Eine unerzählte Geschichte

Die Staatssekretär:innen der demokratischen DDR

„Strukturell hätte es kaum besser laufen können. Eine friedliche Revolution puscht die kommunistische Herrschaft weg, ein Runder Tisch mit den Übergangsverhandlungen hin zu einer wirklich freien Wahl, denn wir konnten von der nicht demokratisch gewählten Volkskammer ja nicht erwarten, dass diese ein demokratisches Wahl- und Parteiengesetz macht. Das musste ausgehandelt werden. Und dann die freie Wahl mit einem frei gewählten Parlament, einer frei gewählten Regierung, die die Einheit verhandeln konnte, weil die Mehrheit der Ostdeutschen dies wollte. In diesem Sinne lief alles wunderbar. Es wurde eine verhandelte deutsche Einheit. Nur darüber kann man nichts lesen. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen dieses Narrativ schon einmal irgendwo gelesen hat. Ich behaupte nein.“ (Markus Meckel, Die verhandelte Einheit, in: Demokratischer Salon Oktober 2023)

Es ist an der Zeit, die lange Geschichte der Demokrat:innen in der DDR und die kurze Geschichte der demokratischen Regierung des Jahres 1990 zu erzählen. Es gab im Grunde zwei Modelle, die mit den Daten des 4. Juni und des 9. Oktober 1989 verbunden sind. Am 4. Juni 1989 ließ Deng Xiaoping die Protestierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing niederschießen, am 4. Juni 1989 fand die erste weitgehend freie Wahl in Polen statt, die dazu führte, dass mit Tadeusz Mazowiecki der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident ins Amt kam. Das polnische Vorbild – ich nenne es einfach einmal so – setzte sich durch, auch dank Michail Gorbatschow, weil die SED-Führung am 9. Oktober 1989, zwei Tage nach dem 40. Staatsjubiläum, nicht schießen ließ. Dieser Kontext wird aber nur selten erzählt. Ebenso wenig erzählt wird die Geschichte, in der die am 18. März 1990 gewählte Regierung der jungen Demokratie in der DDR in wenigen Monaten mit der westdeutschen Bundesregierung die Deutsche Einheit verhandelte.

„Die unbekannten Politikverhandler“

Markus Meckel, Außenminister der demokratischen DDR-Regierung von März bis August 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990 bis 2009, hat am 26. September 2023 in einer Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auf diese unerzählte Geschichte der Deutschen Einheit verwiesen. Sein Vortrag ist in einer erweiterten Form im Demokratischen Salon nachlesbar. Es sei eben nicht so gewesen, dass da jemand gekommen wäre – namentlich Bundeskanzler Helmut Kohl –, der die Einheit gemacht habe. Die Geschichtsschreibung und die deutsche Erinnerungskultur ignorierten jedoch die Leistungen der Ostdeutschen, der friedlichen Revolution sowie der demokratischen DDR-Regierung, die nach den Wahlen vom 18. März 1990 bis zum Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 die Einheit mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland aushandelte. Es habe eine verhandelte Einheit gegeben, ungeachtet der Tatsache, dass viele Anliegen der Ostdeutschen beziehungsweise der demokratischen DDR-Regierung nicht oder nur unzureichend berücksichtigt wurden.

Ein Hintergrund der oben genannten Veranstaltung der Bundesstiftung Aufarbeitung war das Buch „Die unbekannten Politikverhandler im Umbruch Europas – Zeitzeugeninterviews mit ausgewählten Staatssekretären der letzten DDR-Regierung 1990“. Herausgegeben wurde das Buch von Katharina Kunter und Johannes Paulmann. Es erschien 2023 in Göttingen bei Vandenhock & Ruprecht. Katharina Kunter, Professorin für Kirchliche Zeitgeschichte / Contemporary Church History an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki, hat sich unter anderem mit den „Evangelischen Kirchen in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus 1980-1993“ und den „Kirchen im KSZE-Prozess 1968-1978“ befasst. Johannes Paulmann ist Direktor des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Er ist Ko-Herausgeber mehrerer Bücher unter anderem zur „Kulturellen Souveränität“, zu „Vorherrschaft und Fortschrittsglaube“ in verschiedenen Dekaden des 19. und 20. Jahrhunderts.

Für das Buch „Die unbekannten Politikverhandler“ hat Katharina Kunter fünf Staatssekretär:innen der demokratischen DDR-Regierung als Zeitzeug:innen interviewt: Almuth Berger (Demokratie Jetzt, SPD, Staatssekretärin für Ausländerfragen), Helmut Domke (Parteilos, dann SPD, Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, der kurze Zeit nach dem Interview starb), Petra Erler (SPD, Staatssekretärin für Europafragen), Helga Kreft, (CDU, Staatssekretärin im Familien- und Frauenministerium), Hans Misselwitz (SPD, Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten). Der Band enthält im Anhang eine Übersicht der 60 Staatssekretär:innen der demokratischen DDR-Regierung einschließlich der damaligen und heutigen Parteimitgliedschaften. Der Übersicht folgt ein Briefwechsel von Markus Meckel und Rainer Eppelmann auf dem Briefkopf der Bundesstiftung Aufarbeitung mit dem Kanzleramt. Angeschrieben war die Bundeskanzlerin, es antwortete Kanzleramtsministerin Helge Braun. Dessen Antwort belegt die – vorsichtig gesprochen – mehr oder weniger gewollten Missdeutungen von Seiten der Bundesregierung oder vielleicht auch einfach die mangelnde Beschäftigung mit diesem grundlegenden Teil der deutschen Geschichte.

Markus Meckel und Rainer Eppelmann wenden sich in ihrem Brief gegen die verbreitete Auffassung, „dass der Beitrag (der Ostdeutschen) zur deutschen Einheit mit ihrem Freiheitswillen und dem Mauerfall endete“. Sie kommen zu dem Schluss: „Entgegen vielfältiger Interpretationen hatte die letzte und einzig demokratisch legitimierte DDR-Regierung die gleiche demokratische Legitimation wie die Regierung der Bundesrepublik“. Sie kritisieren, dass die Staatssekretär:innen der demokratischen DDR-Regierung „den Regierungsmitgliedern jeder anderen deutschen Bundes- oder Landesregierung nicht gleichgestellt“ seien. Sie erhalten beispielsweise keine Pension. Dies sei als „eine Aberkennung ihres Mandats als demokratisch legitimierte Mitglieder der DDR-Regierung“ zu werten. Helge Braun antwortet kurz und formal mit Verweis auf eine „Härtefallkommission unter Leitung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziale (sic!). Im Übrigen referiert er die rechtliche Grundlage der von Markus Meckel und Rainer Eppelmann angesprochenen Regelung.

In ihrem Vorwort betont Katharina Kunter die Lautlosigkeit des Wechsels im Jahr 1990 und die Macht der Bilder vom 9. November 1989 und vom 3. Oktober 1990. Die „Arbeit und die Erfolge der letzten DDR-Regierung“, die als einzige Regierung der DDR die im Staatsnamen enthaltene Bezeichnung „demokratisch“ verdiente, „wurden jedoch nicht nur auf ostdeutscher Seite ausgeblendet. Es passte zugleich auch bestens in das aggressiv öffentlich vertretene westdeutsche Deutungsschema, nach dem sich wahlweise der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl oder der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble für die eigentlichen und alleinigen Macher und Motoren der deutschen Einheit hielten.“ Als die sie sich dank medialer Unterstützung auch erfolgreich inszenieren konnten.

Die Minister:innen und Staatsekretär:innen der demokratischen DDR-Regierung hatten einen schweren Stand, denn niemand von ihnen hatte Regierungserfahrung. „Keiner der interviewten Staatssekretäre hatte zuvor in einer Behörde gearbeitet, neben der Einarbeitung in ihre Fachthemen mussten sie also auch schnellstens lernen, wie ein Verwaltungsapparat funktioniert. Das gelang erstaunlich rasch. Im Trubel der fünfeinhalb Monate war aber kaum Zeit für geordnete Verwaltungsabläufe. Vieles musste schnell und spontan per Absprache geklärt werden, für ausführliche Schriftwechsel war selten Zeit.“ Dies wirkte sich auch auf die Quellenlage aus, das Bundesarchiv enthält zwar einen „Großteil der Akten der DDR-Minister und Ministerien“, aber nur wenige Dokumente der Fachreferate. Einige Akten lagern im Archiv der Bundesstiftung Aufarbeitung. Es bleibt somit die Rekonstruktion von Abläufen über Gespräche mit Zeitzeug:innen. Eben dies ist auch das Verdienst des Buches von Katharina Kunter und Johannes Paulmann.

Hans Misselwitz. Foto: Elke Schöps. Bundesarchiv 183-1990-0328-329. Wikimedia Commons.

Hans Misselwitz, Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, berichtet, dass bereits am 17. Juni 1990 die DDR-Verfassung so geändert wurde, dass die Währungsunion und der weitere Einigungsprozess möglich wurden. Er widerspricht denjenigen, die diesen Prozess ausschließlich skeptisch beurteilen: „Dieser ganze Nicht-Identifikations-Ansatz mit der deutschen Einheit, der widerlegt sich durch diesen enorm wichtigen Prozess einer demokratisch legitimierten DDR.“  Hans Misselwitz spricht von „eine(r) überwältigende(n) Mobilisierung in Richtung Einheit, auch durch großen Einsatz westdeutscher Politiker.“ Diesem Tempo mussten sich die Politiker:innen der jungen sich demokratisierenden DDR anpassen, bereits vor der Wahl. Am 12. Februar 1990 kam Helmut Kohl aus Moskau mit der Botschaft, der Weg zur Einheit sei frei: „Nachdem die Bundesrepublik, also Kohl, Mitte Februar sagte, dass es vor den nächsten Wahlen gar kein Geld und keine Unterstützung gibt, sondern erst, wenn es eine Regierung gibt, die dann auch mit ihnen in Richtung deutsche Einheit kooperiert, da waren die Messen gesungen.“

Es wurden zwar auf Initiative der SPD am Runden Tisch Vorschläge für eine neue gemeinsame Verfassung erarbeitet, doch war auch sehr schnell klar, dass nicht Art. 146 GG, sondern Art. 23 GG bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten angewandt werden sollte. Markus Meckel hat im September 2023 vorgeschlagen, den Artikel 146 GG zu streichen, um auf diese Weise die Vorläufigkeit des Grundgesetzes zu beenden und es offiziell zur dauerhaften Verfassung zu erklären. Damit würden wir uns als Deutsche vergewissern, dass das Grundgesetz eine hervorragende Grundlage unserer Gesellschaft ist, auf Dauer! Dies wäre auch ein wichtiges Signal gegen die Feinde der Demokratie. Sie sind laut, aber sie sind nicht die Mehrheit.“

Gesellschaftspolitik

Das Tempo der Verhandlungen über die deutsche Einheit war auch Thema des Gesprächs von Katharina Kunter mit Helga Kreft, Staatssekretärin im Familien- und Frauenministerium: „Mir saßen erstmal überwiegend Männer gegenüber, die der Meinung waren, dass wir zu dem starken Land gehören möchten und Bittsteller seien. Sachlich sollte nicht argumentiert werden und auf lange Diskussionen mit mir wollten sie sich auch nicht einlassen.“ Ein großes Problem war natürlich auch die Tatsache, „dass wir nur sehr, sehr kurz Zeit und ein ziemliches Tempo hatten bis zur Wiedervereinigung.“

Dieses Tempo wirkte sich auf die Weiterführung verschiedener sozialer Errungenschaften der DDR aus. Dabei stellte sich heraus, dass es im Westen kaum Vorstellungen gab, was beispielsweise kostenlose Kinderbetreuung und staatlich garantierte Unterhaltsansprüche bedeuten. Helga Kreft sagt, im Westen habe jede Sensibilität für die Lebensverhältnisse alleinerziehender Frauen mit Kindern gefehlt. Sie selbst war zwei Mal geschieden und hatte drei Kinder und Pflegekinder. Als sie sich für die Beibehaltung der Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen über zwölf Stunden einsetzte, wie es in der DDR üblich war, warfen ihr Frauen aus dem Juristinnenbund vor, dies wäre für die Kinder doch „mörderisch“. Die Berufstätigkeit von Frauen mit Kindern wurde im Westen sowohl von Regierungsseite wie von der Seite der Nicht-Regierungsorganisationen nicht als Normalfall vorausgesetzt. Die CDU, der Helga Kreft angehörte, hatte im Jahr 1990 noch nicht ihren Frieden mit Kindertagesbetreuung und Ganztagsschulen gemacht. Dies erreichten im Westen erst Ursula von der Leyen als Familienministerin und Jürgen Rüttgers als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident in den 2000er Jahren. Selbst heute gibt es von konservativer Seite noch Vorbehalte gegen die Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Ganztagsschulen, auch im Jahr 2023 darf man die Öffnungszeiten von Kindertageseinrichtungen und Ganztagsschulen zumindest im Westen als defizitär bezeichnen, trotz Rechtsanspruch.

Ein weiterer kritischer Punkt war die Zahlungsdauer nach Unterhaltsvorschussgesetz. Erst Manuela Schwesig setzte nach 27 Jahren in ihrer Zeit als Bundesfamilienministerin diesen im Einigungsvertrag offen gebliebenen Punkt um, sodass die Zahlungen bis zum 18. Lebensjahr und nicht nur bis zum sechsten ermöglicht wurden.

Almuth Berger, Foto: Der wahre Jakob. Wikimedia Commons.

Almuth Berger war Ausländerbeauftragte der demokratischen DDR-Regierung. Ab 1991 war sie Ausländerbeauftragte in Brandenburg im Amt der Sozialministerin Regine Hildebrandt. Sie nennt im Gespräch mit Katharina Kunter die Dissense zwischen den beiden Regierungen: „Wir hatten die Vorstellung, dass ein solches Gesetz sehr viel mehr über Integration beinhalten sollte und Rechte, die möglich wären (….). All diese Dinge konnten wir nicht umsetzen.“ Im Hinblick auf die Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam, Mosambik, Angola und Kuba war die DDR-Regierung nur bedingt handlungsfähig. Es stellte sich heraus, dass die Vietnames:innen in der DDR einen Teil ihres Lohnes als Spende zum Aufbau ihres Heimatlandes abführen mussten. Für die Arbeiter:innen aus Mosambik sollte ein Teil des Lohnes auf ein Konto im Heimatland eingezahlt werden. Dieses Geld hat jedoch nach der Rückkehr niemand erhalten: „Seit 1992 ungefähr demonstrieren an jedem Mittwoch in der Woche Menschen wegen dieser Leistungen in Maputo und in anderen Städten in Mosambik.“

Der einzige nennenswerte größere migrationspolitische Erfolg war der Beschluss der Volkskammer, Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion die Einwanderung nach Deutschland zu ermöglichen. Ohne diese Initiative wäre die Vielfalt des heutigen jüdischen Gemeindelebens in Deutschland nicht denkbar. Die westdeutsche Bundesregierung versuchte dies zu verhindern, aber es gelang ihr nicht. Wolfgang Schäuble nannte 1991 jedoch die Bundesregierung als die Urheberin dieser Einwanderung, indem sie die für die vietnamesischen Bootflüchtlinge geschaffene Regelung der „Kontingentflüchtlinge“ anwandte. Markus Meckel hat die Hintergründe und die Vorgeschichte in seinem Vortrag vom 26. September 2023 ausführlich beschrieben.

Geradezu respektlos war der Umgang zwischen West und Ost mit nahendem 3. Oktober. Almuth Berger berichtet, ein oder zwei Tage vor dem 3. Oktober 1990 „erschien dann die Bundesbeauftragte für Ausländer, damals Frau Funcke, bei uns im Büro und erklärte sehr freundlich, aber sehr deutlich, dass wir ja nun ein Deutschland sind und natürlich kann es da nur eine Bundesbeauftragte für Ausländer geben.“

Außenpolitik

Grabstätte Helmut Domke. Foto: Bernhard Diener. Wikmedia Commons.

Helmut Domke, der im Mai 2021 kurze Zeit nach dem Interview starb, war im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten für die Beziehungen zu den internationalen Organisationen, für die Beziehung zu Israel, zur Sowjetunion und die deutsch-polnische Grenze zuständig. Er nennt den grundlegenden Konflikt: „Die Außenpolitik für uns, die DDR-Bürger, sollte immer noch in Berlin gemacht werden und nicht in Bonn“. Die ausdrückliche Nicht-Beteiligung der DDR-Regierung an den Verhandlungen zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte jedoch zeigte, dass hier ausschließlich die West-Regierung handelte.

Helmut Domke berichtet von der „letzten Phase der Außenpolitik der DDR, der Teilnahme an der KSZE-Außenministerkonferenz in New York am 1. und 2. Oktober 1990“. Die DDR-Regierung war bis zum Schluss präsent. „Wir haben nicht im Unterseeboot gesessen und die Erklärung entgegengenommen, sondern wir haben gleichberechtigt am Tisch gesessen in New York.“ Die DDR wurde – das war ein Erfolg der 2+4-Verhandlungen – die erste kernwaffenfreie Zone in Europa. Helmut Domke verweist aber auch darauf, dass die Lagerung von nuklearen Sprengköpfen in Büchel und die Bereitstellung von entsprechenden Flugzeugen durch die Bundesregierung „ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht, nämlich gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag und den Verzicht zur Verfügungsgewalt über Atomwaffen“ sei. Er stellt fest, „dass mit dem Jahr 1990 der Kalte Krieg eigentlich nicht beendet war.“ Er zitiert den damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush: „Zur Hölle damit, wir haben die Oberhand. Wir können doch nicht zulassen, dass die Sowjets ihre Niederlage in einen Sieg verwandeln.“

Petra Erler © Bundesstifung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Petra Erler, zuständig für Europa, zunächst im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, dann nach dem Rückzug der SPD aus der Regierung im August 1990 im Amt des Ministerpräsidenten, berichtet von der offenen Aufnahme, beispielsweise in der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin nach dem Mauerfall. Sie war dort die erste Besucherin aus der DDR. Positiv bewertet sie auch die Unterstützung des damaligen deutschen EU-Kommissars Martin Bangemann sowie des damaligen Kanzleramtsministers Lutz Stavenhagen. Andererseits gab es auch Vorbehalte. Im Rahmen der irischen Präsidentschaft wurde die DDR-Delegation von den Iren erst einmal gefragt, ob sie das, was sie vortrug, „mit Herrn Genscher besprochen“ habe. Es gab eine Pause, nach der es aber im positiven Sinne weiterging. Möglicherweise hatte die irische Regierung sogar in Bonn nachgefragt, um sicherzugehen. Dies ist jedoch nur ein Verdacht, angesichts der Frage jedoch nicht unbegründet. Vieles war auch unbekannt, so beispielsweise wussten weder sie noch ihr Minister Markus Meckel, dass es von Seiten der DDR „Geheimverträge“ mit der EU gab. Diese Information erhielten sie von einem Juristen des Ministeriums erst einen Tag vor der Abgabefrist der bestehenden Verträge der DDR an die Europäische Kommission.

Petra Erler stellt letztlich fest, „dass Westeuropa keine blasse Vorstellung hat, was Systemtransformation bedeutet.“ Es fehlte wohl jedes Gespür für die Bedeutung des EU-Beitritts der Länder Osteuropas im Jahr 2004, die diesen Beitritt wollten. Die USA waren zunächst skeptisch. Madeleine Albright reiste – dies berichtet Markus Meckel – nach Protesten aus Prag und Warschau nach Europa, um dann ihre ursprüngliche Haltung aufzugeben. Petra Erler berichtet, dass bei den Teilnehmenden der osteuropäischen Länder beim Vollzug des Beitritts Tränen flossen, jedoch keinerlei Bewegung bei den Ländern westlich der Elbe.

Sie beklagt schließlich, dass die Debatten um die DDR immer wieder auf den Begriff „Unrechtsstaat“ reduziert werden. „Ich war nicht Teil eines Unrechtstaates oder einer Regierung eines Unrechtsstaates. Wir hatten uns geändert. Wir hatten den Mauerfall. Wir hatten Demokratisierungsprozesse. Wir hatten den Runden Tisch, der eine Verfassung erarbeitet hat.“

Ein kurzes Fazit und eine rabbinische Geschichte

Erzählungen, die einander ergänzen könnten und sollten, konkurrieren. Das Ergebnis ist Ent-Fernung. Ost und West werden sich mit der Zeit fremder und die andere Seite wird als „fremd“ markiert. Dabei werden Ost- und Westdeutsche pauschal einer Gruppe zugerechnet, sodass die Vielfalt der verschiedenen Wirklichkeiten in den Erzählungen verblasst. Zahlen, Sachargumente, umfangreiche Berichte, all diese helfen wenig, wenn Gefühle dominieren, vor allem solche, die Menschen, die eine andere Erzählung bevorzugen als die eigene, grundsätzlich in Frage stellen. Steffen Mau spricht in diesen Zusammenhängen von „Affektpolitik“, eine Disziplin, die die demokratischen Parteien – zumindest den Wahlergebnissen nach – nicht sonderlich gut beherrschen. Letztlich fehlt wohl auch die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen. Es ist eben so einfach, die anti-demokratischen Tendenzen im jeweilig anderen Teil Deutschlands zu verorten. Und da kommt es ganz gut zupass, dass man über die Geschichte der demokratischen DDR-Regierung samt ihrer Vorgeschichte schlichtweg ignoriert und verdrängt.

In einer solchen schwierigen Debatte helfen vielleicht Geschichten aus einer anderen Welt, gefühlte Wirklichkeiten zu hinterfragen und Widersprüche aufzulösen. Eine rabbinische Geschichte von Ahron Daum (zitiert nach Alexander Nachama, Einander die Hand reichen, in: Jüdische Allgemeine 14. September 2023) mag vielleicht zeigen, wie sich diese „Fremdheiten“ auflösen ließen: „Ein Rabbiner sagte einst zu seinen Schülern: ‚Wir sind so weit von dem entfernt, wo Gott uns haben möchte, wie der Osten vom Westen.‘ Diese Bemerkung regte die Schüler zum Nachdenken an. Darauf fragt der Rabbiner sie: ‚Wie weit ist der Osten eigentlich vom Westen entfernt?‘ Ein Schüler meldete sich sofort und meint: ‚11.000 Meilen, das habe ich gerade in einem Buch gelesen.‘ Der Rabbiner antwortete: ‚Nein das ist falsch.‘ Ein anderer Schüler meldete sich und sagte: ‚22.000 Meilen. Das ist der Umfang der Erde.‘ Der Rabbiner antwortete: ‚Nein, das ist ebenfalls falsch. Die Entfernung vom Osten zum Westen beträgt einen Schritt. Man blickt nach Osten – macht einen Schritt, dreht sich um – und blickt nach Westen.‘“ Machen Sie die Probe: es funktioniert in beide Richtungen!

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2023, Internetzugriffe zuletzt am 20. Oktober 2023. Titelbild: Foto: Ralph Hirschberger. Bundesarchiv 183-1989-1109-014. Wikimedia Commons.)