Ich hoffe, ich behalte recht

Zwi Rappoport am 27. Januar 2023 im Landtag Nordrhein-Westfalen

In der Gedenkstunde des Landtags Nordrhein-Westfalen am 27. Januar 2023 sprachen die Journalistin, Zeitzeugin und Überlebende der Shoah, Ruth Weiss, und der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen Lippe, Zwi Rappoport, dessen Rede wir hier dokumentieren dürfen:

„Ich wünsche mir, dass der 27. Januar zu einem wirklichen Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens wird. Nur so vermeiden wir, dass er Alibi-Wirkung entfaltet, um die es uns am allerwenigstens gehen darf.“

Mit diesen mahnenden Worten hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Jahre 1996 den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum offiziellen deutschen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt.

Es stellt sich die Frage, ob es gelungen ist, den heutigen Tag im Bewusstsein der Bürger unseres Landes wirklich zu einem Tag des Gedenkens und Nachdenkens werden zu lassen.

Nach einer jüngst veröffentlichten Umfrage wünscht sich fast die Hälfte der Deutschen einen Schlussstrich im Bezug auf die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Lediglich ein Drittel hält dies für falsch.

Foto: Landtag NRW / Bernd Schälte

Dieses beunruhigende Ergebnis führt uns einmal mehr vor Augen, wie bitter notwendig es ist, solchen Tendenzen auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen entgegenzuwirken. Sollte es uns nicht gelingen, die kollektive Verantwortung für die Erinnerung an die Schoah und den Nationalsozialismus den nachfolgenden Generationen zu vermitteln, drohen Gedenktage wie der heutige tatsächlich in Routine zu erstarren.

Für die Überlebenden und ihre Nachkommen ist ein Schlussstrich ohnehin nicht möglich. Sie leiden generationsübergreifend unter den Traumata der Schoah und die Vergangenheit ist stets gegenwärtig.

Auch meine eigene Familiengeschichte wurde hierdurch geprägt:

Mein Vater Ernst war der älteste Sohn des Münsteraner Getreidehändlers Hermann Rappoport und seiner Ehefrau Luise. Die Rappoports waren der Inbegriff einer gut bürgerlichen, deutsch-jüdischen Familie. Mein Großvater Hermann war ein angesehener Kaufmann, der zeitweise Stadtverordneter in Münster war. Er verstarb 1932, sodass ihm die Schrecken des Nationalsozialismus erspart blieben. Seine Ehefrau war in der Jüdischen Gemeinde, im „Israelitischen Frauenverein“ aktiv.

Mein Vater, der Jura studiert hatte, wurde im Jahre 1929 zum Amtsgerichtsrat ernannt. Er war ein hervorragender Leichtathlet im Sportclub Preußen Münster, im Stabhochsprung sogar unter den Kandidaten für die Olympischen Sommerspiele 1928. Zudem war er ein begeisterter Segel- und Motorflieger.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde mein Vater aus dem Richterarmt entfernt und aus dem Sportverein ebenso ausgeschlossen, wie aus der akademischen Fliegergruppe. Er emigrierte 1935 in das damalige Mandatsgebiet Palästina, wo er meine Mutter Dora kennenlernte und ich 1946 geboren wurde.

Dort musste mein Vater sein Hobby – die Fliegerei – zum Beruf machen. Er wurde zum führenden Ausbilder im Segel- und Motorflug und gilt als einer der Gründungsväter der Israelischen Luftfahrt.

Seine beiden Geschwister konnten im letzten Augenblick, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nach England emigrieren. Die Auswanderung der Mutter aber scheiterte am Kriegsbeginn. Sie blieb in Münster, wurde 1942 deportiert und im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

1954, neun Jahres nach Kriegsende, kehrte mein Vater mit mir und meiner Mutter in die Stadt zurück, aus der er vertrieben worden war.

Auch wenn es schwer nachvollziehbar ist: Er hatte Sehnsucht nach seiner westfälischen Heimat, nach seiner Muttersprache und vor allem ein starkes Bedürfnis nach später Gerechtigkeit. Von den Nazis hinausgeworfen, wollte er unbedingt wieder seinen Beruf als Richter ausüben.

Meine Mutter hingegen war als überzeugte Zionistin bereits im Jahre 1932 voller Idealismus aus Wien nach Palästina ausgewandert, um in einem Kibbuz an der Vision eines jüdischen Staates mitzuwirken.

Sie war über den Entschluss meines Vaters, nach Deutschland zurückzukehren, sehr unglücklich. Zu tief war die Kluft zwischen ihr als Jüdin und ihrer nicht-jüdischen, deutschen Umwelt. Den Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland empfanden die meisten Deutschen damals als Zusammenbruch und Niederlage und nicht – wie sie – als Befreiung. Das Nachkriegsdeutschland war für sie, wie sie sich einmal ausdrückte, „ein riesiger jüdischer Friedhof“, in dem die Täter weiterlebten. Bei jedem halbwegs erwachsenen Menschen musste man sich fragen: Was hat dieser oder jener wohl während der Nazizeit getan? Gibt man wohlmöglich einem Mörder die Hand?

Und so bestanden die wenigen nicht-jüdischen Freunde meiner Eltern aus Menschen, die wegen ihrer religiösen oder politischen Grundüberzeugung dem Nationalsozialismus widerstanden hatten: Einige gläubige Christen und ein Gewerkschaftler, der nachweislich kein Nazi war.

Ich schildere diese Gedanken und Gefühle meiner Mutter so ausführlich, weil die wenigen Juden, die im Nachkriegsdeutschland lebten, ähnlich gedacht und gefühlt haben. Die jüdische Gemeinschaft bestand damals aus einer Handvoll Emigranten, die trotz allem zurückgekehrt waren, und den wenigen Überlebenden der Konzentrationslager, die entwurzelt in Deutschland geblieben waren, weil sie nicht mehr die Kraft hatten, woanders neu zu beginnen.

Umso bewundernswerter ist es, dass die wenigen Überlebenden trotz ihres tiefen Traumas einen Neuaufbau jüdischen Lebens in Deutschland wagten. Und so entwickelte sich zaghaft, nach und nach, eine kleine jüdische Gemeinschaft, auch hier in Nordrhein-Westfalen. Aber erst durch die Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ab dem Jahre 1990 bekam jüdisches Leben hier wieder eine Zukunftsperspektive.

Heute leben in Nordrhein-Westfalen wieder knapp 30.000 Juden und in unseren 22 Jüdischen Gemeinden ist ein aktives, lebendiges und vielfältiges Judentum entstanden.

Mit dem im letzten Jahr zwischen den Jüdischen Landesverbänden und dem Land NRW unterzeichneten 6. Änderungsstaatsvertrag wurden die freundschaftlichen Beziehungen des Landes mit den Jüdischen Gemeinden weiter gefestigt und fortentwickelt. Unser Dank gilt Herrn Ministerpräsident Wüst, der damit – gerade in Zeiten wachsender antisemitischer Bedrohungen – einen wichtigen Beitrag zur Sicherung und Weiterentwicklung jüdischen Lebens in Nordrhein-Westfalen geleistet hat.

Die jüdische Gemeinschaft fühlt sich hier in Nordrhein-Westfalen heimisch. Wir sind in der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert und anerkannt.

Doch angesichts des grassierenden Antisemitismus bleibt immer auch ein Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels. Denn von einer echten Normalität sind wir weit entfernt. Für unsere Kinder und Enkelkinder ist es leider normal, dass die Polizei zu ihrem Schutz täglich vor der Synagoge Wache steht, dass sie durch Sicherheitsschleusen gehen müssen und bei Ausflügen immer von Sicherheitspersonal begleitet werden.

Es ist ein Alltag, der sie ständig daran erinnert, dass ihre Lebensrealität hier eben nicht normal ist. Manche Eltern denken sogar über die Option nach, auszuwandern.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Jüdische Gemeinschaft weiß es durchaus zu schätzen und ist dankbar dafür, heute in einem demokratischen, weltoffenen Deutschland leben zu können. Unser Grundgesetz garantiert den Schutz jüdischen Lebens mit seiner grundsätzlichen Haltung zu den Menschenrechten, zur Religionsfreiheit und zum Schutz von Minderheiten.

Damit dies aber auch in Zukunft so bleibt, müssen wir unsere demokratischen Werte und Normen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Zu diesen Werten gehört auch die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Schoah als ein Wesenskern der Bundesrepublik Deutschland.

Leider können wir gerade bei der jüngeren Generation nur noch wenig Wissen voraussetzen. Nach einer Umfrage aus dem Jahre 2017 wussten weniger als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler, dass Auschwitz-Birkenau ein NS-Vernichtungslager war. Ich halte daher die bildungspolitische Forderung für sinnvoll, dass alle Schüler der weiterführenden Schulen einmal in ihrer Schulzeit eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten – eine entsprechende pädagogische Vorbereitung vorausgesetzt.

Denn neben der Wissensvermittlung wird an diesen authentischen Orten am ehesten Empathie zu erzeugen sein. Die Bedeutung solcher Lern- und Gedenkorte ist noch wichtiger geworden durch den Umstand, dass nur noch wenige Zeitzeugen berichten können.

Sehr geehrte Frau Weiss, wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie den Weg von Dänemark nach Düsseldorf auf sich genommen haben, um zu uns zu sprechen.

Vor gut einem Jahr habe ich – zum ersten Mal – ein Konzentrationslager besucht. Ich war in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. In Anbetracht der Tatsache, dass sowohl meine Großmutter Luise aus Münster als auch meine Großmutter Rosa aus Wien sowie weitere Verwandte in der Schoah ermordet wurden, habe ich erst im Alter von 75 Jahren den Mut gefunden, diese Reise anzutreten. Angesichts der Haufen von abgeschnittenen Haaren, der Berge von zurückgebliebenen Schuhen und Koffern und der sich türmenden, leeren Zyklon-B-Dosen kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendein Mensch davon unberührt bleibt.

Ich hoffe, ich behalte Recht.

Zwi Rappoport, Dortmund

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung in der Ausgabe für März 2023 von J.E.W. – Jüdisches Echo Westfalen, dem Verbandsmagazin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Veröffentlichung im Demokratischen Salon erstmals im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 22. Februar 2023. Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt von Yvan Goll, Fruit from Saturn © Bürgerstiftung für verfolgte Künste – Else-Lasker-Schüler-Zentrum – Kunstsammlung Gerhard Schneider. )