History Matters

Ein geschichtspolitischer Diskurs mit der Historikerin Christina Morina

„Ein Grund mehr, nachdrücklich in der Debatte, die sich unter den Humanwissenschaften entfaltet, auf die Bedeutung und die Nützlichkeit der Geschichte hinzuweisen, mehr noch auf die Dialektik der Zeit, wie das Metier, die wiederholte Beobachtung des Historikers sie zutage fördert; nichts ist nach unserer Meinung im Zentrum sozialer Realität bedeutsamer als dieser lebendige, innere, unendlich wiederholte Gegensatz von Augenblick und langsam ablaufender Zeit. Ob es sich um die Vergangenheit handelt oder die Gegenwart, ein klares Bewusstsein dieser Vielzahl sozialer Zeitabläufe ist für eine den Humanwissenschaften gemeinsame Methodologie unentbehrlich.“ (Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften – Die longue durée, in: Marc Bloch, Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a., Schrift und Materie der Geschichte – Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. von Claudia Honegger, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1977, französische Originalausgabe Paris 1976)

Geschichte lässt sich aus verschiedenen Perspektiven erzählen. Eigentlich eine Binsenweisheit, aber interessant wird es, wenn diese verschiedenen Perspektiven Gegenstand der historischen Forschung werden und sichtbar machen, was es mit der von Fernand Braudel benannten „Dialektik der Zeit“ auf sich hat, dem Verhältnis zwischen dem einzelnen Augenblick, dem einzelnen Ereignis oder Nicht-Ereignis und den Strukturen, Verhältnissen unzähliger Ereignisse im Verlauf eines langen Zeitraums. Dieser Zugang zur Geschichte ist etwas völlig anderes als die von Friedrich Nietzsche als „extremste Form des Nihilismus“ kritisierte „ewige Wiederkehr“ (zitiert aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, Band III der Schlechta-Ausgabe). Erst der Blick auf die „lange Dauer“ lässt Unterschiede, Individualitäten erkennen, macht Sinnhaftigkeit sichtbar, die sich eben gerade nicht teleologisch, sondern historisch ableiten lässt und sich immer auf Individuen oder auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen bezieht, die miteinander konkurrieren, mal friedlicher, mal weniger friedlich.

Christina Morina ist eine der profilierten Historikerinnen, die diese Tradition der Geschichtswissenschaften leben. Sie verbindet die historische Forschung mit Ansätzen der Soziologie, der kognitiven Linguistik, nicht zuletzt in der Auswertung von Quellen, die die unterschiedlichen Ansichten und Wahrnehmungen von Zeitzeug:innen, die sich selbst als Akteure ihrer Zeit in die Entwicklung der Zukunft einbringen möchten und dies auch mehr oder weniger elaboriert schriftlich tun.

WDR Europaforum: Diskutieren? Ignorieren? Differenzieren? Vom zivilgesellschaftlichen Umgang mit Populist:innen und Extremist:innen; Christina Morina, Professorin für Geschichte und Zeitgeschichte
Universität Bielefeld. Foto: Steffen Prößdorf. Wikimedia Commons.

Christina Morina wurde 1976 in Frankfurt an der Oder geboren. Sie hat bei Jeffrey Herf über die unterschiedlichen Positionierungen in Ost- und Westdeutschland zu Stalingrad promoviert („Legacies of Stalingrad“, Cambridge University Press, 2011), bei Norbert Frei über die Interpretationen der Schriften von Karl Marx durch acht Marxisten und eine Marxistin aus Deutschland, Frankreich und dem russischen Zarenreich habilitiert („Die Erfindung des Marxismus“, München, Siedler, 2017) und im Jahr 2024 zum 35. Jahresjubiläum des Mauerfalls die Wahrnehmung der Ereignisse der von der Transformationszeit zu Beginn der 1990er Jahre Betroffenen ausgewertet („Tausend Aufbrüche“, München, Siedler, 2023). Ferner veröffentlichte sie mit Norbert Frei, Franka Maubach und Maik Tandler das Buch „Zur rechten Zeit – Wider die Rückkehr des Nationalismus“ (Berlin, Ullstein, 2019) Das Buch „Tausend Aufbrüche“ erhielt 2024 den Deutschen Sachbuchpreis. Es stand auch schon auf der Shortlist für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2024.

Seit 2024 gibt Christina Morina bei Vandenhoek & Ruprecht die Reihe „Vergangene Gegenwart – Debatten zur Zeitgeschichte“ heraus: Band 1 behandelt das Thema „Deutschland und Europa seit 1990“ und enthält Gespräche mit Marianne Birthler, Norbert Frei, Tom Nijhuis und Philipp Ther, Band 2 befasst sich mit „Antisemitismus und Rassismus“ und enthält Texte unter anderem von Stefanie Schüler-Springorum und Teresa Koloma Beck. Weitere Publikationen sind auf der Seite der Universität Bielefeld gelistet.

Im Jahr 2018 schrieb Christina Morina mit über 1.100 Kolleg:innen einen Offenen Brief an den SPD-Parteivorstand gegen die von diesem veranlasste Auflösung der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. Eine Antwort erhielten die Unterzeichnenden trotz Mahnung nicht.

Der rote Faden

Norbert Reichel: Vielleicht fangen wir mit dem roten Faden Ihrer Forschungsarbeit an.

Christina Morina: Der rote Faden meiner Arbeit ist die politische Kulturgeschichte Deutschlands in einem europäischen und globalen Zusammenhang, vom frühen 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert. Insbesondere geht es in meinen Forschungen oft um die Frage, wie Biografie, Ideen und Politik miteinander zusammenhängen, wie sich individuelle Erfahrungshorizonte, politische Visionen und politische Praxis gegenseitig beeinflussen.

Norbert Reichel: Und methodisch?

Christina Morina: Ich war von Anfang an neugierig auf die historische Semantik, auf die Artikulation von Erfahrungen und Ideen über bestimmte Begriffe, Bilder und Narrative, also die Frage, in welcher Form und mit welchem Ausdruck diese im politischen Raum versprachlicht werden. Mich haben auch immer schon biographische Quellen interessiert, insbesondere Ego-Dokumente, auch Selbstzeugnisse genannt, zuletzt und am intensivsten in „Tausend Aufbrüche“, für das ich tausende von Bürgerbriefen aus Ost- und Westdeutschland seit den 1980er Jahren ausgewertet habe. Ganz aktuell arbeite ich an einem Tagebuchprojekt zum Holocaust in europäischer Perspektive. Mein Bielefelder Team und ich sammeln jüdische und nichtjüdische Tagebüchern, die wir mit hermeneutischen, semantischen und computerlinguistischen Methoden analysieren. Es geht um die Präsenz der Judenverfolgung in diesen kostbaren, einerseits sehr individuellen, aber in gewisser Weise auch sehr sozialen Zeitzeugnissen.

Norbert Reichel: Ihre Methodik erinnert mich ein wenig an die französische Schule der „Annales“, denen es um die Erfassung von Mentalitäten ging. Dieser Ansatz scheint mir auch Ihre Arbeit zu prägen, die Frage, wie Mentalitäten entstehen, warum die Bevölkerung so oder so denkt, welche Kontinuitäten, welche Brüche es gibt, auch über längere Zeiträume.

Christina Morina: Es freut mich, dass Sie mich so verstehen. Das wurde nicht zuletzt dadurch gefördert, dass man in der deutschen Geschichtswissenschaft noch immer ermutigt, wenn auch nicht mehr gezwungen wird, mit den beiden großen akademischen Qualifikationsarbeiten auf dem Weg zur Professur mindestens zwei Jahrhunderte in den Blick zu nehmen. Die Erkenntnisabstände werden im Alltag immer kürzer, wir vergessen immer schneller, auch die ältere Forschung wird mitunter zu schnell für irrelevant erklärt. Ich bin da vorsichtiger, habe großen Respekt vor dem, was es schon gibt und sehe mich als jemanden, der auf den Schultern von anderen steht. Ich unterrichte momentan hauptsächlich Neuere und Zeitgeschichte und dennoch ist diese nicht ohne einen tiefen Rückblick in das 19. Jahrhundert zu verstehen. Für mich sind die interessantesten Fragen die nach den längeren Linien, oder noch schwieriger nach Kontinuitäten, über die konzeptionell und methodisch immer wieder neu nachgedacht werden muss. Denken Sie beispielsweise an die Frage des sogenannten Vereinigungsrassismus, der um 1990 explodierte: Sicher gab es da Vorläufer im geteilten Deutschland, auf die wird gern und oft verwiesen. Doch genau nachzuzeichnen, wie diese aussahen und nach 1989 konvergierten, ist kein leichtes Unterfangen. Dazu entstehen jetzt erst aussagefähige Forschungsarbeiten.

Es geht also häufig um Wertewandel und Mentalitätsfragen im Zeitverlauf, auch in meinem neuen Projekt zu den Holocaust-Tagebüchern: Was hielten Menschen für gut und richtig, und wie wandelten sich diese Ansichten und Einstellungen, infolge welcher Erfahrungen, und welche Rolle spielen dabei staatliches Handeln und gesellschaftliche Dynamiken? Das sind fundamentale Fragen nicht nur an vergangene, sondern auch heutige Gesellschaften. Ich habe viele Arbeiten der „Annales“ mit großem Gewinn gelesen, aber mich bislang gar nicht so direkt in dieser Tradition gesehen. Das ist schon interessant, dass Sie meine Arbeiten so einordnen.

Norbert Reichel: Schon auf den ersten Seiten von „Tausend Aufbrüche“ formulieren Sie eine meines Erachtens entscheidende Frage für die Analyse auch der heutigen Entwicklungen in Deutschland, nicht nur im Osten, auch mit Wirkungen im Westen: „Wie konnte aus der demokratischen Mobilisierung der Nährboden für eine anti-demokratische Revolte entstehen?“

Christina Morina: Wenn man einmal auf die historische Forschung der letzten Jahrzehnte blickt, haben Fragen nach dem Warum und Woher deutlich an Bedeutung verloren. Dabei halte ich die gewissermaßen klassische Frage, „wie es dazu kommen konnte“, die lange vor allem auf die NS-Zeit und das Jahr 1933 oder auch 1914 bezogen war, für nach wie vor zentral für die historische Forschung. Wir sind etwas scheuer geworden, nach Ursachen und Kausalzusammenhängen zu fragen, verdichtende Beschreibungen, wie beispielsweise Christopher Clarks „Schlafwandler“-Perspektive, gelten mithin als spannender. Ich denke, eine Geschichtswissenschaft mit analytischem Anspruch sollte aber Fragen nach dem Warum und Woher immer wieder neu nachgehen.

Die Fragen, die ich in „Tausend Aufbrüche“ stelle, sind aus einer sehr aktuellen Lage heraus entstanden. Das Buch ist aktueller als alles, was ich vorher geschrieben habe, zugleich adressierte es eine jahrzehntealte historiografische Herausforderung, nämlich eine integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte zu schreiben. Mir geht es darin auch um vielfach behauptete Kontinuitäten: Warum war und ist die AfD insbesondere in Ostdeutschland so stark? Wo und wie reicht das in die DDR-Zeit zurück? Wie wirken hier ost- und westdeutsche politische Kulturtraditionen zusammen? Welche Erklärungen könnten aus historischer Perspektive der Debatte über den letztlich ja gesamtdeutschen Aufstieg der AfD hinzugefügt werden?

Chiffren deutscher Protestkulturen

Norbert Reichel: Protestkulturen – so sehe ich zumindest die Struktur des Aufstiegs der AfD, auch wenn nicht alle Wähler:innen dieser Partei als Protestwähler:innen verharmlost werden dürfen – haben Chiffren. Eine solche Chiffre, die zum Aufstieg der Grünen führte, war die Atomkraft. Eine Chiffre der Protestkulturen von rechts ist die Migration. Wo sind da die Kontinuitäten, wo die Brüche?

Christina Morina: Wenn Sie so fragen, fällt mir als Antwort zuerst ein, dass die heutige zentrale Chiffre die Demokratie ist. Das habe ich auch versucht, in „Tausend Aufbrüche“ zu adressieren. Die jüngere deutsche Demokratiegeschichte wurde im Hinblick auf Ostdeutschland sehr verkürzt gesehen. Dabei liegen hier wichtige Erklärungspunkte dafür, dass der Rechtspopulismus in Ostdeutschland eine deutlich größere Zustimmung erfährt. Die dortigen, teils sehr eigensinnigen „Volksdemokratie“-Vorstellungen halte ich für sehr relevant, aber es kommen in gesamtdeutscher Sicht natürlich viele weitere Themen oder Chiffren hinzu. Diese haben Norbert Frei, Franka Maubach, Maik Tändler und ich in dem Buch „Zur rechten Zeit“ dokumentiert. Wir haben argumentiert, dass die Themen Migration, Asyl, Einwanderung immer da waren, aber die Frage, wie sie in der Politik, vor allem in der Regierungspolitik, adressiert wurden, stets auch mit Ausschlag dafür gab, welche Mobilisierungschancen sich damit für rechte Bewegungen verbanden.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der langen Verweigerung, sich in Deutschland, West wie Ost, als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen, und der Mobilisierung von rechts in den 1980er und 1990er Jahren. Auch in der Gegenwart ist höchst relevant, wie eine Regierung Sachfragen adressiert und welche Möglichkeiten zur Polarisierung und verzerrenden Mobilisierung sich daraus von rechts bis nach links ergeben. Einerseits gehört eine gewisse Dynamik in der Auseinandersetzung zwischen Opposition und Regierung zu jeder demokratischen Ordnung. Zugleich birgt aber die gezielte Mobilisation von Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, die eine lange Tradition in der deutschen Geschichte hat, enorme Gefahren, vor allem, weil sie stets auf Kosten der Schwächeren in einer Gesellschaft geschieht.

Norbert Reichel: Alle äußern sich im Namen der „Demokratie“, aber wenn zwei Leute „Demokratie“ sagen, meinen sie noch lange nicht das Gleiche. Anders gesagt: Alle wollen Demokratie, aber wenn es an die Details der Umsetzung im Alltag geht, stellt sich dies dann etwas anders dar. Dann gilt vieles als „undemokratisch“, oft nur, weil es nicht dem eigenen Interesse entspricht.

Christina Morina: Absolut. Mit Blick auf den Osten ist es besonders wichtig, genauer auf das jeweilige Demokratieverständnis zu blicken, auf die Erwartungen, die Bürger:innen an das politische System haben und die Vorstellungen, die sie von ihrer persönlichen Rolle in dem System hegen. So kann ein Teil des Erfolgs der AfD dort erklärt werden, denn gewisse, historisch gewachsene direktdemokratische und „Volks“-Vorstellungen spielen für die ostdeutsche Zustimmungslage eine hervorgehobene Rolle.

Norbert Reichel: In „Tausend Aufbrüche“ dokumentieren Sie auch einige Stimmen, die eine direkte Demokratie wünschen, weil sie meinen, dass Ihr Anliegen dann auf jeden Fall eine Mehrheit bekäme. Die AfD bezieht sich immer wieder auf das Schweizer Modell der direkten Demokratie, Volksabstimmungen und Vollversammlungen.

Christiana Morina: In „Tausend Aufbrüche“ habe ich systematisch untersucht, was Menschen vor und während der Transformation um das Jahr 1989/1990 unter „Demokratie“ verstanden. Man sieht, dass aus der Erfahrung der Diktatur ein sehr dezidiertes Demokratieverständnis entstand, das sehr stark vor allem auf Bürgerbeteiligung setzt, auf direkte Demokratie. Es gibt eine tiefe Skepsis gegen die Verfahren und Institutionen der Parteiendemokratie, die nach der Erfahrung mit dem SED-Regime völlig delegitimiert war. Es ist interessant, dann zu schauen, wie sich diese Vorstellungen und Erwartungen in der 1989er Revolution entfalten, diese mit getrieben und dann kaum Eingang in die bundesrepublikanische Ordnung gefunden haben. Denn diese war und ist eine repräsentativdemokratische Ordnung, für die allerdings dennoch die große Mehrheit der Ostdeutschen gestimmt hat und diese auch bis heute – trotz der vielen Schwierigkeiten – unterstützt. Obwohl die Frage, warum eine signifikante Minderheit die AfD wählt, ein Kernthema des Buches ist, hört es damit nicht auf, sondern betrachtet diese Entwicklung immer wieder auch von der anderen Seite, der der vielen konstruktiven, nachhaltigen und gelungenen „Tausend Aufbrüche“ vieler Ostdeutscher in der Bundesrepublik. Auch diese sind Teil der Geschichte.

In den Umfragen wird oft nur gefragt, ob man „der Demokratie“ zustimme. Die prinzipiellen Zustimmungswerte sind inzwischen in Ost und West, je nach Umfrage, fast gleich hoch. Wenn man aber genauer fragt, welche Rolle etwa die Opposition hat, ob es mehr plebiszitäre Elemente geben sollte oder ob Notlagen den Einsatz von Gewalt rechtfertigen, sieht man bis heute gewisse Unterschiede. In Ostdeutschland gibt es teilweise eine weniger liberale Haltung, zum Beispiel ist man eher bereit, die Rechte der Opposition einzuschränken, wenn es eine Notlage gibt, und auch die Zustimmung zu autoritären Lösungen ist höher. Man könnte und sollte in der Demoskopie mehr differenzieren und auch nach spezifischen Demokratiemerkmalen fragen, um der Sache besser auf den Grund zu kommen. Was hören und imaginieren die Leute eigentlich, wenn AfD-Politiker sich selbst als die „wahren“ Demokraten bezeichnen?

Norbert Reichel: Bei dem Thema nationale Notlagen möchte ich noch einmal einhaken. Ich hatte den Eindruck, dass man in Ostdeutschland viel energischer gegen die Maßnahmen zur Prävention gegen Corona argumentierte, aber vielleicht war dieser Eindruck auch nur ein Ergebnis der Medienberichterstattung? Traditionelle esoterische und der Naturheilkunde zugeneigte Milieus, die sich eher bei den Grünen zu Hause sahen, wandten sich genauso heftig gegen Lockdown, Masken und Impfpflicht, nicht zuletzt im baden-württembergischen Milieu.

Christina Morina: Gut, dass Sie nachfragen. Die Umfrage, die ich eben nannte, kommt aus den frühen 1990er Jahren. Allensbach hatte damals als eines der wenigen Institute detaillierter die Merkmale der Demokratie abgefragt (veröffentlicht im Band 9 des Jahrbuchs, in meinem Buch habe ich auch darauf verwiesen). Welche Rolle sollten Militär und staatliche Gewalt haben, wie weit reichen die Rechte der Opposition? Da gab es eine deutliche höhere Zustimmung zur Aufhebung oder Beschränkung der Rechte der Opposition im Namen eines höheren Nations- oder Volksinteresses. Dahinter steckt auch die dort stärker verbreitete Vorstellung, dass es in der Gesellschaft überhaupt so etwas wie einen einheitlichen „Volkswillen“ gibt – auch eine Spätfolge der SED-Propaganda. Ende der 2010er Jahre kam nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie ein weiterer Faktor hinzu, der ebenso seine historische Verwurzelung hat: die Institutionsskepsis und damit einhergehend die höhere Ablehnung der staatlich empfohlenen Impfungen. Und das in einer Region, in der es zur DDR-Zeit durchgehend hohe Impfquoten gab, Impfungen als selbstverständlich galten. Die Impfskepsis im Osten hatte meiner Ansicht nach weniger mit Gesundheitsfragen zu tun, als mit der dort stärker verbreiteten Parteienverdrossenheit und eben auch einer ausgeprägteren Institutionen- und Staatsskepsis.

Konsens- oder Streitkultur oder beides?

Norbert Reichel: Sie zitierten an einer Stelle der „Tausend Aufbrüche“ mit einem Rückgriff auf Martin Sabrow Begriff der „Konsensdiktatur“ (in: Der Konkurs der Konsensdiktatur, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow, Weg in den Untergang, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1999) – Konrad H. Jarausch spitzte dies mit dem Begriff der „Fürsorgediktatur“ zu – und beschreiben, wie abstoßend und wirkmächtig diese Herrschaftsform für Ostdeutsche zugleich gewesen ist, sagen aber auch, dass der Begriff so zentral war, dass es nicht verwundert, dass „Konsens“ im „Volke“ als Ideal oder Folie auch nach 1990 noch eine große Rolle spielte. Ein Gegenbild schilderte mir ein Freund, der sich bei der Linken engagiert, er sagte mir einmal, in den Nachfolgeparteien der SED, beginnend mit der PDS, habe man nicht mehr eine einheitliche Parteimeinung akzeptieren wollen. Daher streite man sich bis heute ständig über alles und jedes und das markierten Kommentator:innen dann als Manko. Parteien sollen sich offenbar nicht streiten, Regierungen mit einer Stimme sprechen, der Streitbegriff ist negativ belegt.

Christina Morina: Streitkultur und Wertschätzung für die Fähigkeit einer Gesellschaft, Konflikte offen und zugleich friedlich auszutragen, gehören zum Wesenskern einer Demokratie. Interessen sind nicht gleich, Verschiedenheit ist Alltag, weshalb die Fähigkeit, Konflikte effektiv zu lösen, von fundamentaler Bedeutung ist. Das ist das eine. Ostdeutschland ist zugleich natürlich eine sehr konfliktreiche und immer noch – nun auch in der zweiten Generation – transformationserschöpfte Gesellschaft. Die dritte Ebene ist die Erfahrung des 20. Jahrhunderts mit seinen Diktaturen, den unterschiedlichen Vorstellungen einer radikal harmonisierten „arischen“ Volks- oder „sozialistischen“ Menschengemeinschaft, die Einheitsparteien und Regierungen vertraten und durchzusetzen versucht haben, und zwar unter jeweils recht großer Beteiligung der Bevölkerung. Die Idee und teils realisierte Praxis der konsensualen „Volksherrschaft“ wirken nach, weshalb sich nach der doppelten „Konsensdiktatur“-Erfahrung im Osten 1990 viele die Demokratie vor allem als Konsensdemokratie vorstellen wollten. In den 1990er Jahren richteten sich Politikvorstellungen an dem Ideal aus, Politik müsse ein hohes Maß an gesellschaftlicher Harmonie schaffen und sichern, das zieht sich teils bis in die Gegenwart fort. Als gute Regierung gilt eine, die in ständiger Übereinstimmung mit der Bevölkerung regiert, und auch hier spielt die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine einheitliche Volksmeinung eine wichtige Rolle.

Das ist natürlich widersprüchlich, denn Ostdeutschland ist zugleich vielerorts noch polarisierter als der Westen. Ich sehe darin einen Zusammenhang, denn eine solche Harmoniebedürftigkeit, diese Sehnsucht nach Konsens kollidiert mitunter mit der Notwendigkeit, Probleme und Konflikte zu lösen. Wenn der Wert von Konflikten und die Kunst des konstruktiven Streitens nicht hoch genug eingeschätzt wird und folglich auch nicht gut eingeübt ist, dann verwundert es kaum, dass man gerade in schwierigen Konfliktlagen, etwa infolge des vermehrten Zuzugs von Geflüchteten in den Jahren ab 2015, besonders schlecht darauf vorbereitet ist, diese zu meistern. Das macht die Lage wiederum nur noch schlimmer, und es entsteht eine Art Teufelskreis.

Norbert Reichel: Dieses Harmoniebedürfnis ist auch medial vermittelt und meines Erachtens ein Grund dafür, dass Regierungen, eben zurzeit die sogenannte „Ampel“ ein so schlechtes Image haben.

Christina Morina: Das zeigt, dass es nicht nur ein ostdeutsches Thema ist, sondern dass eine plurale Parteiendemokratie immer zwischen zwei Polen changiert. Einerseits braucht man den Streit, andererseits Aushandlungsprozesse, die auf einen Konsens hinauslaufen sollten, um Entscheidungen überhaupt treffen zu können und Dinge zu verändern. Entscheidend sind aber nicht nur die Verfahren, sondern damit verbunden immer auch die Art und Weise, wie Konflikte ausgetragen werden, also nicht zuletzt das Management, die führende Moderation von Konflikten. Und da muss jede Regierung ihre Tauglichkeit immer wieder neu unter Beweis stellen.

Aufbruchpotenziale rund um das Jahr 1990

Norbert Reichel: Zurück zum Jahr 1990. Sie haben eine Fülle von sehr persönlichen Dokumenten ausgewertet. Oft hatte ich den Eindruck, dass sich manches, das damals formuliert wurde, heute zugespitzt hat. Gibt es da so etwas wie eine lineare Entwicklung?

Christina Morina: In den ausgewerteten Zeugnissen sieht man länger geprägte Vorstellungen davon, wie „der Staat“ funktioniert, wie das Verhältnis von Bürger und Staat gedacht wird, welche Aufgaben ihm zugeschrieben werden, welche Rolle Bürger:innen selbst darin einnehmen wollen, was ihnen Gemeinschaft bedeutet, auch im Unterschied zu Gesellschaft. Ich verbinde meine Analyse mit den Ergebnissen der demoskopischen und sozialwissenschaftlichen Forschung. So zeigt sich, dass die gewachsenen Wertevorstellungen in Ostdeutschland anders aussehen als in Westdeutschland, nehmen Sie beispielsweise das Verständnis beziehungsweise die Gewichtung von Gleichheit und Freiheit, da kann man schon längere Linien ziehen. Aber diese Kontinuitäten reichen als Erklärung für die heutige Lage nicht aus. Ich halte nichts von einspurig-linearen oder gar teleologischen Argumentationen, die vermeintlich direkte Pfade von der Geschichte in die Gegenwart ziehen. Man kann einige Ursachen für die heutige Lage schon in der Geschichte finden, aber zugleich würde ich nicht sagen, dass alles genau so vorgezeichnet war.

Norbert Reichel: Die Neigung linear zu argumentieren ist verführerisch. Die Weimarer Verfassung enthielt viele gute Dinge, es gab eine Menge demokratischer Entwicklungen, aber Weimar wird viel zu oft vom Ende her erzählt, so nach dem Motto, es musste ja so kommen. Vielleicht haben wir auch bei unserem Blick auf die Transformationszeit der frühen 1990er Jahre viele Ansätze ignoriert, die wir hätten pflegen können und sollen und erzählen den Vereinigungsprozess ausgehend von den Entwicklungen, die scheiterten.

Christina Morina: Nicht zu vergessen ist in diesem Kontext die deutsch-deutsche Dimension. Ich fand es interessant und essentiell, auch den westdeutschen Reformdiskurs mit zu erzählen. Zum Beispiel gab es westdeutsche Stimmen, die um 1989/90 herum auch die eigene Ordnung für reformbedürftig hielten. Da wurde etwa, leicht polemisch, aber doch mit einem ernsten Kern, gefragt: Wer hat eigentlich bei uns im Westen das Gesetz des Marktes erlassen? Warum gibt es eigentlich bei uns keine Runden Tische? Die bundesdeutsche Ordnung sei auch keine perfekte, das wäre doch jetzt eine Gelegenheit, das zusammenzudenken und gemeinsam eine gerechtere, bessere Ordnung zu schaffen! In diesen Jahren steckt also eine Menge gemeinsamer Erfahrungen und ein geteiltes demokratiepolitisches Aufbruchspotenzial, ein Aspekt, der heute fast ganz vergessen ist. Es ist viel erreicht, wenn die historische Forschung so etwas sichtbar macht. Was dann daraus gefolgt ist und was vielleicht auch noch für heute daraus folgen sollte, das sind eigene Fragen.

Der öffentliche Umgang mit Geschichte

Norbert Reichel: In Ihrem Stalingrad-Buch ist es Ihnen gelungen zu zeigen, wie in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Mythen rund um Stalingrad entstanden, sich verfestigten und die öffentlichen Diskurse bestimmten. Die Erkenntnisse haben sie auch in einem Aufsatz für die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ zusammengefasst. Das Buch ist jetzt fast 20 Jahre alt, aber es ist aus meiner Sicht nach wie vor ein wichtiger Beitrag zu dem zurzeit wieder hoch brisanten Thema der Erinnerungskultur. Der Beauftragten für Kultur und Medien ist es 2024 nicht gelungen, ein zustimmungsfähiges Konzept vorzulegen. Nach heftigen Protesten hat sie es erst einmal zurückgezogen. Da fehlte einfach der rote Faden, es war ein – so muss ich es sagen – fantasie- und empathieloses, rein additives Konzept ohne jede Prioritätensetzung. Daneben gibt es – ich denke nicht nur an Gaulands Äußerungen zu der angeblich 1.000 Jahre erfolgreichen deutschen Geschichte – auch immer wieder Versuche einer Rehabilitation der Vergangenheit bis hin zu einer Re-Heroisierung der Wehrmacht. Der jetzt vom Bundestag beschlossene Veteranentag könnte sehr schnell missbraucht werden.

Christina Morina: Es ist eine unabgeschlossene Geschichte. In dem Buch habe ich eine geteilte, im Grunde über Kreuz liegende politisch-kulturelle Geschichte, die Auseinandersetzungsgeschichte mit dem Krieg gegen die Sowjetunion und insbesondere der Schlacht von Stalingrad erzählt. Im letzten Kapitel schaue ich auch in die 1990er Jahre: Es gab dann schon so etwas wie einen kritischen Konsens in der Wissenschaft, in der Politik, verbunden mit einer Anerkennung gegenüber Russland bis hin zum Gipfelpunkt der Erinnerungs- und Gedenkpolitik, als Bundeskanzler Gerhard Schröder an der Gedenkfeier zum 9. Mai 2005 in Moskau teilnahm. Eine durchaus progressive Entwicklung. Nach und nach setzte sich also eine genuin kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Wehrmacht bis hin zum individuellen Soldaten und seiner Verantwortung durch.

Aber dieser Erkenntnisfortschritt und öffentliche Bewusstseinsgewinn sind keineswegs gesichert. Der Blick auf die Geschichte verändert sich von Generation zu Generation, manchmal auch schneller, das gehört in einer pluralen Demokratie und Geschichtskultur dazu. Zugleich halte ich die grundsätzlich kritisch-abgrenzende Sicht auf die NS-Zeit und die damit verbundenen Verbrechen, allen voran die Shoah und den Vernichtungskrieg gegen Ost- und Südosteuropa, für unverzichtbar. Nicht im Sinne eines Dogmas, wie heute auch gern mal von links behauptet wird, sondern gewissermaßen eines historisch-normativen Grundgesetzes der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“. Diese Position wird in den letzten Jahren immer stärker und unverhohlener vor allem von rechts in Frage gestellt, von Leuten, die offen für einen faschistischen Politikstil und entsprechende -inhalte werben und teils aufgewärmte, teils neu formulierte völkisch-hypernationalistische Ideen vertreten, um gerade junge Männer anzusprechen. Dies geschieht in den letzten Jahren im rechten und extremrechten Feld, also im Umfeld der AfD, der Identitären und weiteren Netzwerken der Neuen Rechten, zunehmend systematisch. Das jahrzehntelange, hochpolitische Ringen um die „Legacies of Stalingrad“ ist wichtiger Teil der Vorgeschichte der jetzigen Entwicklungen. Denn, wie gesagt: Das ist kein abgeschlossenes Kapitel.

Norbert Reichel: Sie beziehen sich immer wieder auf Jürgen Habermas und seine Analyse des öffentlichen Gebrauchs von Geschichte.

Christina Morina: Habermas‘ Denken ist für mich zentral, es hat mir immer wieder die entscheidenden analytischen Perspektiven, Stichwörter und Fluchtpunkte für die Arbeit gegeben, von „Legacies of Stalingrad“ bis hin zu „Tausend Aufbrüche“. Bei Letzterem hatte ich den „Witz des Republikanismus“ von Beginn an im Kopf, von dem Habermas am 7. Mai 1995 in der Frankfurter Paulskirche unter der Überschrift „1989 im Schatten von 1945“ sprach. Ich zitiere das zu Beginn des Fazits von „Tausend Aufbrüche“. Weit über die Idee des Verfassungspatriotismus hinaus hat mich Habermas‘ Sicht auf die ausdifferenzierte, postnationale Gesellschaft und die Möglichkeiten ihrer Integration über ein republikanisches Ethos und eine republikanische Praxis stark geprägt. Und er hat schon vor Jahrzehnten als Philosoph und Soziologe die treffendste Formulierung gefunden, um das zu beschreiben, worum es meistens geht, wenn von „Erinnerungskultur“ die Rede ist: um den öffentlichen Gebrauch von und den öffentlichen Umgang mit Geschichte.

In „Legacies of Stalingrad“ habe ich mich vor allem mit Bezügen zum sogenannten Krieg an der Ostfront in der politischen Elite befasst, deren Mitglieder ja fast alle persönliche Kriegserfahrungen hatten. Es ist sehr erhellend zu sehen, wie sich in Ost- und Westdeutschland die sehr unterschiedliche individuelle Kriegsbeteiligung, einschließlich der Beteiligung am Widerstand, auf das öffentliche Sprechen dieser Amtsträger über diesen Krieg nach 1945 auswirkte. Am Ende geht es um die Frage, wie individuelle Biografien, (Gewalt-)Politik und gesellschaftlicher Wandel zusammenhängen – abhängig und auch unabhängig vom politischen System, das wir dabei jeweils in den Blick nehmen.

Norbert Reichel: Das dürfte sich bei Ihrer Untersuchung der Holocaust-Tagebücher fortsetzen. Worum geht es bei dieser Untersuchung? Um die Opfer oder um die Täter oder um beide?

Christina Morina: Wir untersuchen in diesem Vorhaben europäisch vergleichend die Präsenz der Judenverfolgung in jüdischen und nicht-jüdischen Tagebüchern von circa 1930 bis circa 1950, also deren sprachlichen Ausdruck in Zeugnissen der Opfer und der sogenannten Mehrheitsgesellschaft oder auch „Bystander“. Dabei spielen die zeitgenössischen Vokabeln für die damit einhergehenden Gewalterfahrungen und gegenseitigen Menschen- und Gruppenzuschreibungen eine zentrale Rolle. Wir lesen jüdische Tagebücher in ihrem Blick auf die Mehrheitsgesellschaft, und andersherum nichtjüdische Tagebücher auf Bezüge zu Bystandern; diese sind auch und gerade dann von Interesse, wenn es darin explizit nicht um die Judenverfolgung geht. Uns interessiert, wie Antisemitismus, anti-jüdische Maßnahmen und Gewalt in diesen Selbstzeugnissen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg einen sprachlichen Niederschlag fanden – oder auch nicht oder nur implizit. Ich arbeite in meinem Teilprojekt an einer deutsch-niederländischen Vergleichsstudie, eine Anordnung, die meines Erachtens besonders aussagekräftig ist.

Die Verbindung von Ideen und Politik (Jeffrey Herf)

Norbert Reichel: In Ihren Büchern gefällt mir, dass Sie den Gegenstand immer sehr konkret untersuchen und beschreiben. Das gilt auch für Ihr Marxismusbuch, Ihre Habilschrift. Sie haben neun verschiedene Rezipienten, acht Männer und, eine Frau untersucht, die alle ihre eigene Version des Marxismus hatten, diese auch aus einem Gefühl ableiteten, etwas Gutes für die Zukunft, mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Christina Morina: Was ich tue, ist eigentlich eine ureigene historische Herangehensweise, nämlich zu schauen, wie etwas in die Welt gekommen ist. Der Marxismus ist ja nicht von Marx, und auch nicht von Engels in irgendeinem dezidierten Sinne erfunden oder gegründet worden. Er entstand aus einer transnational sich entfaltenden Hingabebewegung einer Handvoll recht bemerkenswerter Intellektueller, für die Marx‘ Texte – und oft auch Marx als Person – intellektuell und emotional wichtig waren. Er prägte und inspirierte nicht nur ihr Denken, sondern auch ihr Handeln. Ich zeichne in dem Buch die diversen Aneignungen, Übersetzungen und Weiterführungen in unterschiedlichen nationalen Settings nach und mache so gewissermaßen den Erfindungsprozess des Marxismus als politischer Weltanschauungsbewegung sichtbar. Es ging auch hier letztlich um die Verbindung von Biografie, Ideen und Politik. Jeffrey Herf war nicht unmittelbar an meiner Habilschrift beteiligt. Aber mittelbar schon. Bei ihm habe ich während meines PhD-Studiums gelernt: ideas matter in politics – und wie wichtig es ist zu verstehen, auf welche Weise sie das tun. Das ist der Leitgedanke und die analytische Leitfrage in seinem für mich mit am wichtigsten Buch, „Divided Memory – The Nazi Past in the Two Germanys“ (Harvard University Press, 2013).

Im Grunde erlaubt eine in diesem Sinne historisierende Sicht auf Marx und den Marxismus eine ganz andere, ich möchte behaupten post-ideologische Auseinandersetzung. Es geht also nicht um Marxologie. Es geht nicht darum, ob Marx recht hatte, oder ob der Marxismus Lenins überhaupt Marxismus war, sondern um die Frage, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen seine Ideen und Theorien in seiner Zeit und durch nachfolgende Generationen aufgenommen, weitergedacht und ins Werk gesetzt wurden. Man kann sich der Demokratie übrigens in ganz ähnlicher Weise nähern, als historisch wandelbarer Idee und Praxis. Menschen verstehen darunter ganz Unterschiedliches, in verschiedenen Zusammenhängen, in verschiedenen Zeiten.

Ich werbe bei meinen Studierenden regelmäßig für die Erkenntnispotentiale einer in diesem Sinne historischen Auseinandersetzung mit manchmal wirklich, manchmal nur vermeintlich rein aktuellen Problemen. Geschichte schafft Abstand zum je Eigenen, und in der Distanz zum Gegenstand entsteht die Möglichkeit, ihn besser zur verstehen. Übers Historisieren kann man sich also vielen ermüdenden, oberflächlichen oder rein ideologischen Diskussionen produktiv entziehen und einen echten, also auch theoretisch weiterführenden Erkenntnisgewinn erreichen. So ging es, salopp formuliert, in „Die Erfindung des Marxismus“ letztlich um die Frage, wie Revolutionäre ticken.

Ich habe einmal mit Robert Habeck im Radio über diese Frage sprechen dürfen. Anlass war Marx‘ 200. Geburtstag und das Buch, aber gesprochen haben wir vor allem darüber, was politisches Engagement eigentlich antreibt und politische Bewegungen erfolgreich macht. Habeck war nie Marxist, aber er konnte sich in diese Frage sehr gut hineindenken, in die Sozialisationsperspektive des Buches, in der ich das Hineinwachsen in (marxistische) Politik als eine Art tertiäre Sozialisation beschreibe. Das machte die Studie anschlussfähig und relevant für die Gegenwart. Im Gespräch mit Habeck, der damals noch in der Opposition war, ging es wiederum um das Verhältnis von Biografie, Ideen und Politik, aber eben nun mit Blick auf sein politisches Engagement. Und die Gegenwart und Zukunft politischer Parteien vom Standpunkt des frühen 21. Jahrhunderts aus betrachtet.

Norbert Reichel: Habeck ist aus meiner Sicht einer der wenigen Politiker, die sich mit philosophischen Fragen befassen – er hat ja auch unter anderem Philosophie studiert – und ihr Tun reflektieren.

Christina Morina: Ja, er war in keiner Weise verschlossen, im Gegenteil: das war eine erstaunlich offene und nachdenkliche Begegnung. Habeck ist ein Ausnahmepolitiker, der sich sehr für das sprachliche Fundament und die philosophische Dimension von Politik interessiert. Ob das Fluch oder Segen für seine weitere politische Laufbahn ist, wird sich zeigen.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2024, Internetzugriffe zuletzt am 22. Juli 2024. Titelbild: Foto: Ralph Hirschberger. Bundesarchiv 183-1989-1109-014. Wikimedia Commons.)