In der PolyWelt
Aiki Miras neuer Roman Proxi
„Vielleicht haben Menschen Mathematik genau dafür erfunden, um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass es in der Welt eine wirkliche Struktur gibt.“ (Aiki Mira, Proxi – Eine Endzeit-Utopie, Frankfurt am Main, Fischer Tor, 2024)
Die Romane und Erzählungen von Aiki Mira sind mitunter komplexe Gebilde, die die Leser:innen auffordern, eine selten linear erscheinende Handlung zu verfolgen, die nicht immer unmittelbar offensichtliche Queerness der Figuren zu erfassen und die versteckte „Struktur“ zu entdecken. Es wäre daher ratsam, die Texte von Aiki Mira langsam zu lesen, immer wieder zurückzublättern, sich vielleicht sogar Notizen zu machen und vor allem auch immer wieder in ein vorangegangenes Buch hineinzuschauen. So entsteht in den Lesenden eine eigene „Struktur“. Lese- und Schreibprozess interagieren.
Aiki Miras Bücher sind Bücher nach einer Katastrophe, jedoch keine Katastrophenbücher, denn es gibt immer – so auch in „Proxi“ – eine „Utopie nach der Apokalypse“. Es gibt kein Ende der Geschichte: „Wir leben am Anfang unserer Geschichte, in der fernsten Vergangenheit.“ Solche scheinbaren Widersprüche müssen nicht aufgelöst werden, sondern fordern die Leser:innen heraus, sich auf sie einzulassen, so wie auch die Personen von Aikis Romanen sich immer wieder in ihren eigenen Widersprüchen verhaken, diese aufzulösen versuchen, was nicht immer gelingt, oft aber – fast schon in einer Art Serendipitiy – unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse provozieren, die wiederum der Anfang einer neuen Geschichte werden könnten. „Proxi“ ist eine Art „Road-Movie“ und damit eigentlich genau das, was die Menschheit voranbringen könnte, auch in Zeiten schwerster Krisen. Die im Roman zu entdeckende „PolyWelt“ eröffnet Wege aus der „PolyKrise“ nur am Rande, der erstgenannte Begriff kommt im Roman vor, der zweite nicht).
Die Premiere des Buches fand in Berlin statt und war – wie oft bei Buchpräsentationen von Aiki – eine gemeinsam mit Michael Wehren gestaltete Sound-Lesung. Michael Wehren ist mit seinem Essay „(Un-)Doing Climate Fiction“ ebenso bereits im Demokratischen Salon präsent, Aiki mit dem Gespräch „Poetik der Queerness“ (das auch ins Ukrainische übersetzt wurde) und in dem Manifest „Post-Cli-Fi“. Das Manifest postuliert eine Literatur nach der Apokalypse oder wie auch immer man die absehbaren ökologischen Katastrophen unserer Zeit bezeichnen mag. Der Untertitel des Manifests formuliert den Anspruch, „in der Katastrophe weiter(zu)schreiben“. Aiki hätte auch Weiterleben sagen können. Eine der Personen in „Proxi“ bringt es auf den Punkt: „Seit 2010 wissen wir, dass die Komplexität der Umwelt das Gehirn umformt, seine Funktion verbessert. Neurowissenschaftliche Experimente zeigen: Ein Gehirn blüht mit Herausforderungen auf.“
Apokalypse und Anti-Apokalypse
Norbert Reichel: Vielleicht zu Beginn ganz ohne zu spoilern ein paar Worte zur Storyline von „Proxi“?
Aiki Mira: Drei Personen wollen eine virtuelle Welt retten und begeben sich dafür auf einen Roadtrip. Das bedeutet, sie müssen sich der Landschaft der analogen Welt stellen.
Norbert Reichel: Eine ziemlich schreckliche Landschaft.
Aiki Mira: Das ist Betrachtungssache. Die Landschaft ist auf jeden Fall fremd, eine Post-Klima-Landschaft, eine Landschaft, die als Ruine des Kapitalismus, als etwas Zerstörtes gesehen werden kann, aber gleichzeitig als etwas Neues, etwas Fremdes. Diese Landschaft sehen wir durch die drei Figuren, die die meiste Zeit ihres Lebens in der digitalen, virtuellen Welt verbracht haben. Sie sind post-digital.
Norbert Reichel: Wer eine Landschaft als „katastrophal“ beschreibt, ist so voreingenommen, dass bestimmte Dinge nicht gesehen werden. Es sind immer nur Ausschnitte. Und das Fremde bleibt unverständlich.
Aiki Mira: Ich stimme dir zu. Die Voreingenommenheit hat bei den drei Personen damit zu tun, dass sie in der digitalen Welt aufgewachsen sind, in Proxi. Um Proto, die Landschaft der analogen, Welt. zu beschreiben, benutzen die drei oft Begriffe aus der digitalen Welt.
Norbert Reichel: Interessant fand ich auch das Konzept von „Zukunft“ in deinem Roman. Dion sagt: „Proxi war eine Welt ohne Zukunft“. Tell antwortet: „Proto ist das Ende der Zukunft“. Wenn die drei Proxi wieder neu beleben wollen, wollen sie im Grunde so etwas wie eine ewige Gegenwart. Ich verstehe das als eine Variante des berüchtigten „Endes der Geschichte“, von dem Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks sprach und das manche dann als Sieg des Kapitalismus deuteten. Was auch falsch ist.
Aiki Mira: Das sind Wahrnehmungen. Proto ist eine aufgegebene Landschaft, der keine Zukunft gegeben wird, die sich aber als lebendig herausstellt. Proxi ist die Apokalypse einer Welt, die durch die Virus-Zerstörung endgültig zu Ende geht. Anfangs haben die drei jedoch Hoffnung für die virtuelle Welt ohne Zukunft, diese ewige Gegenwart, die durch ein Back-up wiederbelebt werden kann. Für die Postklima-Landschaft haben sie dagegen anfangs keine Hoffnung. Sie gilt als tot, kaputt, hier endete jede Zukunft.
Norbert Reichel: Zur Apokalypse gehört die Anti-Apokalypse, die „in:welt, die Utopie nach der Apokalypse“. Eindeutig ist es nie.
Aiki Mira: Deswegen das Spiel mit der Endzeit-Utopie, schon im Untertitel. Es ist beides zugleich, die Apokalypse und die Utopie. Das ist auch bei Proto nicht eindeutig, denn Proto ist einerseits eine zerstörte, kaputte Landschaft, die als tote Wüste voller Müll erscheint, in der aber die drei Figuren auf ihrer Reise Leben entdecken oder Communities, die versuchen etwas Neues aufzubauen und wiederzubeleben.
In der Wüste finden sie zum Beispiel Vogeleier. Sie verursachen den Tod mehrerer frisch geschlüpfter Vögel, nehmen aber auch zwei mit, die sie pflegen wollen. Einer dieser beiden Vögel bleibt bis zum Schluss bei ihnen. Dieser Vogel ist real.
Norbert Reichel: Das war mir nicht immer klar, ob der Vogel real oder virtuell war.
Aiki Mira: Der Eindruck kann entstehen, weil die Vögel vielleicht als Glitch im Himmel beschrieben werden, weil eben viele digitale Referenzen verwendet werden. Auch der Himmel wird mitunter als „Screen“ beschrieben, der Vogel als „Kratzer im Screen“.
Norbert Reichel: Beispielsweise in folgender Stelle in Bezug auf den Vogel Shozo: „Seit Tell ihr erzählt hat, wie Shozo ihn aus dem Sturm geleitet hat, ist Dion noch mehr davon überzeugt, dass Shozo ein Bewusstsein besitzt. Vielleicht anders als das Menschliche oder das Synthetische. Aber trotzdem ein Bewusstsein.“ Es ist etwas drittes. Und es muss nicht bei drei statt der üblichen zwei Möglichkeiten bleiben. Diese Uneindeutigkeiten und diese Offenheit gibt es in deinen Romanen immer wieder.
Aiki Mira: Auf verschiedenen Ebenen. Auf der Ebene der Körper, der Ebene der Perspektiven, die immer wieder wechseln. Auf der Ebene der Landschaft. Eine reale Landschaft wird als digital beschrieben. Und in der von dir zitierten Passage geht es um das Tierbewusstein.
Norbert Reichel: Diese Offenheit und Uneindeutigkeit finden wir dann vor allem in einer der drei Hauptfiguren, in „Proxi“ bei Monae aka Tell.
Aiki Mira: Monae aka Tell ist eine trans Frau, die in Proxi als Sängerin Monae (sie/ihr) lebt und in Europolis als Kurier Tell (er/ihm). Auf der Reise findet Tell mehr und mehr zu Monae und macht als Sängerin mit Proto zusammen eine Art Musik. In der Wüste mit dem Sand, dem Wind, den Dünen, all den Geräuschen, in die sie ihre Stimme hineinwirft und wie in einer Soundmaschine eine neue Musik zurückerhält.
Synästhesie – die Vielfalt der Sinne
Norbert Reichel: Damit sind wir auch bei deiner Aufführungspraxis. Du liest „Proxi“ gemeinsam mit Michael Wehren, der das Sound-Konzept entworfen hat, mit dem dein Text begleitet wird. Das ist ein interessantes ästhetisches Konzept, dass die Vielfalt der Sinneswahrnehmungen im Roman erweitert. Mich erinnert das Konzept durchaus an Filme, in denen durchweg Musik eine Rolle spielt, gerade auch in den Szenen, in denen die Musik aussetzt, Sekunden oder gar Minuten der Stille.
Aiki Mira: Genau, es geht bei Sound-Lesung um diese Vielfalt der Sinneswahrnehmungen. In „Proxi“ ist Musik auf verschiedenen Ebenen angelegt: es gibt die Sängerin, es gibt Naturgeräusche, auch die Geräusche der Vögel, die etwas Metallisches haben. Ich bin audiophil, versetze mich beim Schreiben in diese Geräusche, höre bestimmte Musik vor oder nach dem Schreiben. Das ist für mich eine wichtige Sinneserfahrung, die ich im Roman umzusetzen versuche. Bei einer Lesung gehört daher der Sound dazu. Michael hat sich da einiges überlegt, das wir dann besprochen und eingeübt haben.
Norbert Reichel: Ein Hauch von Synästhesie?
Aiki Mira: Ja, das stimmt. Ich habe da wohl eine Affinität. Jemand meinte, dass ich eine Synästhetiker:in wäre. Sie sagte das auf der Grundlage meiner Texte. Ich war mir dessen noch nicht so bewusst. Das erklärt aber manches in meinem Schreibprozess. Es gibt zum Beispiel Geräusche, die ich beim Schreiben nicht ertrage. Ich könnte nicht schreiben, wenn neben mir eine Uhr tickt. Kleinste Geräusche nehme ich manchmal sehr stark wahr.
Norbert Reichel: Du brauchst einen abgeschotteten Raum, in den keine Geräusche hineinkommen, die du nicht hineinlassen willst?
Aiki Mira: Ich mag es so ruhig wie möglich. Das versuche ich in dem Zimmer herzustellen, in dem ich dann bin. Keine Uhr tickt, Fenster und Türen sind geschlossen.
Norbert Reichel: Die Geräusche, die dann in der Welt deines Romans eine Rolle spielen, spielen sich in deinem Kopf ab.
Aiki Mira: Genau. Mir ist es wichtig, diese zu beschreiben.
Post-Klima-Welten – Traumwelten – Klangwelten
Norbert Reichel: Der letzte Satz von „Proxi“ lautet: „Die Landschaft träumt mit ihren Körpern, träumt die Welt – ein Stückchen weiter.“ Ich habe mir beim Lesen oft die Frage gestellt, ob wir die Welt träumen oder die Welt uns träumt.
Aiki Mira: Das ist eine gute Frage. Für mich ist es beides. Indem die Figuren Proxi träumen, vermitteln sie uns die Landschaft. Wir träumen die Landschaft, indem wir sie wahrnehmen. Aus einer posthumanistischen Sicht ist es klar, dass der Mensch nicht der einzige Aktant ist. Die Landschaft träumt also auch den Menschen. Sie macht Dinge möglich oder unmöglich, indem sie beispielsweise Dünen in den Weg stellt, oder Pastiglomerat. Der Neue Materialismus würde sagen, Material ist auch Handeln, nicht in der Art und mit den Intentionen, mit denen wir als Menschen handeln, aber mit einer eigenen Logik. So verstehe ich die Landschaft als eine eigene Figur, die eine eigene Logik hat. Für uns ist das nicht immer erfassbar, aber es ist stets da .
Norbert Reichel: Ein völlig anderer Naturbegriff als der, den wir im Alltagsgebrauch benutzen.
Aiki Mira. Das ist der kritische Posthumanismus oder Postmaterialismus im Sinne von Karen Barad. Oder auch Donna Haraway. Beide gehen davon aus, dass ein Mensch nicht das einzige handelnde oder wichtigste Wesen ist, sondern es noch andere Entitäten, Aktanten gibt. Donna Haraway vermittelt das Überwinden von binären Kategorien, beispielsweise Natur versus Kultur. Sie spricht von „companionspecies“, von einer Art „Gefährt:innenschaft“. Ich habe versucht, das mit den Vögeln zu zeigen, die zu „companions“ meiner Figuren werden. Karen Barad ist Physikerin. Sie sagt, es ist nicht nur die Sprache, sondern auch das Material ist ein Aktant. Nicht wir schreiben etwas in das Material ein, sondern umgekehrt auch das Material in uns. Ich habe in einem Essay über das Verhältnis von Körper und Schreiben über meinen Körper geschrieben. Mein Körper, das ist eine Vielzahl von Aktanten: Organe, Mikroben, die sich auch einander widersprechen, die miteinander und gegeneinander interagieren. Ich möchte vielleicht weiter schreiben, aber mein Körper rebelliert, durch Schmerzen oder wie auch immer. Genau so ist das mit einer Landschaft. Wir weisen einer Landschaft Bedeutungen zu, aber auch die Landschaft ist selbst da, mit allen Materialien, die sich vor uns stellen, vor uns liegen, den wir ausweichen wollen oder müssen. Dazu gehört zum Beispiel das Wetter.
Norbert Reichel: Du verfolgst nicht nur einen posthumanistischen, sondern auch einen postnaturalistischen Ansatz. Mich erinnert das an supernaturalistische oder surrealistische Konzepte.
Aiki Mira: In gewisser Weise. Surrealismus finde ich sehr spannend. Ich kann auch verstehen, wenn meine Romane als surrealistisch gelesen werden, mit den Überdrehungen, den Farbwahrnehmungen. Es kann an einen Drogentrip erinnern, das war auch schon ein Feedback auf meine Romane. Mit diesen krassen Farben: „Solariumlila“, „Plutoniumgrün“.
Norbert Reichel: Du sprichst posthumanistische oder postnaturalistische Sichtweisen an. An einer Stelle verwendest du auch den Begriff „postmigrantisch“, allerdings in einem viel komplexeren Sinn als er in der Migrationsforschung oder in entsprechenden Kunstprojekten verwendet wird, erstmals von Shermin Langhoff als „Postmigrantisches Theater“ im Ballhaus Naunynstraße.
Aiki Mira: Migration wird auf dem Road-Trip der Figuren von „Proxi“ nicht überwunden, sondern ist ein positives Moment des Empowerments. „Posthumanismus“ bedeutet auch nicht, dass der Mensch überwunden wird. Es treten andere Aspekte, andere Aktanten hinzu. Es wird diverser. Das steckt auch in dem Begriff „Poly-Welten“, zugespitzt zum Beispiel in der „Proto-Proxi-Poly-Welt“. Die Welt, die Welten multiplizieren sich. Einerseits auf der Ebene der Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Natur, Maschinen. Auf der Weltebene kommen neue Realitäten, Welten hinzu, daher auch der Begriff der „Poly-Welt“, eine Entgrenzung.
Norbert Reichel: Die „Poly-Welt“ verändert sich ständig und dies wirkt sich auch auf die Schreibweise aus. Ich zitiere einen etwas längeren Absatz, in dem das sehr schön deutlich wird: „DIE SONNE geht unter, taucht die Stadt in ein überirdisches Rot, Monae lässt ihren Blick schweifen. Sie hat alles gegeben. Jetzt bleibt nur noch eine Sache zu tun. Niemand weiß, ob es gelingen wird. Zusammen mit dem Publikum setzt sie die Troll-Tech auf, verbindet sich über das Satellitennetzwerk mit allen virtuellen Welten. Gemeinsam in:welt: Das bedeutet ohne Avatare, betreten sie die Proto-Proxi-Poly-Welt. Als Geister. Als lebendiger Code. Als Wind und Wollen. Die PolyWelt scheint grenzenlos, umfasst viele Landschaften. Proto ist nur eine davon. Nie zuvor haben so viele sich verabredet, in:welt zu gehen. Ohne Avatare, ohne Form. Posthuman. Den Einstieg haben sie präzise getimt. Verloren haben sie trotzdem manche.“ Die Veränderung in der Schreibweise – „Poly-Welt“ wird „PolyWelt“ – verdichtet die Aussage und verändert die Präsenz der Personen.
Aiki Mira: Die PolyWelt ist ein utopisches Konzept, das am Ende des Romans vorgestellt wird. Vor der PolyWelt waren Welten voneinander abgeschottet. Gerade virtuellen Welten wurden abgeriegelt. Tells Heimat ist durch die Klimakatastrophe zerstört worden. Diese Figur kommt als geflüchtete postmigrantische Person nach Europolis und leidet an den Grenzen der virtuellen Welten. Denn als Neu-Bürger:in von Europolis bleibt Tell die virtuelle Repräsentation der eigenen Heimat verschlossen. Die Heimat ist dadurch doppelt verloren: analog und virtuell.
Norbert Reichel: Zu all diesen Uneindeutigkeiten, Vielfalten (muss man wohl im Plural verwenden, obwohl das grammatisch gar nicht geht) kommen die Sprachspiele in deinen Romanen, in „Proxi“ das „Euromisch“ (Betonung auf der letzten Silbe).
Aiki Mira: Das ist mir neben dem Sound wichtig. Ich möchte – wenn ich kann – eine neue Sprache entwickeln. Mit dem „Euromisch“ möchte ich andere Klangwelten in das Buch bringen. Science Fiction soll eben nicht immer nur englisch klingen. Das wäre schon fast eine Kolonisierung der Science Fiction. Für das „Euromisch“ habe mich von Slangs inspirieren lassen, von unterschiedlichen europäischen Sprachen, zum Beispiel schwedischen Slang, der wiederum postmigrantische Elemente aus dem Arabischen, aus dem Türkischen enthält. Daraus entsteht dann „Euromisch“.
Norbert Reichel: Es geht gar nicht darum, dass alle Leser:innen alle Wörter verstehen. Es geht um den Klang, um Sprachspiele. Und das signalisiert Vielfalt.
Aiki Mira: Es geht darum, dass mit den Wörtern auch ein neuer Klang entsteht. Ein zukünftiger Klang. Die Wörter sind ja oft kleine Anhängsel am Ende eines Satzes. Aber wie du sagst, ist es nicht so wichtig, dass die Leser:innen alles verstehen. Sie tauchen in eine Klangwelt ein, auch das ist Teil der PolyWelt.
Norbert Reichel: Du bist jetzt nicht so weit gegangen wie Tolkien mit der Erfindung des Elbischen oder die Macher:innen von Star Trek mit dem Klingonischen.
Aiki Mira: So weit nicht, aber ich habe mir schon Listen gemacht und ich habe mir überlegt, ob bestimmte Figuren bestimmte Vorlieben haben. Es wird zudem angedeutet, dass es verschiedene Dialekte gibt. Tell hat beispielsweise von KI gelernt, was die anderen sofort hören.
Ist Science Fiction surrealistisch?
Norbert Reichel: Welche Beziehung haben die Konstellationen von „Proxi“ zur heutigen Welt, der Welt, in der wir beide leben. Falls wir überhaupt in derselben Welt leben. Vielleicht ist es ja auch ein Thema deiner Romane, dass das gar nicht der Fall ist.
Aiki Mira: Ich schreibe auf jeden Fall aus der Gegenwart heraus. Mich interessieren aktuelle Diskurse über Diversität, über trans Identitäten, die gelebt werden. Mich interessiert ein kritischer Posthumanismus, der zeigt, dass Menschen viel von anderen Lebewesen lernen könnten, auch, auf andere achtzugeben. Es gibt inzwischen Initiativen und Debatten zur Anerkennung der Natur, des Waldes, von Bäumen oder Flüssen als Rechtspersönlichkeiten. In „Proxi“ wird dieses Thema noch einmal in die Zukunft weitergedreht.
Norbert Reichel: Das wird konkret bei den Debatten um die Schutzinteressen von indigenen Völkern, sogenannten Ureinwohner:innen. Mainstream ist das in der Politik noch nicht. Meines Erachtens auch nicht in „Proxi“. Es hat eher damit zu tun, welche Personen aufgrund ihrer Geschichte auf welche Landschaften treffen. Daraus ergibt sich dann alles Weitere. Ist das jetzt Science Fiction? Oder nicht eher Element einer konkreten Utopie wie es früher einmal Frauenrechte oder Rechte von Arbeiter:innen waren. Bist du überhaupt eine Science-Fiction-Autorx?
Aiki Mira: Science Fiction ist einmal ein Label für Buchhandlungen. Dann gibt es den Diskurs, dass sich Science Fiction überall durchgesetzt hätte, weil SF-Themen wie Künstliche Intelligenz oder Klimakatastrophe mittlerweile gesellschaftlich diskutiert werden. Dann gibt es das Genre Science Fiction, bei dem ich eine Tradition sehe, mit der ich mich verbunden fühle, vor allem mit feministischer Science Fiction wie sie Ursula K. Le Guin geschrieben hat oder auch Margaret Atwood oder James Tiptree Jr. Das ist die Historie des Genres, ein Dialog, in dem ich mich wiederfinde. Ich bin vielleicht Teil des Dialogs, antworte auf diejenigen, die vor mir geschrieben haben, und es werden andere kommen, in diesem endlosen Science-Fiction-Dialog.
Es geht mir nicht darum zu diskutieren, was nun Science Fiction ist und was nicht. Das wird sich immer verändern, weil sich auch die Themen verändern, unsere Zukünfte sich verändern, unsere Vorstellungen dieser und anderer Zukünfte.
Veränderte Wahrnehmung – sich verändernde Welt(en)
Norbert Reichel: Ist deine Literatur politisch? Oder reduziert man sie zu sehr, wenn man sagt, das, was du schreibst, sei beispielsweise ein Plädoyer für mehr Klimaschutz?
Aiki Mira: Das ist eine wichtige Frage. Ich glaube, dass meine Romane nicht als ein Sprachrohr von mir geschrieben wurden und auch nicht so gelesen werden können. Ich habe keine unmittelbar klare Botschaft. Es gibt immer verschiedene Perspektiven, es gibt auch Communities in „Proxi“, beispielsweise die „Elder“, die versuchen, etwas politisch zu verändern, klare Haltungen haben. Die würde ich als Nachfahren der früheren Klimaaktivist:innen sehen. Das wird auch erwähnt, dass es in der Vergangenheit eine Revolution gab und dass die „Elder“ sich um den Planeten kümmern und Verantwortung übernehmen wollen. Es gibt andere wie die Solar-Trolls, die sich als „Team Kollaps“ verstehen, Lust an der Zerstörung haben, ihr eigenes Ding machen wollen. Aber auch sie sind Teil der Landschaft, bauen dort etwas Neues auf. Mir geht es eher darum, zu zeigen als zu belehren. Das Politische sehe ich in einer Zukunft für alle, Vielfalt zu ermöglichen, Raum für unterschiedliche Positionen zu schaffen, diese in Kontakt zueinander zu bringen, Diskussionen zu beschreiben, aber es geht mir eben nicht darum, eine bestimmte Botschaft zu verkünden.
Schreiben ist eben auch eine Form von Kunst. Wie kann ich über die Klimakrise schreiben? Welche Narrative sind möglich?
Norbert Reichel: Aus meiner Sicht kommt hier der Surrealismus ins Spiel.
Aiki Mira: Literarischen Surrealismus finde ich sehr inspirierend. Als junger Mensch habe ich die Romane von Boris Vian geliebt und finde es schade, dass surrealistische Ansätze heute verschwunden sind.
Norbert Reichel: Bei Boris Vian spielt der Sound eine große Rolle. Er war ja auch Jazz-Trompeter. Passt zu dir. Beim Surrealismus haben wir auch das Thema der Landschaften. Wenn du dir mal die Landschaften auf den Bildern von Salvador Dalí anschaust, findest du die Gegend, in der er lebte, an der Costa Brava, zwischen Cadaquès und Figueres immer wieder. In diese Landschaften platziert er dann seine Figuren, Menschen wie Tiere wie Pflanzen, Traumbilder. Die politischen Verirrungen von Dalí lassen wir mal beiseite, aber ähnlich ist es in den Filmen von Luis Buñuel, der politisch wie die meisten Autor:innen und Künstler:innen der damaligen Zeit eher auf der Seite der Kommunisten stand. Im Surrealismus ging es auch darum, die Menschen durch eine Veränderung von Wahrnehmungsgewohnheiten zu verändern.
Aiki Mira: Bei mir kommt es auf die Wahrnehmung von Sound und Bildern an. Das kippt dann ins Surrealistische. In Proxi vermittele ich eine Landschaft mit digitalen Mitteln, die als Post-Klima-Landschaft zugleich eine Landschaft ist, die es noch gar nicht gibt. So versuche ich an die Grenzen der Wahrnehmung zu gelangen. Das ist bei „Proxi“ sicherlich ein Ziel: Wie schreibe ich mich an diese Wahrnehmungsgrenzen möglichst nahe heran?
Norbert Reichel: Ich lese deine Bücher mit ganz vielen Fragezeichen. Eine beispielhafte Stelle darf ich zitieren. Dion stellt möglicherweise eine grundlegende Frage nach der Identität, die immer fluide zu sein scheint, aber vielleicht stellt sie sie auch gar nicht, weil sie sich noch nicht bewusst ist, was sie fragen könnte oder sollte: „Sie lauscht dem Spiel der Stimmen. Ein gegenseitiges Rufen und Pfeifen. Mensch und Vogelecho. Und vielleicht fragt sie sich: Wer bin ich? Bin ich ein Mensch? Ein Tier? Eine Erfindung? Oder etwas ganz anderes?“ Du sagst nie, so ist es. Es sind immer Grenzerfahrungen, Beschreibungen von Grenzen, die überschritten werden könnten und manchmal auch überschritten werden.
Aiki Mira: Ich habe selbst so viele Fragen und möchte, dass auch die Menschen, die meine Bücher lesen, sich auf ihre eigenen Fragen einlassen und so vielleicht ein Dialog zwischen uns entsteht, auch wenn wir uns nicht gegenübersitzen. Ich will keine Botschaft vermitteln, ich will öffnen, ich will Fremdes fremd sein lassen, nichts aussortieren. Auch die Landschaft soll fremd bleiben. Die einen sagen, Proto lebt, die anderen sagen, Proto ist tot, das lässt sich letztlich im Dialog verhandeln, wird eine Transformation gerade dadurch, dass es offen ist und Raum bleibt, wo sich das Gegenüber verändern kann oder eben unbegreiflich bleibt. Tierbewusstsein bleibt uns zum Beispiel unbegreiflich. An einer Stelle sagt Kawi, sie werde nie die Vogelperspektive verstehen, sie werde es nie selbst erleben, könne sich nur annähern.
Norbert Reichel: Das wäre auch eine Form von Demut gegenüber der Welt.
Aiki Mira: Ja. Literatur ist ein gutes Werkzeug, um sich dem Unfassbaren, dem Unsagbaren zu nähern, ohne es genau sagen zu müssen, ohne es genau treffen zu müssen, eben einen Spalt zu öffnen. Das interessiert mich. Wie kann ich mich etwas Fremden annähern ohne meine eigene Perspektive überzustülpen.
Literatur, die empowert
Norbert Reichel: Welche Rückmeldungen bekommst du?
Aiki Mira: Zu „Proxi“ gab es bereits einige sehr schöne Rezensionen. Die Rezensent:innen waren von den Personen berührt, sie haben sich auf das Fremde im Roman eingelassen, auch wenn sie anfangs nicht so recht wussten, was sie da lasen. Über ein solches Feedback bin ich sehr glücklich. Es gibt auch Leute, die aufgeben, weil sie – so sagte mir das jemand – das Gefühl hätten, sie säßen neben Menschen, die sich in einer Sprache unterhalten, die sie nicht verstehen. So beginnt „Proxi“ ja direkt mit einem Dialog in Euromisch, mit all diesen neuen Wörtern. Da werden die Lesenden hineingeworfen.
Norbert Reichel: Der erste Absatz von „Proxi“ ist schon sehr anspruchsvoll: „In der Frontscheibe des SolarCampers wölbt sich ein Meer – kristallin und bunt. Darin schieben sich Dünen zu Wellen. Überall dazwischen wachsen Skulpturen aus Müll, von Sturm und Sonne verschmolzen zu Plastiglomerat. Baumskelette in Neonlaserfarben – Solariumlila, Plutoniumgrün, Ozonblau und Dieselgelb. Nichts können diese Bäume mit ihrer Umwelt austauschen. Weder Wasser noch Gase oder Nährstoffe. Sie durchstechen den Himmel und schreiben in zittrigen Linien, was niemand mehr lesen kann. Ihr Anblick frisst sich in den Körper.“
Ich gestehe, ich war begeistert von diesem Feuerwerk. Jedes Wort eröffnet eine Vielzahl von Fragen und Fantasien. Du hast eben schon darauf verwiesen, dass man „Proxi“ durchaus wie einen Drogentrip lesen könnte. Aber da steckt schon einiges mehr dahinter: Was sehe ich eigentlich? Sehe ich das, was meine Augen und mein Gehirn mir wiedergeben? Was ist tatsächlich da? Wie sieht die Wirklichkeit wirklich aus? Was sehe ich nicht, obwohl es da ist? Sehen wir alle das Gleiche? Die Antworten sind bei dir nie eindeutig, du gibst sie eigentlich auch gar nicht und warnst mit der Geschichte des Roadtrips deiner drei Figuren sogar davor. Es ist immer gebrochen und – wie du sagtest – eben „offen“.
Aiki Mira: An den ersten Absätzen meiner Romane und Erzählungen arbeite ich sehr ausgiebig, ändere, stelle um. Es war so gewollt: Das Gebrochene, das Fremde, das die beiden Figuren erleben, weil sie in eine für sie komplett neue Welt hineingeworfen werden.
Norbert Reichel: Eine Welt, in die sie sich aber auch aus einer Not hineinbegeben.
Aiki Mira: Ja, es ist eine Welt, in die sie sich hineinbegeben, ohne dass sie genau wissen, was sie erwartet, was auf sie zukommt.
Norbert Reichel: Reale und virtuelle Existenzen überschneiden sich, interagieren, vermischen sich. Die Gaming-Existenzen, die du in „Proxi“ und in „Neongrau“ einführst, spielen dabei eine zentrale Rolle, sind vielleicht Prototypen für ein Leben zwischen den Welten, in der „PolyWelt“.
Aiki Mira: „Proxi“ spielt in demselben Universum wie „Neongrau“. Für das „Neurogaming“ werden in „Proxi“ allerdings keine Ressourcen mehr ausgegeben. Kawi ist eine Gaming-Legende. Sie musste aufhören, weil sie ein Suchtproblem hatte. Sie hat gleichzeitig ein starkes Bedürfnis, posthuman zu leben. Dies hat sie in den virtuellen Welten in der Gestalt eines Panters ausgelebt. Daher hat sie auch ein Interesse, die virtuelle Welt von „Proxi“ wiederherzustellen. Andererseits hat sie wie Tell aka Monae den Wunsch, diese virtuelle Seite in der analogen Welt von „Proto“ auszuleben. Kawi und Tell-Monae machen eine ähnliche Entwicklung durch, spiegeln sich.
Norbert Reichel: Das gibt einen ganz anderen Blick auf die Leute, die sich in Rollenspielen tummeln. Sind ihre Existenzen im Rollenspiel real oder irreal?
Aiki Mira: Ich würde auch nicht von real oder irreal sprechen. Das sind auf jeden Fall wichtige Möglichkeitsräume. Das Virtuelle und das Reale sind beides Räume, die gefährlich und herausfordern sein können, aber auch empowern und andere Möglichkeiten bieten, um Identität zu leben.
Norbert Reichel: Phantastik empowert? Könnte man das so sagen?
Aiki Mira: Ja (zieht das „a“ in „Ja“ nachdenkend lang, fährt dann entschieden fort): Das würde ich tatsächlich so sehen, denn in der Phantastik können sich gerade marginalisierte Communities Zukünfte vorstellen, in denen sie eine Rolle spielen, in denen sie da sind. Sie können sich Utopien vorstellen, ihre Geschichten schreiben, von Welten, in denen es ihnen besser geht.
Norbert Reichel: Deine Romane sind keine Dystopien.
Aiki Mira: Ich würde sie auch nicht als Dystopien sehen. Sie zeigen Struggle. Sie zeigen Probleme. Das, was nicht gut läuft. Aber sie repräsentieren verschiedene Identitäten. Sie zeigen Vielfalt. Das würde ich als etwas Utopisches sehen.
Norbert Reichel: Es gibt keine Hoffnungslosigkeit.
Aiki Mira: Die Figuren sind hoffnungsvoll und handeln optimistisch. Sie geben nicht auf, auch wenn sie Widerstände erleben.
Norbert Reichel: Das ist doch eine gute Botschaft!
Aiki Mira: Ja, damit kann ich mich voll identifizieren. Auch wenn etwas schiefläuft, wenn wir mitten in der „PolyKrise“ sind, in der surrealen „PolyWelt“.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2024, Internetzugriffe zuletzt am 2. Dezember 2024. Titelbild und Bilder im Text hat Aiki Mira mit openart erstellt und bei der Premiere verwendet.)