Geliebtes Appeasement

Wie sich die Deutschen in einem Faulen Frieden gefielen

„Ihm geht es darum, die moralische Überlegenheit der russischen Welt zu demonstrieren. Und gleichzeitig die Verdorbenheit der westlichen Welt. Wo Männer Männer heiraten, wo man für Kleingeld Bundeskanzler kaufen kann, wo es überhaupt keine immateriellen Werte mehr gibt. Im Grunde hat Putin die ganze Zeit eine Bergpredigt als verkannte Weltmacht an die Welt gehalten. Aber diesen Berg, den hat gar keiner gesehen. Das war glaube ich ausschlaggebend für seine Entscheidung, zum letzten Überzeugungsmittel zu greifen: zur Gewalt.“ (Wladimir Kaminer am 1. März 2022 in einem Interview mit Christian Hönecke im Tagesspiegel)

In den Tagen rund um den 24. Februar 2022 erschienen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften eine Fülle von Texten, in denen versucht wurde, Erklärungen für das zu finden, was geschah. Krieg in Europa? Das war für viele in Westeuropa trotz der ständigen Drohungen aus Moskau und trotz der Hinweise aus Washington undenkbar. Leere Drohungen, Großmannssucht, was auch immer? Eine unmittelbare Wirkung: Zeitungen und Zeitschriften befragten internationale Expert*innen ebenso wie gestandene Expert*innen der deutschen Universitäten. Essays, Interviews, Testimonials – all das war in einem Ausmaß zu finden, das sich manche vielleicht auch schon in früheren Jahren gewünscht hätten.

Ich versuche einen Rundgang durch Texte der Woche vom 24. Februar bis zum 1. März 2022. Manche dieser Texte waren am Tag der Invasion der russischen Armee in der Ukraine bereits geschrieben und gedruckt, andere erschienen wenige Stunden oder Tage später. Vollständigkeit ist nicht erreichbar, ich konzentriere mich auf Zeitungen und Zeitschriften, die ich regelmäßig lese, meine Leser*innen werden andere lesen und mögen vergleichen. Mir scheinen sich drei Themen herauszukristallisieren: die Nicht-Existenz einer kohärenten Sicherheitspolitik des Westens, die Rolle einer legitimierenden oder auch delegitimierenden Geschichtspolitik sowie die Frage nach der Zukunft der freiheitlichen Demokratie in einer Zeit, in der manche den Staat für eine Art Dienstleistungsbetrieb zu halten scheinen.

Zeitzeug*innen

Einen „Faulen Frieden“ nannte Thukydides den Nikias-Frieden aus dem Jahr 421 v.u.Z. zwischen den beiden damaligen Großmächten Athen und Sparta, der 50 Jahre gelten sollte. Im Jahr 1991 löste ein solcher „Fauler Friede“ den „Kalten Krieg“ ab. Einen Sieger dieses Krieges gab es entgegen verbreiteter Annahmen nicht. Ergebnis war ein „Fauler Friede“, in dem sich vor allem die Deutschen etwa drei Jahrzehnte lang gemütlich eingerichtet haben. Militäreinsätze unter Beteiligung Deutschlands? Sogar im Ausland, im Kosovo, in Afghanistan, in Mali, am Horn von Afrika? All das hatte eigentlich nichts mit uns in Deutschland zu tun. Die heftigen Debatten um den Einsatz im Kosovo waren schnell ausgestanden. Und dann folgten die ritualisierten Verlängerungen der diversen Einsätze im Deutschen Bundestag. Die Mehrheiten waren immer sicher, auch wenn einige Abgeordnete unwillig grummelten. In den Zeitungen erschienen gelegentlich Berichte. Eindrucksvoll waren und sind die im ZEITmagazin veröffentlichten Berichte von Wolfgang Bauer und Andy Spyra, die regelmäßig in Gebieten reisen, die euphemistisch „Krisengebiete“ genannt werden, und dort unter Einsatz des eigenen Lebens versuchen, der deutschen Öffentlichkeit ein Bild zu vermitteln. Ich empfehle für einen ersten Eindruck die Lektüre des von den beiden gemeinsam gestalteten Buchs „Die geraubten Mädchen – Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas (Berlin, Suhrkamp, 2016).

Auch der ein oder andere Roman spiegelte das Leben, konkret zur Ukraine aktuell der Roman „Hundepark“ der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen (die deutsche Ausgabe erschien bei Kiepenheuer & Witsch), in dem die ukrainische Kinderwunschindustrie sowie Drogenproduktion und -handel eine Hauptrolle spielen. Ukrainische Frauen, die von einer Model-Karriere im Westen träumen, vermieten ihren Körper als Leihmütter und spenden Eizellen. Olga Grjasnowa spiegelte den Syrienkonflikt in ihrem Roman „Gott ist nicht schüchtern“ (Berlin, Aufbau Verlag, 2017) in den Schicksalen eines Liebespaares. All das war Literatur, weit weg von unserem gemütlichen deutschen Alltag. Es gab ja Wichtigeres, die Benzinpreise zum Beispiel.

Ich bin mir nicht sicher, ob alle Leser*innen, mich eingeschlossen, Fiktion und Realität bei ihren Lektüren korrekt auseinanderhalten und den Realitätsgehalt hinter den literarischen Spiegelungen richtig erkennen. Das ist auch schwierig, wenn man nicht vor Ort war und ist, und selbst wenn man es wäre oder gewesen wäre, sah oder sieht man nur Ausschnitte und mitunter nur das, was diejenigen zulassen, die den Einblick erlauben. Insofern haben diejenigen, die mit ihren Recherchen ihr Leben riskieren oder wie die Fotografin Anja Niedringhaus sogar ihr Leben verlieren, meinen höchsten Respekt. Wir brauchen ihre Berichte, ihre Fotografien, weil wir uns sonst kein Bild machen können, nicht einmal den Hauch eines Bildes.

So kommt vielleicht auch die Überraschung in den Medien und in den deutschen Parteien darüber zustande, dass Putin seine Drohungen wahrmachte. Krieg gab es in Geschichtsbüchern, Romanen und Fotobänden. Man könnte es fast für tragisch halten: Als die Grünen 1998 Regierungsverantwortung übernahmen, folgte kurze Zeit später die Entscheidung, sich am Kosovo-Krieg zu beteiligen. Joschka Fischer begründete dies mit der deutschen Verantwortung nach Auschwitz. Als die Grünen im Jahr 2017 erneut Regierungsverantwortung und auch dieses Mal mit Annalena Baerbock das Außenministerium übernahmen, folgten die russische Invasion in der Ukraine und am 27. Februar 2022 die Ankündigung des Bundeskanzlers, ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden EURO für den Verteidigungshaushalt zu schaffen und der Ukraine Waffen zu liefern. Wie sehr er diese Ankündigung mit wem vorher abgestimmt hatte, bleibt offen.

Ich halte es für wahrscheinlich, dass neben dem Kanzler nur vier Personen im vollen Umfang Bescheid wussten, Vizekanzler, Finanzminister, Außenministerin, Verteidigungsministerin. Aber das ist Spekulation und eigentlich ein Nebenschauplatz. Wie stark sich die pazifistischen Fraktionen vor allem in SPD und Grünen zu Wort melden werden, wird sich zeigen. Die Vorsitzende der Jusos hat sich umgehend gegen das Sondervermögen positioniert. Ein prominenter Abgeordneter der Grünen aus Köln hingegen twitterte, er sei jetzt auch für „Aufrüstung“. Dass es bei dem 100-Milliarden-Fonds angesichts der Versäumnisse der Vergangenheit, nicht um „Aufrüstung“, sondern um die Sicherung einer funktionsfähigen „Ausrüstung“ ging, hatte er noch nicht mitbekommen. Kam ja auch so plötzlich. Wer hätte das gedacht? Nun kommt die Zeit der internen Gegengeschäfte. Vielleicht aber setzt sich in dieser Zeit auch die Einsicht durch, dass die größten Abrüstungsvorhaben, die es in der Menschheitsgeschichte jemals gab, in den 1980er Jahren nur möglich waren, weil Friedensbewegung und NATO-Nachrüstungsbeschluss sich gegenseitig in der Wirkung verstärkten, den Kalten Krieg zu entschärfen. Gustav Seibt verwies am 1. März 2022 in der Süddeutschen Zeitung auf diesen Zusammenhang.

Hochachtung verdienen die Menschen, die in Russland leben und schreiben und mit Leib und Leben bedroht sind, wenn sie sich kritisch gegenüber der russischen Führung äußern. Dazu gehören beispielsweise Irina Scherbakowa, Mitgründer*in von Memorial oder auch die russländische Schriftstellerin Alissa Ganijewa, Autorin des Romans „Die russische Mauer“ (2014 bei Suhrkamp erschienen). Alissa Ganijewa hat zwar die russische Staatsangehörigkeit, ist jedoch keine ethnische Russin. Daher wählte die ZEIT in der Übersetzung ihres Textes vom 28. Februar 2022 „Ich schäme mich“ den Begriff „russländisch“. Sie schreibt: „Ich schäme mich unendlich, Teil der russländischen Gesellschaft zu sein. Dieser schweigenden, geduldigen, leichtgläubigen, fügsamen Gesellschaft, die unfähig ist, Ursache und Wirkung zu erkennen; die jedes Blutvergießen rechtfertigt; die an gekränktem, erniedrigtem, revanchistischem Großmachtstreben leidet. Die Diskussion, ob wir Scham empfinden sollten – immerhin haben wir diese Regierung nicht gewählt, echte Wahlen gibt es seit Mitte der Neunzigerjahre nicht mehr und wir sollten die Verantwortung nicht mit der Regierung teilen, um deren Schuld nicht zu vermindern –, ist heute innerhalb liberaler Kreise in Russland von zentraler Bedeutung.“

Alissa Ganijewa schreibt offen über das Risiko, das sie und viele andere eingehen: „Es geht nicht mehr um kleine Geldstrafen, sondern um große Summen, um Stunden oder Tage in Arrestzellen; und wenn man Pech hat, wird man verprügelt, verletzt, verliert den Arbeits- oder den Ausbildungsplatz, riskiert eine Strafanzeige, Lagerhaft und sogar das Leben.“ Sie notiert, dass Putin seine Strategie – ich frage mich, ob es überhaupt eine ist – an großen Vorbildern orientieren müsse, am „Großen Vaterländischen Krieg“, den er ständig beschwört und damit seine Gegner, die ukrainische Führung, die EU, die NATO, gleichermaßen als NS-Wiedergänger identifiziert. Wie lange ihm das nützt, wird sich zeigen.

Am 2. März 2022 wurde bei einer Demonstration gegen den Krieg Elena Osipowa, eine berühmte Überlebende der 28 Monate langen deutschen Blockade Leningrads, verhaftet. So viel zum „Großen Vaterländischen Krieg“. Alissa Ganijewa warnt aber auch davor, Putin als Wahnsinnigen oder Verrückten hinzustellen, ihn zu pathologisieren: „Ich möchte als Letztes betonen, dass Wladimir Putin, der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko und ihre ganze Umgebung, ob Sicherheitsapparat oder sonstige Eliten, zwar wie ein Heer von Psychopathen wirken, man ihre Untaten aber nicht etwa auf Wahnsinn zurückführen darf.“ Auch die inzwischen populären Hitlervergleiche helfen nicht, auch sie sind eine Form von Ignoranz. Sie dämonisieren, vermeiden aber eine rationale Auseinandersetzung. Sie klingen fast so, als müsse man, um Putin zu stoppen, auf einen D-Day und Straßenkämpfe in Moskau warten.

Arrangement mit dem Ende der Geschichte

Der Krieg um die Ukraine ähnelt in einem Punkt der Corona-Krise. Diese machte die Folgeschäden einer neoliberalen Gesundheits- und Sozialpolitik sichtbar, der russische Angriff auf die Ukraine entlarvt die sicherheitspolitischen Lebenslügen der westlichen Welt. Er macht all die Versäumnisse der vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre sichtbar, parteiübergreifend. Es ließe sich mit Gewinn erforschen, warum und wie der beliebteste Verteidigungsminister, den Deutschland je hatte, der bekannt-berüchtigte fränkische Freiherr, die Bundeswehr ruinierte. Nicht die Abschaffung der Wehrpflicht war der entscheidende Punkt, entscheidend waren Rückbau und Vernachlässigung der Infrastruktur sowie die Weigerung, sich in einer Welt zu positionieren, in der Kriege nur noch Polizeioperationen zu gleichen schienen. Herfried Münkler war meines Wissens der erste, der von asymmetrischen Kriegen sprach. Letztlich ein polizeiliches Problem, kein militärisches. Der aktuelle Krieg um die Ukraine lehrt, dass es nach wie vor Kriege in den traditionellen Strukturen gibt. Ein Land überfällt das andere. Ebenso interessant wäre die Analyse der Wirkung eines anderen eher martialisch auftretenden deutschen Verteidigungsministers, der die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch formulierte, dem die ein oder andere Tat folgen ließ, aber letztlich auch nichts gegen die Militärmüdigkeit in Deutschland vermochte.

Sicherheitspolitik fand in Deutschland in den vergangenen dreißig Jahren so gut wie nicht mehr statt. Die Deutschen hatten sich spätestens mit dem 3. Oktober 1990 kollektiv mit dem „Ende der Geschichte“ arrangiert, von dem Francis Fukuyama 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ und drei Jahre später in Buchform schrieb. In Deutschland verstand kaum jemand, was der Originaltitel bedeutete: „The End of History and the Last Man“. Mit dem „letzten Menschen“ zitierte Francis Fukuyama eine Figur der Philosophie Friedrich Nietzsches, ein Mensch, der sich mit den Nebensächlichkeiten des Alltags begnügt und sich mehr oder weniger ausschließlich um sein privates Wohlbefinden sorgt, durchaus vergleichbar der Figur des Wagner im Osterspaziergang des „Faust“: „Nicht Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei / Wenn hinten, weit in der Türkei / Die Völker aufeinander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus / Und segnet Fried und Friedenszeiten.“

So reagierten viele Deutsche auf die Konflikte in fernen Ländern. Was kümmern uns der Kosovo, was Mali, was Nigeria, was Afghanistan, was Syrien? Der sogenannte „Islamische Staat“ wurde erst zur Bedrohung, als ausgereiste deutsche Muslim*innen wieder zurückkehren sollten. Eben dies ist auch ein Thema des in der Berlinale 2022 vorgestellten Films von Andreas Dresen „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“. Die Bundeskanzlerin und ihr Außenminister verhinderten mehrere Jahre lang die Rückkehr eines definitiv unschuldigen Menschen aus Guantánamo nach Deutschland. Und die Geflüchteten aus Syrien? Sie wurden zunächst von manchen Deutschen am Münchner Hauptbahnhof freudig begrüßt, doch wenige Monate später, nach der Kölner Sylvesternacht, weitestgehend mit sexuellen Straftätern identifiziert. Ertrunkene im Mittelmeer – wen bewegte das noch? Mit der Ukraine sieht es anders aus, meines Erachtens jedoch weniger, weil die Ukraine den Deutschen so sehr am Herzen liegt, eher wohl, weil niemand weiß, wie weit Putin tatsächlich noch gehen könnte. Am 28. Februar 2022 wies der Berliner Tagesspiegel darauf hin, dass eine russische Atomrakete gerade einmal fünf Minuten bräuchte, um Berlin zu erreichen. Und Polen stellte klar, dass die Bereitschaft zur Aufnahme von Ukrainer*innen sich nicht auf afrikanische, arabische oder asiatische Flüchtende beziehe. Die Push-Backs an der belorussischen Grenze dauern an, Schwarze Flüchtende aus der Ukraine werden dort schon immer wieder gehindert, die Züge in den Westen zu besteigen.

Die Deutschen bekamen irgendwie nicht mit, was sich vor und unter ihren Augen in den vergangenen zwanzig Jahren abspielte. Kurz vor dem 24. Februar 2022 warnten manche vor einem neuen Appeasement nach dem Muster von München 1938. Dabei fand dieses Appeasement längst statt. Es vollzog sich in der Vernachlässigung des europäischen und vor allem des deutschen Militärs. Alle Forderungen der USA, das berüchtigte 2%-Ziel zu erfüllen, wurden schlichtweg abmoderiert. In den Zeiten eines Donald J. Trump war dies auch recht einfach zu vermitteln. Niemand wollte wissen, dass dieses Ziel schon von Barack Obama formuliert wurde. Besonders schlau wirkte der Hinweis, dass 2% bei sinkender Wirtschaftsleistung ja weniger wären als bei steigender. Dahinter steckte eigentlich der deutsche Unwille, sich überhaupt um ein funktionsfähiges Militär zu kümmern. Und das galt parteiübergreifend. Mitunter hatte man den Eindruck, als bräuchte man ein funktionsunfähiges Militär mit defekten Panzern, nicht schwimmenden U-Booten und nicht schießenden Gewehren, nicht passender Unterwäsche, fehlender Winterkleidung, um genug Stoff für das deutsche Kabarett zu pflegen. Soldat*innen als Witzfiguren. In diese Kategorie gehörten auch die 5.000 Helme. Hätten sich israelische Regierungen so verhalten wie die deutschen, gäbe es Israel wahrscheinlich schon längst nicht mehr.

Kabarettistisch rezipiert wurde zunächst auch die Inszenierung der Entscheidungen im Kreml. Der sechs Meter lange Tisch, der Putin coronasicher von seinen Gesprächspartnern Scholz und Macron trennte, hatte eine größere Lobby als die sich dort begegnenden Personen. Im Gespräch mit seinem Außenminister oder seinen Militärberatern zeigte sich Putin an ebenso langen Tischen, doch durften seine Untergebenen wenigstens auf der Längsseite sitzen, aber dennoch etwa sechs Meter entfernt. Und die Mitglieder seines Sicherheitsrats saßen wie gemaßregelte Schulbuben fern von ihrem Herrn und gelobten mit geradezu peinlichen Versprechern ihre unverbrüchliche Treue. Der Souverän nahm es schlecht gelaunt entgegen. Kabarettistisch hatte er Erfolg: im Netz tauchte eine erfundene IKEA-Anzeige mit einem sechs Meter langen Tisch namens „Putin“ auf. Die Zahl der Besucher*innen des Möbelhauses stieg. Ein aufmerksamer Witzbold kommentierte, IKEA hätte den Tisch doch sicher „Rasputin“ genannt.

Finnlandisierung 2.0?

Wer die sicherheits- und geschichtspolitischen Anteile der Reden Putins verstehen will und angemessene Antworten sucht, sollte sich intensiv mit der Geschichte der diversen Interaktionen zwischen Russland und der NATO befassen. Der Einfachheit halber und sicherlich auch aus Gründen der Plausibilität fasse ich hier die EU unter NATO zusammen, obwohl die EU-Mitglieder Finnland, Österreich, Malta und Schweden nicht Mitglied der NATO sind, die Nicht-EU-Mitglieder Albanien, Island, Nord-Mazedonien, Norwegen, die Türkei und das Vereinigte Königreich jedoch sehr wohl. Die Ukraine hat seit 2017 das Ziel einer Mitgliedschaft in der NATO in ihrer Verfassung verbrieft, jetzt möchte sie den Beitritt zur EU möglichst umgehend erreichen.

Wir sollten sehr genau hinschauen, in welchen Punkten Putin möglicherweise die NATO zu Recht kritisiert, in welchen er vielleicht nur knapp daneben liegt und in welchen er die Realität eindeutig verfälscht. Nur dann lässt sich eine angemessene Antwort finden. Dies rechtfertigt weder die Invasion in der Ukraine noch die vorangegangenen und nach wie vor eskalierenden Drohungen, aber es ist für ein ehrliches und wirksames Krisenmanagement der NATO von grundlegender Bedeutung. Dazu gehört auch die Frage, was mit dem Sondervermögen der 100 Milliarden EURO geschehen wird. Geld alleine hilft nicht, es muss auch sinnvoll ausgegeben werden. Eine unmittelbare Wirkung ist ohnehin nicht zu erwarten, denn Deutschland ist keine Diktatur, die Unternehmen verpflichten kann, schnell zu produzieren. Konzeption, Ausschreibung, Kooperationen mit anderen NATO-Mitgliedern – all dies kostet Zeit. Ein Nebengedanke: nachdem die mecklenburgisch-vorpommersche Ministerpräsidentin sich von Nordstream II verabschiedet hat, wird sie vielleicht eine Gelegenheit finden, die bedrohten Werften ihres Landes zu retten?

Die Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom März 2022 sechs Texte zum „Ukraine-Konflikt“. August Pradetto, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg, gab seinem Essay die Überschrift: „Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance“. Er übt heftige Kritik an den Europäern: „Statt sich um eine stabile Sicherheitsordnung auf dem Kontinent zu bemühen, haben sie es versäumt, vor allem die sicherheitspolitische und militärische Organisation des Kontinents in Angriff zu nehmen und damit selbst zur Erosion der positiven Ansätze und Ausgangsbedingungen beigetragen, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges eröffnen.“ August Pradetto zitiert Clausewitz: „Tu nicht den ersten Schritt, ohne den letzten zu bedenken.“ Das gilt nicht nur für denjenigen, der einen Krieg beginnt, sondern auch für all diejenigen, die einen Krieg verhindern wollen. Ist „Finnlandisierung“ in Erinnerung an den früheren Zustand Finnlands zwischen NATO und Sowjetunion vielleicht doch eine Option zur Befriedung der Westgrenze Russlands (einschließlich Belarus) und der Ostgrenze von EU beziehungsweise NATO? Dies könnte durchaus der chinesischen Positionierung – bezogen auf den Stand 1. März 2022 – entsprechen. Könnte. Der Text von Evgeniy Kasakow, Mitarbeiter am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven, mit dem Titel „Russischer Machttransfer: Vorbild Kasachstan“ ergänzt das Bild denkbarer Varianten einer Wiederbelebung des Modells der „Finnlandisierung“.

Bernd Greiner, u.a. Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg, provoziert mit seinem Essay in den „Blättern“ vom März 2022 schon im Titel: „‚Alleintäter Russland‘: Wie man Feuer mit Benzin löscht“. In der Tat gibt es immer wieder Stimmen, die mehr Entgegenkommen und Verständnis für Putin fordern, so nicht zuletzt Gerhard Schröder, der sich auch nach dem Einmarsch in die Ukraine nur sehr verhalten äußert, oder mehrere Abgeordnete der Linken im Deutschen Bundestag, darunter Klaus Ernst, Sahra Wagenknecht und Sevim Dağdelen, die ebenso wie Politiker*innen der AfD, beispielsweise Alice Weidel, nicht müde werden, nachvollziehbare Gründe zur Rechtfertigung Putins zu suchen. Sie mögen sich durchaus auf Experten berufen, die alles andere als eine sowjet- oder russlandfreundliche Geschichte haben: Bernd Greiner verweist auf George F Kennan. Dieser „geißelte die geplante Ost-Erweiterung der Nato bereits 1997 als einen schicksalhaften Fehler“. Er schlägt vor, man solle „über eine großflächige Ausdünnung der Militärpräsenz in Mittel- und Osteuropa verhandeln.“ Auch dies klingt nach „Finnlandisierung“. In der Tat war Russland zwar der einzige Gewalttäter, aber ist damit noch kein „Alleintäter“, denn alle anderen handelten auch, durch Nichtstun!

Vielleicht passt hier der von Christopher Clark für den Beginn des Ersten Weltkriegs geprägte Begriff der „Schlafwandler“, allerdings nicht als Entschuldigung für den Aggressor, wohl aber als treffendes Bild für alle jetzt so Überraschten. Ein wenig erinnern sie mich alle an einen umgekehrten Mephisto, der über sich sagt, er sei „Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Eine letztlich nihilistische Position, denn Mephistopheles fährt fort: „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.“ So unterhaltsam wie Mephistopheles ist Putin nicht, seine Macht stieg jedoch mit dem Willen der Guten, das Gute zu schaffen, die aber nicht sehen wollten, dass es eben nicht reicht, das Gute zu wollen.

Eine Gegenposition zu dem Vorschlag einer „Finnlandisierung“ der Ukraine vertrat die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen am 17. Februar 2022 in der ZEIT. Sie beschreibt, wie Finnland Filme, Bücher, die der sowjetischen Nomenklatura missfielen, schlichtweg verbot. Dies betraf beispielsweise die Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ wie eine Verfilmung seiner Novelle „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. „In meinen Schulbüchern wurde mir weisgemacht, Estland habe sich freiwillig der fröhlichen Sowjetfamilie angeschlossen. Hintergrund war der Vertrag zwischen der Sowjetunion und Finnland von 1948 über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand, und die finnische Unterrichtsverwaltung, die die Schulbücher kontrollierte, hielt sich daran.“ Sofi Oksanen spricht von „Selbstzensur“ und „Selbsttäuschung“.

Geschichtspolitische Wirren

Wäre Finnland längst Mitglied der NATO, wenn es nicht ständig Rücksicht auf russische Befindlichkeiten genommen hätte? Sofi Oksanens Essay lässt diese Annahme zu. Möglicherweise ergäbe eine „Finnlandisierung“ der Ukraine und anderer Staaten, ein Rückzug von EU und NATO aus an Russland angrenzenden Staaten eine Art Wiederkehr des 23. August 1939? Putin berief sich mehrfach auf die Curzon-Linie, die am 8. September 2019 gezogen wurde und sich so sehr nicht von der Molotow-Ribbentrop-Linie vom 23. August 1939 unterscheidet. Das Baltikum wurde bei beiden Linien auf der sowjetischen Seite vermerkt. Unterschiede gab es lediglich in den Regionen um Lemberg / Lwiw und Białistok. Die zwischenzeitlichen Grenzziehungen nach dem sowjetisch-polnischen Krieg wurden 1939 wieder rückgängig gemacht. Am 17. September 1939 besetzte die Rote Armee das damalige Ostpolen.

Die Jalta-Konferenz vom Februar 1945 bestätigte diese Grenzziehungen weitgehend. Und wenn Putin den Friedensvertrag von Brest-Litwosk vom 3. März 1918 kritisiert, ließe sich die Frage anschließen, ob er möglicherweise nicht nur der Ukraine, die er als Ergebnis der damaligen Politik Lenins bezeichnete, sondern in einem Atemzug auch den baltischen Republiken und Polen die Existenzberechtigung abspricht. Dann wäre die von Putin angedeutete Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges“ auch eine Fortsetzung des Russisch-Polnischen Krieges der Jahre 1920 und 1921. Dazu passt, dass Putin in einem von ihm selbst verfassten Text vom Juni 2020 einen großen Teil der Verantwortung für das Münchner Abkommen 1938 sowie den Zweiten Weltkrieg der damaligen polnischen Regierung zuschob. Er wiederholt im Übrigen stets das Narrativ der friedliebenden Sowjetunion, die gezwungen war, sich gegen eine Verschiebung der Ostgrenze auf ihr Gebiet zu wehren, was auch die späteren alliierten Staaten Frankreich, Großbritannien und die USA nicht hätten verhindern wollen. Doch dann kam Stalin!

Einen exzellenten Überblick über Verträge, Memoranden und Erklärungen der vergangenen zwanzig Jahre im „Spannungsfeld zwischen Nato und Russland“ bietet der ehemalige Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE in Wien, Oberst a.D. Wolfgang Richter. Dazu gehören der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 (KSE-Vertrag), der Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom September 1990, die Nato-Russland-Grundakte vom Mai 1997, das KSE-Anpassungsabkommen von 1999. Dieses letzte Abkommen wurde von Russland 2004 ratifiziert, jedoch von George W. Bush gestoppt. Anschließend „traten der NATO ab 2004 Staaten bei, die dem KSE-Vertragsregime nicht angehören.“ Die USA verstärkten ihre Militärpräsenz im Schwarzen Meer, in Rumänien, in Bulgarien. Aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) traten die USA 2002 aus. 2008 stellte George W. Bush der Ukraine und Georgien die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht, die Deutschland und Frankreich dann verhinderten. Schlussfolgerung: „Daher sind Stationierungsbegrenzungen durchaus verhandelbar, sofern sie keine Zonen verminderter Sicherheit schaffen.“ Das aber könnte sich als Quadratur des Kreises erweisen. Für alle denkbaren zukünftigen Lösungen muss der Satz gelten: „Dass der Kreml die Sicherheitsinteressen seiner europäischen Nachbarn dem eigenen Sicherheitsbedürfnis unterordnet, ist aus europäischer Sicht nicht akzeptabel.“

Möglicherweise ließe sich aus dem Konflikt um Georgien im Jahr 2008 lernen. Hauke Friedrichs verglich am 24. Februar 2022 in ZEITonline das Vorgehen Putins 2008 in Georgien und 2022 in der Ukraine. Es ging 2008 um Südossetien und um Abchasien, die allerdings – im Unterschied zu den Regionen der Separatisten im Osten der Ukraine – damals tatsächlich von georgischen Truppen angegriffen wurden. Solche Angriffe behauptet Putin allerdings auch von Seiten der Ukraine auf den Donbass. Auch damals sprach Putin von „Friedenstruppen“. Die russischen Truppen scheinen ähnlich vorzugehen wie 2008 bei der Attacke auf Georgien. Das Land, das wie die Ukraine bis 1991 eine Republik der Sowjetunion war, hat seit dem Ende des Kalten Krieges um die Souveränität über sein Staatsgebiet gekämpft. Mit der allmählichen Zuwendung zum Westen verstärkte sich der Konflikt mit Russland. Als dann Georgien die Nato-Mitgliedschaft beantragte und Militärberater sowie Ausbilder der US-Streitkräfte ins Land kamen, sorgte das für eine Krise.“ Das Ergebnis war in dieser Region wieder einmal so etwas wie ein Fauler Friede.

Romantisierende Geschichtspolitik und autoritäre Diskurse

Doch geht es nur um Sicherheitsinteressen? Geht es nur um die Bewertung der Geschichte der vergangenen 100 Jahre? Diese Fragen verneint der in Schweden lehrende ukrainische Historiker Igor Torbakow in seiner Analyse für die „Blätter“ vom März 2022. Der Titel: „Putins Russland oder: die geistige Entkoppelung von Europa“. Er zitiert den russischen Politikwissenschaftler Sergej Karaganow, der fordert, „Russland müsse sich von eurozentrischen Vorstellungen befreien“. Karaganow und andere vertreten die Auffassung, Russland müsse seinen eigenen Weg gehen und dürfe nicht länger auf europäische Interessen Rücksicht nehmen. Es wäre eben nicht mehr der „Lehrling“, als der ihn die westlich gelegenen Staaten seit über 300 Jahren betrachteten, sondern habe seine eigenen Traditionen. Ähnlich wie diverse romantische Politik-Philosophen des frühen 19. Jahrhunderts, die sich in die Zeit vor der Französischen Revolution hineinträumten, glauben Karaganow und die seine Ansichten teilenden Kollegen, dass nur „ein autoritärer Staat“ im Geiste unveränderlicher Werte der russischen Vergangenheit und Zukunft gerecht werde. Igor Torbakow hält fest: „Was den grimmigen Männern im Kreml Kopfzerbrechen bereitet ist nicht ‚Gayropa‘ – ein für den inländischen Bedarf produzierter Kinderschreck –, sondern es sind vielmehr die grundlegenden politischen Ideale und Werte der EU: Menschenwürde und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Toleranz.“

Ähnlich argumentiert der Geologe, Journalist und Schriftsteller Sergej Lebedew. In seinem Text für die „Blätter“ spricht er von „Nostalgie und Autoritarismus“, die er als das „toxische Erbe der Sowjetunion“ bezeichnet. Zunächst verfiel die Sowjetunion in diverse kleine „Sowjetuniönchen“, die wir nach wie vor in Belarus und in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken besichtigen können. Lediglich die baltischen Staaten emanzipierten sich. Dazu trug nicht zuletzt auch die Menschenkette vom 23. August 1989 bei. In den baltischen Staaten gab es bei all ihrer Verschiedenheit so etwas wie eine Zivilgesellschaft. „Vermutlich haben Imperien ihre eigene Halbwertzeit, sie verschwinden nicht in dem Moment, in dem ein Vertrag wie das Beloweschje-Abkommen (vom 21. Dezember 1991, NR) unterzeichnet wird; sie existieren weiter als die Summe politischer Praktiken, ungesühnter Sünden der Vergangenheit, ungestrafter Verbrechen, einer antrainierten Apathie der Gesellschaft – und es bedarf einer großen Transformationsarbeit, damit sie endlich für immer verschwinden und begraben werden.“ Von einer solchen „Transformationsarbeit“ sind wir noch sehr weit entfernt. „Man kann wohl sagen, dass der Eiserne Vorhang als Symbol des Konflikts zwischen Ost und West zurückkehrt, nur verläuft er jetzt weiter östlich.“ Romantisierende Geschichtspolitik und antidemokratische Diskurse bedingen einander und verstärken sich gegenseitig.

Das Verbot von Memorial ist die logische Konsequenz und gleichzeitig einer der letzten Akte zur Vorbereitung eines autoritären Staates, den Putin offenbar braucht, um die Drohungen seiner Kriegsrhetorik möglichst ungestört in die Tat umzusetzen. So wie Stalin Kommunisten, die vor den Nazis flüchteten, zurückkehrende Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen als „Agenten“ verdächtigte, verdächtigt Putins Russland jetzt all diejenigen, die nach seiner Auffassung sich mit westlichen Auffassungen vom russischen Denken entfernt haben. Sie alle hätten das Ziel, Russland zu zerstören. Insofern ist der „Kult des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘“ inzwischen „wesentliche(n) Rechtfertigung für die heutige aggressive, militaristische Außenpolitik, zur Quelle einer pervertierten öffentlichen Moral, die das Recht der Starken verherrlicht.“ Sergej Lebedew nennt Putins Russland in diesem Sinne – meines Erachtens etwas euphemistisch – „ein konservatives Projekt“: „Es geht um die erstrebte Einheit des symbolischen Raumes ohne jegliche historische Kritik, die den autoritären Diskurs Russlands, der zum innen- und außenpolitischen Instrument wurde, schwächen und untergraben könnte.“

Demokratie vergessen

In seinem Essay „Die Rückkehr des Feindes“ vom 25. Februar 2022 in ZEIT online schreibt Armin Nassehi, dass Putin nichts mehr fürchte als die Demokratie. Armin Nassehi ist kein Historiker, sondern Soziologe. Die demokratisch verfassten Staaten haben den Charakter der Furcht Putins bisher nicht begriffen und pflegen ein unpolitisches Verständnis von Demokratie und von Politik. Politik ist für viele ein Konsumgut, etwas – manche erinnern sich an die Ankündigung eines längst in der Geschichte abgetauchten FDP-Vorsitzenden, der angesichts katastrophaler Umfragewerte seiner Partei gegen Ende der letzten schwarz-gelben Koalition auf Bundesebene in höchster Not herausschrie, jetzt werde seine Partei „liefern“ – wie eine Warenlieferung oder eine Dienstleistung. „Selbstverständlich wird immer wieder über die westlichen Werte, über den Wert der Demokratie und des liberalen Rechtsstaates und pluralistische Lebensformen gesprochen (…). Wirklich politisiert ist dieses Verständnis der Demokratie nicht, wie der Bundespräsident nach seiner Wiederwahl in einer beeindruckenden Rede betont hat. In der Pandemie ließ sich sehr deutlich beobachten, dass das Verhältnis des politischen Publikums dem Staat und der Politik gegenüber vor allem ein Anspruchsverhältnis für Versorgung, für angemessene Entscheidungen und für angemessene Problemlösung bei Störungen.“ Diese Analyse erinnert sehr an Nietzsches und Fukuyamas „Letzten Menschen“. Die freiheitliche Demokratie verkommt zur Feiertagsrhetorik.

Die Demokratie – so Armin Nassehi – „wird gar nicht politisch wahrgenommen, sondern eher als eine Art Dienstleister, dem der Konsument das Vertrauen entzieht, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Wenn sie nicht stimmen, wird dann dem gesamten Anbieter das Vertrauen entzogen – und dann ist der Vorwurf einer ‚Diktatur‘ oder eines willkürlichen Umgangs mit Eingriffen nicht fern.“ Es herrschen identitäre Fantasien, die Sehnsucht nach Harmonie und der Auflösung aller Widersprüche, Statik statt Dynamik, ewige Ruhe. So sind es nur graduelle Unterschiede, ob ein Regime gleich jede Musik als Störung der islamischen Ruhe verbietet oder sich lediglich darauf versteht, unfolgsamen Journalist*innen und Schriftsteller*innen jedes kritische Wort zu verbieten, indem es ihnen zumindest mit Strafe droht, wenn es sie nicht auch beim ein oder anderen gleich vollstreckt.

Armin Nassehi spricht von einer Art Renaissance des Feindes in der Demokratie. Der Feind ist jetzt erkennbar, er hat ein Gesicht und einen Namen: „Wir haben wieder einen Feind, der den Blick auf uns selbst lenkt. Nehmen wir ihn intellektuell an.“ Das klingt ein wenig nach Carl Schmitt, der Politik aus der Freund-Feind-Dichotomie erklärte. In diesem Bild ist der eine immer der Sieger, der andere immer die Beute. Und der Staat, die eroberten Länder, sie sind die Beute des Siegers, aus deren materiellen Werten er sich bedient. Korruption entsteht im Gefolge der Freund-Feind-Dichotomie, nicht von einem Tag auf den anderen, sondern schleichend. Das erklärt, warum ehemalige Freiheitskämpfer wie Robert Mugabe oder Daniel Ortega mit der Zeit zu korrupten Diktatoren mutieren. Sie haben nie gelernt, das Bild, das der andere der Feind wäre, zu überwinden. Die Frage, ob Putin mal der „lupenreine Demokrat“ war, als den ihn Gerhard Schröder vorstellte, wird wohl nie beantwortet werden können.

Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin – zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch sein Buch „Die rote Pyramide“ – bestätigt diese Analyse in seinem Essay mit dem optimistischen Titel „Putin ist geliefert“ in der Süddeutschen Zeitung vom 26. Februar 2022: „In Russland war und ist die Macht pyramidal strukturiert. Errichtet wurde diese Pyramide im 16. Jahrhundert durch Iwan den Schrecklichen, einen grausamen Zaren, von Paranoia besessen, Lastern verfallen. Mit Hilfe seiner Leibgarde, der Opritschnina, trieb er einen blutigen Keil zwischen Macht und Volk, die Eigenen und die Fremden. Iwan war überzeugt, dass Russland nur auf eine Weise zu lenken war: Man musste Besitz ergreifen, Okkupant im eigenen Land sein. Es bedurfte einer Macht, die grausam und für das Volk nicht zu durchschauen war. Dem Volk blieb, sie anzubeten. Wer an der Spitze der dunklen Pyramide saß, hatte alle Rechte und die absolute Macht. / So paradox es erscheint: In den fünf Jahrhunderten seither ist dieses Machtprinzip in Russland unverändert geblieben. Ich sehe darin die maßgebliche Tragödie unseres Landes.“

Das gefällt – so Wladimir Sorokin – den „Putin-Verstehern“. Ihnen imponiert die Pose der Macht und sie nehmen offenbar die damit verbundene Gewalt in Kauf. Putins inneres Monster wurde nicht nur von der Machtpyramide genährt, der käuflichen russischen Elite, der Putin – wie ein Kaiser den Satrapen – hin und wieder fette Happen Korruption von seinem Tisch aus zuwarf. Gemästet wurde es ebenso von verantwortungslosen westlichen Politikern, zynischen Geschäftemachern, von korrupten Journalisten und Politologen.“

Von Carl Schmitt stammt auch der Satz, Souverän sei, wer über den Ausnahmezustand bestimme. Das tun in der Tat die Putins dieser Welt. Sie unterscheiden sich graduell in ihren realen Möglichkeiten je nach Vermögen und Waffenarsenalen. Westliche Demokratien verwehren sich diese Optionen, doch wenn sie sich nicht auf die Grundlagen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats besinnen, werden sie zu Getriebenen. Dann können sie nur noch auf das reagieren, was skrupellose Partner ihnen vorlegen. Ihr Verhältnis zur Demokratie wäre dann – passend zur Analyse von Armin Nassehi – nicht mehr und nicht weniger als eine weitere Form von gelebtem Appeasement.

Szenarien der Zukunft

Sechs Stunden vor der Invasion der russischen Truppen in der Ukraine veröffentlichte Tim Judah in der Online-Ausgabe der New York Review of Books den Essay „Ukraine on the Brink“. Bereits im Jahr 2015, ein Jahr nach der Besetzung der Krim, veröffentlichte er das Buch „In Wartime: Stories from Ukraine“ (eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor). Die Frage scheint berechtigt, was wer eigentlich meint, wenn er oder sie von der Ukraine spricht: When he talks about Ukraine, it is clear that Putin believes many Russian myths and has outdated views about its people. He published a long essay last year on the “historical unity” of Ukrainians and Russians. But what he and even many liberal, intellectual Russians may not appreciate is that Ukraine is not the same place it was when Mikhail Bulgakov grew up in Kyiv at the beginning of the last century. It is not the same place it was at independence in 1991 or at the time of the Orange Revolution in 2004, nor is it the same country that was wracked by revolution and war in 2014.”

Insofern ist die Frage berechtigt, ob sich 100 Jahre Geschichte in welcher Form auch immer heranziehen lassen, um Putins Vorgehen zu erklären und Ukrainer*innen, Russ*innen und andere Völker auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in einer gemeinsamen Erzählung zusammenzuführen. Es hat sich – so stellte Tim Judah bei seinen Reisen in der Region fest – in den Einstellungen der Menschen jedoch viel verändert. Die Menschen sind andere geworden, beispielsweise in Charkiw nach der russischen Besetzung der Krim. Es spielte auf einmal eine Rolle, ob jemand russisch oder ukrainisch war, die Rede von den Brudervölkern löste sich auf: „It is hard for foreigners to understand, but for many in places like Kharkiv, the question ‘Am I Ukrainian or am I Russian?’ did not matter much until 2014, especially because in a city so close to the border, many people have friends and family on the other side. But, Kobzin told me, the events of 2014 forced many to decide, and the majority, though not all, opted for Ukraine.”

Was bedeutet das für 2022, für eine Zeit nach dem Krieg? Was bedeutet es für die Debatten, die zurzeit in den westlichen Demokratien geführt werden und geführt werden müssen? Muss eine freiheitliche Demokratie in der Not auf die ihr angemessenen Debatten verzichten? Natürlich nicht, denn sie gäbe sich selbst auf. Es ist richtig, dass in freiheitlichen Demokratien über die Frage gestritten wird, wie und mit welchen Mitteln Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestaltet werden. Es ist richtig, dass Regierungshandeln in den Parlamenten debattiert, in Frage gestellt und legitimiert wird.

Andererseits ist es ebenso richtig, dass Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 den von ihm selbst als „Zeitenwende“ charakterisierten Paradigmenwechsel nicht vorher öffentlich diskutieren ließ. Das hat auch etwas damit zu tun, dass solche weittragenden Vorschläge nicht im Vorfeld zerredet werden dürfen. Wie sie dann umgesetzt werden, das ist eine andere Frage. Dazu gehört auch eine Debatte, dass es nicht ausreicht, Mittel bereitzustellen, sondern dass darüber gestritten werden muss, wie diese Mittel so wirksam wie möglich eingesetzt werden. Versäumnisse von zwanzig, dreißig Jahren lassen sich nicht in einer Woche aufholen. Zu einer Umsetzung gehört schließlich Rechtssicherheit. Deutschland ist kein autoritärer Staat, in dem Regierungen verfügen, welches Unternehmen wann was zu produzieren und zu liefern hat. Abgesehen davon haben solche planwirtschaftlichen Methoden noch nie funktioniert.

Zu dieser Debatte gehört auch ein offener Diskurs über Worst-Case-Szenarien. Der Worst Case wäre aus meiner Sicht ein wie auch immer gearteter Erfolg Putins gepaart mit einer Wiederkehr von Donald J. Trump oder einem seiner Gesinnungsgenoss*innen im Jahre 2024 als amerikanische*r Präsident*in. Ein solches Szenario ist nur vermeidbar, wenn Europa sich den Versäumnissen der Vergangenheit stellt und wir beides sichern: Diplomatie und militärische Stärke sind zurzeit nicht voneinander zu trennen. Und vielleicht gelingt es in diesem Rahmen, die Demokratie von einem billigen Konsumismus zu befreien und den eigentlichen Wert einer freiheitlichen Demokratie wiederzubeleben. Dann werden vielleicht auch die graduellen Wege auf dem Weg von einer liberalen Demokratie, wie wir sie in Deutschland, in Frankreich, im Vereinigten Königreich und in den meisten europäischen Staaten kennen sollten, über die illiberale, letztlich autoritäre Demokratie, wie wir sie zurzeit in Ungarn, in der Türkei und in Abstufungen auch in Polen erleben, zum autoritären Staat nach dem Muster von Russland und Belarus wieder erkennbar.

Wladimir Kaminer hat am 1. März 2022 im Tagesspiegel über Worst-Case-Szenarien, einen russischen Angriff mit Atomraketen, gesprochen sowie über die Hoffnung, die sich aus dem Verhalten vieler Russ*innen im Land wie im Ausland ergibt. Der Tennisprofi Daniel Medvedev, zurzeit die Nummer 1 im Herren-Tennis, hat sich gegen den russischen Angriff auf die Ukraine positioniert. „Es ist wichtig, den Russen überhaupt Informationen über das Grauen mitzuteilen, das ihr Land nun in die Welt bringt. Im russischen Fernsehen ist etwas Bemerkenswertes passiert. Der russische Harald Schmidt, der jeden Abend eine Show hatte, der witzigste Mann der Nation, hat gesagt, er geht wegen dem Krieg nicht mehr auf Sendung und verlässt Russland. Das war ein Riesenaufschrei. Eine sehr wichtige Moderatorin hat sich auch verabschiedet, mehrere Theaterdirektoren haben gekündigt, Musiker verlassen das Land. Langsam merken die Russen so, dass sich eine Katastrophe anbahnt. Besser spät, als nie.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2022, alle Zugriffe im Internet erfolgten zuletzt am 1. März 2022.)