Fragil ist das neue Super!

Joanna Nowotny über Superheld:innen in Comic Books und Filmen – Teil 2

„When I was really young, I asked my mom why all old movies were in black and white. She said that back then, Everything was in black and white. I took her really literally, and until I was six or seven, I thought color was some weird modern invention.” (Chris Ware, Thrilling Adventure Stories, in: Raw 2-3, 1991, zitiert nach: Lukas Etter, Thomas Nehrlich, Joanna Nowotny, Hg., Reader Superhelden – Theorie – Geschichte – Medien, Bielefeld, transcript, 2018)

Im ersten Teil waren Grundstrukturen, Medialität und Ästhetik Gegenstand des Gesprächs über Superheld:innen, im zweiten Teil des Gesprächs geht es um die Diversität der Figuren, Doppelidentitäten, Outcasts, die Superheldinnen, feministische Comics, die Frage, wie Schwarz Black Panther wirklich ist und um jüdische Identitäten. Vielleicht lassen sich Superheld:innen sogar als ein Angriff auf traditionelle Denk- und Sehgewohnheiten verstehen, aber wer weiß: vielleicht bestätigen sie sie auch nur? Es kommt eben darauf an, wer in ihnen was entdecken möchte. Aber ein feministischer Blick oder ein Blick aus der Perspektive der Critical Whiteness bringen ganz Erstaunliches zu Tage.

Doppelidentitäten

Norbert Reichel: Wir haben über die Medialität von superheldischen Figuren gesprochen, über einen bestimmten ästhetischen Stil, der sie erkennbar macht. Gehört die Doppelidentität vieler Figuren dazu?

Joanna Nowotny: Sicherlich, denn mit den Doppelidentitäten wird stark gespielt, mit Mimik, mit Masken, mit der Frage, wann man wen in welcher Verkleidung sieht. Ein Spiel mit Sicherbarkeit und Unsichtbarkeit, mit Silhouetten. Gewisse Bilder werden ohnehin immer wieder rezykliert, zum Beispiel Spider-Man, der sich zwischen den Hochhäusern New Yorks hindurchschwingt. Das hat schon etwas Ikonisches. Wenn man versucht, die Superheld:innen jenseits von diesen medialen Elementen zu definieren, wird man sehen, dass es keine scharfe Abgrenzung gibt.

Norbert Reichel: Spider-Man gefällt mir gut als Beispiel. Diese Figur lebt auch davon, dass sie als Peter Parker ein schüchterner Teenie ist. Das ist seine Schwachstelle, ein Element der Aufmerksamkeitsökonomie für all die Teenie-Jungs, die sich schwach, unterlegen fühlen, nicht so recht wissen, wie sie ein Mädchen ansprechen sollen, aber über Peter Parker erfahren, dass sie eigentlich ganz anders sein könnten.

Joanna Nowotny: Das ist typisch für die Doppelidentität vieler Superheld: innen. Die Zivil-Identität von Peter Parker liegt sehr nahe an der Erfahrungswelt der vorgestellten Leser:innen. Ein Teenager-Junge, der bei den Mädchen nicht ankommt, Nebenjobs hat. Und dann gibt es die Superhelden-Identität, die sich extrem stark über das Alltägliche erhebt. Robert W. Connell – dazu Änne Söll und Friedrich Weltzien in ihrem Essay über Spider-Man in unserem Reader – sieht in Peter Parker aka Spider-Man „unterschiedliche, mit einander konkurrierende Formen von Männlichkeit“. Meines Erachtens mehr als aktuell ist die folgende Formel von Söll und Weltzien: „Verschiedene, an unterschiedliche Klassen gebundene Modelle von Männlichkeit stehen (…) in Konkurrenz zueinander.“

Das gilt schon für die ersten Figuren des Golden Age. Superman erscheint als weiß, ist aber eigentlich ein Alien, ein Migrant! Er entspricht verschiedenen Vorstellungen von Männlichkeit, einer klassischen, die auf physischer Stärke basiert, aber als Clark Kent ist er auch ein scheinbar schwächlicher, freundlicher, scheuer Mann mit Bürojob, ein „white collar worker“, der sich kaum an Frauen herantraut. Superman verhandelt als Figur sozusagen Männlichkeit wie später auch die Teenie-Figur Peter Parker aka Spider-Man oder eben sein Marvel-Kollege Captain America, der durch eine wissenschaftlich herbeigeführte Verwandlung vom schwächlichen („frail“) jungen Mann, der unbedingt bei der Armee dienen wollte, aber wegen seiner Konstitution zurückgewiesen wurde, zum superweißen Helden mit allem dazugehörigen Hyperpatriotismus und seinem Bekenntnis zu den „amerikanischen Werten“ mutiert. Alle behalten ihre Doppelidentität, Spider-Man als Peter Parker, Superman als Clark Kent, Captain America als der schwächliche Steve Rogers, der er innerlich auch bleibt beziehungsweise in den er sich in manchen Comics wieder zurückverwandelt, sodass weiße Männlichkeit auch als prekär erscheint.

Norbert Reichel: Die neue Shell-Jugendstudie dokumentiert, dass es eine beträchtliche Zahl junger Männer gibt, die ihre „Männlichkeit“ für ein besonderes Problem halten. „Männlichkeit“ ist inzwischen ein gängiges Thema in der Rhetorik der neuen Rechten.

Joanna Nowotny: Das stimmt, und die neue Rechte bedient sich in diesem Diskurs teilweise auch Bildern aus Superhelden-Comics, zum Beispiel in Memes, oder sie wettert dagegen, dass in neueren Filmen und Comics wegen der vermeintlichen ‚Wokeness‘ nicht mehr nur weiße Männer, sondern auch Personen mit anderen Geschlechtern und Hintergründen auftreten.

Outcasts – die X-Men

Cosplays of X-Men characters version steampunk, from left to right: Rogue, Gambit, Charles Xavier, Wolferine. Dragon Con 2009. Foto: Greyloch. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Bei all diesen Superheld:innen gibt es meines Erachtens eine Gruppe, die sich von den anderen deutlich abhebt, weil bei ihnen die Doppelidentität doch hintergründiger ist als sie es bei Peter Parker oder dem Alter Ego von Superman, Clark Kent, ist: Die X-Men, männlich wie weiblich. Wir haben die Extreme wie Magneto aka Erik Lehnsherr, der als Jude aus einem Konzentrationslager entkam und jetzt – je nach Geschichte – ‚seine‘ Gruppe, hier eben die X-Men, um jeden Preis vor Verfolgung schützen oder sogar Rache nehmen will. Das ist schon fast schon vergleichbar mit den Figuren der Inglourious Basterds, zum Beispiel dem „Bear Jew“, oder mit den Fantasien eines Abba Kovner, der vorschlug, nach 1945 sechs Millionen Deutsche zu töten. Die X-Men sind ambivalente Figuren. Sie brauchen oftmals Anleitung, jemanden, der sie auf das richtige Gleis bringt. Das leistet Professor X, Charles Francis Xavier, mit seiner Schule, der eine komplizierte Freundschaft mit Magneto hat – in den Filmen werden die beiden von James McAvoy und Patrick Stewart gespielt. Sie sind gespaltene Existenzen, die in der Gesellschaft nicht willkommen sind, die zu sich selbst finden müssen.

Joanna Nowotny: Solche Heldenfiguren sind ein Thema in dem Essay von Stephan Ditschke und Anjin Anhut in unserem Reader. Die beiden unterscheiden die „Beschützer“, die „Rächer und Jäger“ und die „Zweifler“, die sich dann weiter darin voneinander unterscheiden können, wie sie ihre Superkräfte erworben haben, von Geburt an, selbst erworben, durch Zufall oder von anderen verliehen. Die „Zweifler“ sind die Gespaltenen, die eine hohe Komplexität zeigen.

In der Einleitung unseres Readers haben wir die X-Men als „minority superheroes“ bezeichnet. Durch solche Figuren wird „unsere westliche Kultur zugleich post- und superheroisch“ dargestellt, will heißen: Solche komplexeren Helden kann man entweder als Dekonstruktion des großen heldischen Einzelnen begreißffen, oder halt einfach als neue Variation davon. Die X-Men traten in den 1960ern, dann in den 1970ern auf, im Silver Age, das gemeinhin dadurch charakterisiert ist, dass die Figuren nicht mehr so weit vom Alltag entfernt sind wie im Golden Age des Zweiten Weltkriegs Superman, Batman oder Wonder Woman. Die Figuren im Golden Age waren keine Figuren, mit denen man sich im Alltag unterhalten könnte, die Figuren im Silver Age erhalten psychologische Plausibilität. Vorher wirkt etwa das Rache- und Trauma-Motiv in vielen Geschichten noch sehr skizzenhaft und schematisch. Bei Batman war es noch einfach, seine Eltern wurden umgebracht und er nimmt jetzt Rache. Im Silver Age werden all diese Geschichten neu erzählt, erhalten mehr psychologische Plausibilität und es werden neue heldische Figuren erfunden, die von Anfang an einer komplexeren Welt und komplexeren Situationen Rechnung tragen. Dazu gehören die X-Men. Auf die Spitze getrieben ist bei den X-Men auch das Motiv der Superheld:innen als absolute Außenseiter oder noch besser auf Englisch als ‚Outcasts‘, als Ausgestoßene.

Norbert Reichel: Man könnte sagen, die X-Men haben keine Doppelidentität, sie sind in sich gespaltene Persönlichkeiten.

Joanna Nowotny: Die superheldischen Figuren werden im Golden Age als tolle Held:innen dargestellt und in der Regel in der (fiktiven) Gesellschaft auch als solche akzeptiert, was nicht immer sehr realistisch wirkt. Im Silver Age wird problematisiert, was es mit Menschen macht, wenn sie sich von anderen Menschen unterscheiden und deswegen ausgestoßen werden. Die X-Men entstanden im Kontext der Civil-Rights-Bewegung. Professor X wird zum Beispiel gerne mit Martin Luther King verglichen, Magneto mit Malcolm X. Chris Claremont, der selber sagte, er habe nicht speziell an diese zwei realen Persönlichkeiten gedacht, hat die Geschichten der X-Men in den 1970er Jahren sehr differenziert erzählt.

Magneto and Rogue – WonderCon 2012. Foto: The Community – Pop Culture Geek from Los Angeles, CA, USA. Wikimedia Commons.

Die Grundlage: Wir unterscheiden uns von der Mehrheitsgesellschaft, wir werden ausgestoßen, wir haben nicht die gleichen Rechte, wie reagieren wir darauf? Reagieren wir diplomatisch, pro-sozial, versuchen wir, uns bei der Mehrheitsgesellschaft durch unsere heldischen Taten beliebt zu machen? Oder reagieren wir mit einem Kampf gegen die Mehrheitsgesellschaft? Das wird bei Magneto mit seiner jüdischen Geschichte sehr deutlich. Am Anfang ist er noch ein relativ traditioneller eindimensionaler Schurke, dann beginnt man in den 1970er Jahren, einen jüdischen Hintergrund auszuarbeiten; allen voran steht hier eben der Comicautor Chris Claremont. Jetzt ist Magneto nicht mehr nur ein Schurke, sondern es entsteht die Frage, wo ist eigentlich die Grenze zwischen einem Helden und einem Schurken? Magneto wird zu einer Art Anti-Helden, einem Helden in einer Grauzone. Die Geschichten behandeln dies sehr unterschiedlich. Magneto erhält entweder Verständnis, den Status eines konfliktbeladenen (Anti-)Helden, oder er landet so stark in der moralischen Grauzone, dass er in den Erzählungen wieder als Schurke erscheint.

Das Interessante daran: Man hat auf der Seite der Held:innen echte Konflikte. Eine Gruppe wie die X-Men ist erst im Silver Age möglich. Im Golden Age gibt es das nicht, da wird dual gedacht, es gibt nur Gut und Böse, nur Helden und Schurken. Mit den Konflikten der Helden kann man aber viel differenziertere Geschichten erzählen und dies ist auch ein Vorteil des seriellen Erzählens, über das wir gesprochen haben: Alle Autor:innen und Künstler:innen reichern die Geschichten an und können ein neues Level an Komplexität einbringen.

Superheldinnen und antifeministischer Backlash

Norbert Reichel: Wir sprachen schon kurz das Gender-Thema an. Die hypertrophe Weiblichkeit haben wir beispielsweise auch bei Star Trek. Das fängt mit den Miniröcken in der Originalserie an und geht dann weiter mit dem Cat-Suit von Dianna Troi in „The Next Generation“, wird auf die Spitze getrieben mit der Figur der Seven of Nine in „Voyager“, die als Figur erst in „Picard“ von dieser Hypersexualisierung befreit wird, auch bei T’Pol in „Enterprise“, über die die männlichen Mitglieder der Crew dann schon so ihre anzüglichen Bemerkungen fallen lassen, wenn sie unter sich sind. Extreme Körperlichkeit, enger Anzug, aber Seven of Nine als ehemalige Borg oder T’Pol als Vulkanierin sind auch mit Superkräften, die Betazoidin Dianna Troi – übrigens auch T’Pol als Science Officer – ist mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet. Diese Kräfte erkennt man nicht auf den ersten Blick. Die weiblichen Figuren bei Star Trek sind meines Erachtens oft näher an den Superheldinnen der Comics als die männlichen an den Superhelden. Hyptertrophe Männlichkeit beschränkt sich bei Star Trek auf die erotischen Eskapaden von Captain Kirk in der Originalserie und auf die Spezies der Klingonen.

Joanna Nowotny: Die klassischen, also historischen Vorstellungen von Helden sind männlich kodiert. Weibliches Heldinnentum gibt es nicht sehr häufig und es ist anders kodiert, zum Beispiel Esther und Ruth in der Bibel, die Amazonen in ihrer Ambivalenz in der griechischen Sagenwelt. Ruth und Esther sind kein Simson, sie wirken nicht durch ihre Körperkraft, eher durch ihre Geschicklichkeit, auch durch Einsatz ihrer Weiblichkeit zum Zweck der Verführung.

Zu den Kernvorstellungen männlichen Heldentums gehören Mut, Opferbereitschaft, die Bereitschaft, bis zum Letzten zu gehen, aber auch körperliche Stärke. In den Superheldencomics ist dieser Aspekt natürlich auf den Gipfel getrieben: Die Muskelberge der männlichen Figuren gibt es in der Wirklichkeit kaum, vielleicht höchstens bei Body-Building-Wettbewerben.

Norbert Reichel: Deshalb haben es auch Body-Building-Ikonen wie Arnold Schwarzenegger oder Ralf Moeller zu Filmstars gebracht in durchaus Comic-ähnlichen Produktionen. Das nur am Rande.

Joanna Nowotny: Die weiblichen Figuren entsprechen stark den Vorstellungen, wie eine Frau zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kulturkreis sein soll, in Superheldencomics nämlich sehr schlank, eben keine sichtbare Muskulatur, aber dennoch mit Superkräften versehen. Darüber hinaus sind die Merkmale von Heldinnen auch oft mit klassischen weiblichen Rollen verbunden, zum Beispiel mit Mutterschaft, im übertragenen Sinne als Verantwortliche, Sorgende für eine Gruppe oder gar – wie bei Esther und Ruth – für ein ganzes Volk.

Die ersten Superhelden waren Männer. Superman und Batman, Batman als „The Greatest Detective on Earth“, als düstere Nachtfigur, ein milliardenschwerer Visionär, der ein riesiges Labor hat. Man konnte sich zur damaligen Zeit nur sehr schwer eine weibliche Figur dieser Art vorstellen. Es gab eben nur eine Ausnahme, die erwähnte Wonder Woman von William Moulton Marston (auch sie allerdings nicht ein ‚genialer Denker‘ wie Batman). William Moulton Marston war selbst Psychologe. Er hat Wonder Woman explizit als komplementäre Kraft im Superheldengenre entworfen. Darüber habe ich im auch schon im ersten Teil erwähnten Aufsatz „Fantastische Rüstungen und kugelsichere Armbänder“ ausführlicher geschrieben. Marston war der Auffassung, dass Kriege eine Folge des von Natur aus gewalttätigen und ausbeuterischen Patriarchats seien. Eigentlich müsste die Menschheit laut ihm ‚natürlich‘ weiblichen Prinzipien gehorchen, das männlich-zerstörerische Prinzip müsste sich einer weiblichen liebenden und sorgenden Kraft unterwerfen. Marston fand also, man brauche ein Matriarchat. Dieses hat er mit der exklusiv weiblichen Gesellschaft der Amazoneninsel entworfen, ein soziales, umsorgendes Zusammenleben. Als Wonder Woman unter die Menschen kommt, ist sie von der zerstörerischen Kraft und Brutalität entsetzt und wird so eigentlich erst zur altruistischen Heldin, auch in der Doppelidentität als Krankenschwester Diana.

Marston war also extrem positiv gegenüber Frauen eingestellt, aber nicht in einer Art, die dem Mainstream des heutigen Feminismus entspricht. Er hatte eine biologistisch-essenzialistische Einstellung: Es gebe eben zwei Arten von Menschen und die weiblichen Organe könnten mehr Liebe speichern als die männlichen. Wonder Woman entwarf er, um zu zeigen, wie sich der Mann der Frau unterwerfen müsse und könne. Deshalb hat sie auch dieses vorhin kurz erwähnte Lasso, das „Lasso of Truth“, mit dem sie ihre Gegner bindet. In den ersten Comics gibt es zuhauf Unterwerfungsszenen, in denen die Männer gebunden werden und vor Wonder Woman knien. Und ihre Armbänder wehren die Kugeln der männlichen Gegner ab, sind also keine offensiven Waffen.

Wonder Woman ist für die Geschichte des Feminismus von Bedeutung. Sie war auch auf der ersten Seite des Ms. Magazine zu sehen, ein legendäres feministisches Heft aus der sogenannten zweiten Welle des Feminismus in den Siebzigern, gegründet u.a. von Gloria Steinem. Die Herausgeber:innen wollten eigentlich ein anderes Sujet, aber fanden dann, dass Wonder Woman publikumswirksamer sei. Wonder Woman wurde gewählt, obwohl Marstons Feminismus seine alles andere als moderne Seite hatte. Sie war lange Zeit die bekannte weibliche Figur. Andere weibliche Figuren kamen hinzu, zum Beispiel Black Widow, eine verführerische Agentin, die wie viele andere weibliche Figuren zuerst mit klischeehaften Vorstellungen verbunden ist

Norbert Reichel: Und später, im sogenannten Bronze Age der späteren Siebziger und Achtziger oder in der Gegenwarte?

Joanna Nowotny: In den letzten Jahrzehnten hat sich das gesamte Comic-Genre sehr verändert. Die Creators und die Fan-Kulturen sind in ein langes Gespräch verwickelt, welche Werte eigentlich dargestellt werden sollen. In den 1980er Jahren gab es schon eine Bewegung gegen die sexistische Seite des Superheld:innengenres. Wir haben eben über Körperdarstellungen gesprochen. Das ganze Genre zeigt idealisierte Körper, aber die weiblichen zeigen die Schönheitsmerkmale, die ein vorgestellter männlicher Betrachter erwarten mag. Der sogenannte ‚männliche Blick‘ steht im Zentrum. Das wurde schon früh hinterfragt und es gab Comics, die solche Vorstellungen problematisierten. Ein solcher Comics ist „Watchmen“ von Alan Moore und Dave Gibbons, mit vom Staat angestellten Superheld:innen. Sehr stark wird thematisiert, dass die Heldinnen knappe Kostüme tragen müssen, sexy sein, dann sind sie noch Übergriffen der hypervirilen Männer ausgesetzt, die sich holen können was sie wollen. Das wird in „Watchmen“ kritisch betrachtet.

Loki and Ms Marvel, Wonder Con 2015. Foto: William Tung. Wikimedia Commons.

In den letzten Jahren sind die Comics viel diverser geworden. Es gibt viele weibliche Figuren, auch nicht weiße Figuren. Zu nennen wäre zum Beispiel Kamala Khan, auch als Ms. Marvel bekannt, in Film und Fernsehen gespielt von Iman Vellani und als Comicfigur erschaffen unter anderem von Redaktorin Sana Amanat und Autorin G. Willow Wilson. Sie ist eine muslimisch-pakistanische, in Amerika geborene Superheldin. Sie hat ihre eigene Fernsehserie, die auch von einer Person of Color geschrieben wurde, von Bisha K. Ali. Diversität betrifft nicht nur die dargestellten Figuren, sondern auch die Frage, wer wo mitmachen darf, als Regisseurin, Autorin, Zeichnerin.

Norbert Reichel: Das wäre meine nächste Frage. Wie sieht es mit weiblichen Creators aus?

Joanna Nowotny: Die Beiträge von Frauen wurden im Superheld:innengenre lange marginalisiert. Andererseits arbeiteten schon zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs Frauen hinter den Kulissen, auch weil die Männer im Krieg waren. In den 1950er Jahren gab es wie in vielen Bereichen einen Backlash, Frauen wurden wieder zurückgedrängt. Das Genre war lange Zeit ein starker Boys Club. Frauen waren dann vor allem in Independent Comics, in den sogenannten Women’s Comics tätig. Aline Kominski-Crumb („Wimmen’s Comix“) oder Alison Bechdel sind bis heute bekannt, auch Diane DiMassa mit ihrer Figur Hothead Paisan. Sie wäre ein Beispiel für einen Strip mit einer ganz eigenen Version des Superheld:innen-Genres. Aber das sind nicht die Leute, die bei den großen Superhelden-Verlagen sitzen. Heute gibt es allerdings eine ganze Reihe von aktiven Frauen im Genre, zum Beispiel die erwähnte G. Willow Wilson, Gail Simone, Marjorie M. Liu, Louise Simonson oder Kelly Thompson.

Die gesamte Diskussion, wer im Comic-Genre welche Rolle hat, bezieht sich inzwischen nicht mehr nur auf die Darstellung, sondern eben auch auf das Personal hinter den Kulissen. Mehrere Filme, die beiden Captain-Marvel- und die beiden Wonder-Woman-Filme sowie die Ms. Marvel-Serie, wurden maßgeblich von Frauen gestaltet. Es geht schon Hand in Hand, dass man nicht nur über kulturelle Repräsentation spricht, sondern auch über handfeste ökonomische Fakten und Machtdynamiken im Unterhaltungssektor. Das war nicht ganz einfach, denn einige Filme mit weiblichen Hauptfiguren sind noch zu Beginn der 2000er Jahre gefloppt, zum Beispiel „Cat Woman“ mit Halle Berry und „Elektra“ mit Jennifer Garner. Diese Misserfolge wurden immer darauf geschoben, dass das Publikum halt die bekannten weißen Männer wolle. Aber das änderte sich auch wieder, zuletzt etwa mit Black Panther mit zwei erfolgreichen Filmen voll mit nicht-männlichen und nicht-weißen Figuren (2018 und 2022). Offensichtlich toleriert das Publikum diverse Figuren nicht nur, sondern möchte sie dann doch auch sehen. Ein Muster solcher Diversität sind eben auch die X-Men. Das ist Teil des Konzeptes.

Norbert Reichel: Haben die Verlage und Studios damit nachhaltig Erfolg?

Es ist schwierig zu sagen, welche Zukunft das Genre hat. Es gab zuletzt durchaus einen Einbruch mit Filmen, die bei Weitem nicht an die Erfolge der 2010er Jahre heranreichen konnten. Ich sehe schon kommen, dass auch das von Seiten der Studios wieder auf ‚zu diverse‘ Narrative zurückgeführt wird. Ich glaube nicht, dass das stimmt, denn der Einbruch hatte auch mit COVID und mit dem Aufstieg der Streaming-Services zu tun. Der Markt wurde eben geflutet, auch mit Produkten von zweifelhafter Qualität, und es gibt Ermüdungserscheinungen. Aber ich sehe schon kommen, dass das Nächste, was wir sehen, wieder eher die klassischen starken weißen Männer sein werden und das mutigere Projekte auf der Strecke bleiben.

Fragile Diversität

Norbert Reichel: Ich nenne als Gegenbild mein Lieblings-Franchise: Star Trek. Star Trek ist mit „Discovery“ und mit „Strange New Worlds“ fast schon hyperdivers. Es gibt nicht nur viele Frauen in führenden Positionen, auch viele Women of Color, schwule und lesbische Paare, Queerness in verschiedenen Varianten, Außerirdische in fast allen Positionen. Figuren wie Sylvia Tilly (in „Discovery“) oder Nyota Uhura (in „Strange New Worlds“) entsprechen in ihrem Aussehen auch ganz und gar nicht den hypersexualisierten Vorstellungen, die männliche Zuschauer so gerne pflegen. Die weißen Männer sind in beiden Serien eindeutig in der Minderheit, Christopher Pike ist als Captain der Enterprise und in der zweiten Staffel von Discovery als Captain der Discovery die Ausnahme.

Joanna Nowotny: In den letzten zehn Jahren haben wir leider in vielen (wenn auch nicht allen) Fankulturen einen starken Backlash in Sachen Diversität erlebt. Star Trek scheint mir da eher eine Ausnahme, denn die Fankultur von Star Trek ist einfach offener – zumindest ist das mein Eindruck als Person, die nicht selber Teil der Fankultur ist.

Norbert Reichel: Star Trek ist in meinen Augen ein humanistisches Projekt.

Joanna Nowotny: Da bist du nicht allein mit dieser Einschätzung unter den Fans. Bei Star Wars, bei Lord of the Rings, auch im gesamten Gaming-Bereich sieht das anders aus. Gerade im Gaming gab es einen heftigen Backlash mit regelrechten Hasskampagnen gegen eine inklusivere Kultur, sowohl auf Seiten der Schöpfer:innen von Games als auch in Sachen Inhalte (mehr dazu findet man unter dem Begriff GamerGate). Teile der Star Wars-Fankulturen sind in dieser Hinsicht auch geradezu toxisch. In der Star-Wars-Szene, in der Gaming-Szene, auch in der Comic-Szene gibt es leider auch heftige Verurteilungen jeglicher Diversitätsbestrebungen.

Norbert Reichel: In den Kontext passt auch die hohe Popularität, die Star Wars und Lord of the Rings in der Szene der neuen Rechten genießen. Da sind die Männer noch richtige Männer, Frauen kommen in der Regel gar nicht vor. In der Verfilmung von James Cameron wirkt Cate Blanchett als Galadriel eher als hübsches Beiwerk. Sie wird auf das Bild einer weiblichen Lichtgestalt reduziert, eine Art gute Fee.

Joanna Nowotny: Ich bin völlig mit dir einverstanden. Lord of the Rings ist mit seinen Bezügen auf die nordischen Mythologien bei Neo-Konservativen und Rechten beliebt. Auch Thor mit seinem Hammer spielt da eine Rolle, man muss keine große Fantasie haben, um zu sehen, woher das kommt.

Thor. San Diego Con 2015. Foto: William Tung. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Thor wird in den Avengers-Filmen meines Erachtens aber auch ironisch präsentiert, gerade in „Endgame“, wo er nach der Vernichtung der halben Erdbevölkerung durch Thanos in „Infinity War“ als dick gewordener und alkoholisierter Obdachloser wieder auftaucht. Klar aber auch, dass er wieder der Alte wird.

Joanna Nowotny: Auch diese ironische Darstellung kommt natürlich nicht bei allen gut an, mit guten Gründen – gerade progressivere Leute fanden es auch nicht sehr lustig, dass Thors Übergewicht und seine offensichtlichen psychischen Probleme hier als Witz dargestellt werden. Das ist natürlich eine andere Art Kritik als die von gewissen Menschen, die auf Diversitätsbestrebungen hoch aggressiv reagieren. Die Rechten haben wirklich gelernt, sich der Populärkultur zu bedienen und durch Gespräche über Populärkultur auch neue Leute anzuziehen. Dann äußern sich die AfD und sogar Putin zu der Debatte über J.K. Rowlings offen geäußerte transphobe Ansichten – in den Augen dieser Kräfte handelt es sich aber natürlich um eine völlig ungerechtfertigte ‚Cancel Culture‘ vonseiten der ‚Linken‘.

Norbert Reichel: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

Joanna Nowotny: Die rechte Politik hat schon länger gemerkt, dass die Unterhaltungskultur mit ihren ungeheuer großen Fankulturen für sie interessant sein könnte – da kann man eben neue Leute ansprechen. Dann sehen sie Schwarze Menschen in Adaptionen von Tolkiens Werk und sagen, die gibt es doch bei Tolkien gar nicht, verteidigen ihn gegen eine behauptete ‚Verfälschung‘. Das ist ein kleiner Exkurs, aber auch das erlebt man im Superheld:innen-Genre, einen Backlash gegen alles, was „woke“ genannt wird. Breitbart News, die rechte Medienplattform aus den USA, war hier federführend: „Politics is downstream from culture“, war und ist die Losung, das heißt, man muss das kulturelle Feld und eben auch besonders die Populärkultur bearbeiten, um einer rechten politischen Wende den Boden zu bereiten. So greifen extrem rechte Akteure eben dann besonders beliebte Genres und Franchises auf, Star Wars, Lord of the Rings, die Superhelden:innen. Die heutige Diversität ist fragil. Meine vorsichtige, vielleicht auch pessimistische Prophezeiung für die Zukunft von Marvel und DC ist, dass es in den Studios manche geben wird, die rechte Diskurse und Kampagnen wahrnehmen und wirtschaftliche Einbrüche auf die vielen weiblichen Figuren, auf die Frauen in den Studios und auf die Diversität, die Persons of Color, die LSBTTI*-Szene etc. zurückführen.

Norbert Reichel: Die Frage liegt jetzt nahe: Wie divers ist Black Panther wirklich? In eurem Band habe ich in dem Beitrag von Lars Banhold die These gefunden, dass Black Panther eigentlich nicht mehr und nicht weniger als eine Reminiszenz des viktorianischen Blicks auf Afrika, also alles andere als ein emanzipativer Comic wäre.

Joanna Nowotny: (lacht): Wenn ich meinem siebenjährigen Neffen das Universum der Superheld:innen erklären muss, ist das immer etwas unangenehm. Tatsächlich ist vieles nur begrenzt ‚emanzipiert‘, wie man schön in der großen Marvel-Enzyklopädie sieht, die bei mir im Regal steht und die er gerne anschaut. Dazu gehört ein bestimmtes Schönheitsideal, schöne Frauen sind eben sehr oft weiße Frauen, Frauen, die nicht konventionell schön sind, sind keine Heldinnen, eine übergewichtige Person muss automatisch auch eine böse Person sein. Mit Diversität komme ich da nicht so weit. Das in Klammern.

Norbert Reichel: Noch schlimmer ist das bei Paw Patrol, alles süße Welpen. Wolfgang M. Schmitt hat in seiner Filmanalyse Film und Serie mehrfach wunderbar auseinandergenommen. Eigentlich ist die Serie jugendgefährdend.

Joanna Nowotny: Ich habe die Serie zwar noch nie gesehen, aber auch gehört, dass sie furchtbar ist, auch mit ihrer Tendenz zum Polizeistaat.

Norbert Reichel: Noch einmal zu Black Panther. Meines Erachtens ausgesprochen ambivalent. Die Kämpferinnen sind Frauen. Sieht also recht fortschrittlich aus, aber die Gesellschaft muss sich abschotten, um den Rohstoff Vibranium vor Ausbeutung zu schützen. Und die Darstellung Afrikas ist doch sehr merkwürdig.

Joanna Nowotny: Black Panther gibt es in den Comics seit den 1960er Jahren in sehr unterschiedlichen Versionen. In den letzten Jahren hat Ta-Nehisi Coates, ein Journalist und Autor, der sich kritisch mit der Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA auseinandersetzt, noch einmal ganz andere Black-Panther-Versionen geschrieben. Wakanda ist natürlich ein ursprünglich von Weißen erschaffener Imaginationsraum und kann ein klischeehaftes Bild Afrikas spiegeln, aber in manchen Bereichen auch Gegenentwürfe darstellen, zum Beispiel über das außerordentlich hohe technische Niveau der dortigen Kultur.

Norbert Reichel: Auch das Reich der Amazonen ist abgeschottet.

Joanna Nowotny: Das Reich der Amazonen ist eine Insel, während Wakanda mitten auf dem Kontinent liegt. Man kann sich auf differenzierte Weise mit der Idee von Wakanda auseinandersetzen: Warum haben wir in gewissen Black Panther-Erzählungen – ich formuliere bewusst klischeehaft – ein armes kolonialistisch ausgebeutetes Afrika, und dann haben wir das abgeschottete Wakanda, das nichts mit den anderen Ländern zu tun haben will? Es gibt in diesen Erzählungen – so beispielsweise Salim Washington, der an der University of KwaZulu-Natal in Durban (Südafrika) forscht –wenig bis keine panafrikanische Solidarität, kritische Autor:innen wie Russel Rickford fordern da etwas anderes. Die Comics der 1960er Jahre sind oft wohlwollende Vorstellungen von Weißen über einen Kontinent, von dem sie keine Ahnung haben – gut gemeint, schlecht gemacht. Die einen sehen dort die stolzen afrikanischen Kriegerinnen, die anderen sehen die ‚viktorianischen‘, konservativen, auch exotistischen Klischees und Idealvorstellungen, denen dieser fiktive Staat und seine Bewohner:innen auch zu genügen haben.

Ich finde an den Black Panther-Filmen und Comics der letzten Jahre interessant, dass die hinter den Kulissen tonangebenden Personen hauptsächlich Afroamerikaner:innen sind, und nicht Afrikaner:innen. In der afroamerikanischen Community gibt es eigene Vorstellungen von Afrika, eine Art Mythos des ‚Ursprungskontinents‘, der positive Repräsentationen wünschenswert macht. Afrikanische Stimmen äußern sich zu Black Panter dann auch wieder anders. Im afroamerikanischen Kontext wurde der Film oft gefeiert, als Beispiel für den sogenannten Afrofuturismus, aber ich habe auch Essays primär von afrikanischen Autor:innen gelesen, die die Geschichte auseinandernahmen, zum Beispiel Patrick Gathara, Uche Balogun, Dikeledi A. Mokoena.

Das zeigt natürlich auch, wie flexibel das Genre ist. Es wäre auch denkbar, dass ein Black-Panther-Film demnächst von einer afrikanischen Regisseurin gemacht wird, die wieder andere Vorstellungen einbringt.

Norbert Reichel: In eurem Reader habt ihr mehrere Texte zu arabischen und muslimischen Superhelden, zum indischen Spider-Man sowie zu „Black Superheroes“.

Joanna Nowotny: Der indische Spider-Man heißt Pavitr Prabhakar, klingt sehr ähnlich wie Peter Parker. Shilpa Davé hat über ihn Folgendes geschrieben: „Den Helden indisch zu machen, bedeutet nicht unbedingt, den Menschen unter der Maske ethnisch in einen Inder zu verwandeln. Stattdessen wird das Kostüm verändert, um Indien zu repräsentieren. Das visuelle Bild von Spider-Man India befindet sich damit genau an der Grenze zwischen einer einfachen Übersetzung eines amerikanischen Produkts und der Transkreation einer Geschichte, die einen komplexeren kulturellen Austausch reflektiert.“

Lars Banhold sieht in seinem Essay „Pink Kryptonite” sogar Superman als ‚diverse‘ Figur beschrieben, da er „der berühmteste Migrant der Comicgeschichte“ sei, „der sich in die fremdartigen Trachten seiner Heimat hüllt, den kryptonischen Sonnengott Rao anbetet und eine interspeziesistische Partnerschaft mit Lois Lane anstrebt, respektive sie vollzieht.“ Übrig bleibt dann nur folgender Antagonismus: „Der Archetyp, dem sonst der Superheld verpflichtet ist – der arrogante, wirtschaftlich und akademisch erfolgreiche, nur der eigenen Norm verpflichtete, ignorante, weiße, heterosexuelle Mann – kann für einen so gelesenen Superman entsprechend nur die Rolle des Erzfeindes erfüllen: Lex Luthor.“

Jüdische Identitäten

Norbert Reichel: Superman als ‚diverser‘ Migrant – das bringt uns zur Frage, wer diese Comics überhaupt geschrieben hat. Die meisten Schöpfer von Superhelden-Figuren waren Juden.

Joanna Nowotny: Ja, außer William Moulton Marston hatten unter den ersten Schöpfer:innen der Superheld:innen praktisch alle einen jüdischen Hintergrund. Das hat wohl verschiedene, auch sozio-ökonomische Gründe. Es war für Jüd:innen schwer, in den akzeptierten Bereichen des Journalismus und der Literatur Fuß zu fassen. Jüdische Menschen, die künstlerisch etwas erreichen wollten, hatten nur im Bereich der Unterhaltung oder des sogenannten ‚Trash‘ eine Chance, weil ihnen alles andere verschlossen war; damit hängt auch die jüdische Prägung der Filmindustrie von Hollywood zusammen. Das Genre der Superheldencomics ist kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs entstanden. Die Autoren (hier tatsächlich nur Männer) waren zumeist die Kinder osteuropäischer Einwandererfamilien, die alle verstanden, was sich durch den Nationalsozialismus in Europa zusammenbraute, und die teilweise um Familienmitglieder fürchteten. In solchen Zusammenhängen gibt es natürlich eine Sehnsucht nach Beschützerfiguren, die Recht und Ordnung sichern, nach einer Art Messiasfiguren.

Norbert Reichel: In der Jüdischen Allgemeinen gab es mal einen wunderbaren Text im Religionsteil mit der Frage, ob der Messias auch eine Frau sein könnte. Als Bild hatte die Redaktion Gal Gadot als Wonder Woman gewählt. Gal Gadot ist ohnehin in den jüdischen Communities und erst recht in Israel sehr populär, nicht zuletzt auch weil sie gerne ihre Zeit als Soldatin hervorhebt.

Joanna Nowotny: Ausgerechnet! Sie ist ja die einzige bis heute populäre Ausnahme aus dem Golden Age, denn Wonder Woman wurde eben nicht von einem jüdischen Creator erfunden.

Superman hingegen ist wirklich eine Art Messias-Figur; in seiner Geschichte gibt es Parallelen zur Bibel. Seine Eltern legen ihn wegen der Bedrohung des Planeten in ein kleines Raumschiff, das sie auf einen langen Weg durchs Weltall schicken. Das ist eine Variation der Moses-Geschichte. Sein kryptonitischer Name ist Kal-El, hebräisch „Stimme Gottes“. In Interviews haben sich allerdings viele der Autor:innen und Zeichner:innen des Golden Age dagegen gewehrt, dass sie bewusst jüdische Kontexte thematisiert hätten. Vielleicht war auch manches unbewusst. Da kommen wohl sozio-ökonomische Kontexte mit einer Mentalitätsgeschichte zusammen.

Norbert Reichel: Wie sieht es mit explizit jüdischen Figuren aus?

Joanna Nowotny: Jüdische Identität wurde in den Anfangszeiten des Superhelden-Genres eben kaum dargestellt. Viele der ersten Superhelden entsprechen mehr oder weniger dem Bild eines weißen ‚Idealamerikaners‘, allen voran Captain America. Jüdische Identität im US-Amerika des 20. Jahrhunderts ist ohnehin umkämpft: Zentral für die US-amerikanische Gesellschaft ist die „color line“. Die Bevölkerung wird durch die Geschichte der Sklaverei bis in die Gegenwart in Schwarz und ‚weiß‘ unterschieden.

Whiteness ist eine privilegierte und vermeintlich unmarkierte Normalität, die default-Position, „American“ steht im Gegensatz zu „African American“, „Mexican American“ oder „Jewish American“. Jüdische Identität bewegt sich immer im Spannungsfeld dieser Fragen – Juden:Jüdinnen gehörten im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht klar zu den Weissen oder den People of Color, die Zuschreibungen waren umstritten. Noch heute stehen sie – eine übrigens in sich sehr vielfältige Gruppe, von den mittel-, nord- und osteuropäisch-stämmigen Aschkenasim über die iberisch geprägten Sephardim bis hin zu den Mizrachim mit ihren Wurzeln im Nahen Osten, in Asien und Afrika – in den Augen gewisser Menschen irgendwo dazwischen, wie sich zum Beispiel an der Rolle zeigt, die ihnen im Rahmen von rassistischen und antisemitischen Verschwörungserzählungen wie dem „Großen Austausch“ („grand remplacement“ oder „Great Reset“) zugeschrieben wird, als Agent:innen einer ‚Unterwanderung‘ der vermeintlich ‚weißen‘ Nationen durch People of Color.

Es gibt einige Literatur zum Verhältnis jüdischer Identität und Whiteness beziehungsweise Color in US-Amerika (zum Beispiel Karen Brodkin, How Jews Became White Folks and What That Says About Race in America, 1998, Matthew Frye Jacobson, Whiteness of a Different Color. European Immigrants and the Alchemy of Race, 1999, Eric Goldstein, The Price of Whiteness – Jews, Race, and American Identity, 2006). Goldstein schrieb, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Amerikas habe Weißsein im 19. und 20. Jahrhundert als Wunschbild gegolten, das man in der Hoffnung erreichen wollte, dass Diskriminierung so ende und der soziale Aufstieg beginne: „Jews negotiated their place in a complex racial world where Jewishness, whiteness, and blackness have all made significant claims on them.“ So sind die ‚hyperweißen Cowboys‘ aus den Anfangszeiten des Genres wohl als Versuch zu werten, sich selber quasi ‚weiß‘ zu schreiben.

Norbert Reichel: Ab wann gibt es nicht mehr nur ‚hyperweiße‘ Figuren auf der Heldenseite?

Fantastic Four Cosplay. Dragon Con 2011. Foto: Greyloch. Wikimedia Commons.

Joanna Nowotny: Im Silver Age treten Figuren mit anderem Aussehen auf. Ben Grimm kann sich als einziger der Fantastic Four nicht wieder von The Thing in den Menschen Ben Grimm rückverwandeln. Er ähnelt in seiner superheldischen Version der jüdischen Figur des Golem. Len Wein und John Buscema schufen 1974 die Comicfigur „The Golem“, in der sie ausdrücklich jüdische Mythologie verarbeiteten. 1975 erschien ein Comic „Marvel The Two in One presents The Thing and The Golem”; auch wenn Grimm dort weder explizit als jüdisch noch als Golem gezeigt wird, werden die beiden Figuren also miteinander in Beziehung gesetzt. The Thing werden folgende Worte in den Mund gelegt: „I’ve been a monster a lot longer than yer pal here, an’ people ain’t yet stopped ta realize that I’m still a man inside this shell – an’ if the Golem here wakes up again, I think he’s gonna find the same thing goes for him!”

Norbert Reichel: Aber es gibt ja einige ausdrücklich jüdische Figuren. Wir haben Magneto aka Erik Magnus Lehnsherr, und auch bei Ben Grimm aka The Thing aus den Fantastic Four wird das Jüdische immerhin nach 30 oder 40 Jahren ausdrücklich in den Comics behandelt.

Joanna Nowotny: Magneto ist eine der ersten explizit jüdischen Figuren. Er erhält seine jüdische Geschichte als Überlebender der Shoah 1981. Diese Geschichte wird als Ursache seiner Radikalisierung dargestellt, sie macht ihn ‚zum Monster‘, das zum Schutz der eigenen Gruppe (hier die X-Men, nicht Juden:Jüdinnen) viele Opfer in Kauf nimmt, eine höchst ambivalente Darstellung jüdischer Identität. Jüdische Themen kommen ansonsten vor 2000 explizit nur selten vor, sie müssen hineingelesen werden. 2018 darf Ben Grimm aka The Thing dann aber unter der Chuppa heiraten und das obligatorische Glas zertreten. In den letzten Jahrzehnten gab es mehr ausdrücklich jüdische Figuren, zum Beispiel Batwoman (Kate Kane), Billy Kaplan oder Kate Pryde. Auch das Teil einer zunehmenden Diversität im Genre – hier ist eine Gruppe und Kultur, die das Genre hinter den Kulissen entscheidend prägte, endlich auch auf den Comicseiten präsent.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2024, Internetzugriffe zuletzt am 2. Dezember 2024. Titelbild: Jerry Siegel 1943 während seines Dienstes in der US-Army auf Hawaii, Foto: US Army. Wikimedia Commons.)