Gründungsmythen Europas
Und warum wir Europa besser kennenlernen sollten
„Zu einem bedeutsamen Kampf um Identität kommt es, wenn Menschen die Bedingungen in Frage stellen, die zu einer ungleichen Machtverteilung führen.“ (Kwame Antony Appiah: Identitäten – Die Fiktionen der Zugehörigkeit, Berlin, Hanser, 2019, im Original: The Lies That Bind – Rethinking Identity)
Robert Menasse legt in dem Roman „Die Hauptstadt“, für den er 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, einer seiner Figuren, dem Kommissionsbeamten Martin Susman, die folgenden Worte in den Mund: „Es geht um das, was die Bürger dieses Kontinents verbindet, und nicht um das, was sie trennt.“ Und er fährt fort: „Nichts in der Geschichte hat die verschiedenen Identitäten, Mentalitäten und Kulturen Europas, die Religionen, die verschiedenen so genannten Rassen und ehemals verfeindete Weltanschauungen so verbunden, nichts hat eine so fundamentale Gemeinsamkeit aller Menschen geschaffen wie die Erfahrung von Auschwitz.“
Auschwitz ist in Robert Menasses Roman die Chiffre, die Gegenpol und Ursache der Gründe bildet, für die die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhielt und die sie für die ehemals dem sogenannten Warschauer Pakt angehörenden Staaten Mittel- und Osteuropas so attraktiv machten, dass diese nach 1989 einer nach dem anderen der EU beitraten. Diese Attraktivität scheint nach wie vor zu wirken, denn anders wäre das Interesse der ehemaligen jugoslawischen Staaten und Albaniens sowie die Solidarität der europäischen Staaten mit Irland angesichts des drohenden No-Deal-Brexits kaum erklärbar.
Andererseits gibt es in Deutschland (und anderswo?) ein schwer verständliches Unverständnis für die Vorbehalte und Ängste Polens oder der drei baltischen Staaten gegenüber Russland. Wen kümmert es, wie oft sich die verschiedenen Fremdherrschaften in diesen Ländern und in der Ukraine in den vergangenen Jahrhunderten gegenseitig verdrängten und dabei stets für veränderte Grenzen sorgten? Meine Schlussfolgerung: Die EU ist möglicherweise nach wie vor eine westliche Veranstaltung, in der viele Politiker*innen noch in den Fronten des sogenannten „Kalten Krieges“ verhaftet sind, auch und vielleicht gerade in Deutschland.
Utopische Solidarität
Jürgen Habermas formuliert in seinem Essay „Zur Verfassung Europas“ (Berlin, edition suhrkamp, 2011) die Aufgabe, die Politik erfüllen müsse, ex negativo. Politiker seien „nicht mehr vorbereitet auf eine entgrenzte Situation, die sich dem üblichen demoskopisch-administrativen Zugriff entzieht und einen anderen, einen mentalitätsgestaltenden Politikmodus erfordert.“ Grundlage der zu schaffenden Mentalität, Haltung oder Einstellung ist Solidarität. Die Schaffung einer europäischen Identität, in der sich die „Mitgliedstaaten (…) als solidarische Mitglieder der internationalen Gemeinschaft (…) verstehen“ ist nach Habermas grundlegende Voraussetzung einer „kosmopolitischen Gemeinschaft“.
Auf den ersten Blick formuliert Jürgen Habermas ein sozialliberales Programm. „Die liberalen Freiheitsrechte, die sich um die Unversehrtheit und Freizügigkeit der Person, um den freien Marktverkehr und die ungehinderte Religionsausübung kristallisieren und der Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre dienen, bilden zusammen mit den demokratischen Teilnahmerechten das Paket der sogenannten klassischen Grundrechte. Tatsächlich können aber die Bürger von diesen Rechten erst dann einen chancengleichen Gebrauch machen, wenn gleichzeitig gesichert ist, dass sie in ihrer privaten und wirtschaftlichen Existenz hinreichend unabhängig sind und ihre persönliche Identität in der jeweils gewünschten kulturellen Umgebung sowohl ausbilden wie stabilisieren können.“ (Hervorhebungen im Original)
Habermas fordert die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, die er im Grundgesetz zu finden glaubt, obwohl dort nur von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ die Rede ist (Art. 72). Gleichwertigkeit heißt eben nicht Einheitlichkeit, sodass – das ist der Clou – Solidarität zu einer ethischen Kategorie wird, die nur bedingt eine rechtliche Grundlage hat, jedoch eine solche – und da ist Habermas wiederum zuzustimmen –haben sollte.
Es ist vielleicht von Interesse, darüber nachzudenken, warum Habermas als Subjekt der geforderten Solidarität die „Mitgliedstaaten“ und nicht die Bürger*innen der Mitgliedstaaten nennt. Diese werden nur mittelbar genannt, beispielsweise in folgender Textstelle: „Die Europäische Union wird sich langfristig nur stabilisieren können, wenn sie die unter dem Zwang ökonomischer Imperative fälligen Schritte zu einer Koordinierung der relevanten Politiken nicht im bisher üblichen gubernativ-bürokratischen Stil, sondern auf dem Weg einer hinreichenden demokratischen Verrechtlichung vollzieht.“
Es folgt eine Anmerkung zum „begrifflichen Spektrum zwischen Staatenbund und Bundesstaat“, ein Argument, das sich wiederum auf die Ebene von Kollektiven und nicht die von Individuen bezieht. Die Bürger*innen sind im Grunde darauf angewiesen, sich ihr jeweiliges Kollektiv selbst zu definieren, was sie dann auch tun, nicht immer mit Bezug auf Menschenrechte und Demokratie, sondern zunächst mit dem Ziel der Durchsetzung ihres eigenen Wohlbefindens. Dies schließt die Exklusion derjenigen mit ein, mit denen sie nicht solidarisch sein möchten.
Römisches Erbe
Marcel Hénaff stellt in seinem Essay „Europas genetischer Code“ (in: Lettre International 117, 2017) die Frage: „Warum ist der Name ‚Europa‘ noch nicht als Bezeichnung einer Zugehörigkeit übernommen worden, wie man sich zu einer Stadt, einer Region oder einem Staat bekennt?“ Warum gibt es diesen „Mangel an Identität“? Kaum verständlich angesichts der Größe. Europa ist die „stärkste Wirtschaftsmacht der Welt“. Und: „Wenn man die Geschichte der Zivilisationen bilanziert, ist die Geschichte Europas heute die einzige, die wahrhaft weltumspannend geworden ist.“ Und dennoch: „Europa steckt in der Krise. Es hat sich vielleicht immer schon in der Krise befunden. Es könnte sogar sein, dass die Krise nicht zu trennen ist von seiner ureigensten Seinsweise.“
Bezugspunkte der Entwicklung der Identität Europas in den vergangenen fast dreitausend Jahren sind nach Marcel Hénaff „Athen, Rom und Jerusalem“. Das römische Reich sicherte den Frieden innerhalb seiner Grenzen, indem es Konflikte an die Außengrenzen verlagerte bzw. diese dort einhegte, sodass sie nicht die Gebiete innerhalb der Grenzen erreichten. Nach dem Fall des Römischen Reiches verschwand diese Form innerer Sicherheit: „Das bedeutet, dass Europa nach dem Fall Roms jenes Friedens beraubt war, den ein Imperium den innerhalb seiner Grenzen eingehegten Völkern gewährleistet; es hat sich im Laufe von 1500 Jahren im Zusammenspiel variabler Bündnisse und ständiger bewaffneter Konflikte entwickelt.“ Europa entstand „ohne Rom“, aber mit „Referenz auf Rom“.
Unbeschadet der kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Europas, die vorläufig 1945 endeten, in den 1990er Jahren jedoch auf dem Balkan ein déjà vu der kriegerischen Vergangenheiten erzeugten, gab es in Europa immer so etwas wie kulturelle Konventionen und Traditionen, aus denen sich eine Art von Solidarität über die jeweiligen Grenzen hinaus ableiten ließe. Zumindest die intellektuelle Oberschicht, die auch die Eliten der jeweiligen Reiche und – dann ab dem 19. Jahrhundert – der Nationen bildete, pflegte gemeinsame kulturelle Traditionen. Marcel Hénaff: „Weder der Student in Valladolid oder Köln noch der Bürger in Basel oder Prag, noch der Kaufmann in Ragusa (Dubrovnik) oder Kopenhagen hatten in ihrer lokalen Kultur irgend etwas gemeinsam mit Rom, Athen oder Jerusalem. Sie haben sich darauf bezogen, indem sie tote Sprachen lernten: Latein und Griechisch: seltener Hebräisch. Ein chinesischer Mandarin hat keine Fremdsprache gelernt. Europa entstand, indem es assimilierte, was es selbst nicht war. Europa ist aus dieser Verfremdung geboren; Europa ist aus der Übersetzung geboren.“
Man könnte die Frage anschließen, ob sich dieser gemeinsame kulturelle Code noch hält oder ob etwas anderes an seine Stelle getreten ist, das vielleicht sogar das kulturelle Ende der Trias „Athen, Rom, Jerusalem“ bedeutet. Marcel Hénaff stellt diese Frage nicht (mehr), sondern zieht sich auf zwei eher vage Utopien zurück. „Etwas muss sich auf der Ebene des Sinnlichen und der Gefühle ereignen“. Anders gesagt: Europa braucht eine große europäische Erzählung, die es aber zurzeit (noch) nicht zu geben scheint. Und darüber hinaus „braucht es einen institutionellen Rahmen, ein gemeinsames Terrain, einen öffentlichen Raum, der als Referenzpunkt, als Garantie für alle erscheint und schließlich zu einer neuen politischen Ordnung wird.“ Womit wir wieder bei Jürgen Habermas wären.
Politik nach Blutgruppe
Marcel Hénaff zitiert den von Kant geprägten Begriff der „ungeselligen Geselligkeit“ (aus dessen Text: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahr 1784). Europa braucht „einen Raum für einen Konsens trotz vorhandener Konflikte“. Nur welches Europa ist gemeint? Das Europa der Europäischen Union, das des Europarats, das von KSZE oder OSZE? Gibt es eine konkrete Utopie für Europa, für jedes einzelne Glied des Gesamtkosmos, den alle europäischen Staaten, Nationen bilden, vereinbaren könnten? Einschließlich der englisch-, spanisch- und portugiesischsprachigen Länder in Übersee? Einschließlich Russlands? Fragen über Fragen.
Auf der anderen Seite: das 20. Jahrhundert wurde von Parzellierung, von immer wieder neuen Grenzziehungen, von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt, deren Schauplatz vor allem Europa war, in ganz besonderem Maße in Südost- u Osteuropa, aber auch im Westen, in Nordirland, im Baskenland, in Katalanien. Michael Wildt fasst das Scheitern des Friedensplans des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson in folgendem Satz zusammen: „So diplomatisch abgewogen Wilsons Vorschläge waren, weshalb sie auch als Grundlage für die Friedensverhandlungen in Versailles 1919 dienen konnten, so traf seine Initiative dennoch auf ein Europa, das sich bereits nach dem ‚Blut‘ zu ordnen begonnen hatte.“ (Biopolitik, ethnische Säuberungen und Volkssouveränität – Eine Skizze, Erstveröffentlichung in: Mittelweg 36, 2006, nachgedruckt in: Die Ambivalenz des Volkes – Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin, Suhrkamp, 2019).
Dieser Hang, sich territorial definierten ‚Blutgruppen‘ zuzuordnen, scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts anzuhalten und sich sogar zu verstärken. Robert Menasse lässt eine seiner Romanfiguren, Professor Alois Erhart, referieren, warum die weitere Integration der europäischen Staaten zu einer Union „souveräner, gleichberechtigter Bürger“ schwer „durchsetzbar“ wäre. Sie sei dies, „solange das Nationalbewusstsein gegen alle historischen Erfahrungen weiter geschürt wird und solange der Nationalismus weitgehend konkurrenzlos ist als Identifikationsangebot an die Bürger. Wie kann man also das Bewusstsein fördern, dass die Menschen auf diesem Kontinent europäische Bürger sind?“
Francis Fukuyama spricht diese Frage (in: Identität – Wie der Verlust der würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg, Hoffmann und Campe, 2019, im Original: Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment) als das vielleicht grundlegende europäische Problem an. Er bezeichnet die „nationale Identität in Europa“ als „verworren“, weil es „nicht gelungen (ist), eine überzeugende paneuropäische Identität entstehen zu lassen, welche die Pendants in den Mitgliedstaaten ersetzt.“ Francis Fukuyama äußert sich nicht dazu, wie konkret eine solche europäische Utopie werden könnte und aus welchen gemeinsamen Erfahrungen sie sich ableiten sollte, hält aber fest, dass keine Demokratie „immun gegen Identitätspolitik“ sei, jede „indes in der Lage, zu umfänglicheren Versionen gegenseitigen Respekts zurückzukehren.“
Nationalismus erscheint denen, die sich vom sogenannten „Westen“ im Stich gelassen fühlen, als hilfreiches Gegenmittel und die EU wird zum Symbol gefühlten Misslingens. Die im „Westen“ wie im „Osten“ virulente Angst vor Zuwanderung aus dem Nahen Osten oder aus Afrika ist der vorgeschobene und leicht vorschiebbare Grund für die Attraktivität von Nationalismus im ersten Fünftel des 21. Jahrhunderts.
Gibt es eine Therapie? Heute vielleicht erfolgreicher oder zumindest mehr Erfolg versprechender als in den 1920er und 1930er Jahren, einer Zeit, in der die meisten der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen jungen Demokratien in atemberaubendem Tempo zu autoritären Regimen mutierten? Robert Menasse: „Wenn sie von der Zukunft redeten, dann redeten sie von einer möglichst reibungslosen Verlängerung der Gegenwart und nicht von der Zukunft. Das verstanden sie nicht, weil sie glaubten, die Zukunft bestehe aus den Trends, die sich unaufhaltsam durchsetzen. Bei der letzten Sitzung sagte ein Lobbyist: Der Trend geht jetzt eindeutig in Richtung xy – wir müssen dafür sorgen, dass wir für diese Entwicklung fit sind! Da hatte Erhart gesagt: Ende der zwanziger Jahre ging der Trend eindeutig in Richtung Faschismus in ganz Europa. War es richtig, sich für diese Entwicklung fit zu machen, oder wäre es nicht richtig gewesen, Widerstand zu leisten?“
Banale Vergesslichkeit
In diesem Zusammenhang wird die Ableitung eines europäischen Bewusstseins aus Auschwitz von Robert Menasse plausibel, historisch, aber auch als Perspektive. Ein wenig erinnert diese Ableitung an Joschka Fischers Begründung für die Teilnahme Deutschlands an der Intervention im Jugoslawienkrieg. Das Römische Reich spielt als Referenzgröße jedoch kaum noch eine Rolle. Allein der Rückgang der jungen Menschen, die in der Schule Latein, Griechisch oder gar Hebräisch lernen, indiziert diese Diagnose. Es muss etwas anderes her.
Und so kommt Auschwitz ins politisch-historische Spiel, auch wenn das manche nicht hören wollen. Menasses Professor Alois Erhart erlebt, dass Auschwitz sein Publikum nicht so sonderlich interessiert: „Erhart erläuterte ganz kurz die globale Wirtschaftsentwicklung bis zum Ersten Weltkrieg und mit einigem Zahlenmaterial den radikalen Rückschlag durch Nationalismus und Faschismus – und er sah, dass bereits jetzt, in Minute 5 seines Referats, einige sich langweilten. Nichts langweilte sie so sehr wie die Erinnerung an Faschismus und Nationalsozialismus. Das war ein finsteres Kapitel, das Buch mit diesem Kapitel ist zugeschlagen, ein neues Buch ist längst aufgeschlagen, diese Buchhaltung ist jetzt super, außer in einigen faulen Staaten, dort muss man durchgreifen, das ist unsere Aufgabe, wir halten nichts von Kapiteln in alten Büchern, wir sind die neuen Buchhalter.“
Die EU hat Statistiken für alles, wie nicht nur die Beamt*innen im Roman von Robert Menasse wissen, aber sie hat natürlich keine Statistiken darüber, was aus wie vielen Überlebenden der Shoah geworden ist und wie viele davon noch leben. Sicherlich gibt es Wahrscheinlichkeiten, die sich aus „Lebenserwartungsstatistiken“ und dem Wissen, dass Menschen unter 16 Jahren in der Regel „sofort ins Gas“ geschickt wurden, ableiten ließen. Der nüchtern-ernüchternde Vortrag des Referenten der Eurostat endet in Großbuchstaben: „DAS IST NICHT MEHR STATISTIK, DAS IST SCHICKSAL!“
Sind diese Sätze Robert Menasses satirisch oder einfach geschmacklos? Von beidem etwas, aber zumindest ein Hinweis darauf, dass sich so gut wie alles ohne jede empathische Regung beschreiben lässt. Wer einmal in einem Ministerium gearbeitet hat, versteht, warum in der Wannsee-Konferenz so gesittet und sachorientiert über die Federführung des Mordes an den europäischen Juden verhandelt werden konnte, die dann Heydrich für sich und seine Behörde durchsetzen und feiern konnte. Es lohnt sich für alle, die es noch nicht getan haben, den Film von Heinz Schirk aus dem Jahr 1984 einmal unter diesem Aspekt anzuschauen und es wird auch verständlich, warum Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“ sprechen konnte.
Empathie haben in „Die Hauptstadt“ bei einem Auschwitz-Besuch zwei Jugendliche mit türkischem Hintergrund, die in Auschwitz türkisch sprechen. „Ein Lehrer fordert sie auf, hier nicht Türkisch zu sprechen, einer antwortet: Genau hier sprechen wir nicht Deutsch!“
Blutiges Erinnern
Europa bedeutet aus der Sicht der sogenannten „Mitgliedstaaten“ der Europäischen Union oder des Europarats nicht immer dasselbe, aus der Sicht Polens und der baltischen Staaten etwas anderes als aus der deutschen oder französischen Sicht. Will man dies verstehen, ist die Lektüre von Timothy Snyders „Bloodlands“ dringend anzuraten (Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin, München, C.H. Beck, 2011, im Original: Bloodlands – Europe between Hitler an Stalin).
Ich wage zu behaupten, dass ohne die Lektüre von „Bloodlands“ die heutigen Konflikte zwischen der Europäischen Union, den USA und Russland nicht verständlich sind. Schon ein Blick auf die in diesem Buch dokumentierten Karten belegt, dass und wie die Molotow-Ribbentrop-Linie (vulgo: Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 heute noch wirkt. Diese Linie bildet nach wie vor die Ostgrenze Polens und die Westgrenze der Ukraine.
Vielleicht könnte man eine Analyse der Nachwirkungen des Krimkrieges (1853 – 1856) ergänzen, aber „Bloodlands“ beschreibt schon eindrucksvoll genug, wie die Großen Kriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Regionen östlich von Oder, Wechsel und Bug verwüsteten. Menschen besaßen in diesen Regionen in ihrem Leben drei, vier oder fünf verschiedene Pässe. Sie mussten erleben, wie mal aus westlicher, mal aus östlicher Richtung Armeen Städte und Dörfer besetzten, annektierten, verwüsteten und mordeten.
Eigentlich sollte die Menschenkette von Talinn bis Vilnius, mit der die Bürger*innen der damals noch sowjetischen baltischen Republiken am 23. August 1989 zum 50. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes ihren Willen zur Unabhängigkeit der drei Staaten von der Sowjetunion bekundeten, zum Einmaleins des Geschichtsunterrichts in allen europäischen Ländern gehören. Aber davon wissen in der Regel, auch und gerade in Deutschland, nur Spezialist*innen.
Es gab den 1. September 1939 und es gab den 17. September 1939. Es gab eine deutsche Besetzung der baltischen Staaten, und es gab eine sowjetische. Es gab Vertreibungen von Deutschen aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen, es gab Vertreibungen von Pol*innen aus den Gebieten östlich des Bugs, die von 1945 bis zur Ausgründung Weißrusslands und der Ukraine sowjetisch blieben. Nach 1945 gab es nicht nur eine Teilung Deutschlands, sondern auch eine polnische Teilung. Der Wettbewerb – ich wähle dieses Wort bewusst, auch wenn es zynisch klingen mag – zwischen Russland und der Europäischen Union bzw. der NATO um Einfluss in der Ukraine und in Georgien tut das Seine zur Ausbildung und Kontinuität der jeweiligen Geschichtsbilder hinzu.
Es ist nicht weit hergeholt, das mangelnde Verständnis für Polen und die baltischen Staaten in Deutschland als Grund der dort gepflegten Identitäts- und Geschichtspolitik(en) zu erklären. Vielleicht sind die aktuellen Reparationsforderungen aus Polen an Deutschland eine Art Retourkutsche für deutsche Vergesslichkeit. Wie kommen wir im Westen dazu, Menschen in Polen und anderswo zu erklären, wie sie sich an die Vergangenheit zu erinnern haben und vor allem an welche. Mehr deutsche Soldat*innen in den baltischen Staaten, in Polen? Die häufig vorgetragene Begründung, das wäre aus historischer Sicht schwer vermittelbar, klingt sehr nach den sprichwörtlichen Krokodilstränen. Diese Liste wäre fortsetzbar, bezogen auf die baltischen Staaten, auf Tschechien und die Slowakei, auf Ungarn, auf Griechenland.
Letztlich hat man in Deutschland offenbar noch nicht so recht begriffen, dass Polen und die baltischen Staaten Mitglieder der Europäischen Union und der NATO sind und welche Verantwortung sich daraus ergibt. Insofern hat Robert Menasse recht: Auschwitz sollte zum Gründungsmythos Europas gehören, gleichviel, ob in den Grenzen der Europäischen Union oder des Europarates.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Dezember 2019.)