Dystopien – jetzt!

Ein Manifest von Kim Stanley Robinson

Dystopien sind die Kehrseite der Utopien. Beide transportieren sie Gefühle, die unsere gemeinsame Zukunft betreffen; Utopien drücken die Hoffnungen im Hinblick auf unser Zusammenleben aus, Dystopien unsere diesbezüglichen Ängste. Heutzutage gibt es eine Menge Dystopien, und das ist auch nicht verwunderlich, denn wir hegen eine Menge Zukunftsängste.

Beide Genres haben eine lange Tradition. Die Utopie geht mindestens bis auf Platon zurück und stand schon immer in Bezug zur Satire, einer noch älteren Kunstform. Die Dystopie ist ganz klar eine Art von Satire. Von Archilochos, dem ersten Satiriker, hieß es, er sei fähig, Menschen mit seinen Schmähungen in den Tod zu treiben. Vielleicht steht hinter den Dystopien die Hoffnung, dass sie den Gesellschaften, die sie beschreiben, den Todesstoß versetzen.

Ich vertrete schon seit Längerem die Position, dass Science Fiction auf einer Art Doppelprinzip beruht, wie die Brillen, die man im 3-D-Kino trägt. Eine Linse der künstlerischen Maschinerie der Science Fiction stellt eine Zukunft dar, die tatsächlich einmal so eintreten könnte; das ist eine Art vorausgreifender Realismus. Die andere Linse zeigt eine metaphorische Version unserer Gegenwart, vergleichbar einem Symbol in einem Gedicht. Diese beiden Sichtweisen verbinden sich miteinander, und heraus kommt eine Vision von GESCHICHTE, die sich auf magische Weise in die Zukunft erstreckt.

Geht man von dieser Definition aus, dann scheinen die Dystopien heutzutage meist nur mit der metaphorischen Linse des für die Science Fiction typischen Doppelprinzips zu arbeiten. Die Dystopien sollen ausdrücken, wie sich der gegenwärtige Augenblick anfühlt, und sie konzentrieren sich auf Angst als kulturell vorherrschendes Gefühl. Eine realistische Darstellung einer Zukunft, die tatsächlich eintreten könnte, ist nicht wirklich Teil des Projekts – diese Linse der Science-Fiction-Maschinerie fehlt. Die Trilogie Die Tribute von Panem ist ein gutes Beispiel dafür; die dort beschriebene Zukunft ist nicht plausibel, aus logistischer Sicht nicht einmal möglich. Aber darauf zielt die Trilogie auch nicht ab. Was ihr sehr gut gelingt, ist die Darstellung, wie sich unsere Gegenwart für die jungen Leute anfühlt, zugespitzt und überhöht zu einer Art Traum oder Albtraum. Dystopien lassen sich in diesem Sinne als Form des Surrealismus betrachten.

Dieser Tage bin ich geneigt, die Dystopie als Modeerscheinung zu bezeichnen, vielleicht als bequem, vielleicht sogar selbstgefällig, denn zum Vergnügen, das ihre Lektüre bereitet, gehört das behagliche Gefühl, dass unsere Gegenwart, wie schlimm sie auch sein mag, nicht annähernd so schlimm ist wie die Szenarien, die unsere armen Figuren durchstehen. Es gibt uns einen tröstenden Kick, wenn wir Zeuge der heroischen Kämpfe unserer gebeutelten Protagonisten werden/sie uns vorstellen/sie miterleben – und dann schütteln wir es ab und wollen das Gleiche noch mal. Ist das Katharsis? Vielleicht eher ein Luxus, vielleicht wird auf diese Weise eher das Gefühl erzeugt, vergleichsweise sicher zu sein. Eine Art spätkapitalistischer Schadenfreude der fortschrittlichen Nationen gegenüber diesen unglücklichen fiktionalen Bürgern, deren Leben durch unsere eigene politische Untätigkeit zerstört wurde. Wenn das stimmt, dann ist die Dystopie als Teil unserer allumfassenden Hoffnungslosigkeit zu betrachten.

Andererseits wird in der Dystopie einem realen Gefühl Ausdruck verliehen, einer realen Angst. Manch einer spricht von einer ‚Krise der Repräsentation‘ in der heutigen Zeit, die mit unseren Regierungen zu tun hat – nämlich, dass sich niemand, nirgendwo, wirklich durch jene, die regieren, repräsentiert fühlt, ganz gleich, welchen Regierungsstil sie pflegen. Dystopia ist sicher ein Ausdruck dieses Gefühls, alleingelassen und hilflos zu sein. Da aktuell nichts zu funktionieren scheint, blasen wir doch alles in die Luft und fangen ganz neu an! Das würde bedeuten, dass die Dystopie eine Art Ruf nach revolutionärem Wandel wäre. Da kann etwas dran sein. Zumindest sagt die Dystopie, wenn auch wiederholt und auf unkreative, vielleicht auch frivole Weise: Etwas stimmt nicht. Die Lage ist schlecht.

Vielleicht ist es wichtig, sich an die drohende Gefahr des Klimawandels zu erinnern, eine Form der techno-sozialen Katastrophe, die bereits begonnen hat und die nächsten paar Jahrzehnte als wesentlicher Faktor bestimmen wird, ganz gleich, wie wir handeln. Die Phase, in die wir gerade eintreten, könnte das sechste große Massenaussterben in der Erdgeschichte werden und das erste, das auf menschliches Verhalten zurückzuführen ist. In diesem Sinne stellt das Anthropozän eine Art biosphärenumspannendes Dystopia dar, das jeden Tag realer wird, zum Teil auch wegen der täglichen Aktivitäten der bürgerlichen Konsumenten dystopischer Literatur und dystopischer Filme, sodass zu dem Ganzen ein albtraumhafter rekursiver Realismus gehört: Nicht nur ist die Lage schlecht, wir sind darüber hinaus dafür verantwortlich, dass sie schlecht ist. Und man kann schwerlich die Augen davor verschließen, dass wir nicht genug dafür tun, dass sie besser wird, daher wird sie sich auch verschlimmern; und es bedürfte eines kollektiven politischen Handelns, damit sie sich verbessert, es ist nicht einfach eine Frage der persönlichen Tugendhaftigkeit oder des persönlichen Verzichts, durch die sich das Problem lösen würde. Die Gemeinschaft insgesamt muss sich verändern, und doch gibt es Kräfte, die die Gemeinschaft daran hindern, dies zu erkennen; daher: Dystopie, jetzt!

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Utopie und Dystopie hier nicht die einzigen relevanten Begriffe sind. Wie bei Jameson muss man das Greimas’sche Rechteck heranziehen, um zu erkennen, dass es zur Utopie einen Konträrbegriff gibt, die Dystopie, und einen kontradiktorischen Begriff, die Anti-Utopie. Für jedes Konzept existiert sowohl ein Nicht-Konzept als auch ein Anti-Konzept. Die Utopie entspricht der Vorstellung, dass eine bessere Staatsordnung möglich ist. Die Dystopie ist das Nicht, nämlich die Vorstellung, dass die Staatsordnung sich zum Schlechteren verändern könnte. Anti-Utopien sind das Anti, indem sie aussagen, dass das Konzept der Utopie an sich falsch und schlecht ist und dass jeder Versuch, die Lage zu verbessern, mit Sicherheit ihre Verschlimmerung beschleunigt, indem, ob intendiert oder unabsichtlich, ein totalitärer Staat entsteht oder eine vergleichbare politische Katastrophe eintritt. Oft zitierte Beispiele für diesen Unterschied sind 1984 und Schöne neue Welt: in 1984 ist die Regierung bestrebt, die Bürger im Elend zu halten; in Schöne neue Welt hatte die Regierung zunächst versucht, die Bürger glücklich zu machen, doch das ging nach hinten los. Wie Jameson aufzeigt, ist es wichtig, sich politischen Attacken gegen die Idee der Utopie entgegenzustellen, denn es handelt sich für gewöhnlich um reaktionäre Positionen, die den Belangen derer dienen, die gegenwärtig über Macht verfügen, also ein schlecht getarntes Utopia-für-die-Wenigen-und-Dystopia-für-die-Vielen. Und diese Beobachtung liefert uns den vierten Begriff des Greimas‘schen Rechtecks, der oftmals schwer fassbar ist, in diesem Fall jedoch glasklar: Man muss anti-anti-utopisch sein.

Eine Möglichkeit, anti-anti-utopisch zu sein, ist es, utopisch zu sein. Es ist wichtig, dass wir uns weiterhin vorstellen, dass die Lage sich verbessern könnte, und uns darüber hinaus auch vorstellen, wie dies geschehen könnte. Hier muss man zweifellos Žižeks „Grausamen Optimismus“ vermeiden, das heißt glauben und sagen, dass die Lage besser werden wird, ohne sich zu überlegen, wie das gehen soll. Am besten scheint mir, sich Gramscis ‚Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens‘ in Erinnerung zu rufen – oder einfach ganz auf Optimismus oder Pessimismus zu verzichten. Wir müssen die Arbeit anpacken, egal, wie wir uns dahingehend fühlen. Aus Willenskraft also machen wir uns utopische Gedanken, kommen auf utopische Ideen. Das ist nach dem dystopischen Augenblick der notwendige Schritt, ohne den die Dystopie auf dem Niveau von politischem Quietismus steckenbleibt, wodurch sie nur ein weiteres Mittel zur Kontrolle und zum Beibehalten des Status quo werden kann. Die Situation ist schlecht, ja, okay, genug davon; das wissen wir bereits. Dystopia hat seine Aufgabe erfüllt, das ist Schnee von gestern, vielleicht ist es Nachgiebigkeit gegenüber sich selbst, wenn man jetzt noch dort stehenbleibt. Der nächste Gedanke ist: Utopia. Ob realistisch oder nicht, und vielleicht besonders dann, wenn es unrealistisch wird.

Außerdem ist es ja realistisch: Die Lage könnte besser sein. Die Energieflüsse auf diesem Planeten in Verbindung mit der gegenwärtigen technologischen Expertise der Menschheit machen es uns physikalisch möglich, eine weltweite Zivilisation – also eine Staatsordnung – zu schaffen, die ausreichend Nahrung, Wasser, Wohnraum, Kleidung, Bildung und ausreichende Gesundheitsversorgung für die gesamten acht Milliarden Menschen bereitstellt und zugleich den Lebensraum für alle verbliebenen Säugetiere, Vögel, Reptilien, Insekten, Pflanzen und weitere Lebensformen schützt, mit denen wir diese Biosphäre teilen und bilden. Natürlich wird es dabei Schwierigkeiten geben, aber das sind eben nur Schwierigkeiten, keine physikalischen Beschränkungen, die wir nicht überwinden könnten. Trotz Komplikationen und Schwierigkeiten ist es unsere Aufgabe, uns Wege zu überlegen, wie man diesen besseren Ort erreicht.

Man wird sofort einwenden, das sei zu schwer, zu unrealistisch, entgegen der menschlichen Natur, politisch unmöglich, unwirtschaftlich und so weiter. Ja ja. Hier sehen wir das Umschlagen vom grausamen Optimismus zum dummen Pessimismus, oder nennen Sie es modischen Pessimismus, oder schlicht Zynismus. Es ist sehr leicht, gegen die utopische Wende Einwände vorzubringen, indem man ein unzureichend definiertes, aber vermeintlich omnipräsentes Realitätsprinzip ins Feld führt. Wohlhabende Menschen tun dies andauernd.

Wir betreten hier offensichtlich den Bereich des Ideologischen; aber wir haben uns schon die ganze Zeit darin bewegt. Althussers Definition von Ideologie, die diese als das imaginäre Verhältnis zu unseren realen Existenzbedingungen beschreibt, ist hier sehr nützlich, wie überall. Wir alle haben unsere Ideologien, sie sind ein notwendiger Teil von Kognition, ohne sie wären wir behindert. Daher ist die Frage eher: welche Ideologie. Die Menschen wählen. Mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass auch die Wissenschaft eine Ideologie ist, würde ich an dieser Stelle die Position vertreten, dass die Wissenschaft die mächtigste Ideologie darstellt, um abzuschätzen, was physikalisch machbar ist und was nicht. Wissenschaft ist sozusagen KI, nämlich insofern, als die umfassende künstliche Intelligenz, die die Wissenschaft bildet, mehr weiß, als ein einziges Individuum wissen kann, und ihre Thesen kontinuierlich wiederholt und in einem fortwährenden rekursiven Prozess der Selbstverbesserung verfeinert. Eine sehr machtvolle Ideologie. Für meinen Zweck möchte ich die Wissenschaft hier lediglich anführen, um zu versichern, dass die Energieflüsse in unserer Biosphäre genug für alle Lebewesen bieten, die unseren Planeten heute bewohnen, sofern wir sie richtig verteilen. Mit anderen Worten: Wir haben genug; ausreichend viel für alle bereitzustellen, ist physikalisch nicht unmöglich. Es wird nicht leicht zu bewerkstelligen sein, das ist klar, aber machbar ist es. Diese Situationsbeschreibung wird vielleicht nicht mehr viele Jahre gültig sein, doch solange sie es ist, sollten wir, da es möglich ist, eine nachhaltige Zivilisation auch erschaffen. Wenn uns die Dystopie derart in Angst versetzt, dass wir härter an diesem Ziel arbeiten, was sie möglicherweise auch tut, dann wunderbar: Dystopia. Aber immer im Dienst des eigentlichen Ziels, das da heißt: Utopia.

Kim Stanley Robinson, Davis (California)

Hinweise zum Text:

Der Text entspricht der Veröffentlichung in dem Buch Fritz Heidorn / Kim Stanley Robinson in: Kim Stanley Robinson – Erzähler des Klimawandels, Berlin, Hirnkost, 2022. Dieser Band enthält unter anderem elf Originaltexte von Kim Stanley Robinson. Ich danke Kim Stanley Robinson, Fritz Heidorn und dem Verleger Klaus Farin für die Genehmigung zu dieser Veröffentlichung im Demokratischen Salon, die zeitgleich mit einem Porträt erscheint, das Fritz Heidorn auf der Grundlage des Buches mit dem Titel Ein utopischer Visionär geschrieben hat. Die englische Fassung erschien in: Kim Stanley Robinson, Hg., Stan’s Kitchen – A Robinson Reader, NESFA Press, Framingham, MA, 2018. Übersetzerin von „Dystopien – Jetzt!“ ist Anne-Marie Wachs.

Ein Hinweis: Im Text verweist Kim Stanley Robinson auf Žižeks „Grausamen Optimismus“. Grausamer Optimismus ist jedoch ein Titel von Lauren Berlant (Originaltitel: Cruel Optimism). Vergleichbar aber durchaus der folgende Titel von Slavoj Žižek: Mut der Hoffungslosigkeit (Originaltitel: The Courage of Hopelessness).

Es lohnt sich Dystopien – Jetzt! auch in Zusammenhang mit dem Manifest von Aiki Mira Post-Cli-Fi zu lesen, das im Demokratischen Salon im Februar 2024 veröffentlicht worden ist.

(Erstveröffentlichung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 11. Mai 2024. Titelbild Hans Peter Schaefer.)