Ein Leben für das Licht der Freiheit
Jelena Bonner zum 100. Geburtstag am 15. Februar 2023
„Erinnerung ist launenhaft / und ungehorsam. / So wie ein knorriger Olivenbaum: / durch nichts, durch gar nichts eingeengt. / Schlingt unentwirrbar ihre / wunderlichen Äste zu Knoten / wilder Assoziationen. / So lebt sie fort und wächst“ (Wladislaw Chodasjewitsch)
„An die Stadt Merw kann ich mich nicht erinnern“: Das schreibt Jelena Bonner in ihrem Buch „Mütter und Töchter“, das erstmals 1988 in Paris erschien. Als Epigraph stehen vor ihrem Erinnerungsbuch die Zeilen des polnisch-jüdisch-russischen Poeten Wladislaw Chodasjewitsch, polnisch: Władisław Chodasiewicz (1886-1939). In Merw wurde Jelena Georgijewna Bonner am 15. Februar 1923 geboren. Der Eisenbahnknotenpunkt in der turkmenischen Wüste ist zu dieser Zeit ein Zufluchtsort armenischer Kommunisten. Ihr leiblicher Vater Levon Kocharian stirbt noch in diesem Jahr. Die jüdische Mutter Ruf‘ Grigorewna Bonner (1900-1987) gibt ihr den Namen Lusik (das Licht).
Ihr Leben lang werden sie Freunde, aus Lusik abgeleitet, Ljusja nennen. Die Mutter, selbst kommunistische Weltrevolutionärin, geht 1924 mit ihrem Ehemann Gework Alichanjan nach Moskau. Jelena Bonner sieht Gework als ihren Vater an. Alichanjan (russisch: Georgy Alichanow) ist leitender Funktionär der armenischen kommunistischen Partei und wird Abteilungsdirektor in der Komintern-Zentrale in Moskau. Die Mutter arbeitet am Marx-Engels-Forschungsinstitut, später in der Parteiorganisation Moskaus. Ab 1931 wohnt die Familie im berühmten Hotel Lux in der Twerskaja Uliza (ab 1932 Gorki Strasse) Nr. 36, Wohnung 10. So sind sie persönlich nicht der alltäglichen Armut und Gewalt in der Sowjetunion der 1920er Jahre ausgesetzt.
Terror gegen die Eltern
Doch das privilegierte Leben der Schülerin Jelena Georgijewna endet im Jahr des Großen Terrors. In „Mütter und Töchter“ schreibt Bonner: „Mai 1937 – die Worte Verhaftung, Gefängnis, Einzahlung, Lager, Verbannung werden Bestandteil meines Lebens, ebenso wie Schlangestehen vor dem Gefängnis Butyrka, um für Mutter einen Geldbetrag abzugeben, Schlangestehen vor Lefortowo, später vor der Ljubjanka, um Vater etwas zukommen zu lassen.“ Am 26. Mai 1937 wird der Stiefvater Gework vom NKWD, der sowjetischen Geheimpolizei, verhaftet. Wie viele Tausende in den Jahren 1936 bis 1938: grundlos, rechtlos, aussichtslos. Im März 1938 werden an den Gefängnistoren die 50 Rubel-Scheine für den Vater nicht mehr angenommen. Am 13. Februar 1938 wurde Gework Alichanjan im Tötungslager Kommunarka erschossen. Die Jahreszahl seines Todes wird die Tochter Jelena Bonner erst 1954 erfahren. Noch viel später die genauen Umstände und den Ort des Mordes am Vater. Dass im Dorf Kommunarka am südwestlichen Stadtrand von Moskau der sowjetische Unterdrückungsapparat NKWD (später KGB) ein Spezialobjekt betrieb, wo allein zwischen 1937 und 1941 mindestens 30.000 Menschen erschossen und vergraben worden sind.
Mit 15 Jahren ist sie allein auf sich gestellt, als im Dezember 1937 auch die Mutter für acht Jahre in ein GULag, ein „Speziallager für Verwandte von Vaterlandsverrätern“ (ALSHIR), nach Kasachstan verbannt wird. Erst etwa 18 Monate später kommt von der Mutter ein erster Brief – mit Ermahnungen „Lern fleißig!“, „Hilf Großmutter!“ Eine Rückantwortadresse gibt es nicht. Die Verhaftungen der Eltern machten Jelena zu einer der vielen Waisen des Großen Terrors. In ihrer Rede für das Osloer Friedensforum zitiert sie 2009 den Poeten Wladimir Kornilow (1928-2002), selbst einst Betroffener, später verfolgter Dichter und Freund der Familie Sakharov: „Wonach wir zwar keine Mütter mehr hatten, aber Wir hatten Großmütter!“
So findet im Terrorjahr 1938 Jelena mit ihrem elfjährigen Bruder Igor bei der Großmutter Tatiana (1879-1942) in Leningrad Unterschlupf. Die geliebte Großmutter Tatiana (Babuschka Tania – Kurzform BaTania) wird wenige Jahre später während der deutschen Belagerung der Stadt im Mai 1942 verhungern. Jelena Bonner schreibt später mit Selbsthass, dass sie die Großmutter nicht retten konnte. In Leningrad ändert Bonner ihren offiziellen Vornamen in Elena, deutsch Jelena, englisch Yelena.
1940 wird sie Literaturstudentin am Leningrader Pädagogischen Institut, nur für die wenigen Monate des trügerischen Friedens. In einer Zeit, als die Sowjetunion gemeinsam mit dem nationalsozialistischen Deutschland Polen zerstört, dort die tödliche Verfolgung der Juden beginnt, die Sowjetunion selbst Eroberungskriege gegen Finnland und die baltischen Staaten führt und Kritik an Hitler aus den sowjetischen Zeitungen in Folge des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 verschwindet.
Vier Jahre Krieg
Am 22. Juni 1941, dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs, ist Jelena Bonner 18 Jahre alt. Für sie beginnt an diesem Tag der Krieg als ganz persönliche Bedrohung totaler Vernichtung, der Freunde, der Städte und Dörfer, besonders für sie als Jüdin in der Sowjetunion. Gegen eine deutsche Armee, die alles vernichten soll. Freiwillig absolvierte sie Rot-Kreuz-Kurse in Leningrad, dient ab Oktober 1941 als Krankenschwester auf Sanitätszügen der Roten Armee. Dabei wird sie mehrfach verwundet. Eine langwierige Augenerkrankung stammt von den Verletzungen, die sie bei einem dieser deutschen Angriffe auf den Sanitätszug erlitt. Die Autorin Masha Gessen (*1967, „Die Zukunft ist Geschichte“, die deutsche Ausgabe erschien 2018 in Berlin bei Suhrkamp) führt mit Jelena Bonner 2010 eines ihre letzten Interviews. Darin wird thematisiert, wofür die Soldaten der Roten Armee eigentlich gekämpft hatten. Es gab ab 1941 zahllose zeitgenössische Plakate: Stürmende Soldaten mit Fahnen und Inschriften darauf: „За Родину, за Сталина – вперед!“ („Za Rodinu! Za Stalina! Vpered!“). Bonner sagt rückblickend, sie habe nie einen getroffen, nie, der „Fürs Vaterland! Für Stalin!“ gekämpft habe. Denn gerade in dieser bedingungslosen Aufforderung: „Vorwärts!“ steckte die ganze Brutalität der sowjetischen Kriegsführung. Ein Zurück gab es nicht. Hinter der Front die Einheiten des Geheimdienstes, die zögernde oder flüchtende Soldaten verfolgten. Vor ihnen die vom nationalsozialistischen Glauben verblendeten Deutschen. „Unsere kämpften nicht für das Vaterland und nicht für Stalin, es gab einfach keinen Ausweg.“ Weiter sagt sie in diesem Interview 2010 über ihre Kriegserfahrung: „Und ich bin nicht buchstäblich in den Krieg gezogen. Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe nur das Leiden von Menschen gelindert, Menschen beigestanden.“ Und sie zitiert Anna Achmatowas „Requiem“ (1935-40): „Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden, / Blieb, wo mein Volk zu seinem Unglück war.“
Diese Zeilen werden erst 1987, lange nach dem Tod der Achmatowa, in der Sowjetunion im Zuge der kulturellen Öffnung erscheinen können. Alexander Solschenizyn sagt rückblickend über diesen, über seinen bitteren Krieg: „In 1000 Jahren hatte es nicht so einen blutigen, auslaugenden Krieg mit so vielen Opfern gegeben. Heutige Generationen könnten sich das gar nicht vorstellen, wie zermürbend das ist: nicht Wochen oder Monate, vier Jahre ohne Unterbrechung, vier Jahre lang rannte die Armee über Minenfelder, durchs MG-Feuer, bombardiert von oben und von der Artillerie, sie rannte durch Flüsse und Feuer.
Im Herbst 1945 wird Jelena Bonner als Offizier (Leutnant) aus der Armee entlassen. Sie ist 22 Jahre alt.
Als Jüdin
In dieser Zeit wird ihr neuer Militärausweis ausgestellt, der sie als Veteranin kenntlich macht. Darin ist ein Punkt auszufüllen: „Nazional’nost“ (Nationalität). Zuvor hatte dort Armenier gestanden – nach dem armenischen Vater. „So wurde ich Jüdin“, schreibt sie in einem Artikel für die „Literaturnaja Gazeta“ 1995, „aber wahrscheinlich wäre ich auch ohne den Krieg jüdisch geworden.“ Jelena Bonner versteht sich nicht als gläubige Jüdin. Erst im Dezember 1985, so die damaligen Chronisten, geht sie zu HaNukkah in eine Synagoge in Newton, einem Vorort von Boston. Ihre letzten Lebensjahre wird sie später dort verbringen.
Im Winter 1946 darf Jelena Bonner ihre Mutter nach Leningrad holen. Nach acht Jahren im GULag. Ab 1947 wird Jelena Bonner in Leningrad Medizin studieren, sie heiratet den Mitstudenten Iwan Semjonow und bekommt 1950 ihre Tochter Tatiana.
Im „Literaturnaja Gazeta“-Artikel (1995) beschreibt Jelena Bonner sehr persönlich die Bedingungen, denen jüdisches Leben in der Sowjetunion in den letzten Lebensjahren Stalins ausgesetzt ist. Nach dem Sieg wird der Antisemitismus in der Sowjetunion wieder alltäglich. Juden werden als Feiglinge diffamiert, die nicht gegen Hitler gekämpft hätten. Dabei kämpften 500.000 Juden in der Roten Armee. „Dann erfuhren wir etwas über das Warschauer Ghetto, über Auschwitz und Ravensbrück, doch sollten wir jetzt ‚Kosmopoliten‘, ‚Mörder in weißen Kitteln‘ und alles andere sein, alles, was uns vom Sieg trennen sollte.“ „Mörder in weißen Kitteln“ bezeichnete die für Juden lebensgefährliche Zuschreibung während der antisemitischen Kampagne der sogenannten „Ärzte-Verschwörung“ (1952/53). wonach angeblich eine jüdische Spionage- und Terrortruppe Stalin und die Sowjetordnung beseitigen wollte. Mit dem Tod Stalins am 5. März 1953 endete zwar diese Kampagne, der Antizionismus und der Israelhass blieben seither jedoch ein Wesensmerkmal der Sowjetunion. Juden wären demnach „wurzellose Kosmopoliten“, heimatlose Helfershelfer der weltweiten Kapitalisten, die die sowjetische proletarische Kultur vergifteten.
Auch Jelena Bonner hat kurzzeitig im Winter 1953 Schwierigkeiten an ihrer Hochschule, weil sie als vorherige medizinische Frontkämpferin nicht bereit war, die erfundene „Ärzte-Verschwörung“ zu propagieren. Im „Kalten Sommer des Jahres 53“ (ein Spielfilm unter der Regie von Alexander Proschkin, 1987), als nach Stalins Tod Tausende GULag-Gefangene freigelassen wurden, konnte Bonner an der Hochschule ihren Abschluss machen. Die berühmte Abschlussszene („Rückkehr“) dieses Filmes zeigt eindrücklich die verbreitete Einsamkeit: Niemand will vom Schicksal der Gefangenen Notiz nehmen, im Moskau des Jahres 1953. Ebenso wenig vom Schicksal der Juden in der Sowjetunion.
Das Schwarzbuch
Es ist das Schweigen über den realen Krieg und den Holocaust, welches junge Juden in der Sowjetunion in diesen Jahren verzweifeln lässt. So schreibt das rückblickend der ukrainisch-russische-jüdische Dichter Alexander Galitsch (1918-1977), später ein Freund der Familie Sakharov. Galitsch wußte vom Versuch, Zeugnisse des Holocaust und auch Zeugnisse des bewaffneten Kampfes der Juden gegen die Deutschen zu sammeln und zu veröffentlichen. Solomon Michoels (1890-1948), ein berühmter Schauspieler, und andere Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees/russisch EAK (1942-48), einer Organisation für die internationale Vernetzung jüdischer Interessen, sammelten diese Zeugnisse. Das Ziel: ein „Schwarzbuch“ über die Ermordung der Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion. Michoels kommt im Januar 1948 bei einem „Verkehrsunfall“ ums Leben. Später stellt sich heraus: es war ein Mordanschlag des NKWD. Das EAK wird aufgelöst, seine Mitglieder verhaftet oder getötet. In der offiziellen Erzählung sollte es nur sowjetische Opfer der Deutschen geben, keine jüdischen.
Die Leiden der einfachen Menschen, Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee, schon gar nicht die Vernichtung von Jüdinnen und Juden, hatten keinen Platz in den entmenschten, monumentalen Opferritualen der staatlich-sowjetischen Erinnerung an den Krieg. Das Schwarzbuch wird in der Sowjetunion nie erschienen, bereits zum Druck vorbereitete Dokumente werden 1947 vernichtet. Darunter der Augenzeugenbericht über die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Treblinka von Wassilij Grossman (1905-1964). Grossman hatte bereits 1942 mit der Sammlung der Dokumente begonnen. Ende der 1970er Jahre half Jelena Bonner beim Schmuggel des Manuskriptes von Grossmans Roman „Leben und Schicksal“ in den Westen (die deutsche Ausgabe erschien 2007 in Berlin bei Claassen). Erst 1994 wird eine vollständige russische Ausgabe des Schwarzbuchs des von Wassilij Grossmann gemeinsam mit Ilja Ehrenburg herausgegebenen Schwarzbuchs über die Ermordung der sowjetischen Juden gedruckt
Samizdat
Anfang der 1960er Jahre arbeitet Bonner als Kinderärztin. Sie schreibt Artikel und gibt die Tagebücher und Gedichte des jüdischen Poeten, Kriegsreporters und Leningrader Jugendfreundes Vsevolod Bagritskij (1922-1942) heraus. Der schreibt am 16. Februar 1942 in sein Tagebuch: „Heute ist es vier Jahre und sieben Monate her, dass meine Mutter verhaftet wurde. Hier ist eine Liste meiner ‚glücklichen Tage‘. Die Tage meiner Jugend. Jetzt wandere ich in kalten Unterständen herum, friere in Lastwagen und schweige, wenn ich mich abmühe. Fremde Menschen umgeben mich. Und ich warte auf die Kugel, die mich niederstreckt.“ Zehn Tage später tötet ihn eine deutsche Granate.
1965 tritt Bonner in die Kommunistische Partei ein (sie bleibt ihr Mitglied bis 1972). Wie sie später sagt: der größte Fehler ihres Lebens. Nach dem Sturz Niktia Chruschtschows ist es eine Zeit der Hoffnung auf mehr Luft, auf mehr Freiheiten, aber auch die der Angst vor einer Neostalinisierung unter dem neuen KP-Chef Leonid Breschnew. Lew Kopelew (1912-1997) wird diese Generation anlässlich des Todes des Dichters Alexander Galitsch 1977 so beschreiben: „Am meisten gleichen ihm aber die Schicksale jener, die in den 30er Jahren Jünglinge waren, die in den 40er und 50er Jahren qualvoll heranreiften und in den 50er und 60er Jahren schwer mit sich selbst fertig wurden, hofften und nicht fanden und dann erneut, diesmal aber ganz anders hofften und glaubten.“ 1968 ist das UN-Jahr der Menschenrechte. Trotzdem werden im Januar 1968 vier weitere Oppositionelle wegen der „Herstellung und Verbreitung antisowjetischer Literatur“ zu Haftstrafen verurteilt, darunter Alexander Ginzburg (1936-2002).
„Samizdat“ bezeichnet Artikel, Bücher, Theaterstücke, Gedichte, die entgegen der herrschenden Zensur in der Sowjetunion verbreitet werden, heimlich vervielfältigt und heimlich weitergereicht. Gegen die Kultur des Samizdat vorzugehen, hatte sich der KGB-Chef (seit 1967) und spätere KPdSU-Parteichef Juri Andropow (1914-1983) auf die Fahnen geschrieben. Im Sommer 1968 erschüttert zudem Andrej Sakharovs (1921-1989) Denkschrift „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“, veröffentlicht in der New York Times, die Sowjetführung. Es ist ein Appell der Vernunft. Veröffentlicht unter seinem richtigen Namen „Andrej D. Sakharov, Physiker, Akademiemitglied.“ Sakharovs Analysen über Frieden, die Bedrohungen der Welt durch Umweltverschmutzung, thermonukleare Kriege, Hunger und diktatorische Regime machen ihn sofort weltbekannt. Jelena Bonner wird Sakharov erst 1970 persönlich kennenlernen. Und auch der Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei im August 1968 zur Zerstörung des dortigen Versuchs eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ schockiert die jungen Andersdenkenden. Ihr Glaube, ihre Hoffnung sind die Menschenrechte, die auch in der Sowjetunion zu gelten haben.
Alexander Daniel (*1951), Oppositioneller in der Sowjetunion und nach 1991 Programmleiter bei „Memorial“, der von Jelena Bonner und Andrej Sakharov gegründeten Aufarbeitungsorganisation, schreibt im Jahr 2008, dass das Jahr 1968 in der Sowjetunion aufzeigte, dass „das Konzept der Menschenrechte eben keine bloße moralische Wegmarke mehr sei; vielmehr hätten die Menschenrechte für die ganze Welt die neue Qualität einer politischen Philosophie angenommen.“ Und zwar lange vor dem Erscheinen dieses Themas in der US-Außenpolitik unter dem US-Präsidenten Jimmy Carter und bei demokratischen Bewegungen in Westeuropa.
Es geht um Menschenrechte, Freiheit und um die Selbstachtung, als acht junge Protestierende um Pawel Litwinow (*1940) und Larissa Bogoras (1926-2004) am 25. August 1968 auf dem Roten Platz in Moskau gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. „Für Eure und Unsere Freiheit“ steht auf dem berühmtesten ihrer Transparente. Acht mutige junge Menschen gegen ein ganzes System. Eine davon ist Natalja Gorbanowskaja (1936-2013). Jene Natalia, deren Freiheitskampf Joan Baez 1973 besingen wird. Seit April 1968 hatte Gorbanowskaja einen, heute würde man sagen, Newsletter zur Verfolgung der Oppositionsbewegung herausgebracht: die berühmte Хроника текущих событий („Chronik der laufenden Ereignisse“). Im kühlen Nachrichtenstil wurden Personen und Ereignisse aufgelistet, vervielfältigt per Schreibmaschine auf schlechtem Papier oder einfach abfotografiert.
Die Bedeutung der „Chronik“ war, so die inzwischen umfangreiche Forschungsliteratur zu dieser Form des Samizdat, genaue und aktuelle Daten darüber zugänglich zu machen, was in den einzelnen Gruppen von Oppositionellen, in den Bewegungen nationalen Aufbegehrens oder religiöser Dissidenten vor sich ging. Ob christliche Gruppen, ob ukrainische, baltische oder armenische Nationalbewegungen, die der Krimtataren, die Emigrationsbewegungen von Juden und Deutschen, die marxistischen Erneuerungsbewegungen und die Gruppen der russisch-nationalistischen Bewegungen. In der Chronik stand, wer verhaftet wurde, wer verurteilt wurde, wer welche Strafe erhielt, wo sich die Verurteilten im Lager befanden, und die Adressen der Familien. Außerdem gab es Zusammenfassungen neuer Samizdat-Arbeiten. Unter den Zensurbedingungen der Sowjetunion ein bedeutendes geistiges Überlebensmittel. Bis 1983 erschienen mehr als sechzig Ausgaben der Chronik.
Jelena Bonner sieht im Spätherbst 1968 erstmals die zweite Ausgabe der Chronik, die sich mit der Menschenrechterklärung von 1948 beschäftigte. Danach hilft sie bei der Verbreitung in Leningrad. Gerade die westlichen Sender wie z.B. Radio Liberty, die in der Sowjetunion zu empfangen sind, verbreiten die Informationen der Chronik.
In einem Interview mit Radio Svoboda/Radio Liberty betont Bonner 2008, dass gerade die Verbreitung der Informationen über Radio Liberty viele Menschen erreicht hat, mehr als die schriftlichen Ausgaben im Samizdat, „weil es eine gewisse Nähe zu bestimmten Ereignissen gab und ich sie in einem solchen soliden Informationssammlung lebendig spürte. Für mich bedeutete das sehr viel. Aber für jemand anderen hatte es ganz sicher eine erzieherische, befreiende Bedeutung. Ich glaube, dass die Chroniken das wichtigste Dokument dieser Art von Widerstand waren.“
Lass mein Volk ziehen!
In den Chroniken wurden zahllose Fälle der Verfolgung von Juden in der Sowjetunion dokumentiert. Natan Sharansky (*1948) wird in einem Nachruf auf Jelena Bonner 2011 von ihrer Beharrlichkeit im Einsatz für die jüdische Emigration und ihre Herzlichkeit berichten: „Es war nicht leicht, mit ihr befreundet zu sein. Sie verlangte von den Menschen in ihrer Umgebung viel Rückgrat.“ Sie habe jeden in der Dissidentenwelt zur Räson gebracht, die oder der durch Zögern oder Angst andere gefährden könnte. Gleichzeitig, so Sharansky weiter, war sie zweifellos eine „Yiddishe Momme“. Eine jüdische Mutter, die sprichwörtlich selbstgebackene Kekse für ihre hungrigen Kinder backt und sich Sorgen macht, ob die sie gegessen haben oder nicht. Selbst wenn er wieder einmal auf der Flucht vor den KGB-Verfolgern war, fragte sie ihn immer: „Haben Sie schon etwas gegessen?“
Im Frühjahr 2009 ist Jelena Bonner bereits zu krank, um selbst nach Oslo zu reisen. Per Videobotschaft wird ihre Rede vor dem Osloer Friedensforum von ihrer Tochter Tatiana vorgetragen. Sie spreche über Israel nicht nur, weil sie Jüdin sei. Sondern weil der Nahost-Konflikt seit Jahrzehnten eine Plattform der Weltpolitik sei und gerade jetzt in Europa ein neuer Schub von Antisemitismus zu beobachten ist. Bereits seit den 1960er Jahren setzt sich Bonner unbeirrt und vernehmlich für verfolgte Juden in der Sowjetunion ein, die nichts anderes wollten, als nach Israel auszureisen. 2,3 Millionen Juden hatte die Volkszählung 1970 ergeben. Die aus der Bibel entlehnte Forderung: отпусти мой народ! („Otpusti moi narod!“) – „Lass mein Volk ziehen!“ wurde zur Losung. Dabei betrafen die Verfolgungen sowohl religiöse wie nicht-religiöse Juden. 3000 gefangene Juden – „Prisoner of Zion“ wurden gezählt, die besonders aus Israel und den USA auf Unterstützung hoffen konnten.
Darunter wiederholt Natan Sharansky (ursprünglich Anatoly SchtSharanskyj), in sowjetischer Haft von 1977-1986, später Minister in Israel und Chef der Jewish Agency. Als Mitglied der Moskauer Helsinki-Beobachtergruppen half er der Familie Bonner-Sakharov bei Übersetzungen und bei internationalen Pressekonferenzen in deren Moskauer Wohnung Tschkalowa Strasse 48. Sakharov hatte sich bereits seit 1968 für die unbedingte Sicherung des Existenzrechtes Israels in gesicherten Grenzen eingesetzt. Auch das brachte ihm die Ablehnung der Machthaber in der Sowjetunion ein, die sich seit 1967 in einem „Unerklärten Krieg“ (Jeffrey Herf) mit Israel befand. Einer der Gründe, warum viele Juden, 150.000 werden das bis 1989 schaffen, um ihre Einwanderung (Aliyah) kämpfen. Die jüdische Identität als Volk war den sowjetischen Machthabern ein Dorn im Auge. Man wollte einzig das „sowjetische Volk“ mit dem Russischen als Basis akzeptieren.
Andrej und Ljusja
Im Dezember 1970 treffen sich Sakharov und Bonner beim Prozess gegen Eduard Kusnezow (*1939) in Leningrad wieder. Die Monate zuvor hatten sie sich bereits beim Prozess gegen den Mathematiker und Bürgerrechtler Revolt Pimenow (1931-1990) in Kaluga in der Nähe von Moskau gesehen. Eduard Kusnezow – er war Jude – hatte wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ bereits sieben Jahre in Lagern verbracht. Versuche, eine legale Ausreise nach Israel zu erreichen, waren abgelehnt worden.
Im Mai 1970 versuchte er mit Freunden vergeblich, ein Flugzeug für die Flucht nach Schweden zu kapern. Das Gericht verurteilt ihn unter Beifall der bestellten Anwesenden wegen Hochverrats zum Tode. Jelena Bonner brüllt in den Saal: „Schämt Euch! Nur Faschisten freuen sich über Todesurteile.“ Der anwesende Sakharov ist fasziniert. Er schreibt dazu später in seinen Lebenserinnerungen: „Der Beifall im Saal verstummte augenblicklich.“
Der Fotograf Juri Rost (*1939) war ein Freund der Familie. In seinem Buch „Kefir nado gret‘: Istoriia liubvi, rasskazannaia Elenoi Bonner I Uriiu Rostu“ („Der Kefir muss erwärmt werden. Die Geschichte einer Liebe in Gesprächen von Jelena Bonner und Juri Rost“) hat er sich nach langen Gesprächen mit Jelena Bonner mit der Liebesbeziehung diesen beiden Oppositionellen beschäftigt. In den Jahren 1970 bis 1989 werden sehr persönliche Bilder entstehen, die Bonner und Sakharov authentisch zeigen. Für Rost sind beide individuelle und recht gegensätzliche Persönlichkeiten, die sich nicht zufällig bei einem Dissidentenprozess wiedertrafen. Juri Rost: „Dahin reiste Sakharov allein. Sie mochte ihn erst nicht. Den Einzelgänger. In Russland heißt es: der Kefir muss erwärmt werden. Er mochte ihn aber kalt. Später hieß die Legende, sie, die Jüdin, hätte ihn eingefangen, sie hätte ihn geführt. Das ist nicht wahr. Er hat das vorangetrieben. Sie hat später seine Texte durchgesehen, klar, sie konnten zusammensitzen und diskutieren. Aber er war der Hartnäckige. Sehr Eigensinnige!“
Sie: eine vom Leben geprägte Frau, die aus der Geschichte ihres Volkes heraus agierte, um Verfolgung und Benachteiligung Andersdenkender anzuprangern. Er: ein eigensinniger Charakter, gepaart mit einer hervorragenden naturwissenschaftlichen Analysefähigkeit, die ihm seinen mühevollen Weg zum Andersdenkenden ebnete, ihn dann zum konsequenten Bürgerrechtler werden ließ. Im bürgerrechtlichen Engagement, in der Furchtlosigkeit trafen sich beide. Noch bis 1973 appellierte Sakharov in unzähligen Briefen und Aufrufen an die Sowjetführung, hoffte auf deren Vernunft. Sie hatte diese Illusion längt abgelegt, wusste, dass Appelle von autoritären Eliten nur als Schwäche ausgelegt werden. Diese Haltung wird Bonner nach 1999 schnell in Widerspruch zum neuen russischen Präsidenten Putin führen.
LISA („Лиса“)
Bonner und Sakharov heiraten am 7. Januar 1972. Fast zwei Jahrzehnte lang (Sakharov stirbt im Dezember 1989) wird die Verbindung beider vom KGB und von der sowjetischen offiziellen Öffentlichkeit verfolgt und diffamiert. Der KGB legt Beobachtungsakten unter dem Namen LISA (Füchsin) an. Viele davon werden 1989 vernichtet. Andere kann Jelena Bonner nach 1991 einsehen, vor allem die NKWD-Unterlagen, die den Tod ihres Stiefvaters 1938 betreffen. Eine Sammlung von KGB-Unterlagen und KPdSU-Politbüro-Briefen erscheint 2005 beim Verlag der Yale University: „The KGB File of Andrei Sakharov“ (ed. Joshua Rubenstein/Alexander Gribanov).
Die Dokumente belegen die Hintergründe einer in der Sowjetunion beispiellosen antisemitischen Kampagne, die gegen Jelena Bonner gefahren wird. Daran waren auch Einheiten der DDR-Staatssicherheit beteiligt, wie der Historiker Douglas Selvage aus Akten der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) 2022 rekonstruierte. In zahllosen Artikeln wird sie in den Folgejahren wechselweise als zionistische Agentin oder als feige Verführerin des vermeintlich „reinen Russen“ Sakharov gebrandmarkt. Ausführlich wird diese Praxis der „Ljusja B.“ im in großer Auflage 1983 gedruckten Propagandaband „ZRI protiv SSSR“ („CIA gegen die UdSSR“) exerziert. Nicht einmal der Kriegseinsatz der jungen Jelena Bonner wird verschont. Dieses Werk, ebenfalls ins Englische und Spanische übersetzt, fand über eine DDR-Übersetzung („CIA contra UdSSR“, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin/Ost 1985) den Weg zu linken Gruppen in der Bundesrepublik, die Thesen des Buches gern als Rechtfertigung ihrer Ablehnung von Sakharov und Bonner nutzten. Insbesondere die pro-israelischen Aussagen von Bonner und Sakharov hatten wohl den Unmut der westlichen Sozialisten in Freiheit hervorgerufen. Tatsächlich hatte Sakharov, seit Dezember 1975 Friedensnobelpreisträger, immer wieder die angebliche „Friedenspolitik“ der Sowjetunion gerade im Nahen Osten als Aufrüstungspolitik der Feinde Israels enttarnt.
Hoffnung Helsinki
Die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki eröffnete sowjetischen Bürgerrechtlern neue Möglichkeiten. So hofften zumindest die Aktivisten. Tatsächlich wurden zwar die sowjetischen Menschenrechtler im Westen gehört. Korrespondenten wurden zu Pressekonferenzen in die Wohnung Sakharovs eingeladen. Positionspapiere Sakharovs über Menschenrechtsverletzungen fanden über westliche Korrespondenten ihren Weg in die Welt. Zahlreiche Artikel, Dokumentationen und Bücher, Solschenizyns „Archipel Gulag“, über sowjetische Menschenrechtsverletzungen erschienen in Westeuropa, (erstmals am 28. Dezember 1973 in einer französischen Ausgabe).
So auch Eduard Kusnezows „Lagertagebuch“, Jelena Bonner hatte beim Schmuggel des Manuskripts geholfen, bereits 1974 in München. Obwohl das ARD-Büro Moskau unter Fritz Pleitgen (1938-2022) und ab 1977 geleitet von Klaus Bednarz (1942-2015) eine umfassende und kritische Berichterstattung lieferte, konnte sich gerade in linksgerichteten Bereichen der (west-)deutschen Öffentlichkeit, anders als etwa in Frankreich, keine rückhaltlose Solidarität mit den sowjetischen, erst recht nicht mit antikommunistischen Dissidenten wie Bonner oder Sakharov etablieren. Sakharov fordert im Vorwort zu seinem Buch „Mein Land und die Welt“ (1975) die Menschen im Westen auf, „der Einhaltung dieser Grundsätze (der Menschenrechte) ihre ständige Aufmerksamkeit zu schenken und (…) angesichts der totalitären Bedrohung, dessen Einigkeit und Stärke (zu) unterstützen.“
Den Text gibt er am 1. Oktober 1975 Jelena Bonner telefonisch durch, die sich zu dieser Zeit zur medizinischen Behandlung in Italien aufhält. Die Pressekonferenz am Folgetag in Florenz machen Sakharov und Jelena Bonner zu weltweit bekannten Personen. Generell muss man jedoch sagen, so 2021 die Soziologin Ulrike Ackermann im Südwestrundfunk, dass die Dissidenten, die nicht irgendwelche sozialistischen Vorstellungen hatten, hier im Westen und besonders in Deutschland eher als Störenfriede der Entspannungspolitik angesehen worden sind. Selbst noch während der Perestroika, als Petra Kelly (1947-1992) erstmals persönlich mit Andrej Sakharov und Jelena Bonner im Februar 1987 während des Moskauer Friedensforums zusammentraf, wurde sie innerhalb und außerhalb der grünen Partei dafür verlacht und angefeindet. Nachzulesen heute im Petra-Kelly-Archiv der Heinrich Böll Stiftung in Berlin.
Ganz in diesem Sinne hatte bereits Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) am 7. September 1973 in der ZEIT geschrieben, es sei sehr fraglich, ob Sakharov und Bonner mit ihren Reformforderungen an die Sowjetunion recht hätten. Und weiter: „Nein, da ist die Philosophie, die der Bonner Ostpolitik zugrunde liegt, wohl doch einleuchtender; die Theorie nämlich, dass Entspannung, also das Nachlassen der Furcht vor der Bundesrepublik, einen Prozess in Gang setzt, der eigene Fakten schafft. Für jene kleine Gruppe kritischer Intellektueller in der Sowjetunion ist dies eine tragische Erkenntnis.“
Anders in der DDR-Opposition. Auch dort sind zwar etwa vom führenden DDR-Oppositionellen Robert Havemann (1910-1982), obwohl Physikerkollege, keine Aussagen zu Sakharov und Bonner zu vermerken, Jahrzehnte später wird jedoch der DDR-Bürgerrechtler Gerd Poppe (*1941) Jelena Bonner für ihre Ermutigung und Hoffnung danken, die die sowjetischen Dissidenten ihnen gegeben hatten. In der Laudatio für die Preisträgerin des Hannah-Arendt-Preises im Jahr 2000, Jelena Bonner, zitiert Gerd Poppe dazu Hannah Arendt aus ihrem Buch „Wahrheit und Politik“ (1967): „Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigte.“ Und Hannah Arendt fügte in diesem Text hinzu, dass in Gesellschaften der Lüge „einfachste Tatsachenfeststellungen bereits eine Gefährdung der Machthaber“ darstellten.
In der Laudatio zur Verleihung des Bremer Hannah-Arendt-Preises sprach der frühere sowjetische Oppositionelle Sergej Kowaljow (1930-2021) über die „Standhaftigkeit der menschlichen Seele“ Jelena Bonners. Kowaljow war selbst 1974 wegen „antisowjetischer Agitation“ zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Kowaljow fragt hinsichtlich der 1970er Jahre: „War dies Protest? Ja, es war Protest, auch gegen die eigene verstümmelte Jugend, gegen die Ermordung des Vaters, gegen das zerbrochene Leben der Mutter, dagegen, dass der Sieg in dem Krieg, an dem sie teilnahm, ihrem eigenen Land keine Freiheit brachte, gegen die Verfolgung von Gedanken, Wort und Kunst. Es aber nicht nur Protest, es war Arbeit, schwere und schöpferische Arbeit, gemessen am seelischen Einsatz.“
Bürgerrechtler in Gefahr
Mitte der 1970er Jahre verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Jelena Bonner. Die alte Kriegsverletzung an beiden Augen muss operiert werden, um ein Erblinden zu vermeiden. Dem sowjetischen Gesundheitssystem traut Bonner nicht. Zu verstrickt mit dem Repressionsorganen, zu gefährlich, sich denen auszusetzen. Nach Monaten des öffentlichen Streits um den Ort der Operation darf sie im August 1975 über Paris nach Italien fahren. Dort wird sie Anfang September vom Augenarzt Prof. Renato Frezzotti operiert, 1977 und 1985 müssen weitere Operationen folgen. Noch in Italien erfährt sie, dass Sakharov den Friedensnobelpreis erhalten hat und nicht nach Oslo zur Preisverleihung fahren darf. Jelena Bonner wird am 10. Dezember 1975 die Rede in Oslo halten. Sakharov ist an diesem Tag im damals sowjetisch-litauischen Vilnius, um in einem weiteren Prozess Sergej Kowaljow beizustehen. Am Abend verfolgt Sakharov am (West-)Radio die Zeremonie, schreibt später dazu in seinen Lebenserinnerungen: „Wir hören Fanfarenstöße, ich höre Ljusjas Schritte, sie geht die Stufen hinauf, Und dann beginnt sie zu sprechen. Zuerst nehme ich nur den Klang ihrer Stimme wahr, so nahe und vertraut und zur selben Zeit gleichsam entrückt. Eine tiefe Stimme, die einen Moment lang vor Aufregung bebt!“ Gleichzeitig spricht Sakharovs Rede zum Zusammenhang von Frieden, Fortschritt und Menschenrechten der vortragenden Jelena Bonner aus dem Herzen.
Doch die Staatsmacht rächt sich an Bonner. Für Aussagen auf den Pressekonferenzen in Italien wird sie 1982 wegen „antisowjetischer Propaganda“ zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Sakharov selbst war im Januar 1980 wegen seiner Kritik am sowjetischen Einmarsch in Afghanistan aus Moskau verbannt worden, nach Gorki (heute wieder Nischni‘ Nowgorod), einer für Ausländer gesperrten Stadt. Ohne Zugang zu Telefon und unter ständiger Kontrolle des Geheimdienstes KGB. Abgeordnete aller Fraktionen des Deutschen Bundestages hatten in zahlreichen Anträgen und Plenarreden die Freilassung der beiden gefordert. Besonders der Osteuropa-orientierte Teil der Grünen-Fraktion um Elisabeth Weber (1941-2022), Eva Quistorp (*1945), Petra Kelly (1947-1992) begleitete gegen Widerstände in der eigenen Partei die antikommunistischen Aufstände in Polen und die sowjetische Opposition. Am 24. Mai 1984 betonte der Grünen-Abgeordnete Milan Horaček (*1946) im Plenum zudem den antijüdischen Aspekt der laufenden Kampagne gegen Jelena Bonner. Wonach Bonner eine (Zitate sowjetische Presse:) „kleine, verbitterte und habgierige Person“ sei, die bereit wäre, „über die Leiche ihres Mannes zu gehen“: „Dann kann dies (von uns) nur als wirklich reaktionäre, rassistische und sexistische Kampagne begriffen werden. Frau Bonner ist eine Jüdin und wir möchten hier noch einmal besonders unsere Solidarität mit Jelena Bonner zum Ausdruck bringen.“
Erst im Dezember 1986 konnten beide auf Initiative Gorbatschows wieder nach Moskau zurückkehren. Dort wird für einige Jahre aus den Dissidenten ein Reformpolitiker-Paar. Bonners Buch über die Verbannungszeit „In Einsamkeit vereint“ endet mit: „Ich bin kein Dissident, ich bin einfach ich. Ich hoffe, Sie haben sich jetzt davon überzeugt.“
Putins Krieg
Auch in den Chaosjahren nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 bleibt Bonner eine öffentliche Wächterin der Lage der Menschenrechte im neuen Russland. Sie war Gründungsmitglied von „Memorial“ (1989/91) und arbeitet zeitweilig im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten Boris Jelzin (1931-2007). Der erste Tschetschenienkrieg (1994-1996) führt zum Bruch mit Jelzin. Hauptsächlich kümmert sie sich um die Sicherung und Herausgabe des Erbes von Andrej Sakharov. Seit 2004 gibt es das Sakharov-Zentrum in der Nähe der Moskauer Wohnung von Sakharov und Bonner (heute: Zemljanoi Val, Haus 57, Wohnung 6). Seit März 2022 ist die Arbeit des Zentrums eingestellt, auf der Internetseite erscheint ein Warnhinweis, es handele sich um eine Seite „ausländischer Agenten“.
Bereits im August 1999 warnt Jelena Bonner vor der Demokratiefeindlichkeit im Umkreis des neuen Machthabers Wladimir Putin (*1952, seit August 1999 Ministerpräsident und seit Dezember 1999 Präsident Russlands): „Alle, die aufmerksam das politische Leben verfolgen, haben längst verstanden, dass es hier nicht um die Notwendigkeit von Reformen für das Land und die Gesellschaft geht, sondern einzig darum, für sich eine Zukunft in Wohlstand zu sichern.“ Für sich, fügt sie hinzu, das heißt für den Präsidenten und dessen Umgebung. In Westeuropa wird diese Kritik Bonners lange nicht verstanden. In Deutschland befremdeten Bonners totalitarismuskritische Vergleiche, legte doch sie Wert „auf die Ähnlichkeiten von NKWD und nationalsozialistischen Straf- und Repressionsapparaten“, so in ihrer Bremer Rede 2000, „die beide über dem Gesetz standen, wie auch in der Art und Weise, wie sie ihren Nachwuchs rekrutierten.“ Gerade in Deutschland taten und tun sich manche nach wie vor schwer mit solchen Vergleichen, da sie befürchten, dadurch den Nationalsozialismus zu relativieren.
Jelena Bonner hegt in diesen Jahren keine Illusionen über den Charakter des Putin-Systems, welches die vererbte Angst und die Lügen der vorherigen totalitären Zeit nutzt. „Putin hat einen antidemokratischen Staat errichtet“, schreibt sie in der österreichischen Tageszeitung Standard im Mai 2004. Die Vernichtung der freien Presse, von funktionierenden parlamentarischen Strukturen, bis hin zur Aushebelung unabhängiger Rechtsprechung und öffentlicher Kontrolle, darum könne man nicht davon sprechen, Russland sei ein demokratischer Staat. Aus diesen Gründen lehnt Bonner bereits 2003 Pläne zur Errichtung eines offiziellen Denkmals für Sakharov im Zentrum Moskaus ab, da dessen Ideen im aktuellen Russland ignoriert und abgelehnt würden. Folgerichtig ist sie 2010 Erstunterzeichnerin der oppositionellen Internetkampagne zur Ablösung Putin aus allen Ämtern: „Putin muss gehen“ (Путин должен уйти).
Unbeugsam blieb sie der Wahrheit verpflichtet und gab nie Ruhe. So der Tenor der Nachrufe in aller Welt. „Eigenwillig und scharfzüngig, aber mit einer sachlichen Stimme“, schreibt die Washington Post, „die Stimme, die durch jahrelanges Kettenrauchen russischer Zigaretten beständig tiefer wurde.“ Der Guardian schrieb: „Sakharov und Bonner waren ein Team, miteinander in der Überzeugung verbunden, dass Gewissensfreiheit eine Voraussetzung jedes zivilisierten Staates sei und dass Ost und West auf eine Versöhnung hinarbeiten sollten. Diese Überzeugung half Ihnen die Torturen der Überwachung, der Schikanen, der Haft und des Exils zu überleben.“
Jelena Bonner starb am 18. Juni 2011 88jährig in Boston (Massachusetts).
Zum Weiterlesen:
- Von Jelena Bonner sind verfügbar: In Einsamkeit vereint. Meine Jahre mit Andrej Sakharov in der Verbannung, München / Zürich, Piper, 1986, sowie Mütter und Töchter. Erinnerungen an meine Jugend 1923 bis 1945, München / Zürich, Piper, 1992.
- Ulrike Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen – Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart, Klett-Cotta, 2000.
- Ludmilla Alexeyeva. Soviet Dissent: Contemporary Movements for National, Religious, and Human Rights, Middletown (CT), Wesleyan Univ Press, 1985.
- Klaus Bednarz: Mein Moskau. Notizen aus der Sowjetunion, Hoffman und Campe (1985).
- Wassilij Grossman, Ilja Ehrenburg, Hg., Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, dt. Ausgabe hg. von Arno Lustiger, Reinbek, Rowohlt, 1995.
- Wassilij Grossman, Leben und Schicksal, Berlin, Claassen, 2007.
- Natalya Rapoport. Stalin And Medicine: Untold Stories, Verlag World Scientific Publishing, Singapore 2020
- Juri Rost Sakharov. „Kefir muss erhitzt werden.“ Die Liebesgeschichte, erzählt in Gesprächen von Elena Bonner mit Juri Rost, Moskau, Verlag Boslen, Moskau 2018.
- Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew – Schauspieler und Staatsmann im Schatten Stalins – Eine Biographie, Wien / Köln / Weimar, Böhlau, 2017.
- Natan Sharansky. Fear no Evil, New York, Random House, 1988.
- The Sakharov-Bonner Case. Folder 44. The Chekist Anthology. Wilson Center Digital Archive (2011)
- Zu Andrej Sakharov siehe: Michael Hänel, Zwischen allen Stühlen, Der Mahner und Humanist Andrej Sakharov, Zeitschrift Osteuropa 11-12/2014, sowie in: Michael Hänel, Porträt zum 100. Geburtstag Andrej Sakharovs – Vom Bombenbauer zum Menschenrechtler, SWR2, 21. Mai 2021.
Michael Hänel, Kiel
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 22. Januar 2023, Titelbild: Arina Nâbereshneva, Submissive Chain Swallowing Artist, Rechte bei der Künstlerin.)