz wurde gehoben, als dieses kleine Büchlein aus dem Jahr 1912 wiederentdeckt wurde! Das Liederbuch von 1912 stellt in seiner Einzigartigkeit ein hervorragendes Zeitzeugnis der deutschen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg dar. Es belegt, wie selbstverständlich es war, dass deutsche Kinder, ob jüdisch oder nichtjüdisch, gemeinsam unterrichtet wurden und man Ihnen die Möglichkeit eröffnete, unterschiedliche Kulturen spielerisch und singend kennenzulernen.“ (Felix Klein im Begleitwort der Neuausgabe)
Dieses Buch ist ein Nachdruck von Sefer Ha-Shirim: Kovets Shirim ‚Ivrim Le-Gane Yeladim, Le-Vate-Sefer ‚Amamiim Ve-Tihonim („Das Buch der Lieder: Eine Sammlung hebräischer Lieder für Kindergärten, Grundschulen und Gymnasien“), zusammengestellt und herausgegeben von Abraham Zvi Idelsohn (1882-1938), veröffentlicht 1912 in Berlin vom Hilfsverein der deutschen Juden (The Society for German Jewish Welfare). Das Faksimile wurde aus dem Original (JMA 1420.1) der Musikabteilung der israelischen Nationalbibliothek angefertigt.
Abraham Zvi Idelsohn
Abraham Zvi Idelsohn (1882-1938) war ein Kantor, Komponist, Dirigent und Forscher, der als „Vater der jüdischen Musikforschung“ und als einer der Pioniere der Komposition moderner hebräischer Volkslieder bekannt ist. Idelsohn wurde 1882 in Lettland geboren, erhielt sowohl eine jüdische als auch eine musikalische Ausbildung in Lettland und in Deutschland und war als Kantor in mehreren Gemeinden in Deutschland und Südafrika tätig. Im Jahr 1907 wanderte er nach Palästina, Erets-Jisrael, aus, wo er jüdische Musikabschnitte verschiedener jüdischer Gemeinden sammelte, die er später in seinem monumentalen zehnbändigen wissenschaftlichen Sammelwerk der hebräischen orientalischen Melodien veröffentlichte. (9)
In Jerusalem stellte Idelsohn auch mehrere Liederbücher zusammen, komponierte Lieder, unterrichtete Musik und leitete Chöre. Im Jahr 1922 verließ er Jerusalem und reiste nach Europa und schließlich nach Amerika. In Amerika setzte er seine Forschungen fort und wurde zum Professor für jüdische Musik am „Hebrew Union College“ ernannt. Nach einer langen Krankheit zog er nach Südafrika, wo er 1938 starb.
Sefer Ha-Shirim demonstriert einerseits die Ideen der musikalischen jüdischen nationalen Erneuerung und andererseits die Nutzung der deutschen und europäischen Musikkultur als Grundlage für diese Erneuerung. Die Veröffentlichung des Buches wurde von der liberalen deutsch-jüdischen Organisation, dem Hilfsverein der deutschen Juden, unterstützt. Der Hilfsverein gründete 1901 eine Reihe von Schulen und Sozialhilfeprogrammen für jüdische Gemeinden in Osteuropa und im Nahen Osten: „Weltliche Studien“ wurden in deutscher Sprache und „Jüdische Studien“ in hebräischer Sprache unterrichtet. Um dieses einzigartige Schulsystem zu verbessern, unterstützte der Hilfsverein die Veröffentlichung von pädagogischen Büchern: Sefer Ha-Shirim war das erste, das veröffentlicht wurde.
Ein Liederbuch – drei Formate
Das Liederbuch wurde in drei Formaten veröffentlicht: Das erste enthielt 100 hebräische Lieder mit einer hebräischen Einleitung von Idelsohn, war von rechts nach links aufgeschlagen und hatte einen deutschsprachigen Einband. Das zweite Format enthielt 100 hebräische Lieder und 49 deutsche Lieder. Das dritte Format enthielt nur die deutschen Lieder unter dem Titel „Liederbuch – Sammlung hebräischer und deutscher Lieder für Kindergarten, Volks und höhere Schulen“ zusammengestellt von A.Z. Idelsohn (Ben Jehuda)
Der neue Nachdruck von Sefer Ha-Shirim ist eine Kopie des zweiten Formats der hebräischen und deutschen Lieder, mit Idelsohns Einleitung auf Hebräisch, einer Übersetzung der hebräischen Einleitung von Idelsohn ins Deutsche und einer zusätzlichen deutschen Einleitung von Dr. James Simon und Dr. P. Nathan vom Hilfsverein, die vor Idelsohns Einleitung steht. Der Titel dieser Ausgabe lautet (auf Hebräisch): „Kovets Shirim ‚Ivrim Ve-Germanim Le-Gane Yeladim, Le-Vate -Sefer ‚Amamiim Ve-Tikhonim“ (deutsch: „Buch der Lieder: Eine Sammlung von hebräischen und deutschen Liedern für Kindergärten, Grundschulen und Gymnasien“). Dir fotografische Digitalisierung erfolgte durch Ardon Bar-Hama.
In der Einleitung des Liederbuchs schrieb Idelsohn, dass es einen Bedarf an qualitativ hochwertigen Liederbüchern in hebräischer Sprache für Kindergärten, Grundschulen und Gymnasien im „Osten“ gebe. Nachdem er die vorhandenen Materialien für den Musikunterricht in Erets Jisrael überprüft hatte, stellte er drei Hauptmängel fest. Erstens wurde der Liedunterricht in deutscher Sprache abgehalten und nicht in Hebräisch, das seiner Meinung nach die Hauptsprache für die nationale Erziehung sein sollte. Zweitens waren selbst in den vorhandenen Sammlungen, die hebräischsprachige Lieder enthielten, die Texte in fremden (lateinischen) Schriftzeichen und in der aschkenasischen Aussprache der aschkenasischen Juden in der Diaspora geschrieben. Und schließlich fehlte in den vorhandenen Liederbüchern eine ausreichende „hebräische Nationalmelodie“, die nach Idelsohns Ansicht „die eigentliche Grundlage der nationalen Liederbücher bilden sollte“.
Dementsprechend schuf Idelsohn ein Liederbuch, das auf den „Liederbüchern der aufgeklärten Nationen“ basierte. Tatsächlich basierte es auf Noah Pines‘ hebräischem Kinderliederbuch „Ha-Zamir: Shire Zimra Liladim ‚im Manginot“ („Die Nachtigall: Kinderlieder zum Singen mit Melodien“). Pines, ein Schriftsteller und Pädagoge, war der Meinung, dass Kinder ihre Gefühle ausdrücken sollten, und er hoffte, durch die Lieder zionistische Ideen zu vermitteln und die Kinder auf die Einwanderung nach Zion vorzubereiten. Pines veröffentlichte 1903 in Odessa zwei Bücher mit Liedern und 1904 in Warschau ein Buch mit Melodien zu 68 dieser Texte, „T’ame Zimra le-shire Ha-Zamir“ (Musiknoten zu den Liedern von Ha-Zamir). (4)
Wie Pines wählte Idelsohn Lieder aus, die einerseits der Welt der Kinder und andererseits der zionistischen Ideologie entsprachen. Er übernahm auch die Liedkategorien von Pines: „me-haye ha-yeladim“, Kinderlieder (Lieder 1-13), „shire sh’asu’im“, Spiellieder (Lieder 14-40), „shire ha-tev’a“, Naturlieder (Lieder 41-63) und „shire am“, Volkslieder (Lieder 64-92) – dies, obwohl sein Vorgänger sie „nationale Lieder“ nannte.
Bei den Liedern 93-100 handelt es sich um Ergänzungen, die aus technischen Gründen nicht in die ursprünglichen Abschnitte aufgenommen wurden. In der Einleitung behauptet Idelsohn, dass er Feiertags- und Festtagslieder aufgenommen hat, obwohl es in Wirklichkeit keinen eigenen Abschnitt für diese Lieder gibt.
Im Inhaltsverzeichnis enthielt jede Auflistung die folgenden Informationen: Nummer des Liedes, Titel, Komponist, Autor des Textes und Seitenzahl. Zwei Anthologien sind in der Liste der Autoren enthalten, Ha-Zamir und Ben Ami. Beide waren hebräische Lieder- und Literaturanthologien für Kinder, die in Osteuropa veröffentlicht wurden, Ha-Zamir im Jahr 1903 und Ben-Ami (Simha Ben-Zion 1870-1932) im Jahr 1905.
Die Liste der Komponisten umfasst verschiedene Volksmusik-Repertoires, die als „ne’ima“ bezeichnet werden, „’amamit“, was „traditionell“ bedeutet, oder „ne’ima nokhria“ / „ne’ima mekubala“, was „fremd“ bedeutet.
Einige Melodien sind als „polnisch“ oder „russisch“ klassifiziert, Begriffe, die Idelsohn für jiddische Melodien verwendete. Gelegentlich bezeichnete er eine Melodie als „spanisch“ und meinte damit eine „jüdisch-sephardische“ Melodie. Manchmal verwendete er den Begriff „aschkenasisch“ oder „orientalisch“, ohne die Quelle oder die Gemeinschaft zu nennen. Darüber hinaus komponierte Idelsohn 31 Melodien unter dem Namen Ben-Yehuda, einer hebräischen Übersetzung seines Nachnamens.
Die Wiedergeburt der hebräischen Sprache – auch in der Musik
Idelsohn setzte die Noten von rechts nach links und kehrte damit die Standardrichtung der westlichen Musiknotation um. Er begründete diese Entscheidung damit, dass er sich an früheren jüdischen Synagogenmusikern in ihren liturgischen Sammlungen sowie an arabischen Musikern orientierte. Diese Umstellung ermöglichte es ihm, den hebräischen Text in der Richtung der Sprache unter die Musik zu setzen. Der Text erscheint nur unter der Musiknotation.
Die Hebräisierung der Sprache des europäischen Liedes war eine heikle Gratwanderung zwischen der europäischen und der jüdischen Kultur im kosmopolitischen, nationalistischen und zionistischen Kunstschaffen der damaligen Zeit. In dieser Hinsicht schuf Idelsohn ein Modell für andere Musiker, die nationale jüdische Kultur mit eklektischer Stilpraxis zu bekräftigen.
Die 49 deutschsprachigen Lieder wurden in der in Europa üblichen Notation von links nach rechts veröffentlicht, ebenso wie der Text unter der Notenschrift, und umfassten Mozart, Schubert, Händel, Lewandowski und Mendelssohn Bartholdy sowie verschiedene deutsche Komponisten des 18. Jahrhunderts.
Idelsohn sieht den Hauptzweck der Musikerziehung darin, „Gefühle der Eleganz, Gefühle der Moral und der Schönheit, Gefühle für alles, was dem Menschen erhaben und heilig ist“ zu erzeugen. Europäische Musik ist daher notwendig, um die jüdischen Kinder Zions zu erziehen und zu erheben, auch wenn die neuen Ideen der hebräischen Kultur und Bildung angeblich auf einer Ablehnung der europäischen Komponente der jüdischen Identität beruhten.
Seiner Ansicht nach erforderte das Projekt des Aufbaus einer modernen, zivilisierten, hebräischen Nation den Beitrag der europäischen Kultur. Die Texte der Lieder im Sefer Ha-Shirim sind jedoch auf Hebräisch. Doch trotz der Idee von Eliezer Ben-Yehuda (1858-1922), der das Hebräische als gesprochene Sprache wiederbelebte und die sephardische Betonung und Aussprache („milra“) förderte, wählte und schrieb Idelsohn die meisten Lieder in der aschkenasischen („mil’el“) Aussprache, mit der er vertraut war.
Die deutschen Lieder
Im Gegensatz zu den hebräischen Liedern sind für die 49 deutschen Lieder keine Quellen angegeben. Die Lieder sind in vier Kategorien unterteilt: „Im Tageslauf“ Alltagslieder, „Im Jahreslauf“ Jahreslieder, „Marsch und Turnlieder“ Märsche und Tanzlieder sowie „Gelegenheitslieder“ für besondere Anlässe. Auch hier sind die Nummer des Liedes, der Komponist, der Verfasser des Textes und die Seitenzahl angegeben.
18 der deutschen Stücke werden als „Volkslieder“ bezeichnet und erscheinen ohne den Namen eines Komponisten. Zehn von ihnen wurden von dem Kantor Louis Lewandowski komponiert. Alle Lieder behandeln weltliche Themen und haben keinen religiösen, christlichen oder jüdischen Inhalt. Andere Komponisten, die Idelsohn aufführt, sind die deutschen Johann Friedrich Reichardt, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy und einige weniger bekannte Komponisten.
Diese 18 Lieder wurden wahrscheinlich im 18. und 19. Jahrhundert geschrieben und zu dieser Zeit veröffentlicht. Einige von ihnen wurden möglicherweise mündlich weitergegeben, bevor sie aufgeschrieben wurden. Im Gegensatz zu ihren hebräischen Gegenstücken repräsentieren diese Lieder eine deutsche Kultur, die über Generationen hinweg ununterbrochen in ihrer Muttersprache und ihrem Land gepflegt wurde. Und im Gegensatz zu den hebräischen Liedern sind sie nicht neu und sie vermitteln keine zionistische Ideologie. Nach Idelsohns Worten sind die Lieder für Kinder geeignet und sollen den Sängern Freude bereiten.
Sefer Ha-Shirim bot eine symbolische Brücke zwischen westlicher Musikgeschichte und jüdischer Nationalkultur, zwischen deutscher Musik und hebräischer Musik. Obwohl nur wenige von Idelsohns Melodien im Umlauf sind, wurde seine hebräische Sprachstrategie, fremde Lieder in den nationalen Musikkanon zu integrieren, zu einem grundlegenden Ansatz im späteren hebräischen Lied.
Idelsohns wahre Bedeutung liegt in seinem Streben nach einer Annäherung zwischen Ost und West, zwischen hebräischem ethnischem Primordialismus und europäischem ästhetischem Kosmopolitismus, zwischen jüdischer und deutscher Kultur.
Gila Flam, Jerusalem
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im Januar 2023. Der Text ist die deutsche Übersetzung des englischen Originaltextes vom Juli 2022. Die deutsche Übersetzung wurde von Thomas Spindler von dem Projekt Arche Musica gefertigt, dem wir auch für seinen Beitrag zur Anmoderation in diesem Text danken, und dem Demokratischen Salon ebenso wie die hier gezeigten Bilder und Faksimiles zur Verfügung gestellt. Der Nachdruck der Bilder ist nur mit seiner Genehmigung zulässig. Internetzugriffe zuletzt am 28. Dezember 2022.)