Fetisch Identität
Zur Legitimation von Macht und Gewalt
„Die Frage, die viele Endzeiterzählungen aufwerfen, lautet: Was ist der Mensch in der Entgrenzung? Die Antwort ist – wie sollte es anders sein – nicht eindeutig. Die meisten Menschen werden, so sehen es die Erzählungen, in Panik verfallen und mit äußerstem Egoismus reagieren. Gewalt wird zum Mittel der Wahl.“ (Ingo Reuter: Weltuntergänge – Vom Sinn der Endzeit-Erzählungen, Stuttgart, Reclam, 2020)
Deutsche Cineast*innen lieben martialische Film- und Buchtitel. Anders wäre kaum erklärbar, warum ein Film mit dem eher an ein friedliches, vielleicht etwas dekadentes Genrebild erinnernden italienischen Originaltitel „Gruppo di famiglia in un interno“ (Luchino Visconti 1974) in den deutschen Kinos mit dem Titel „Gewalt und Leidenschaft“ (1979) gezeigt wurde. Vielleicht wollten die Kinobetreiber*innen ein Publikum gewinnen, das sich sonst eher für martialische Mantel- und Degen-Filme, Spaghetti-Western oder Kung-Fu- und Piratenfilme interessierte. Eine „Familienaufstellung in Intérieur“ hätte diese Zielgruppen nicht erreicht.
Aber auch Spaghetti-Western brauchten damals etwas mehr Pepp im Titel. Der durch seine beiden Hauptdarsteller Bud Spencer und Terence Hill populäre Film „…continuavono chiamarlo Trinità“ (Enzo Barboni 1971) wurde in der westdeutschen Fassung zu „Vier Fäuste für ein Halleluja“. Der Originaltitel wäre im Deutschen unverständlich gewesen: „…weiterhin nannten sie ihn ‚Dreifaltigkeit‘“. Immerhin: der Titel der DDR-Fassung dieses Films hatte Understatement: „Der Kleine und der müde Joe“.
Ein drittes Beispiel aus dem Jahr 1968: „Once Upon A Time In The West“ von Sergio Leone. Was im amerikanischen Titel wie ein Märchen klingt, wird im deutschen Titel recht morbid und verspricht Mord und Totschlag: „Spiel mir das Lied vom Tod“.
Reale Gewalt – gut versteckt
Violence sells, auch heute. Die Titel sind nicht mehr so martialisch, aber „The Avengers“, „Star Wars“, „Lord of the Rings“ müssen die darin enthaltenen Gewalttaten nicht im Titel ankündigen. Da sind die „Guten“, da sind die „Bösen“, alles schön sauber erkennbar. Die einen wollen das Verderben der Welt, die anderen retten sie, wenn auch mitunter – wie bei „The Avengers“ oder „X-Men“ mit großen Opfern, Wiedergeburten in einer Neuaufnahme nicht ausgeschlossen.
Wie gesagt: Violence sells, aber eben nur in der Fiktion. In der Realität sieht dies anders aus. Verleger*innen nehmen Rücksicht auf ihr empfindsames Publikum, vor allem in Sachbüchern zur politischen Lage. Dort ist zwar zurzeit viel von „Ende“, „Tod“ und „Sterben“ der Demokratie die Rede, mit der das mehr oder weniger kundige Publikum jedoch nicht unbedingt konkrete Schicksale verbindet. Das Sterben bleibt abstrakt. Klingt endgültig, aber verhinderbar. Alle Leser*innen können doch irgendwie in ihrer liberalen Komfortzone verweilen.
Aber „Gewalt“, „Lüge“, „Ressentiment“ im Titel? Das klingt sehr bedrohlich, das könnte jede*n Einzelne*n gefährden und da viele potenzielle Kund*innen der Verlage glauben, die aktuellen Konflikte dieser Welt ließen sich vielleicht in einer Art Streitschlichtungsseminar lösen, gehört das nicht in den Titel! Der sollte versöhnlicher klingen und gewaltsame Konflikte abmoderieren. Drei Beispiele:
- Amartya Sen veröffentlichte 2006 in London bei W.W.Norton & Company „Identity and Violence – The Illusion of Destiny“. Von Gewalt und schicksalhafter Bestimmung ist in der ein Jahr später bei C.H. Beck erschienenen deutschen Übersetzung nichts zu finden. Der deutsche Titel „Die Identitätsfalle – Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ verkehrt die Intentionen des Buches in ihr Gegenteil.
- Ähnlich verhält es sich mit dem 2019 bei Hanser veröffentlichten Buch „Identitäten – Die Fiktionen der Zugehörigkeit“ von Kwame Anthony Appiah. Der englische Originaltitel von 2018: „The Lies that Bind – Rethinking Identity“. „Fiktion“ klingt recht unverbindlich, geradezu wertfrei, da wären „Lügen“ schon fast so etwas wie eine Vorverurteilung all dessen, was sich mit „Identität“ assoziieren ließe. Wer lässt sich schon als Opfer eine Lüge kritisieren, oder sogar selbst als Lügner*in?
- Ein dritter Begriff, der in deutschen Buchtiteln nicht gerne gelesen wird, ist der des „Ressentiments“, englisch: „Resentment“. Francis Fukuyama veröffentlichte 2018 in New York das Buch „Identity – The Demand for Dignity and the Politics of Resentment“. Der 2019 in Hamburg bei Hoffmann und Campe erschienene deutsche Titel vermeidet eine Übersetzung von „Resentment“: „Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“.
Drei verschiedene Verlage, drei Titel zum Thema „Identität“, und alle drei vermeiden Begriffe, die „Identität“ in ein schlechtes Licht rücken könnten: der Begriff der „Identität“ soll offenbar positiv konnotiert werden.
Der Grund für eine solche Zurückhaltung könnte in der Alltagssprache liegen. „Identität“ wird dort in der Regel positiv verwendet. Gelobt werden Menschen, die eine „gestandene Persönlichkeit“ darstellen. Selbstzweifel sind unbeliebt. Wer seine Meinung ändert, verliert Anerkennung, gilt als wankelmütig, unentschlossen, unzuverlässig, als Weichling. „Ein Mann ein Wort“ – das ist das Bild, das viele Männer von sich und ihren Freunden pflegen möchten. Männer, die so über sich reden, bezeichnen Frauen, vor allem ihre (Possessivpronomen!) in ihren Witzen gerne als „redselig“ und „geschwätzig“.
In diesem überwiegend männlichen Sprachgebrauch ist „Identität“ nicht nur ein Begriff der Wohlfühlpropaganda, sondern auch ein Kampfbegriff. Es ist kein Zufall, dass diejenigen, die den Begriff der „Identität“ als Kampfbegriff verwenden, oft gleichermaßen frauenfeindliche und rassistische Stereotype verbreiten, stets im Namen „ihrer Identität“, „ihrer Kultur“, diese in den meisten europäischen Ländern gerne als „abendländisch“ und „christlich“ bezeichnet, oder der „Natur“. „Natur“ signalisiert Universalität, Allgemeingültigkeit, „Kultur“ spaltet die Welt in Fraktionen, die einander bekämpfen, die einen, weil sie der „Natur“ entsprechen, die anderen, weil sie dies nicht tun. „Kultur“ und „Natur“ werden gleichwohl oft genug wie Synonyme verwendet. Der eigentlich auf ein einzelnes Individuum bezogene Begriff der „Identität“ bezeichnet in der Verbindung mit „Kultur“ und „Natur“ den von einer mit Macht versehenen Gruppe propagierten Zustand ihres (Possessivpronomen!) Kollektivs, beispielsweise „die Männer“, „das Volk“, „die Nation“.
„Kultur“ ist in Deutschland schon seit längerer Zeit zu einem Kampfbegriff geworden. Mit den „schönen Künsten“ hat der Begriff kaum noch etwas gemein. Diese Entwicklung illustriert die deutsche Rezeption des Klassikers von Samuel Huntington (1927-2008) „Der Kampf der Kulturen – Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“ (München, Goldmann, 1998). Der englische Originaltitel (1996 bei Simon & Schuster) verwendet einen anderen Begriff: „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“. Die deutsche Übersetzung betont die Dynamik des Kampfbegriffs im Vergleich zur unmittelbaren Dramatik des „Clash“, des Zusammenpralls. Das Ergebnis eines „Kampfes“ steht noch nicht fest, das eines „Clash“ sehr wohl. Also, liebe Deutsche, bleibt wachsam! Es ist nicht mit einem einzigen Knall vorbei. Hier wagte der Verlag etwas: Gewalt wurde zumindest impliziert, allerdings bezogen auf eine wie auch immer verstandene „Kultur“ der Anderen, der Fremden, der Muslime. Die „Identität“ der Leser*innen wurde nicht in Frage gestellt.
Es geht mir in diesem Essay nicht um die Frage, wie Samuel Huntington seine These vom „Clash of Civilizations“ verstanden wissen wollte, sondern um die von ihm zumindest in Kauf genommene polarisierende Wirkung. Amartya Sen sieht den Kern all solcher Debatten um das, was „Identity“ ausmacht, in der Stereotypisierung, und führt damit die Begriffe der „Kultur“ und der „Identität“ wieder zusammen. Er versteht Huntingtons These als „eine parasitäre Weiterführung des Hauptgedankens, die Welt in unterschiedliche Kulturen einzuteilen, die sich zufällig an religiösen Trennlinien orientieren, denen singuläre Beachtung zuteil wird. (…) Die angeblich aufeinanderprallenden religiösen Unterschiede sind Bestandteil einer holzschnittartigen Vision, wonach das Weltgeschehen von einer einzigen Konfliktlinie beherrscht ist.“ Und damit sind wir beim Kern der Entstehung von Gewalt, als deren Ausgangspunkt immer wieder die Behauptung einer unverwechselbaren und in Reinform zu erhaltenden Identität erscheint.
Fünf Kampfbegriffe
Kwame Anthony Appiah dekonstruiert fünf Kampfbegriffe, die gerne verwendet werden, um die eigene Identität von einer anderen abzugrenzen, und die als „Lügen“ entlarvt werden müssen: „Religion“, „Land“, „Hautfarbe“, „Klasse“ und „Kultur“. „Meine Hauptthese zu den fünf Formen von Identität (…) lautet, dass wir mit dem Erbe von Denkweisen leben, die ihre moderne Gestalt im 19. Jahrhundert erhielten, und dass es höchste Zeit ist, sie mit den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu überdenken.“
So sind offenbar die Menschen. Sie „sind Gruppenwesen. Wir gehören nicht einfach zur Menschheit, sondern geben unseren eigenen Leuten den Vorzug und lassen uns leicht dazu überreden, uns gegen Außenstehende zu wenden.“ Die fünf genannten Begriffe werden in Auseinandersetzungen mit anderen als absolute, unverrückbare und unhinterfragbare Wahrheiten verwendet. „Wir Menschen essenzialisieren also eine Gruppe eher, wenn wir negativ über sie denken, und wir denken eher negativ über sie, wenn wir sie essenzialisiert haben. Das ist ein unglückseliger Teufelskreis. (Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal hören, Muslime seien Terroristen.)“
Essenzialisierung funktioniert von oben wie von unten. „Das Klassensystem zu akzeptieren heißt, solche Formen der Selbstherabsetzung als natürlich zu empfinden.“ Kwame Anthony Appiah vergleicht „Klassensysteme“ und „Kastensysteme“. Während von oben ein System der Exklusion und Ausbeutung durch Hautfarbe, Kultur oder Religion implementiert wird, verstehen dieses System akzeptierende Opfer die ihnen zugeschriebene Minderwertigkeit als individuelles, nicht veränderbares Merkmal. Sie dulden ihre untergeordnete Stellung ohne Widerspruch und fragen nicht nach der Berechtigung des dahinterstehenden Systems. Religion und Kultur sind dann keine „Frage des Glaubens“, sondern der „Macht“.
Wer einen Aufstieg innerhalb des Systems erhofft, neigt selten dazu, innerhalb des Systems gegen es zu arbeiten. Kwame Anthony Appiah verweist – ganz im Sinne von Pierre Bourdieu – auf die verschiedenen Formen sozialen und kulturellen Kapitals, die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg verbunden sind und damit das System stabilisieren. Sein Beleg ist ein Klassiker der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts: „Ein wenig abstrakt ausgedrückt, nimmt Jane Eyre ihr soziales Kapital und tauscht es durch Bildung und Erziehung in kulturelles Kapital um: in den Habitus und die körperliche Hexis einer gebildeten Frau ihrer Klasse. (…) Ihre Haltung und ihre Art zu sprechen, ihre Fähigkeit, über Geschichte zu reden oder Klavier zu spielen oder Aquarelle zu malen – all das kennzeichnet ihre Klassenzugehörigkeit und unterschiedet sie von den Hausmädchen und Dienern in ihrer Umgebung wie auch von den auf dem Gut arbeitenden Landarbeitern.“
Charlotte Brontës „Jane Eyre“ erschien 1847, etwa 140 Jahre später erschien „The Remains of the Day“ von Kazuo Ishiguro, im Jahr 1989. Dieser Roman beschrieb eine Gesellschaft der 1930er und 1940er Jahre. In beiden Romanen handeln die in einer untergeordneten Stellung tätigen Hauptpersonen innerhalb des Systems und stellen dessen Berechtigung nicht in Frage. Es gibt individuelle Freiheiten, nicht mehr und nicht weniger. Alle handelnden Menschen haben ihren Platz in der Gesellschaft, sind Beispiele gelungener Anpassung und Assimilation der offiziellen Werte ihrer Welt, eine Geschichte der langen Dauer (Fernand Braudel), die auch heute noch aktuell sein dürfte.
Romantische Intoleranz
Amartya Sen präsentiert seine zentrale Aussage im „Prolog“ seines Buchs: „Die Illusion der Schicksalhaftigkeit insbesondere der einen oder anderen ausschließlichen Identität fördert die Gewalt in der Welt sowohl durch Unterlassungen als auch durch Taten.“ Jeder Mensch muss sich entscheiden, „welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen.“ Wer diese Entscheidung an jemand Drittes, an eine „Kultur“, an ein „Schicksal“ delegiert und leugnet, dass es Alternativen gibt, verrät seine Menschlichkeit: „Der Gewalt wird dagegen Vorschub geleistet, wenn wir die Ansicht hegen, wir müssten unausweichlich eine angeblich einzigartige – oft streitbare – Identität haben, die augenscheinlich weitreichende (und zuweilen höchst unangenehme) Forderungen an uns stellt. Das Auferlegen einer angeblich einzigartigen Identität gehört oft als entscheidender Bestandteil zu der ‚Kampfkunst‘, sektiererische Auseinandersetzungen zu schüren.“
Dies gilt für einzelne Menschen ebenso wie für Kollektive, beispielsweise für eine Gemeinde: „Die wohlintegrierte Gemeinde, deren Bewohner mit großartiger Unmittelbarkeit und Solidarität instinktiv absolut wunderbare Dinge füreinander vollbringen, kann genau dieselbe Gemeinde sein, in der Zuwanderern, die von außerhalb in die Gegend ziehen, die Fensterscheiben eingeworfen werden. Die Not der Exklusion kann unter Umständen Hand in Hand gehen mit den Wohltaten der Inklusion.“ Die Gemeinde agiert als „Herde“, die sich selbst eine bestimmte alle anderen exkludierende und nur für sie zutreffende Identität zuschreibt: „Organisierte Zuschreibung kann den Boden für Verfolgung und Totschlag bereiten.“ Diese Zuschreibung wird dann zur Stabilisierung des eigenen exkludierenden Anspruchs als „Kultur“ verbrämt: „Die kulturelle Theorie kann schlichte Intoleranz fördern.“
Amartya Sen illustriert die Wirkungen einer exkludierenden kollektiven Identität an der Rolle der Religion sowie an Entwicklungen zu Kolonialismus und Multikulturalismus. Gewaltbereitschaft beginnt mit theoretisierenden Verkürzungen, mit Fehlzuschreibungen, die Komplexität reduzieren. Mit Liberalität hat dies nichts zu tun. Amartya Sen: „Es gibt die Fantasie, wonach Identitäten schlicht gewählt werden, als ob wir alle die Freiheit hätten, selbst zu wählen, was wir sein möchten. Doch Identitäten ohne jeden Anspruch wären nutzlos für uns. Identitäten funktionieren nur, weil sie uns, wenn sie uns erst einmal im Griff haben, lenken und wie eine innere Stimme zu uns sprechen.“
Die Vielzahl gleich klingender „innerer Stimmen“ garantiert jedoch nicht die Stabilität des Systems. Dieses ist fragil. „Wer Identitäten zu steuern versucht, der versucht etwas zu steuern, dass sich nicht steuern lässt. Ganz gleich, was Sie tun, immer wieder werden Menschen die von Ihnen gesetzten Grenzen überschreiten.“ Ein System gerät in Gefahr, wenn es Menschen gelingt, sich von Scheinalternativen wie „Globalismus und Patriotismus“ zu befreien. Der emotionale Mehrwert des Bekenntnisses zu einem Land, einer Nation, einer Kultur oder einer Religion, die Überhöhung eines „wir“ gegenüber einem „sie“ lässt sich auflösen, wenn seine Funktion in der Erhaltung des Systems sichtbar gemacht wird. „Der romantische Staat versammelte seine Bürger unter dem zündenden Wahlspruch: ‚Ein Volk!‘ Die Nationalhymne des liberalen Staats lautet dagegen: ‚Wir werden eine Lösung finden.“ Ohne Ausrufezeichen.
„Pluraler Monokulturalismus“
„Multikulturalismus“ ist kein Wert an sich, weder im Guten noch im Schlechten. Entscheidend ist die Bereitschaft, sich mit der jedem Menschen und jeder menschlichen Gruppe oder Gesellschaft eigenen Vielfalt von Charaktereigenschaften, Familien-, Bildungs- und Berufsbiographieen wertschätzend auseinanderzusetzen. Respekt wäre ein erster Schritt.
Das, was in der Regel als „Multikulturalismus“ bezeichnet wird, ist jedoch nach Amartya Sen in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger als „pluraler Monokulturalismus“. Dieser könnte als Ansammlung verschiedener „Völker“ auf einem gemeinsam bewohntem und verwaltetem Gebiet definiert werden. Eine „Nation“ wird in diesem Verständnis zu einer „Ansammlung von abgeschotteten Segmenten (…), in der den Bürgern bestimmte Plätze innerhalb der vorweg bestimmten Segmente zugewiesen werden.“
Die im „pluralen Monokulturalismus“ enthaltene Reduzierung der „Identität“ eines Menschen und einer Gruppe von Menschen auf ein einziges spezifisches Merkmal, beispielsweise auf Religion, Hautfarbe oder die Herkunft der Eltern und Großeltern, verhindert eine offene Gesellschaft. Mitunter werden auch verschiedene Merkmale zu einer Art Cluster des Unheils verbunden, manche ausgeschlossen.
Dann werden eine etwas dunklere Hautfarbe, eine Ein- und Zuwanderungsgeschichte der Familie sowie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion als fest gefügte und unveränderliche Charaktereigenschaften definiert. Exklusion gehört zum Konzept, Muslime werden als grundsätzlich „illiberal“ bezeichnet, Schwarze Menschen mit einem Bild afrikanischer Staaten identifiziert, das sich dann in der Beschimpfung der von dort Zuwandernden als „Wirtschaftsflüchtling“ äußert, und so fort.
Mit dem zugeschriebenen Status als „Wirtschaftsflüchtling“ wird beispielsweise unterstellt, dass die Länder, aus denen sie flohen, nicht in der Lage wären, ein den „westlichen Werten“ entsprechendes Leben zu garantieren. Das heißt dann für jeden einzelnen Flüchtenden: sie wollen nicht, sie können nicht, und daher wollen sie eine Zukunft in den Sozialsystemen des „Westens“ – so der Tenor der Vorwürfe an Ein- und Zugewanderte. Was der „Westen“ dazu beigetragen haben könnte, dass Armut und Ungleichheit herrschen, wird ignoriert und beschwiegen.
Ein solches Verständnis dominiert die Integrationspolitik der meisten „westlichen“ Demokratien. Diese fordern, dass Zu- und Eingewanderte sich entweder in vollem Umfang an die Gebräuche der „Mehrheitsgesellschaft“ anpassen, sich assimilieren. Tun sie dies nicht in ausreichendem Maße, werden sie als nicht dazugehörig, als „Integrationsverweigerer“ kritisiert. Die Definition dessen, was ausreicht, bleibt jedoch immer ungewiss und richtet sich in der Regel nach in der Öffentlichkeit von Politik und Medien verbreiteten Stereotypen.
Haben Ein- und Zugewanderte ein gutes Abitur, bleiben immer noch Hautfarbe oder Religion, um sie aus der herrschenden Gruppenidentität auszuschließen. Reichen die Schulleistungen nicht für einen für Studium oder Ausbildung qualifizierenden Abschluss aus, wird ihnen dies als von ihnen selbst verschuldetes Versäumnis angelastet. Beschwert sich jemand über Diskriminierung, werden Minderleistungen benannt, und wenn das nicht reicht, heißt es, dass die sich diskriminiert Fühlenden sich doch bitte mehr anstrengen und vor allem nicht so empfindlich sein sollten.
Unterstellt wird Ein- und Zugewanderten in der Alltagskommunikation von Politik und Medien – durchaus in populistischer Anlehnung an die berühmte Formel Immanuel Kants vom 5. Dezember 1783 – eine Art „selbstverschuldete Unmündigkeit“, aus der die „Aufklärung“ den Ausweg wiese, die es jedoch in den Herkunftsländern nicht gegeben hätte und die daher nachzuholen wäre. Vor allem die Muslime unter Ein- und Zugewanderten lebten noch im Mittelalter, obwohl es ein islamisches Mittelalter nie gegeben hat. Thomas Bauer hat die Formel vom angeblich islamischen Mittelalter für ähnlich absurd erklärt wie eine Zuordnung der Zeit Karls des Großen zur chinesischen Tang-Dynastie („Warum es kein islamisches Mittelalter gab – Das Erbe der Antike und der Orient, München, C.H. Beck, 2018).
„Wie man es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“ Dieses Sprichwort bewahrheitet sich auch im Umgang mit Anderem, Fremdem. Es hilft aber auch nicht, alles, was irgendwie fremd erscheint, als Bereicherung zu bejubeln. Bereichernd wirken kann nur etwas, mit dem man*frau sich konstruktiv und wertschätzend auseinandersetzt. Insofern kann sich leider selbst manche Äußerung von Vertreter*innen der sogenannten „Critical Whiteness“ als negativer Rassismus erweisen. Aber wie auch immer: letztlich wäre die Beherzigung der Formel eines im sogenannten „Westen“ höchst populären orientalischen und wahrscheinlich eher nicht eindeutig hellhäutigen Gelehrten hilfreich. Dieser forderte, zunächst den „Balken im eigenen Auge“ (Mt 7, 3-5 sowie Lk 6,41-42) zu entfernen.
„Westliche“ Werte?
Wer Gewalt mit einem reduziertem, im Sinne von Amartya Sen „schicksalhaften“ Verständnis der Identität rechtfertigt, befindet sich in der Tat in einer Art „Identitätsfalle“. In diesem Sinne trifft der deutsche Titel des Buches zu. Debatten über das Verständnis des Verhältnisses von Ost und West, Süd und Nord zueinander werden zu einer Art Werte-Ping-Pong. Christliche Werte werden muslimischen gegenübergestellt, westliche demokratische den asiatischen undemokratischen.
Aber wie „westlich“ sind die „westlichen Werte“? Wie „westlich“ ist unsere freiheitliche Demokratie? Amartya Sen zitiert den ehemaligen Premierminister von Singapur Lee Kuan Yew (1923-2015), der sich – wie andere asiatische Politiker*innen auch – auf „asiatische Werte“ berief: „Was Lee und andere in ihren Thesen über asiatische Werte sagen, ist offenbar geprägt von einer reaktiven Art, der Behauptung: des Westens zu begegnen, er sei die natürliche Heimat von Freiheit und Rechten.“ Er und andere, auch manche im Westen aktive Vertreter*innen einer unkritischen Überhöhung alles Fremden schlechthin, sind im Grunde „in einem dialektischen Sinne von Westen besessen.“
Das ist die eine Seite. Die andere ist die Ignoranz im Westen, die alles, was in anderen Regionen dieses Planeten an politischen Modellen erdacht und praktiziert wurde und wird, in einen einzigen Topf wirft. Die Demokratie hat jedoch nicht nur griechische Vorbilder. Ein Vorbild ist die im frühen siebten Jahrhundert in Japan vom Kronprinz Shotoku geforderte 17-Artikel-Verfassung, aus der Amartya Sen zitiert: „Wichtige Entscheidungen sollte nicht eine Person allein treffen. Sie sollten mit vielen diskutiert werden.“
Amartya Sen zitiert Nelson Mandelas Bericht über „Versammlungen in seiner Heimatstadt“: „Es sprach jeder, der sprechen wollte. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form. Unter den Rednern mag es zwar eine Hierarchie geben, was die Bedeutung der einzelnen betrifft, doch wurde jeder angehört, ob Häuptling oder einfacher Mann, Krieger oder Medizinmann, Ladenbesitzer oder Farmer, Landbesitzer oder Arbeiter.“ Dass „Mandela sich am Ende durchsetzte, war ein Sieg der Menschlichkeit – und nicht einer spezifisch europäischen Idee.“
Auch religiöse Toleranz ist kein Monopol des „Westens“. Amartya San verweist auf den indischen Kaiser Aschoka, der sich im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ebenso wie später gegen Ende des 16. Jahrhunderts der Großmogul Akbar für Vielfalt und Toleranz unter den Religionen ausgesprochen hat. Er zitiert Akbar: „Niemand soll wegen seiner Religion beeinträchtigt werden, und es ist jedermann gestattet, zu der Religion zu wechseln, die ihm gefällt.“ In der Zeit Akbars „wütete in weiten Teilen Europas die Inquisition, und Ketzer wurde noch immer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
Fazit: „Die westliche Welt hat kein Eigentumsrecht an demokratischen Ideen.“ Insofern ist es Unsinn, eine westliche demokratische mit einer östlichen undemokratischen, sprich: despotischen „Kultur“ zu konfrontieren. Viele asiatische und afrikanische Intellektuelle besuchten europäische Universitäten. Manche wurden nach ihrer Rückkehr zu Despoten, andere zu Demokraten und Freiheitskämpfern. Beides könnte aus europäischem, sprich „westlichem“ Geist, abgeleitet werden, beides gibt es aber auch völlig unabhängig von diesem Geist.
Was für Demokratie und Religionsfreiheit gilt, gilt auch in den Naturwissenschaften. Die „westliche Welt“ hat keinerlei Copyright auf medizinische und naturwissenschaftliche Errungenschaften, auch wenn die Lehrbücher in den Schulen etwas anderes behaupten. Im Englischunterricht lernten Generationen von Schüler*innen in Deutschland, wie Edward Jenner die Pocken besiegte, obwohl er nur popularisierte, was ein Schwarzer Sklave, dessen wahren Namen heute niemand mehr kennt, wusste.
Alex de Waal, ein britischer Sozialanthropologe, der unter anderem über den Umgang mit HIV/AIDS geschrieben hatte, erzählt in seinem Essay „Pathogen und Politik“ (Lettre International Sommer 2020, englischer Originaltext 2020 erschienen in Boston Review) die vollständige Geschichte: „Ein versklavter Afroamerikaner, der Geschichte nur als ‚Onesimus‘ bekannt, der vertraut war mit der verbreiteten afrikanischen Praxis, Gewebe aus den Pusteln von Pockenpatienten bei gesunden Individuen zu injizieren, um so eine harmlos verlaufende Form der Krankheit hervorzurufen, machte die Siedler von Massachusetts im frühen 18. Jahrhundert mit dieser Praxis bekannt. Die Wirksamkeit war so überzeugend, dass George Washington seine Soldaten en masse impfen ließ. 1798 wurde das Verfahren von dem englischen Arzt Edward Jenner in der Form der Impfung mit Kuhpocken übernommen.“
„Rechtleitung“ und „Ambiguitätstoleranz“
Besonders attraktiv ist es in den „westlichen“ Demokratien, den Islam in Gänze zu einer antidemokratischen und illiberalen Religion zu erklären. Es gibt jedoch nur wenige Begriffe, die so falsch rezipiert werden wie der Begriff der „Scharia“. Sobald dieser Begriff von jemandem als Grundlage seines Denkens genannt wird, denken viele im „Westen“ an Burka, Zwangsheirat, Steinigungen, Handabhacken und Alkoholverbot. Ähnlich ist es mit dem Begriff des „Djihad“, der allgemein als „heiliger Krieg“ verstanden wird, obwohl es eigentlich um „(geistige und moralische) Anstrengung“ geht.
„Islam und Menschenrechte“ sind kein „Widerspruch“. Waqar Tariq schreibt in dem von Lamya Kaddor herausgegebenen Sammelband „Muslimisch und liberal – Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht“ (München, Piper, 2020): „Offensichtlich ist der Koran also kein juristisches Gesetzbuch, sondern hauptsächlich ein Buch der spirituellen und ethischen Rechtleitung. (…) Die Scharia (im weiten Sinne) ist ein hochgradig komplexes System der islamischen Normenlehre, mit dem Menschenrechte begründet oder auch abgelehnt werden können. Entscheidend ist die Methodik des jeweiligen Interpreten.“
Gefährlich wird es, wenn religiöse Texte zu politischen Instrumenten werden. Dann wird aus dem persönlichen Streben nach Erkenntnis und „Rechtleitung“ ein politisches Programm, das Spielräume der Interpretation einengt statt sie zu fördern. Amartya Sen: „Ein Muslim kann ohne weiteres eine intolerante Haltung gegenüber der Heterodoxie einnehmen und ein anderer eine tolerante, ohne dass der eine oder der andere deshalb aufhört, ein Muslim zu sein. Das liegt nicht nur daran, dass die Idee der ijtehad, der Auslegung der religiösen Quellen, einen beträchtlichen Spielraum innerhalb des Islam zulässt, sondern auch daran, dass der einzelne Muslim große Freiheit hat, selbst zu bestimmen, welche sonstigen Werte und Prioritäten er wählt, ohne den grundlegenden islamischen Glauben in Frage zu stellen.“
Thomas Bauer hat diese Seite des Islams in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams“ (Berlin, Insel, 2011) beschrieben. Es gab in der islamischen Geschichte lange Phasen hoher „Ambiguitätstoleranz“, Phasen von gegenseitigem Respekt in Vielfalt. Amartya Sen benennt das hohe Gewaltpotenzial, das entsteht, wenn diese „Ambiguitätstoleranz“ fehlt. „Die Chancen auf Frieden in der heutigen Welt könnten sehr wohl davon abhängen, dass wir die Pluralität unserer Zugehörigkeiten erkennen und anerkennen und dass wir als gemeinsame Bewohner einer großen Welt von der Vernunft Gebrauch machen, statt uns gegenseitig unverrückbar in enge Schubladen zu stecken.“
Doch warum fehlt es an „Ambiguitätstoleranz“? Eine mögliche Erklärung: Die Globalisierung und der damit verbundene Kontakt von Menschen mit anderen Menschen, die völlig verschiedene Sitten und Gebräuche pflegen, verunsichern. Und wenn keine Sicherheit mehr möglich ist, ist Radikalisierung eine Option, sie sich zu verschaffen, den Anderen auszuschließen, zu bedrohen und möglicherweise sogar zu töten. Thomas Bauer beschreibt die Bedrohung, die in der Vielfalt liegen kann: „Durch die Existenz des Anderen verlor das eigene Leben an Selbstverständlichkeit. Wenn es so viele andere, andersartige Menschen gibt, heißt dies nicht: Es könnte auch alles ganz anders sein?“
Auf der anderen Seite könnten wir Verunsicherungen auch als Herausforderungen begreifen, sich mit Vielfalt und Unterschieden auseinanderzusetzen statt sich in der Wagenburg einer „Religion“ oder einer „Kultur“ zu verschanzen. Thomas Bauer nennt das Ziel, „ein ausreichendes Maß an Ambiguitätstoleranz“. Amartya Sen formuliert das dazugehörige pädagogische Programm: „Es kann nicht genug betont werden, wie sehr es auf eine nicht-sektiererische, nicht bornierte schulische Erziehung ankommt, welche die Fähigkeit zu vernünftiger Abwägung (einschließlich der kritischen Prüfung) nicht schwächt, sondern stärkt.“
Ressentiment
Eigentlich dürfte es nicht schwer sein, „Ambiguitätstoleranz“ in schulische und universitäre Curricula einzufügen. Francis Fukuyama nennt zwei Aspekte, die die Umsetzung erschweren.
Auf der einen Seite geht es um die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die sich aus dem Respekt und der Wertschätzung der „Identität“ von „Minderheiten“ ergeben müssten: „Man kann recht mühelos dafür sorgen, dass feministische Literatur und die Stimmen der Minderheiten in die Studienpläne einbezogen werden, doch es bedarf weitaus größerer Anstrengungen, das Einkommen und die soziale Stellung der betreffenden Gruppen zu verbessern.“
Auf der anderen Seite gibt es gegen Verbesserungen der „sozialen Stellung“ Widerstände. Das bekannteste Beispiel ist die Frage der Quotierung, die Frauenorganisationen bis heute nicht durchweg haben durchsetzen können. Ein anderes Beispiel ist die in den USA gängige „Affirmative Action“, eine Initiative der Präsidentschaft John F. Kennedys im Jahr 1961. Der Entstehung beziehungsweise Fortschreibung von Ungleichheiten sollte möglichst früh entgegengewirkt werden, beispielsweise mit „Head-Start“-Programmen, „Bussing“ oder Stipendien. Vergleichbare Programme gibt es auch in anderen Ländern. Manche sprechen von „positiver Diskriminierung“.
Gegner*innen der „Affirmative Action“ greifen die Programme in der Regel nicht an, weil sie sie für handwerklich schlecht gemacht, unzureichend oder wirkungslos halten. Es geht um Grundsätzliches, denn „die Bevorzugung der Identität kollidiert mit der Notwendigkeit eines durchdachten Austauschs“ Es geht um Emotionen. Und damit sind wir beim „Ressentiment“, dem Bestandteil des Titels im Buch von Francis Fukuyama, den die deutsche Übersetzung vermied. „Identität ist verwurzelt im Thymos, der emotional durch Stolz, Scham und Zorn empfunden wird.“ Die Debatten um den „Affordable Care Act“ (ACA), in der Regel als „Obamacare“ bezeichnet, belegen, wie Emotionen wirken: „Die Gegner des ACA versuchten, das Gesetz als Identitätsproblem hinzustellen: Es sei von einem schwarzen Präsidenten für dessen schwarze Wähler konzipiert worden.“ Auch das ist allerdings kein „Kampf der Kulturen“, sondern ein Kampf zwischen Interessen, Klassenkampf von oben.
Emotionen sind oft entscheidender für das Verhalten von Menschen als wirtschaftliche Erwägungen. „Eine erniedrigte Gruppe, die ihre Würde wiederherstellen will, verfügt über weit mehr emotionales Gesicht als eine, die nur ihren wirtschaftlichen Vorteil verfolgt.“ Wer seine Version der „Identität“ durchsetzen will, sollte seine wirtschaftlichen Interessen verstecken. Als besonders erfolgreich erweist sich dabei die Inszenierung einer Opferkonkurrenz. Dies ist in den USA dem im November 2016 ins Präsidentenamt gelangten republikanischen Kandidaten gelungen. Europäische in der Regel als „rechtspopulistisch“ bezeichnete, mehr oder weniger jedoch offen rechtsextremistisch orientierte Parteien verkünden, sich „ihr Land zurückholen“ zu wollen, „was impliziert, dass ihnen ihr Land auf irgendeine Art gestohlen worden ist.“ Als weitere Beispiele nennt Francis Fukuyama Wladimir Putin, Xi Jinping und Viktor Orbán, die alle behaupten, ihr Land wäre Opfer „westlicher Demütigung“. Wohin dies führen kann, zeigt ein vierter von ihm in diesem Zusammenhang genannter Name, Osama bin Laden.
Francis Fukuyama diagnostiziert eine zunehmende Differenzierung von „Identitäten“, weil „sich Linke und Rechte immer stärker auf den Schutz immer enger gefasster Gruppenidentitäten konzentrieren.“ Angesichts der Bedeutung des Identitätsbegriffs für das Selbstbewusstsein der Mitglieder der genannten Gruppen plädiert Francis Fukuyama nicht dafür, „die Idee der Identität aufzugeben“, sondern „größere und einheitlichere nationale Identitäten zu definieren, welche die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen.“
Francis Fukuyama plädiert nicht dafür, einen oder einige der Kampfbegriffe, die Kwame Anthony Appiah beschrieb, zu einem alle verbindenden Superbegriff zu erklären. Es geht ihm hingegen darum, die emotional bedeutsamen, Ressentiment verursachenden Begriffe von ihren illiberalen Konnotationen zu befreien und inklusiv zu verstehen. „Nationale Identitäten können auf liberalen und demokratischen politischen Werten sowie auf den geteilten Erfahrungen aufbauen, die das Bindegewebe für blühende vielfältige Gemeinschaften darstellen. (…) Ein inklusives Gefühl der nationalen Identität ist aus einer Reihe von Gründen wesentlich, wenn man eine erfolgreiche, moderne politische Ordnung aufrechterhalten will.“
Als Vorbild nennt Francis Fukuyama die skandinavischen Länder: „Die starken Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens stützen sich auf ein ausgeprägtes Gefühl der nationalen Identität. Gesellschaften dagegen, die in selbst bezogene Gruppen mit wenigen Gemeinsamkeiten unterteilt sind, tendieren zu der Meinung, dass sie miteinander in einen Nullsummenwettbewerb um Ressourcen verwickelt sind.“ Sein Fazit: „Keine Demokratie ist immun gegen Identitätspolitik. Jede ist indes in der Lage, zu umfänglicheren Versionen gegenseitigen Respekts zurückzukehren.“
Pornographischer Rassismus
Identitäten werden oft wie eine Religion inszeniert. Religiöse Intoleranz, in der Regel als fester Glaube – „im Glauben fest“ – getarnt, bestimmt alles, was Menschen zur Erhöhung ihrer eigenen und zur Abwertung anderer Identitäten nutzen und von niemandem in Frage stellen lassen wollen, all das, was sich als Kampfbegriff im Sinne von Kwame Anthony Appiah eignet. Politische, religiöse, nationale Glaubensüberzeugung, der Glaube an die Überlegenheit einer Hautfarbe, einer Kultur, die die Kultur des anderen zur Unkultur erniedrigt, erhalten in der Praxis geradezu pornographischen Charakter. Wer anders aussieht, wird angestarrt, in der U-Bahn, im Park, im Kaufhaus, im Restaurant. Schaut hin, wie die aussehen!
Blicke und Worte machen sichtbar, wessen „Identität“ den Spitzenplatz in der Hierarchie einer Gesellschaft einnehmen darf und legitimieren Gewalt bis hin zu Folter, Versklavung, Mord und Genozid. Die Abwertung des Anderen, erforderlich für die Erhöhung und Durchsetzung der eigenen Identität, wird im Zweifel mit Gewalt durchgesetzt.
Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus, alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind gewalttätig. das eigene Selbstbewusstsein, die Gruppenidentität und die Identität des Einzelnen wären ohne Exklusion nichts, und Exklusion ist jederzeit gewalttätig, in Blicken, Worten und Taten. Es gibt keinen friedfertigen Antisemitismus, keinen friedfertigen Antiziganismus, keinen friedfertigen Rassismus. Jedes antisemitische, jedes rassistische Wort ist Gewalttat, und jeder gewalttätige Blick, jedes gewalttätige Wort ist der Anfang einer Eskalation von Gewalt.
Solche Gewalt kann auch innerhalb der Gruppe der Ausgeschlossenen entstehen, in der es wiederum eigene Hierarchien gibt, in der die Ausgeschlossen sich um die Akzeptanz der Herrschenden bemühen und sich gegenseitig abwerten. Dies geschah beispielsweise mit Aufseher*innen von Sklav*innen, die selbst Sklav*innen waren, oder mit Kapos in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus.
Wer Macht hat, schafft ein System der Gewalt, in dem die Mächtigen ausgewählten Menschen eine Position in der Hierarchie geben, die ihnen die Illusion vermitteln, an der Macht teilzuhaben. Legitimiert wird diese Macht unabhängig vom jeweiligen Platz in der Hierarchie durch Zuschreibung einer herausgehobenen Identität, mit dem Ergebnis, dass die Mächtigsten, die Spitzen in der Hierarchie, nicht selbst gewalttätig werden müssen, sondern die Ausübung der Gewalt delegieren können. Ihnen gelingt die Spaltung der Unterdrückten und Ausgeschlossene, und sie selbst schaffen für sich eine höhere, vielleicht sogar die höchste Stufe der Behauptung einer elitären Identität, uneingeschränkte und uneinschränkbare Macht.
Das Leiden des Versklavten, der Misshandelten, der Ermordeten wird öffentlich zur Schau gestellt, in Worten, in Bildern, geradezu als Fetisch der eigenen Überlegenheit. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Gewalttäter*innen jede Empathie für das Leid eines anderen Menschen abgespalten haben, sondern auch damit, dass sie aus dem Leiden der Anderen einen Gewinn erzielen, das Bewusstsein, den Platz der höheren „Identität“ einzunehmen.
Die Zurschaustellung ist die eine Seite, die oft damit verbundene Prüderie die Kehrseite einer geradezu pornographischen Lust am Leiden der Erniedrigten, an Anprangerung und Denunziation, an öffentlich vollzogenen Körperstrafen und Hinrichtungen. An der Macht halten sich die Unversehrten, während die Versehrten zu ewigen Opfern werden, denen jede Empathie verwehrt bleibt. Susan Sontag hat dies in ihrem Essay „Die pornographische Fantasie“ prägnant formuliert: „In einer Zeit, in der alles, von der Histoire d’O bis zu Mao in den Sog des unausrottbaren religiösen Triebs gerät, wird jedes Denken und Fühlen abgewertet.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2020, Sandra del Pilar gilt mein Dank, für meine Essay-Reihe zum Thema „Gewalt“ ihre Bilder und nicht zuletzt ihr Bild „Treat Me Like a Fool, Treat Me Like I‘m Evil“ als Titelbild verwenden zu dürfen, Bildnachweis: Treat me like a fool, treat me like I´m evil, 2017, Öl und Acryl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, Sammlung Gustav-Lübcke-Museum, Hamm. ©Carlo Sintermann.)