Gelegenheit macht Mörder
Zur Aktualität des Stanford Prison Experiments
„Ja, er zog eine Welt vor, in der jemand seinen Vater mit der Hacke erschlug und sich der Polizei stellte; da musste keine Tiefenpsychologie bemüht werden, keine letzten Erkenntnisse über die dunklen Antriebe zu einem Massenmord und zu einem Kriegsverbrechen; es musste nicht unter dem heuchlerischen Geschrei der Presse die schmutzige Wäsche einer ganzen Gesellschaftsschicht gewaschen werden, es brauchte nicht höchsten Stellen und Personen des öffentlichen Lebens mit Vorsicht oder Schärfe begegnet zu werden, kein Seiltanz war notwendig, kein politisches Fingerspitzengefühl, und da gab es einmal keine Sturzgefahr für ihn. Nur einem Menschen würde er sich gegenübersehen und seiner kleinen grausigen Tat, und er würde wieder einfach denken können und glauben dürfen an Recht und Wahrheitsfindung, an Urteil und Strafausmaß.“ (Ingeborg Bachmann, Ein Wildermuth, 1961)
So einfach ist es leider nicht. In der Erzählung „Ein Wildermuth“ von Ingeborg Bachmann geht es um die sogenannte Pilatusfrage (Joh. 18,38): „Was ist Wahrheit?“. Über die „Wahrheit“ denkt der Oberlandesgerichtsrat Anton Wildermuth nach, als er über einen Namensvetter, den Landarbeiter Josef Wildermuth, zu Gericht sitzt und feststellen muss, dass dieser die Tat gesteht, es aber über seine Motive keine „Wahrheit“ zu geben scheint. Anton Wildermuth stellt sein gesamtes Leben in Frage. Die zunächst distanzierte Erzählung wechselt in den Modus der Bekenntnisliteratur. Der Bekennende zweifelt und verzweifelt. Die Frage, die Anton Wildermuth beschäftigt, ist nicht die klassische Krimifrage: „Who’s done it?“ Sie lautet „Why?“
Die Attraktivität des unpolitischen Einzeltäters
Der „einsame Wolf“ als Täter ist der Albtraum jeder Sicherheitsbehörde. Auf der anderen Seite ist er als Psychopath denjenigen willkommen, die sich scheuen, über eine individuelle Motivation hinausgehende Beweggründe eines Täters zu ermitteln. Nach jedem antisemitisch oder rassistisch motiviertem Attentat gibt es eine öffentliche Debatte in Politik und Medien darüber, ob es sich überhaupt um eine antisemitische oder rassistische Motivation handelte. Ebenso regelmäßig erfolgt eine Debatte, ob eine hinter der Tat stehende Organisation verantwortlich sein könnte.
Ein Wuppertaler Gericht leugnete bei dem Anschlag vom 28. Juli 2014 auf die dortige Synagoge die antisemitische Motivation. Ähnlich verhielten sich Politiker*innen und Behörden bei der Bewertung der Motive des Attentäters im Münchener Olympiazentrum vom 22. Juli 2016. Dessen rechtsextremistische und rassistische Einstellung war offensichtlich, doch dauerte es bis zum Oktober 2019, bis Bayern die Tat entsprechend einstufte. Hinweise, dass die Mörder von Utøya, Christchurch, Halle und Kassel voneinander oder zumindest von identischen Quellen abgeschrieben haben könnten, verblassen, wenn sich die Ermittlungsbehörden auf die Psychopathologie des einzelnen Täters konzentrieren. Die Protokolle der Untersuchungsausschüsse zu den Morden am Breitscheidplatz in Berlin sowie des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ belegen, wie schwierig es offenbar ist, sich mit den hinter den Taten liegenden Systemen zu befassen und die Taten unterstützende Personen und Systeme zu ermitteln.
Noch schwieriger wird es, wenn es um Morde geht, die in den Statistiken als Beziehungstaten erscheinen, Morde an einzelnen Personen, begangen von Personen, die in der Regel aus dem familiären Umfeld kommen, aber auch Morde, die eine sexuelle Motivation nahelegen.
Die Frage nach den Hintergründen, der Motivation oder möglicherweise sogar nach der Akzeptanz von Morden, hat viel mit der Frage zu tun, wie sich eine Gesellschaft im allgemeinen Sprachgebrauch mit den Motiven eines Mordes auseinandersetzt. Begriffe wie „Beziehungstat“, „Psychopath“ oder „Einzeltäter“ entlasten Strafverfolgungsbehörden, Politik und Gesellschaft vor der Übernahme einer Mitverantwortung, die möglicherweise einfach darin bestehen könnte, weggeschaut zu haben. Jeder Täter wird als einzelner pathologischer Fall betrachtet und von Gerichten und Öffentlichkeit entsprechend be- und verurteilt.
Femizid – Spitze eines Eisbergs
Als „Beziehungstat“ schlechthin gilt die Ermordung einer Frau durch ihren Partner, eine Tat, die inzwischen auch unter dem Begriff „Femizid“ diskutiert wird. Unterschätzt wird in den öffentlichen Debatten auch Hass auf Frauen als Teil eines Motivbündels. Vor allem Rechtsextremist*innen verbinden Antisemitismus und Rassismus mit Hass auf Frauen. Bei sogenannten „Ehrenmorden“ wird in der Regel nicht über das Schicksal der betroffenen Frauen debattiert, sondern über die Religion der Täter als angebliches Hauptmotiv. Und wenn dies nicht passt, war es vielleicht doch nur eine „Beziehungstat“, über die zu berichten nicht von weiterem Interesse war (Elisabeth Kimmerle am 8. Februar 2018 in der taz über Frauenmorde in Deutschland und in der Türkei).
Mexiko ist meines Wissens bisher das einzige Land der Welt, das Femizid, spanisch Feminicidio, als eigenen Tatbestand in seinem Strafrecht aufführt. Wolf-Dieter Vogel hat am 8. März 2020 in der ZEIT über Femizid in Mexiko berichtet. Sein Artikel beginnt mit dem Satz: „Alle zweieinhalb Stunden wird in Mexiko eine Frau ermordet.“ Wenige Monate später, am 26. Mai 2020 war auf ZEIT Online ein weiterer Bericht über die Lage in Mexiko mit dem Titel „Zahl ermordeter Frauen auf dem Höchststand“ zu lesen.
Wolf-Dieter Vogel nennt Zahlen: „Vergangenes Jahr (d.i. 2019, NR) wurden offiziellen Angaben zufolge in Mexiko 3.788 Frauen umgebracht. Die Aktivistin María Salguero, die seit vier Jahren die Frauenmorde im Land dokumentiert, kommt auf 3.825 Fälle. Die Behörden stufen 980 der Taten als mutmaßliche Femizide ein, das sind mehr als doppelt so viele wie 2015.“ Strafverfolgung ist die Ausnahme: „Nur sieben Prozent aller Delikte gegen Frauen werden dem Statistischen Amt zufolge juristisch verfolgt, nach Angaben der Nationalen Ombudstelle für Menschenrechte (CNDH) kommt nur jeder zehnte Femizid vor Gericht.“ Dies scheint sich auch unter dem sich „links“ verortenden neuen Präsidenten Manuel López Obrador, seit dem 1. Dezember 2018 im Amt, nicht zu ändern. Er bezeichnete die Femizide als „Erbe des Neoliberalismus“ und hofft offenbar, dass die Morde mit der Überwindung des Neoliberalismus, die er sich vorgenommen hat, von selbst verschwinden. Bisher ohne Erfolg.
Auch für die USA gibt es Statistiken. Klaus Brinkbäumer zitiert in seinem Artikel „Harveys Schande“ vom 27. Februar 2020 in der ZEIT das 2019 erschienene Buch „No Visible Bruises“ von Rachel Louise Snyder: in den Jahren 2000 bis 2006 starben etwa 3.200 amerikanische Soldat*innen in einem der von den USA geführten Kriege, In der selben Zeit wurden über 10.000 amerikanische Frauen von ihren Partnern ermordet.
Für Russland hat Liza Alexandrova-Zorina die Gewalt gegen Frauen in dem Essay „Russische Frauen – Über Orthodoxie, Patriarchalismus und Gewalt im postsowjetischen Raum“ dokumentiert (nachzulesen in Lettre international Winter 2019). Liza Alexandrova-Zorina, die in einer kleinen Stadt auf der Halbinsel Kola lebt, berichtet von dem Flashmob #ichhabekeineangstzusprechen. „Dieser Flashmob fand eine breite Akzeptanz: Die Frauen waren bemüht, ein anderes Verhältnis zu denen, die stets ‚selbst schuld‘ sind, aufzubauen sowie zur Gewalt selbst, die oftmals als unabdingbarer Bestandteil des Familienlebens aufgefasst wird. Fast jede hatte wichtiges zu berichten. Wir haben von diesen Flashmobs bis zum Niveau von #MeToo noch einen gigantischen Schritt zu unternehmen, denn während die Frauen im Westen ihr Recht einfordern, keine Opfer von Belästigungen zu sein, kämpfen die Frauen in Russland noch um das Recht, nicht zu Tode geprügelt zu werden.“
Und in Europa, in Deutschland? „Laut einer UN-Studie wurden im Jahr 2017 in Europa mindestens 3.000 Frauen von ihren Partnern oder Familienangehörigen getötet. / Daten des Europäischen Netzwerks für Datenjournalismus aus dem Jahr 2015 zeigen, dass Italien, Deutschland und Großbritannien gemessen an absoluten Zahlen zu den Ländern gehören, in denen die meisten Frauenmorde registriert werden.“ (Quelle: Deutschlandfunk am 7. März 2020: „Frauenmorde in Europa – Wenn das Geschlecht eine Gefahr bedeutet“.)
Franziska Setare Koohestani schreibt am 30.3.2020 über Deutschland: „Statistisch gesehen ist das Zuhause einer der gefährlichsten Orte für Frauen. Der Grund: Jede dritte Frau erlebt im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexualisierte Gewalt – etwa jede vierte durch den eigenen Partner. Im Jahr 2018 gab es laut Bundeskriminalamt 114.393 ‚versuchte oder vollendete Delikte‘ der Partnerschaftsgewalt gegen Frauen in Deutschland. 122 Frauen wurden von Partnern oder Ex-Partnern umgebracht.“
Meine Schlussfolgerung: #MeToo ist nur die Spitze des Eisbergs mit dem Namen „Gewalt gegen Frauen“. #MeToo ist eine Bewegung, in der Frauen, die wissen, wie frau sich äußern kann, Männer entlarven. Viele Frauen sind dazu nicht in der Lage. Sandra del Pilar stellte in ihren Gesprächen mit Frauen in mexikanischen Gefängnissen fest, dass diese die Schuld für die erlittene Gewalt ihrem eigenen Unvermögen zuschrieben.
Andererseits zeigt #MeToo auch, wie lange es dauerte, bis die Zeit reif war, dass gebildete, gesellschaftlich arrivierte Frauen sich in den USA und in anderen westlichen Demokratien trauten, die Männer, die sie belästigt, genötigt, vergewaltigt hatten, anzuzeigen, und wie schwer es daher erst für die Frauen sein muss, die in prekären Verhältnissen leben. Liza Alexandrova-Zorina: „Kein Wunder, dass die Bewegung #MeToo (in Russland, NR) nur Unverständnis und Ablehnung herruft. Dass sexuelle Belästigung keine Norm ist, muss man bei uns auch Frauen erklären.“
„I can’t breathe“
Schuldumkehr ist eine oft erfolgreiche Strategie, Femizide, Antisemitismus und Rassismus zu bagatellisieren. Schuldig ist nicht der Täter, schuldig ist das Opfer. Dies gilt in besonderem Maße, wenn die Täter*innen ausführende Staatsorgane sind, beispielsweise in Polizei oder Strafvollzug. Am 2. Juni 2020 kündigte in der ARD eine Moderatorin an, über den von einem Polizisten verursachten Tod des 47jährigen George Floyd diskutieren zu wollen. Die Hautfarbe von George Floyd war schwarz, doch eingeladen waren nur Gäste mit weißer Hautfarbe. Als dann aufgrund einer Petition kurz vor der Sendung doch noch eine amerikanische Expertin mit schwarzer Hautfarbe zugeschaltet wurde, fragte die Moderatorin diese vor allem nach den Plünderungen, die es während der Proteste gegen die Ermordung von George Floyd gab.
Doch wie sieht das System aus, dass den Tod von George Floyd verursachte? Einige Erklärungen bietet Ava DuVernays Dokumentation „13th“ aus dem Jahr 2016 mit ihrer Herleitung von Polizeigewalt und Gefängnisindustrie aus einer Einschränkung im 13. Verfassungszusatz („13th Amendment“), die Sklaverei und Zwangsarbeit im Strafvollzug ermöglicht: „Neither slavery nor involuntary servitude, except as a punishment for crime whereof the party shall have been duly convicted, shall exist within the United States, or any place subject to their jurisdiction.“ Der Kongress hatte den Zusatz am 31. Januar 1865 verabschiedet. Der Staat Mississippi ratifizierte ihn am 16. März 1995 (kein Tippfehler!) als letzter Staat. Aufgrund einer Übermittlungspanne trat er dann erst nach 148 Jahren am 7. Februar 2013 in Kraft (die Dokumentation „13th“ ist auf Netflix verfügbar).
In „13th“ ist eine Szene zu sehen, in der ein Polizist einen Schwarzen Menschen zu Boden drückt, der sich mit den Worten wehrt: „I can’t breathe“. Allein diese Szene belegt, dass Polizisten, die solche Gewalt ausüben, keine pathologischen, sadistischen Einzeltäter sind, sondern dass das System, das ein solches Verhalten billigt oder möglicherweise sogar verlangt, einer näheren Untersuchung bedarf.
Andrea Böhm und Klaus Brinkbäumer stellen in ihrem Essay über Polizeigewalt in den USA vom 5. Juni 2020 in ZEIT Online die Fragen, die wir beantworten müssen: „Dass Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA systemisch ist, kann nach all den Morden in all den Jahrzehnten kein denkender Mensch mehr leugnen. Spielen Gruppendruck und Korpsgeist eine Rolle? Vielleicht. Überzeugung? Vermutlich. Arroganz, Missachtung? Zweifellos. Das Resultat jedenfalls ist schiere Brutalität als Ausdruck von Macht.“ Im Jahr 2019 wurden 1.099 Menschen von der US-amerikanischen Polizei getötet, zu einer Anklage kam es in den Jahren 2013 bis 2019 nur in 1 % der Fälle.
Die USA eignen sich in manchen Ländern, so in Deutschland, immer gut, um vom eigenen Rassismus abzulenken. Die Zahl der einschlägigen Fälle unterscheidet sich deutlich, aber das ist kein Grund für Selbstgerechtigkeit: die Umstände des Todes von Oury Jalloh, der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, sind nach 15 Jahren immer noch nicht geklärt. Und dies ist nicht der einzige vergleichbare Fall in Deutschland (siehe Andrea Dernbach am 5. Juni 2020 im Tagesspiegel über „Polizeigewalt gegen Nichtweiße“).
Ronen Steinke gab seinem Artikel über die im Polizeigewahrsam zu Tode gekommenen Aamir Ageeb, Achidi John, Laya-Alama Condé, William Tonou-Mbobda, Hussam Fadl, Rooble Warsame, Oury Jalloh, Amad Ahmad, Yaya Jabbiden den Titel: „Galerie der Unbekannten“. Ein Auszug: „Achidi John war 19 Jahre alt. Dem gebürtigen Nigerianer wurde am 8. Dezember 2001 in Hamburg gewaltsam ein Schlauch durch die Nase eingeführt, um ihm ‚mexikanischen Sirup‘ einzuflößen, wie das bei der Polizei hieß, das Brechmittel Ipecacuanha. (…) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die erniedrigende Praxis zwar längst zur verbotenen Folter erklärt, doch die Polizei – und die Politik – machten weiter, bis Achidi John sowie ein weiterer Schwarzer – Laya-Alama Condé in Bremen – daran starben und schließlich auch das Bundesverfassungsgericht ein Verbot aussprach. In Hamburg hatte Anfang der 2000er Jahre ein ehrgeiziger junger Innensenator namens Olaf Scholz den Einsatz von Brechmitteln einführen lassen – eine Härte im Umgang mit schwarzen Drogendealern, die man sich im Umgang mit Weißen selten herausnahm.“
Das Netzwerk „Death in Custody“ geht von 159 im Polizeigewahrsam zu Tode gekommenen Menschen mit dunkler Hautfarbe seit 1990 aus. Die Zahl 159 enthält auch Suizide in der Haft, Death in Custody bezweifelt jedoch, ob es sich tatsächlich um Suizide gehandelt habe. Zumindest darf man annehmen, dass die Menschen, die sich in Haft selbst getötet haben, sich außerhalb einer Haft nicht getötet hätten.
„Fun and Games“ in Abu Ghraib
Philip Zimbardo, Versuchsleiter des legendären Stanford Prison Experiment, hat nach Bekanntwerden der Misshandlungen irakischer Häftlinge durch amerikanische Soldat*innen im Gefängnis von Abu Ghraib einen der drei Hauptbeschuldigten, Sergeant Ivan „Chip“ Frederick, begutachtet und sich dafür eingesetzt, dessen Tatbeteiligung milder zu bestrafen, weil das in Abu Ghraib herrschende System zu berücksichtigen sei. Er beschreibt die Hintergründe in seinem Buch „Der Luzifer-Effekt – Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen“ (Berlin / Heidelberg, Springer, 2008, amerikanischer Titel: „The Luzifer Effect – Understanding How Good People Turn Evil“, 2007).
Mitverantwortlich – so Philip Zimbardo – seien die Armeeführung und die Spitzen der amerikanischen Politik bis hin zum Präsidenten und Vize-Präsidenten: „Als verantwortlicher Befehlshaber eines unbefristeten Krieges gegen den globalen Terrorismus hat der Präsident George W. Bush ein Team juristischer Berater beauftragt, eine legitime Basis für einen Präventivkrieg gegen den Irak zu etablieren, den Begriff Folter neu zu definieren, neue Gefechtsregeln zu entwickeln, die Freiheiten der Bürger durch den sogenannten PATRIOT Act einzuschränken und illegales Abhören und Lauschangriffe auf die Telefongespräche von US-Bürgern zu autorisieren.“
Philip Zimbardo verweist auf die Nähe dieser Legitimierung von Unrecht zu den Auffassungen von Carl Schmitt, der die Welt in Freunde und Feinde einteilte. Die Feinde wären zu bekämpfen. Über die Art und Weise und das Ausmaß werde politisch entschieden. Die berüchtigte Formel Carl Schmitts lautete: „Der Führer schafft das Recht.“ Abstrakter war die Definition von „Souveränität“ durch Carl Schmitt, der zufolge „souverän“ ist, wer „über den Ausnahmezustand entscheidet“.
Eben dieser „Ausnahmezustand“ wurde im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ vom amerikanischen Präsidenten ausgerufen. Und wer sich auf diese Art und Weise von höchster Stelle legitimiert sehen darf, die Genfer Konvention von 1949 zu ignorieren und andere Menschen als „Feinde“, zu misshandeln, zu foltern und zu ermorden, darf sich dann auch öffentlich bekennen. Es gibt genügend Fotografien von Angehörigen von Wehrmacht und SS, die Bilder von Hinrichtungen an ihre Familie in Deutschland schickten, und die Täter*innen von Abu Ghraib waren ebenso eifrig bemüht, ihre Taten zu fotografieren.
Philip Zimbardo fragt: „Was ging in ihnen vor? Warum haben sie ihre Misshandlungen mit ihrer persönlichen visuellen Unterschrift versehen?“ Er beantwortet diese Fragen mit der „Permissivität“, die sich aus der Situation ergeben hätte und sogar so weit gegangen wäre, dass eine der verurteilten Täter*innen, die Soldatin Lynndie England, das Geschehen in Abu Ghraib als „fun and games“ bezeichnen konnte. So entsteht eine Art „‘Karnevalseffekt‘, das Leben für den Moment, hinter einer Maske, die die eigene Identität verbirgt und für normalerweise nicht ausgelebte libidinöse, gewalttätige und selbstsüchtige Impulse ein Ventil schafft. (…) In solchen Situationen waren, wie in Abu Ghraib, die normalen sozialen Hemmungen gegen aggressives und antisoziales Verhalten suspendiert, während die Akteure einen erweiterten Verhaltensspielraum erlebten.“
Hinzu kommt die Aufwertung des eigenen Selbstbewusstseins, erwartbare Anerkennung durch Vorgesetzte. Die Täter*innen konnten ihren niedrigen Status in der Armee kompensieren, weil es Menschen gab, „die einen noch niedrigeren Status hatten“. Sie durften sich von ihren Vorgesetzten innerhalb und außerhalb ihres Arbeitsplatzes, der das Gefängnis von Abu Ghraib war, legitimiert oder sogar „aufgefordert“ fühlen zu handeln wie sie handelten. Sie taten offenbar, was das System von ihnen verlangte, oder zumindest durften sie dies annehmen.
Systemrelevant
Philip Zimbardo unterscheidet bei der Analyse der Gründe von Folter und Mord zwischen Person, Situation und System: „Die Person ist ein Akteur auf der Bühne des Lebens, dessen Verhaltensfreiheit durch seine Ausstattung – genetisch, biologisch, körperlich und psychologisch – geprägt ist. Die Situation ist der Verhaltenskontext, der durch seine Belohnungs- und normativen Funktionen die Macht hat, der Rolle und dem Status des Akteurs Sinn und Identität zu verleihen. Das System besteht aus den Individuen und Organen, deren Ideologie, Worte und Macht Situationen schaffen und die Rollen und Erwartungen für akzeptable Verhaltensweisen der Akteure innerhalb ihres Einflussbereichs diktieren.“
Das Stanford Prison Experiment sollte erklären, wie sich die Faktoren Person, Situation und System zueinander verhalten. Das Erkenntnisinteresse bestand somit auch in der Dekonstruktion des Mythos vom pathologischen Einzeltäter: „Die üblichen traditionellen Analysen der meisten Menschen, etwa in rechtlichen, religiösen und medizinischen Institutionen, rücken den Handelnden als alleinigen kausalen Faktor in den Mittelpunkt: so vernachlässigen oder missachten sie den Einfluss situativer Variablen und systemischer Determinanten, die die Ergebnisse von Verhalten prägen und die Akteure verändern.“
Wie stark das System und die von diesem vorgerufene Situation Menschen veränderte, im Fall des Stanford Prison Experiment die Studenten, die als Häftlinge beziehungsweise als deren Gefängniswärter agierten, belegt schon die Tatsache, dass Philip Zimbardo das Experiment nach sechs Tagen abbrechen musste, als die Situation in jeder Hinsicht unerträglich geworden war. Dies tat er nicht aus eigenem Antrieb, sondern erst aufgrund der heftigen Intervention seiner Freundin und späteren Ehefrau, Christina Maslach, die sich an einem fiktiven Komitee beteiligte, das über die Freilassung von Häftlingen auf Bewährung entscheiden sollte.
Philip Zimbardo hatte eine Schlüsselstellung nicht nur als Versuchsleiter, sondern auch als Gefängnisdirektor. Seine eigene Rolle wurde ihm zum Verhängnis, weil er nicht eingriff, sondern die immer brutaler werdenden Methoden der Wärter tolerierte. Er spricht sehr früh von „meiner Anstalt“ und wird zum Komplizen, der gleichzeitig Auftraggeber ist, sich im Grunde in der Position des politisch Verantwortlichen befindet, die in Kriegen Kriegsherren einnehmen, im Falle des „Kriegs gegen den Terror“ der US-amerikanische Präsident und seine Regierung.
Am Beispiel des sich als unzutreffend herausstellenden Gerüchts, ein entlassener Häftling plane eine Befreiungsaktion, wird das Dilemma deutlich: „Und wir litten unter der Spannung der kognitiven Dissonanz, so bereitwillig und fest an eine Lüge geglaubt zu haben. Zudem waren wir dem Phänomen des ‚Gruppendenkens‘ verfallen. Nachdem ich, der Versuchsleiter das Gerücht glaubte, hielten es auch alle anderen für wahr.“ Verantwortung für die Fehleinschätzung übernahm niemand: „Stattdessen haben wir unbewusst nach Sündenböcken gesucht, um uns von der Schuld reinzuwaschen. Und wir mussten nicht lange suchen: Wir waren von Gefangenen umgeben, die die Zeche für unser Versagen und unsere Verlegenheit zahlen würden.“
Die Brutalität der Wärter nahm stetig zu. Die Wärter „waren nicht die sprichwörtlichen ‚faulen Äpfel‘, sondern vielmehr hatte das ‚schlechte Fass‘ des Stanford Prison Schuld an den Verwandlungen, die sich so machtvoll gezeigt hatten.“ Auch die Häftlinge, die im Unterschied zu den Gefangenen in Abu Ghraib, in Konzentrationslagern, in Lagern des Gulag, im Grunde jederzeit hätten sagen können, dass sie ihr „Gefängnis“ verlassen wollten, passten sich an: „Die Grenzen zwischen Simulation und Realität sind verwischt: die Häftlinge reagieren auf die immer größer werdende Dominanz der Wärter zunehmend unterwürfig und ernst, (…) Aus Rollenspiel ist die Verinnerlichung der Rolle geworden; die Schauspieler haben die Charaktere und Identitäten ihrer Rollen angenommen.“
Zauberlehrlinge – die Demokratisierung des Bösen
In der politischen Debatte bezeichnen diejenigen, die eine Veränderung des aktuell geltenden politischen Systems betreiben, diejenigen, die dieses zurzeit bestimmen als „System“ und versuchen dabei, sich selbst im Kampf die Rolle eines David im Kampf gegen Goliath zu geben. Rechtsextremist*innen sprechen gerne von ihren Gegner*innen als „Systemparteien“, Linksextremist*innen vom „Schweinesystem“.
Philip Zimbardo: „Systeme sind die Maschinen, die Situationen produzieren, die Verhaltenszusammenhänge entstehen lassen, die die Handlungen der Menschen unter ihrer Kontrolle beeinflussen. Ab einem gewissen Punkt kann ein System etwas Eigenständiges werden. Unabhängig von denen, die es ursprünglich geschaffen haben, ja sogar unabhängig von denen, die vermeintlich innerhalb seiner Machtstruktur Autorität ausüben. Jedes System entwickelt allmählich seine eigene Kultur, und viele Systeme tragen gemeinsam zur Kultur einer Gesellschaft bei.“
Mitunter werden selbst die in dem System Herrschenden beziehungsweise die dieses zunächst Beherrschenden zu einer Art „Zauberlehrling“, der die Kontrolle verliert. Diejenigen, die ihre Situation als „Zauberlehrling“ begreifen, gehören dann vielleicht eines Tages zu denjenigen, die das System, das sie selbst geschaffen und unterstützt hatten, bekämpfen. Dies gilt beispielsweise für Menschen, die sich zunächst an nationalsozialistischer oder kommunistischer Herrschaft beteiligten, dann aber zu deren Gegnern wurden. Auch späte Einsicht ist Einsicht.
Philip Zimbardo geriet selbst in die Rolle des „Zauberlehrlings“, der allerdings auch äußeren Einfluss, in dem Fall den eines Menschen, mit dem er sich emotional verbunden fühlte, brauchte, um auf die Idee zu kommen, das von ihm geschaffene System zu zerstören. Er bezichtigt sich selbst „der Sünde der Unterlassung (…) des Bösen durch Untätigkeit“, denn „in der vergangenen Woche hatte ich mich allmählich in eine Gefängnis-Autoritätsfigur verwandelt, ich ging so und ich redete so. In meiner Umgebung reagierten alle auf mich, als sei ich eine solche Figur. Und darum wurde ich einer von ihnen.“
Fazit: „Die wichtigste einfache Lektion, die uns das Stanford Prison Experiment lehrt, lautet: Es kommt auf Situationen an. Soziale Situationen können gravierendere Auswirkungen auf das Verhalten und Denken von Individuen, Gruppen und Führern von Nationen haben, als wir es für möglich halten würden. Gewissen Situationen können uns durch ihren übermächtigen Einfluss dazu verleiten, uns so zu verhalten, wie wir es vorher nicht möglich gehalten hätten, ja halten konnten.“ Und da sich jeder beliebige Mensch in einer solchen Situation gewalttätig verhalten könnte, „demokratisiert (dies) das Böse und verteilt die Schuld auf gewöhnliche Akteure.“
„Gemeinschaftswerk“ Auschwitz
Philip Zimbardo referiert in „Der Luzifer-Effekt“ ein dem Stanford Prison Experiment vergleichbares Experiment an der University of New South Wales (Australien), dessen „zentrale Schlussfolgerung“ war, „dass feindselige, konfrontative Beziehungen in Gefängnissen hauptsächlich aus dem Charakter der Gefängnisse entstehen und nicht aus persönlichen Eigenschaften der Insassen und des Vollzugspersonals.“
Er erkennt im Verlauf des Stanford Prison Experiment Auschwitz: „Während ich diese Szene beobachte, fallen mir die Zeichnungen von Auschwitz-Häftlingen ein, die Nazi-Wärter in derselben Pose zeigen: Mit dem Stiefel auf dem Rücken eines Häftlings, der Liegestütze macht.“ Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Stanford Prison Experiment gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Die Täter*innen waren und sind keine Sadist*innen, sie waren und sind ganz normale Menschen – wie wir alle – wie die Leser*innen dieses Essays und natürlich auch dessen Autor. Nicht alle, die in einer der genannten Situationen landen, werden foltern und morden, aber diejenigen, die dies taten, hätten dies höchstwahrscheinlich nicht getan, wären sie nicht in diese Situation gekommen.
All dies erklärt somit nicht nur das Verhalten der am Stanford Prison Experiment beteiligten Personen, nicht nur das Verhalten in Abu Ghraib, in Guantánamo, im Gulag, in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern auch die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz von Misshandlung, Folter und Unrecht sowie die Neigung von Verantwortlichen, sich entweder auf die Befehle im System höher gestellter Personen zu berufen oder sich als Unbeteiligten, Unschuldigen, möglicherweise sogar als das eigentliche Opfer zu inszenieren. Es erklärt Gewalt im Auftrag eines Kollektivs, beispielsweise des Staates. Ein Auftrag muss dabei nicht explizit erteilt werden, es reicht die Annahme, dass Vorgesetzte und die Gesellschaft die Tat billigen, dass es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass die Misshandlung, die Folter, der Mord angemessen sind, die Misshandelten, Gefolterten und Ermordeten ihre „Behandlung“ verdient hätten. Taten, die eigentlich hätten bestraft werden müssen, wurden nicht bestraft, in der Regel sogar gelobt.
Die Einzigartigkeit des Systems Auschwitz liegt in hohem Maße am von den Nationalsozialisten erfolgreich organisierten Konsens, dass die Menschen, die deportiert, inhaftiert und ermordet werden sollten, zu Recht so „behandelt“ werden. Es spielt dabei keine Rolle, wie konkret die Menschen in Deutschland und anderswo über den Schrecken der Lager informiert waren. Entscheidend ist, dass alle zusehen und ihre Schlüsse ziehen konnten, wie und warum Menschen, die gestern noch Nachbar*innen waren, ihrer Würde beraubt, zusammengetrieben und deportiert wurden. Der NS-Begriff der „Sonderbehandlung“ erhält in diesem Kontext ihre eigentliche Bedeutung, als bürokratisch organisierter, moralisch legitimierter und gesellschaftlich akzeptierter Mord. Oder wie das Motto des Konzentrationslagers Buchenwald lautete: „Jedem das Seine“.
Philip Zimbardo bezieht sich auf Robert Jay Lifton („The Nazi Doctors“, erschienen 1986, die deutsche Fassung 1996 unter dem Titel „Ärzte im Dritten Reich“ bei Klett-Cotta), der die Widersprüche analysierte, in denen beispielsweise Ärzte in Konzentrationslagern agierten. Ärzt*innen als Mörder – das müsste sich eigentlich gegenseitig ausschließen. Manche Ärzt*innen (nicht alle waren Männer) hatten sicherlich Zweifel, aber sie entschieden sich letztlich für die Umsetzung der NS-Ideologie. Sie blieben – ganz im Sinne der Posener Rede Heinrich Himmlers vom 4. Oktober 1943 – „anständig“. „Die Nazi-Ärzte, die Lagerinsassen zur Vernichtung oder für Menschenversuche zu selektieren hatten, waren oft mit einem Loyalitätskonflikt konfrontiert, zwischen den ‚widerstreitenden Eiden, die geleistet worden waren, den Gegensätzen zwischen mörderischer Grausamkeit und momentaner Freundlichkeit, die die SS-Ärzte während ihrer Zeit in Auschwitz ständig zu demonstrieren schienen. Denn das Schisma schien nicht lösbar zu sein. Es bestand als Teil des umfassenden psychologischen Gleichgewichts, das es dem SS-Arzt ermöglichte, sein tödliches Werk zu verrichten. Er wurde in ein riesiges, brutales hochfunktionales System integriert.‘ (…) Auschwitz war ein Gemeinschaftswerk.“ (Das Zitat entnahm Philip Zimbardo „The Nazi Doctors“).
Mordstätte ohne Mörder?
In der Nähe von Auschwitz, polnisch Oświęcim, befand sich das größte Konzentrations- und Vernichtungslager der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Auschwitz war nicht der einzige Ort dieses Terrors. Allein die Zahl der Konzentrations- und Vernichtungslager und ihrer vielen Außenstellen, die Zahl der Deportationszüge und der Stätten in Mittel- und Osteuropa, an denen bereits vor der Ermordung mit Giftgas Menschen erschossen wurden, in Riga, in Babij Jar und anderswo, müsste jedem der Grundrechenarten kundigem Menschen zeigen, dass zur Zahl der Mordstätten eine große Zahl von Menschen gehören musste, die diese Morde verübten. In „Black Earth“ (2015) und „Bloodlands“ (2010) hat Timothy Snyder die nationalsozialistischen und stalinistischen Mordbetriebe in all ihren erschreckenden Ausprägungen beschrieben.
Kein Opfer ohne Täter*in, kein Mord ohne Mörder*in. Diejenigen, aus deren Reihen die Täter*innen, die Mörder*innen kamen, neigen dazu, deren Zahl zu reduzieren und einige wenige als die Schuldigen zu identifizieren. Eine politisch bedeutsame Reduzierung erfolgte am 1. Oktober 1968 mit Inkrafttreten des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz (1. EGOWiG). Verantwortlich war Eduard Dreher, der unter anderem ab 1938 als Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck wirkte, mehrere Todesurteile bewirkte und dennoch in den 1960er Jahren zum Unterabteilungsleiter im Bundesministerium der Justiz aufstieg.
Sozusagen en passant wurde auf Initiative Eduard Drehers – ohne dass es jemand in politisch verantwortungsvoller Position, weder der zuständige Justizminister noch der Deutsche Bundestag, merkten – § 50 StGB (Strafgesetzbuch) geändert. Der neue § 50 Absatz 2 stellte sicher, dass für die nationalsozialistischen Morde nur einige wenige Haupttäter, im Grunde Hitler, Himmler, Heydrich, verantwortlich gemacht werden konnten. Alle anderen leisteten nur Beihilfe, sodass deren Beitrag verjährte und niemand mehr verurteilt werden konnte. Ferdinand von Schirach hat die Folgen in seinem Roman „Der Fall Collini“ (München, Piper, 2011) literarisch verarbeitet.
Deutsche und Österreicher nahmen sich viel Zeit, die Unschuld ihrer Eltern und Großeltern zu beteuern. Ausführliche Debatten über die Schuld beziehungsweise Mitschuld von Wehrmachtssoldaten und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern tätigen Menschen gab es anlässlich der Hannes Heer zu Beginn der 1990er Jahre kuratierten Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht und des Buches von Daniel Jonah Goldhagen mit dem Titel „Hitlers willige Vollstrecker“ („Hitlers Willing Executioners“) 1996. Goldhagen knüpfte an eine Arbeit von Christopher Browning über das Polizei-Bataillon 101 an, die 1992 in New York und 1993 in deutscher Übersetzung erschien, Titel: „Ganz normale Männer“ („Ordinary Men“).
Samuel Salzborn hat dies 2020 in seinem Buch „Kollektive Unschuld“ auf eine eingängige Formel gebracht (erschienen bei Hentrich & und Hentrich. Er war nicht der erste, der dies tat. Bereits 1990 veröffentlichten sechs Autor*innen gemeinsam ein Buch mit dem ebenso einprägsamen Titel: „Wir sind alle unschuldige Täter“ (Untertitel: „Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus“, erschienen bei Suhrkamp). Mit einer Unschuldsbeteuerung des schuldigen und verurteilten Familienvaters endet im Übrigen auch der erste, im Jahr 1946 erschienene Film zum Thema: „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte.
Die „Tötungsmoral“ von Auschwitz
Die Beschreibung des Grauens ist die eine Seite der Medaille, die Analyse der Motive und des Verhaltens der Täter*innen die andere. Harald Welzer publizierte 2005 das Buch „Täter – Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ (erschienen bei Fischer). Harald Welzer leitete aus der Analyse seines Täterbuches gemeinsam mit Dana Gieseke Konsequenzen für die deutsche Erinnerungskultur ab, nachzulesen in dem 2012 von der edition Körber-Stiftung herausgegebenen Buch „Das Menschenmögliche – Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“.
Harald Welzer und Dana Gieseke fordern die „Entwicklung eines Möglichkeitssinns“ und entwickeln, der „die Potenziale der Menschen zum Guten und zum Schlechten“ ebenso berücksichtigt wie die „Mythen und Irrtümer (…), die im Alltagsleben kursieren“. Im Alltag vernachlässigen die meisten Menschen die über die jeweilige Situation hinausweisenden Möglichkeiten und berufen sich auf die aktuellen Gegebenheiten, um ihr Handeln zu begründen und zu rechtfertigen. Die Kritik der beiden Autor*innen an der deutschen Erinnerungskultur lautet: „In den Schulen lernen die Kinder dann viel über die Schrecken der Vergangenheit und darüber, was ‚nie wieder‘ zu geschehen habe, aber sie lernen wenig über die möglichen Zukünfte, die in der Gegenwart stecken“, somit auch nichts darüber, zu welchen Taten und Untaten jeder Mensch letztlich fähig wäre.
In „Täter“ spricht Harald Welzer von „Tötungsmoral“, eines der Kapitel trägt die Überschrift „Tödliche Situationen“. Sein Erkenntnisinteresse ist eine „Sozialpsychologie des NS-Massenmords“; „Die enorme Dynamik des Entsolidarisierungsprozesses im nationalsozialistischen Deutschland ist bis heute noch nicht Gegenstand einer sozialpsychologischen Untersuchung geworden, obwohl sie beunruhigende Hinweise auf die offenbar gegebenen Möglichkeiten gibt normative und soziale Gefüge in nur wenigen Monaten umzuformatieren und eine spezifische Moral, in diesem Fall eine nationalsozialistische, zu etablieren.“
Bei der Analyse der Biographien von Täter*innen in allen Hierarchiestufen „findet man nur ausnahmsweise sadistische Persönlichkeiten, etwas vom Schlag Ilse Kochs, der Ehefrau des seinerseits wegen Verfehlungen abgesetzten Kommandanten von Buchenwald, Erich Koch, oder Amon Göths, Kommandant des durch Steven Spielberg berühmt gewordenen Lagers Plaszow (sic!), der zum persönlichen Vergnügen Häftlinge von der Veranda seiner Villa aus zu erschießen pflegte. (…) Aber das heißt im Umkehrschluss, dass die weit überwiegende Mehrheit der Täterinnen und Täter psychologisch exakt jenem Bild entspricht, das wir uns selbst zuschreiben würden: ‚normal zu sein‘.“ Harald Welzer zitiert Primo Levi: “Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“ In einer Fußnote weist Harald Welzer darauf hin, dass dieser Satz in der deutschen Ausgabe von „Se questo è un uomo“ (deutsch: „Ist das ein Mensch?“) fehle.
Menschen wollen gut sein, sie wollen nicht „als ‚schlecht‘ (…) gelten“. Wenn dies für die in führenden Positionen verantwortlichen Menschen gilt, gilt dies erst recht für die Menschen in den unteren Hierarchiestufen. Heinrich Himmler – so Harald Welzer im Rückgriff auf die Biographie von Richard Breitmann („Himmler and the Final Solution – The Architect of Genocide, London 1991) verstand sich als „Moralist“. Der Stellvertreter Reinhard Heydrichs, Werner Best, vertrat „das Konzept eines ‚seriösen Antisemitismus‘“. Und alle Himmler, Heydrich, Best und anderen Unterstellten erhielten somit eine überzeugende Legitimation, so zu handeln wie sie handelten, bis hin zum Mord.
„Die Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Projekts liegt in der gesellschaftlichen Umsetzung der Behauptung, dass Menschen radikal und unüberbrückbar ungleich seien.“ Es gelang den Nationalsozialisten, dass die von ihnen gestellte „‘Judenfrage‘ (…) sowohl die Rolle eines kollektiven Bezugspunkts wie die einer Relaisstation zur Reduktion von Komplexität“ erhielt. Wer sich ihrer Weltanschauung anschloss, profitierte davon, nicht nur wirtschaftlich (hierzu Götz Aly in „Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2005), sondern auch emotional und moralisch: „Die kollektive Nobilitierung der ‚Arier‘ ist eine Sache des Gefühls, aber eines Gefühls, das ein immer festeres, unwiderstehlicheres Widerlager in der sich verändernden Wirklichkeit fand.“
So wirkt „die normative Macht des Faktischen“: „Für die Etablierung dieser neuen Wirklichkeit ist die praktische Konstruktion der neuen, überlegenen Wir-Gruppe mittels der praktischen Entrechtung und Beraubung der unterlegenen Sie-Gruppe essentiell, genauso wie deren Stilisierung zum tödlichen Weltfeind.“ Harald Welzer dokumentiert zahlreiche Äußerungen von Menschen, die stolz darauf waren, zur Vernichtung des Erzfeindes beizutragen und im doppelten Sinne „anständig“ zu bleiben. Der Krieg, die Konzentrationslager – das waren die Situationen, in denen sie agierten, im Sinne des Systems der NS-Ideologie „bewährten“. Ihre bürgerliche Existenz im jeweiligen Heimatort, in der Familie, im Kreis der Verwandten und Freund*innen, blieb davon unberührt.
Wie alles anfängt – wie „Situationen“ entstehen
Die „Geschwindigkeit“, in der die am Stanford Prison Experiment beteiligten Akteure ihre Rolle übernahmen, mag verwundern. Diese Verwunderung mag jedoch nur teilen, wer die „enorme Dynamik des Entsolidarisierungsprozesses“ unterschätzt, den Harald Welzer exemplarisch beschreibt. Am 30. Januar 1933 glaubten viele, dass sich Hitler nicht lange an der Macht halten würde, doch es gelang den Nazis in wenigen Monaten, den Reichstag zu entmachten, die Gewaltenteilung aufzuheben, Oppositionelle und Juden aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen und zu verhaften, euphemistisch formuliert „in Schutzhaft zu nehmen“, die Kultur gleichzuschalten und die eigenen Kampftruppen, SA und SS, mit polizeilichen Aufgaben zu versehen.
Philip Zimbardo referiert ebenso wie Harald Welzer die Ergebnisse des 1961 von Stanley Milgram durchgeführten Experiments. Proband*innen sollten für sie nicht sichtbare Personen für falsche Antworten auf die Fragen des als Lehrer getarnten Versuchsleiters mit Stromstößen bestrafen. Etwa 65 Prozent der Teilnehmer gingen bis zur höchsten Stufe von 450 Volt, durch Einführung einiger Variablen konnte diese Zahl auf über 90 Prozent gesteigert werden. Beispielsweise fiel es Proband*innen leichter, die Stromstöße zu steigern, wenn die „Schüler“ weiter entfernt waren.
Der Erfolg solcher Gehorsamkeitsfolter stieg schrittweise. Es begann mit einem ersten Schritt, mit einen leichten Stromstoß von 15 Volt, uns geht dann schrittweise voran. Die Verantwortungsübernahme durch eine Autoritätsperson, auch für den Tod des „Schülers“, erleichtert es fortzufahren, auch die gelegentliche Erlaubnis zu Widersprüchen, sofern der Gehorsam nicht als solcher aufgekündigt wird. Und nicht zuletzt gilt das Vorhandensein einer Tarngeschichte“, einer „cover story“, „oft als Verschleierung für die dann folgenden Abläufe, die infrage gestellt werden könnten, weil sie für sich allein genommen keinen Sinn ergeben.“
So funktioniert „Ideologie“: Philip Zimbardo: „Die meisten Nationen setzen eine Ideologie ein, typischerweise ‚Bedrohungen der nationalen Sicherheit‘, bevor sie in den Krieg ziehen, oder um politische Dissidenten mundtot zu machen. Wenn Bürger befürchten, ihre nationale Sicherheit sei bedroht, werden sie willens, ihre Bürgerrechte einer Regierung preiszugeben, die ihnen diesen Tausch anbietet.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Konformitätsstudien. Viele sind leicht bereit, die Farbe Blau unzutreffend als Grün oder umgekehrt zu bezeichnen, wenn eine Mehrheit dies tut, vor allem dann, wenn sie alleine auf der richtigen Bezeichnung beharren müssten. Krankenschwestern können von Anrufer*innen, die sich als zuständige Ärzt*innen ausgeben, zur Fehlbehandlung von Patient*innen verleitet werden, obwohl die ihnen bekannten Warnhinweise der Medikamente ihnen dieses verbieten müssten.
Berüchtigt ist schließlich „The Wave“ (mehrfach verfilmt, 2008 in Deutschland unter dem Titel „Die Welle“), einem Experiment, in der in einer Geschichtsstunde einer Highschool in Palo Alto (California) Schüler*innen bereit waren, Verhaltensweisen des Nationalsozialismus nicht nur zu simulieren, sondern ähnlich wie „Wärter“ und „Häftlinge“ im Stanford Prison Experiment zu verinnerlichen.
Die in einem weiteren Experiment vollzogene Trennung von Kindern in Blauaugen und Braunaugen, verbunden mit der Erzählung, dass die eine Gruppe überlegen, die andere unterlegen wäre, führte zu folgendem Ergebnis: „Die vorher so wundervoll kooperativen und rücksichtsvollen Kinder wurden zu garstigen, boshaften diskriminierenden kleinen Drittklässlern.“ (zitiert nach Zimbardo). Vielleicht lohnt es sich, unter diesen Gesichtspunkten das in den 1930er Jahren erschienene, aber erst 1948 veröffentlichte Buch „Die Perlmutterfarbe“ von Anna Maria Jokl (1911 – 2001) wiederzulesen. Eine vergleichbare Situation beschreibt Verena Güntner in ihrem 2020 erschienenen Roman „Power“. Der literarische Klassiker für einen solchen Versuchsverlauf ist William Goldings 1954 erschienenes Buch „The Lord of the Flies“ („Der Herr der Fliegen“), das Philip Zimbardo mehrfach zitiert.
Es ist beliebig steigerbar. In einem Projekt an der University of Hawaii konnte der Versuchsleiter in der Rolle eines vermeintlichen ausländischen Experten, Studierende von einer erforderlichen „Endlösung“ überzeugen: „Das unglaublichste Ergebnis: volle 91 Prozent aller Befragten stimmten der Aussage zu, dass es ‚unter extremen Umständen völlig gerecht ist, diejenigen zu eliminieren, die als größte Bedrohung für das Allgemeinwohl eingestuft werden‘! / Und schließlich unterstützten erstaunliche 29 Prozent diese ‚Endlösung‘, selbst wenn sie an ihren eigenen Familien vollzogen würde!‘“
Systeme – Situationen – Persönlichkeiten
Es reicht nicht aus, sich mit Auschwitz auseinanderzusetzen, um systematische und systembedingte Gewalt zu verhindern. Ein Vernichtungssystem, wie das, für das der Name „Auschwitz“ verwendet wird, ist jederzeit wieder möglich, wenn wir uns nicht dessen bewusstwerden, dass Menschen in einer entsprechenden Situation foltern und morden werden, wenn sie dazu aufgefordert werden oder sich aufgefordert fühlen dürfen.
In diesem Essay habe ich neben dem mit allen Mitteln, die einer Industriegesellschaft zur Verfügung stehen, begangenen nationalsozialistischen Massenmord Polizeigewalt, Femizide und Gewalt in einem Militärgefängnis als Beispiele für die These „Gelegenheit macht Mörder“ genannt. Harald Welzer befasst sich in seinem Buch „Täter“ auch mit Morden in Jugoslawien, in Ruanda und in Vietnam. Sein Fazit: „Das Töten in Vietnam ist also in vielerlei Hinsicht etwas anderes als das Töten im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg. Gleichwohl macht dieser Fall deutlich, dass es nicht unbedingt eines autoritären oder diktatorischen Regimes bedarf, um Handlungsrahmen wie den von My Lai zu eröffnen und Menschen sich für unterschiedsloses Töten entscheiden zu lassen. Eine normative Hintergrundvoraussetzung, situative Anforderungen und individuelle Orientierungsbedürfnisse reichen offenbar dafür aus, dass das geschieht.“
Die Täter befinden sich jedoch selbst in einem autoritären oder diktatorischen Regime nicht in einem „Verbotsirrtum“, auf den sie sich strafmildernd berufen könnten. Sie passen sich schrittweise, geradezu unmerklich an, spalten durchaus vorhandene Bedenken ab und erledigen Folter und Mord wie jede andere ihnen gestellte Aufgabe auch. Sie werden gelobt, ihr Handeln wird akzeptiert, und so ist der Weg nach Auschwitz nicht weit.
Ich weiß nicht, ob ich Philip Zimbardo folgen soll, wenn er darüber nachdenkt, ob „Chip“ Frederick zu hart bestraft worden wäre. Ich stimme ihm jedoch zu, dass die Frage „warum“, „why“, nicht nur die einzelne Tat betreffen darf, sondern das gesamte System, in dem eine solche Tat möglich wurde. Anders gesagt: Tausende von ermordeten Frauen verweisen nicht auf Tausende von Taten, sondern darauf, dass es eine Gesellschaft, ein System gibt, das solche Taten legitimiert und ihre Verfolgung unterlässt oder sogar gewollt verhindert. Wir müssen die Gelegenheiten identifizieren, an denen sich jemand legitimiert fühlen könnte, die Ehefrau, die Partnerin oder im Falle der Polizei und des Justizvollzugsdiensts ihre jeweiligen „Klienten“ zu foltern und zu ermorden. Wir müssen die Systeme erforschen, die diese Gelegenheiten schaffen und fördert. Eine Wiederholung oder eine Erweiterung des Stanford Prison Experiment verbietet sich aus ethischen Erwägungen, aber es bietet nach wie vor die Grundlage für eine solche Forschung.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Für den Hinweis auf Philip Zimbardos Buch „Der Luzifer-Effekt“ danke ich Dra. Sandra del Pilar, mit der ich im Frühjahr 2020 Gelegenheit hatte zu sprechen. Sie erlaubte mir als Titelbild einen Ausschnitt ihres Bildes „Treat me like a fool, treat me like I´m evil“ zu verwenden (2017, Öl und Acryl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser, Slg. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm ©Carlo Sintermann). Darüber hinaus stellte sie mir mehrere weitere Bilder zur Verfügung, die die Aussagen des Textes eindrucksvoll illustrieren und verdeutlichen. Auch dafür danke ich ihr. Für den Hinweis auf das Buch „Wir sind alle unschuldige Täter“ (von Ruth Wodak, Peter Nowak, Johanna Pelikan, Helmut Gruber, Rudolf de Cilia und Richard Mitten) danke ich Prof’in Dr’in Monika Schwarz-Friesel.)