In der Wunderkammer der Geschichte

Artificialia gegenwärtiger Vergangenheiten

„Wir schauen, aber wir sehen nicht“ (Andrei Arseniewitsch Tarkowski)

In der Wunderkammer meines Mannes finden sich allerlei spannende Zeugnisse, die von ihrer Zeit erzählen – wenn man sie denn lesen kann. Das fällt allerdings um so schwerer, je weiter sie von unserem Kontext entfernt sind, räumlich, kulturell, religiös oder zeitlich. Wenn Thomas, ein passionierter Sammler, mir das eine oder andere neu erworbene Stück zeigt, muss ich immer wieder feststellen, dass mir – trotz meiner kunsthistorischen Grundlagen – schlichtweg oft die notwendigen Kriterien fehlen, um eine chinesische Vase, ein antikes Bronzegefäß oder eine Inuitmalerei richtig beurteilen zu können.

Was sehen wir eigentlich, wenn wir uns etwas anschauen?

Die einzigen Kriterien, die ich anwenden kann, sind meine eigenen – letztlich westlich geprägten – was, wie ich immer wieder hilflos feststellte, nicht selten zu groben Fehleinschätzungen führte. Andererseits konnte mir erst durch diese Erfahrung wirklich bewusstwerden, wie sehr der eigene Blick immer schon vorgeprägt ist, kulturell, aber natürlich auch zeitlich.

Wenn es aber nun so ist, dass ich die Zeugnisse der Vergangenheit immer nur durch meine eigene Brille betrachte, bin ich dann nicht im Grunde vergleichbar mit Winston Smith? Winston Smith, der Protagonist aus Orwells Roman „1984“, dessen berufliche Aufgabe darin bestand, alte Zeitungsartikel immer wieder so umzuschreiben, dass sie zur aktuellen Gegenwart passten? In anderen Worten: Die Tätigkeit Winston Smiths macht überspitzt deutlich, wie sehr die Gegenwart dazu tendiert, sich die Vergangenheit anzueignen.

Das ist insbesondere dann problematisch, wenn – wie im Falle von Orwells Roman, aber auch von Verschwörungstheorien oder Fakenews – bestimmte Absichten dahinterstehen. Doch auch, wenn das nicht der Fall ist, ist uns nur selten bewusst, dass und welche Brille wir tragen, wenn wir Gegenstände betrachten. Wenn wir ihren Geschichten zu lauschen glauben, ahnen wir oft nicht, dass wir vor allem unsere eigene Stimme zu hören pflegen.

Güter des Handels

Diesen Prozess der – vielleicht könnte man das so sagen – „historischen Aneignung“ mit künstlerischen Mitteln sichtbar zu machen, ergab sich mir die perfekte Gelegenheit, als ich eines Abends aus dem Atelier nach Hause kam und auf dem Wohnzimmerboden eine dicke Mappe mit alten Zeichnungen und Druckgrafiken liegen sah.

Aber der Reihe nach:

Zuoberst lag diese Grafik auf dem Stapel, ein Kupferstich aus dem Jahr 1738 von Elisabeth Cousinet Lempereur (*1726) nach „Le Calme” von Joseph Vernet gestochen. Er misst 32,6 x 45,6 cm. Dargestellt ist eine Hafenansicht, mit einigen Figuren im Vordergrund, die offenbar ein kleines Boot gerade verlassen. Drei Personen befinden sind noch an Bord, eine vierte löscht gerade die Ladung. Am Ufer warten, entspannt im Gras dahingegossen oder mit Decken bzw. Küchenutensilien, wie einer Schale, hantierend, weitere Figuren, darunter auch einige Frauen, vielleicht in Erwartung auf ein gemeinsames Mahl? Inmitten der Frauengruppe ragen zwei männliche Gestalten empor. Die linke weist mit dem Arm zurück auf das soeben am Ufer angelegte Boot, so als wolle er sagen, dass auch die im Augenblick noch beschäftigten Männer sich bald zu ihnen gesellen würden.

Der Titel des Blattes, „Die Ruhe“, passt gut zu dieser Auslegung, und zeigt, wie den Menschen nach einem arbeitsreichen Tag auf See nun ein ruhiger Feierabend vergönnt ist. Auch die Komposition atmet Ruhe.

Mit der flachen Vordergrundbühne, der Wellenausrichtung des Wassers, dem Steg und den Schiffsbäumen im Hintergrund dominieren horizontale Strukturen. Virtuos werden sie durchflochten von der Vertikalität des Turms, den aufragenden Schiffsmasten und den beiden stehenden Männern. Das Takelagengewirr über ihnen bringt gerade genug Spannung in die Komposition, dass aus der allseits herrschenden Ruhe keine Langeweile würde. Und schließlich wird all das rahmend eingebettet in die Dunkelheit der Felsformation links und des Landschaftsstreifens unten, der sich nach rechts wieder sanft aufwärts wölbt. In harmonischem Kontrast dazu spannt sich über allem ein weiter Himmel mit weichen Wolkenformationen, der dem Auge Entspannung bietet.

Sandra del Pilar, Twintowers, 2021, 32,6×45,6 cm, Tusche und Pastel auf: Kupferstich von Elisabeth Cousinet Lempereur (*1726) nach „Le Calme“ von Joseph Vernet, 1738 (avec Privilège du Roi). Wenn man sehr genau hinschaut, sieht man neben dem rechten Turm (vom Betrachter aus gesehen) das Flugzeug.

Lange sah ich mir dieses Blatt an, auf dem Wohnzimmerboden vor Thomas´ Mappe hockend. Und auch auf die Gefahr hin, dass das jetzt etwas seltsam klingt, erschien vor meinem geistigen Auge allmählich dieses Bild. Am auffälligsten ist natürlich der zweite Turm. Im rechten Blatt, der Überarbeitung, hat die Komposition durch sein Hinzukommen deutlich an Leichtigkeit eingebüßt, der Himmel in der Mitte wirkt merkwürdig eingeklemmt zwischen dem Block der Zwillingstürme, die fast an ein Kraftwerk erinnern und der Felsformation links. Diese kommt mir zudem jetzt nicht mehr rahmend und den Blick ins Blatt hineinleitend vor, sondern scheint sich mir – in Konkurrenz zu den Türmen – regelrecht trotzig und etwas abweisend aufzubäumen. Und auch die Figurengruppe sieht plötzlich anders aus, mit dem „optischen” Gewicht, das schwer über ihr lastet.

Technisch sehr ähnlich bin ich bei dieser Arbeit vorgegangen: Aus der ursprünglichen Heuverladung nach einem Wouverman-Gemälde (links) wurde ein Drogentransport an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze, wie man an dem typischen Grenzzaun, der US-amerikanischen Flagge und den handlichen Paketen erkennt.

Sandra del Pilar, El narco, 2021, 47,8×63,4 cm, Tusche und Gouache auf: Kupferstich von Jean Moyreau (1690-1762) nach „Le Port au Foin“ von Phillipe Wouverman, 1748 (avec privilège du Roi)

Sehr viel schwieriger als Dinge hinzuzufügen war und ist es jedoch, Bildelemente oder Bildbereich verschwinden zu lassen, wie man an folgendem Beispiel erkennt. Auch wenn ich es versäumt habe, das Original zu fotografieren, bevor ich Hand anlegte, erkennt man – zumindest im Original – noch deutlich, dass dort auf dem Teller, wo nun die Waffe liegt, etwas anderes lag, nämlich ein Fisch.

Sandra del Pilar, Prayer to Malverde, 2021, 39,6×29,6 cm, Tusche auf: Holzdruck „Unser tägliches Bort gib uns heute“ von Max Pechstein, Edition Griffelkunst (?), unsigniert, um 1920

Bilderstürmerin

Sandra del Pilar, Monuments, 2021, 18,7×26,3cm, Tusche und Gouache auf Druck nach einer Radierung „Festsaal im Kaiserpalast zu Straßburg, um 1880

Auch in diesem Blatt, bleibt die Intervention sichtbar: den Leninkopf, der hier im Straßburger Kaiserpalast liegt, und der – zumindest vor Putins Krieg – noch als Relikt einer überwundenen Vergangenheit gelten konnte,– liegt übrigens genau so heute in einer Art Depot ausgemusterter Denkmäler in der Berliner Zitadelle, wo ich ihn besucht habe. Die Dauerausstellung heißt „Enthüllt“ und ist wirklich lohnenswert, haben sich dort doch alle ausgemusterten Denkmäler Berlins versammelt…

Sandra del Pilar, Die Kirmes, 2021, 54,2x66cm, Tusche und Gouache auf: Stahlstich von Paul Dröhmer, „Zur Kirmes“, gestochen nach Carl Böker, 1870

Im Gegensatz zu Winston Smiths Tätigkeit, bleiben meine Interventionen also auf zwei Ebenen durchaus nachvollziehbar. Zum einen, weil sich ihr Narrativ grundsätzlich anachronistisch zum Alter der Blätter verhält, wie man z.B. in „Die Kirmes“ nochmal ganz deutlich sieht: (Anonymus war im 19. Jahrhundert noch nicht denkbar). Zum zweiten aber auch optisch. Man muss nur genau genug hinsehen und dazu bereit sein, dem ersten – oberflächlichen – Augenschein (also sich selbst) genau so zu misstrauen, wie den Blättern, um sich stattdessen einer anderen Frage zu widmen: der Frage nach der Deutungshoheit, die mich im Rahmen dieser Reihe besonders umtrieb…

Ich weiß nicht, ob für Sie nachvollziehbar ist, wie es sich für mich angefühlt hat, Hand an diese alten Originale zu legen, immerhin stammt das älteste von 1657.

Sandra del Pilar, Targets, 2021, 14,3x20cm, Tusche auf: Radierung „Montmélian“ von Merian, 1657

Vielleicht empfindet es der eine oder andere von Ihnen auch als dreist und übergriffig, mir die Kunstwerke anderer Künstler auf diese Weise „anzueignen“, sie umzudeuten und dann auch noch mit meinem eigenen Namen zu signieren.

Ich gestehe, dass es mich vor allem anfangs große Überwindung gekostet hat, in die Arbeiten alter Kollegen hineinzuzeichnen, sie zu verändern, irgendwie auch zu zerstören. Und ich gestehe weiter, auch wenn mir das ein bisschen schwerfällt und Sie mich dafür möglicherweise verurteilen, dass mich dabei manchmal das beängstigende Gefühl einer gewissen Macht überkam. Aber geht es nicht genau darum? Den Denkraum der Kunst dafür zu nutzen, Dinge sichtbar und spürbar zu machen? Spürbar zu machen, was es bedeutet, die Macht der Deutungshoheit auszuüben… und sei es spielerisch-symbolisch auf diesen Blättern?

Meine Eingriffe haben aber nicht in jedem Fall Originale „zerstört“, sondern ganz im Gegenteil, wie ich Ihnen nun darlegen möchte, nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern.

Die Fälschung

Sandra del Pilar, How dare you, 2021, 13,3x11cm, Kohle auf: Kohlezeichnung auf Papier, signiert: A. Menzel, 1894, Fälschung wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert nach einer Kohle- und Kreidezeichnung von Adolf Menzel, 1846, die eine Studie für ein Portrait für Frau Justizminister von Maercker, Hamburger Kunsthalle, zeigt.

In der zu Beginn des Vortrags erwähnten Mappe aus der Wunderkammer meines Mannes, befand sich auch folgende Arbeit, die eine ungeheuer spannende Geschichte birgt. Es handelt sich dabei um die kleine Kohlezeichnung eines jungen Mädchens auf getöntem Papier.

In der rechten unteren Bildecke kann man gut eine Signatur lesen: „A. Menzel 94“. Nach einiger Recherche stellte sich heraus, dass die junge Dame Anna Catharina von Maercker, geb. Weiss sein dürfte, die Gattin des Juristen Dr. Carl Anton von Maercker (1803-1871). Dieser war der Direktor des Berliner Kriminalgerichtes und seit 1848 Justizminister im preußischen Kabinett von Rudolf von Auerswald.

Zwischen 1845 und 1847 waren die von Maerckers und die Menzels Nachbarn. Beide Familien wohnten in der Schöneberger Straße und unterhielten in jenen Jahren eine recht enge und herzliche Freundschaft. Davon zeugen zahlreiche Zeichnungen, Pastelle und Gemälde, die Menzel von den einzelnen Familienmitgliedern anfertigte und wohl oft auch an die von Maerckers verschenkte.

Nach weiteren Recherchen stieß ich auf ein Ölportrait der Frau von Maercker sowie im Internet auf diese Abbildung, die als Vorstudie für das Gemälde fungiert haben könnte. Es handelt sich um eine Kohlezeichnung auf getöntem Papier mit Weißhöhungen.

Mein Herz hüpfte und ich rannte nach unten, um aus Thomas‘ Stapel die Zeichnung herauszufischen, die ich Ihnen eben gezeigt hatte. Sollten es sich dabei um das Original zur Zeichnung handeln, die ich gerade im Internet ausfindig gemacht hatte?

Wieder zurück an meinem Arbeitsplatz, schob ich den Laptop etwas weiter nach hinten, legte das kleine Blatt vor mich und hob die Augen, um es eingehender mit der Abbildung auf dem Bildschirm vergleich zu können.

Links sehen Sie nur die Internetabbildung, rechts das kleine Blatt aus Thomas Sammlung. Die Ähnlichkeit zwischen beiden ist deutlich. Allerdings ist ebenso deutlich, dass sie nicht identisch sind. Zum einen fehlen auf unserer Zeichnung die Weißhöhungen, zum anderen hatte die Signatur auf beiden Blättern jeweils einen anderen Platz. Auf der Zeichnung aus dem Internet befindet sich die Signatur oben rechts, auf dem insgesamt auch größeren Blatt direkt über der handgeschriebenen Anmerkung: „Die Hand etwas stärker an dem Munde“. Auf „unserem“ Blatt hingegen steht die Signatur unmittelbar über der Schulter.

Hatte Menzel vielleicht in der gleichen Portraitsitzung zwei sehr ähnliche Zeichnungen von Frau von Maercker anfertigt? Zuerst die aus dem Internet und dann „unsere“? Wenn dem so war, dann war der Meister seiner eigenen Anleitung – die Hand näher an den Mund zu setzten – allerdings nicht gefolgt. Außerdem liegen laut Datum zwischen beiden Zeichnungen ganze 48 Jahre. Kein Modell der Welt verharrt so lange in der gleichen Pose.

All das ließ nur einen Schluss zu: „unsere“ Menzelzeichnung ist eine Fälschung und nicht einmal eine allzu gelungene, wie ein Blick auf die Hand bekräftigte: In schnellen Strichen deutet Menzel auf dem linken Blatt die Finger an und lässt beim Mittelfinger die untere Linie weg. Dass dieser nun eigentlich zu breit ist, macht aber nicht viel, denn der richtige Gesamteindruck wird mit den Weißhöhungen wieder hergestellt. Auf unserem Blatt hingegen fehlt diese optische Korrektur und so wirken die Finger, insbesondere aber besagter Mittelfinger wenig überzeugend.

All diese Überlegungen wurden schließlich von den Kupferstichkabinetten in Berlin und Kiel bestätigt, die uns eine Menzelfälschung aus dem 19. Jahrhundert von mittelmäßiger Qualität bescheinigten und uns nahelegten, sie zu vernichten oder wenigstens als Fälschung zu kennzeichnen. Das war auf der einen Seite sehr schade, denn vor allem Thomas hätte sich sicher gefreut, einen echten Menzel sein Eigen nennen zu können, auf der anderen Seite freute es mich, das Blatt nun in meine Obhut nehmen zu dürfen und meinem Projekt zuzuführen

Auf die Schwächen in der linken Hand habe ich bereits verwiesen. Die Fälschung wies jedoch auch leichte Abweichungen in der spitzeren Nase und dem etwas kantig vorgeschobenen Kinn auf, das mich in seiner Entschlossenheit an eine berühmte Zeitgenossin erinnerte: Greta Thunberg. Im Abgleich mit einigen Fotos von Greta habe ich die Nase der Zeichnung etwas rundlicher gemacht, indem ich den Nasenrücken nach oben verlegte. Aus dem schulterfreien Kleid wurde ein Ringelshirt. Ein paar Haarsträhnen fallen jetzt etwas weiter in die Stirn und der Mundwinkel wurde leicht verlängert. Die Schleife im Haar habe ich zum Schatten werden lassen, denn wenn ich auch Linien und Dunkelheiten hinzufügen kann, so kann man Kohle nicht radieren, ohne das das auffiele. Meinen Interventionen waren also gewisse technische Grenzen gesetzt. Zu allerletzt kamen die typischen Zöpfe hinzu, die ihr nach vorne über die Schulter fallen.

Damit, Greta auf diese Weise in die Vergangenheit zu verorten, war ich keineswegs allein, so hatte dieses Foto einige Verschwörungsanhänger veranlasst, in Thunberg eine der so genannten Zeitreisenden zu sehen, die zusammen mit ihresgleichen seit Jahrhunderten nichts weniger als die Weltherrschaft anstreben. Das hier gezeigte Foto stammt aus dem Jahr 1898 und zeigt Kinder, die in Kanada in einer Goldmine arbeiten.

Ich wüsste nur zu gerne, ob „meine“ Zeichnung, fiele sie in entsprechende Hände, diese Theorie weiter befeuern würde oder, ob sie, im Gegenteil, deren Absurdität offenbaren könnte. Jedenfalls signierte ich die Arbeit vorsichtshalber – besser ist besser – und außerdem wird so mit wenigen Strichen aus einer Fälschung des 19. ein Original des 21. Jahrhunderts.

Entgiftung

Schwenken wir nun von der Wunderkammer meines Mannes über zu einer anderen Wunderkammer, der Wunderkammer des Wilhelm Morgner Museums in Soest. Im Keller, ganz oben im Regal steht eine schwere, bronzene Büste, das Gesicht zur Wand gedreht. Nur ungern beherbergt die mit mir befreundete Museumsleiterin, Annette Werntze, dieses Stück, denn es handelt sich um ein Abbild Adolf Hitlers und obendrein um das einzige, nach dem lebenden Modell erstellte plastische Portrait von ihm, wie seine Schöpferin einst stolz verkündete. Sie hieß Hedwig Maria Ley, geborene Soesterin und ehemalige Nachbarin Hitlers während seiner frühen Münchner Jahre.

Die Büste entstand 1932. Viele Jahre lang fristete sie ein tristes fast vergessenes Dasein im Keller des Museums, bis Herr Kösters 2021 eine Ausstellung zu planen begann, die beleuchten sollte, wie das Naziregime dem regen Kulturleben in Soest plötzlich ein jähes Ende bereitete. Zur Illustration dieses Ende sollte besagte Büste in der Ausstellung in Erscheinung treten, sehr zum Entsetzen von Annette Werntze, die große Hemmungen hatte, dieses schreckliche – ja toxische – Ding, wie sie es nannte, einfach so auf ihr Museumspublikum loszulassen. Nach einigen gemeinsamen Überlegungen, wie man die Büste museografisch kommentieren könnte, kamen wir zu dem Schluss, diese Aufgabe künstlerisch anzugehen. Das sollte ich übernehmen, immerhin war ich ja, mit der Reihe „Our Future was Yesterday“, von denen ich Ihnen ja gerade einige Beispiele gezeigt habe, quasi im Thema. Und so sollte ich nun versuchen, die Büste als Zeugnis einer tragischen Vergangenheit in das Zeugnis einer kritischen Gegenwart zu verwandeln.

Klaus Kösters, der Kurator, stimmte der Idee zu und ließ mir einiges an Informationsmaterial zukommen. Daraufhin begann ich, mich in Notizen und Skizzen allmählich an die Aufgabe heranzutasten. Wichtig waren mir dabei folgende Eckpunkte:

  1. die Gegenüberstellung des Jahres 1932 (Entstehungsdatum der Büste) mit dem Jahr 2021 (Datum der Präsentation). Das Jahr 1932 sollte die Büste auch visuell sichtbar in eine Zeit verorten. Das zweite Datum 2021 sollte den Blick unserer Zeit auf die Vergangenheit verdeutlichen.
  2. Der Kopf würde nicht aufrecht stehen, sondern liegen. Die Evokation eines gestützten Denkmals sollte darin anklingen. Gleichzeitig könnte so vermieden werden, dass die Betrachter*innen Adolf Hitler in die Augen blicken müssten.
  3. Auch die Tatsache, dass manche Aspekte der Geschichte gelegentlich und aus unterschiedlichen Gründen undeutlich erscheinen oder vor unseren Augen verschwimmen, bzw. und dass man die Augen immer gewissermaßen für bestimmte Aspekte gezielt scharf stellen muss, wollte ich irgendwie erfahrbar machen.
  4. Schließlich war er mir ein zentrales Anliegen, eine Arbeit zu schaffen, die reversibel wäre. (Sie sehen hier die Stangen, die lediglich mit Magneten halten) Unser Blick auf die Vergangenheit sollte nicht als der Weisheit letzter Schluss erscheinen, sondern sich seinerseits zukünftigen Revisionen gegenüber offen zeigen. Geschichte sollte sich, ebenso wie der Kulturbegriff als etwas Prozesshaftes kenntlich machen.

Alle diese Aspekte ließen sich am besten miteinander verbinden, indem ich den Kopf in einen Glaskasten legte. Den Eindruck einer Vitrine, die Kostbares beherbergt, galt es jedoch zu vermeiden. Also drehte ich den Glaskasten so um, dass er nunmehr oben offen war, wie dies Terrarien sind, in denen Spinnen, Schlange oder andere gefährlich-giftige Lebewesen gehalten werden, oder eben „toxische“ Kulturgüter; ein Begriff, der auch im Titel der Arbeit auftaucht.

Sandra del Pilar, „Receptacle for toxic culture“ – an attempt at resignification, 2021, oil on canvas and transparent textils veiling a Hitler bronze buast from 1932 in a glass box, 70x57x39cm

Die beiden Schmalseiten des Kastens ließ ich mit Milchglasfolie bekleben, wobei auf der rechten Schmalseite das Datum 2021 ausgestanzt wurde. Durch diese Aussparung in der Milchglasfolie sollte der Blick in den Kasten hineingehen und direkt auf die gegenüberliegende Schmalseite fallen. Dort stand – nunmehr in weißer Schrift – „1932“, und zwar in der Typografie, die ich einem Text von Hedwig Ley entlehnt hatte, in dem sie schilderte, wie ihre Hitlerbüste entstand. Auf eine durchschnittliche Augenhöhe angelegt, sind die beiden Jahreszahlen so hoch angebracht, dass es sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, die Büste selbst durch die ausgestanzte 2021 in den Blick zu nehmen. Will man sie sehen, so muss man direkt vor den Glaskasten treten. Auch aus dieser Perspektive allerdings ist der unverstellte Blick auf den Kopf behindert, liegt dieser doch zwischen mehreren Schichten transparenter, bemalter Schleier, auf denen sich wiederholt zeigt, wie Hedwig Ley gerade dabei ist, letzte Hand an die Büste zu legen.

Um die Fotovorlage für diese Szene (die sich unter dem Informationsmaterial von Kösters befand) auf den Schleiern zu vervielfältigen, habe ich sie mit Ölfarbe auf eine nicht saugende Leinwand gemalt und dann im Abklatschverfahren auf die erste Transparenzfaser aufgebracht. Anschließend feuchtete ich die Restfarbe auf der Leinwand mit einem breiten, in Terpentinöl getauchten Pinsel an und nahm einen zweiten Abklatsch. Auf diese Weise erhielt ich drei – sich durchaus unterscheidende – Variationen des fotografischen Ursprungsmotivs. Sie visualisierten symbolisch den Prozess der Geschichtsschreibung, die zwar immer wieder auf dieselben Fakten oder Tatsachen rekurriert, diese jedoch immer wieder etwas anders darstellt.

Schaut man durch diese „Schichten der Geschichtsschreibung“ hindurch, verklammern sie sich visuell und konzeptionell mit der Büste, dem „Zeugnis der Vergangenheit“, um bald selbst zu einer Quelle oder einem Zeugnis zu werden. Geschichte und Geschichtsschreibung verschmelzen im Laufe der Zeit und im rückwärtsgerichteten Blick der Gegenwart miteinander und lassen sich irgendwann nur noch schwer voneinander trennen. Um so wichtiger ist es, bei diesem Prozess „transparent“ zu bleiben, d.h. transparent und durchsichtig zu machen, dass der eigene Blick auf die Geschichte genau das ist: NICHT eine 1:1-Wiedergabe oder Narration der Vergangenheit, sondern der aktuelle BLICK auf die Vergangenheit, der nur so fruchtbar für die Zukunft wird. Solange es gelingt, die Genese der Geschichte als solche zu erkennen und erkennbar zu lassen, wird die Manipulation der Vergangenheit und der Menschen, die aus der Gegenwart auf sie blicken, kein allzu leichtes Spiel haben; gleichzeitig aber kann die Vergangenheit – sowie ihre materiellen Zeugnisse in Privatsammlungen, Museen und anderen Wunderkammern – lebendig für unserer Gegenwart bleiben und ihr immer wieder Neues zu sagen haben.

Sandra del Pilar, Soest und Cuernavaca (Mexiko)

(Anmerkung: bei dem Text handelt es sich um einen Vortrag, den Sandra del Pilar am 14. Mai 2022 in Hilden anlässlich der Tagung „Welt-Bilder: Kunst- und Wunderkammern“ gehalten hat. Eine Buchpublikation mit diesem und allen anderen Vorträgen der Tagung wird vom Veranstalter, dem Kreis der Freunde des Instituts für Kunstgeschichte der Heinrich Heine Universität Düsseldorf vorbereitet. Ich danke Sandra del Pilar sowie Sandra Abend, eine der Herausgeber*innen des Tagungsbandes, dass sie mir den Text und die Bilder für den Demokratischen Salon vorab zur Verfügung gestellt haben. Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im August 2022. Internetzugriffe zuletzt am 24. Juli 2022).