Jenseits des Kapitalismus
Gedankenspiele für eine zukunftsfähige Politik
„Die Alternative zum System ist weder die Rückkehr zur Hauswirtschaft und Dorfautarkie noch die integrale und geplante Vergesellschaftung sämtlicher Tätigkeiten. Sie besteht im Gegenteil in der maximalen Verringerung der von jedermann zu leistenden notwendigen Arbeit, sie möge uns gefallen oder nicht und in der maximalen Ausdehnung der autonomen kollektiven und / oder individuellen Aktivitäten, die ihr Ziel in sich selber haben.“ (André Gorz, Abschied vom Proletariat: jenseits des Sozialismus, Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt, 1980, übersetzt aus der 1980 in Paris bei Editions Galilée erschienen französischen Originalausgabe von Heinz Abosch)
Im Jahr 1972 erschien das Manifest des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ (englischer Titel: „The Limits To Growth)“. Der Bericht machte Furore, es gibt inzwischen mehrere Updates und zahlreiche internationale Konferenzen und Dokumente, in denen sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mehr oder weniger (un-)verbindlich verpflichteten, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu verhindern oder gar zu beenden. Dies ist die eine Seite, die andere ist die theoretische Beschäftigung mit den inzwischen deutlich spürbaren Konsequenzen der ökologischen Veränderungen für den Umgang mit der kapitalistischen Verfasstheit von Staat und Gesellschaft, nicht nur im sogenannten „Westen“, sondern auch in den Ländern, in denen Regierungen von sich behaupte(te)n, sie hätten einen anderen Weg gewählt, den sie mitunter auch „Sozialismus“ oder gar „Kommunismus“ nannten, obwohl sie letztlich doch einem mehr oder weniger zumindest in der Praxis kapitalistisch definierten Modell folgen.
André Gorz ist einer der Theoretiker, die bereits Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre versuchten, marxistisch inspirierte Theorie und kapitalistische Praxis im Kontext zu analysieren. Er sah die Gefahr und die zu erwartenden Vorbehalte und Widerstände, die schon alleine in dem Versuch lagen: „Der Gedanke, dass Produktion und Konsumtion an den Bedürfnissen der Menschen orientiert werden könnten, ist seiner Implikationen wegen politisch subversiv.“ Die entscheidende Frage in einer Welt, die sich mit ihrem Glaubensbekenntnis zum Wachstum zu zerstören droht, lautet: „Wie ersetzt man ein auf maximaler Vergeudung beruhendes Wirtschaftssystem durch eins, das auf minimale Vergeudung aus ist?“
Hat der Kapitalismus sich zu Tode gesiegt?
In letzter Zeit häufen sich Bücher und Aufsätze, die den „Kapitalismus“ grundsätzlich in Frage stellen. Ulrike Hermann, ausgebildete Bankkauffrau und Wirtschaftsredakteurin der taz, veröffentlichte im Jahr 2022 bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch „Das Ende des Kapitalismus – Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden“, Kohei Saito 2023 bei dtv „Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ (das japanische Original übersetzte Gregor Wakounig). Deutsche Verlage neigen gelegentlich zu drastischen Titeln, so auch in diesen beiden Fällen. Der japanische Originaltitel des Buches von Kohei Saito klingt deutlich nüchterner, am Stelle des deutschen „Systemsturzes“ lesen Japaner:innen auf den Titelseiten „Karl Marx‘ Ökosozialismus“.
Beide Bücher ließen sich unter der Parole zusammenführen: It’s capitalism, stupid. In der Tat sprechen beide – und nicht nur sie – vom Kapitalismus als dem Modus, in dem die aktuellen Debatten über die Lösung verharren. Mal gibt es etwas mehr, mal etwas weniger, mal gar keine Hoffnung, dass sich der Kapitalismus neoliberaler Prägung der vergangenen 50 Jahre reformieren oder gar durch etwas Besseres, was auch immer das wäre, ersetzen ließe.
Die Klimakrise, mitunter besänftigend auch als Klimawandel bezeichnet, ist Dreh- und Angelpunkt eines völlig irrationalen Verhaltens. Ulrike Hermann zitiert Karl Lauterbach: „Niemand würde sein Eigenheim so sehr heizen, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in dreißig Jahren abbrennen würde. Genau das tun wir derzeit aber mit dem Eigenheim Erde.“ Sie warnt allerdings vor einem unreflektierten Kapitalismus-Bashing. Ihre Schlussfolgerung: „Das Problem reicht tiefer. Klimaschutz ist nur möglich, wenn wir den Kapitalismus abschaffen. / Anders als Kapitalismuskritiker glauben, ist dies keine frohe Botschaft. Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich. Mit ihm entstand das erste Sozialsystem in der Geschichte, das kontinuierlich Wohlstand erzeugt hat. Vorher gab es kein nennenswertes Wachstum. Die Menschen betrieben eine eher kümmerliche Landwirtschaft, litten oft unter Hungerkatastrophen und starben im Durchschnitt mit 35 Jahren.“
Man könnte bestimmte Entwicklungen auch mit dem Satz erklären, dass sich der Kapitalismus zu Tode gesiegt hätte (auch wenn viele das noch nicht gemerkt haben). Ein Effekt kapitalistischer Entwicklungen ist der sogenannte „Rebound-Effekt“. Maschinen werden effizienter, brauchen weniger Energie, aber dies führt nicht dazu, dass Energie gespart würde, sondern mehr Energie verbraucht wird. Mit Eisenbahnen, Autos und Flugzeugen gab es mehr und schnellere Mobilität, aber der Energiebedarf führte eben auch dazu, dass der Wohlstand einen Preis hatte, den wir jetzt zu zahlen haben. Christian Jakob befasste sich in der Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vom September 2023 mit dem in manchen Kreisen heute verbreiteten „Untergangsdenken“. Der programmatische Titel seines Essays lautete: „Gegen das Untergangsdenken – Fünf Jahre Fridays for Future und die Chancen der Klimabewegung“. Es ist „schwierig. Aber es ist nicht das Ende der Welt.“
Christian Jakob stellt die nicht nur rhetorisch gemeinte Frage: „Wen überzeugt noch der Fortschritt?“ Er hätte auch an Stelle von „Fortschritt“ „Kapitalismus“ schreiben können. Ihm geht es wie Ulrike Hermann um eine Bilanz des Kapitalismus, die beide Seiten zeigt. Die kapitalistischen Errungenschaften der vergangenen 200 Jahre sorgten nicht nur dafür, dass es der Mehrzahl der Menschen heute besser geht denn je: „Vor 200 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa bei etwa 33 Jahren. Heute sind es global 73 Jahre. Vor 200 Jahren lebten 96 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, heute sind es rund acht Prozent. In allen Weltregionen ist die Bevölkerungszahl enorm gestiegen, der Anteil Armer fiel überall stark. Vor 100 Jahren mussten Menschen in Deutschland im Schnitt fast zwei Drittel ihres Einkommens für Essen ausgeben, heute ist es rund ein Siebtel. (…) Wer zur Zeit des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, arbeitete zu Beginn seines Arbeitslebens regulär etwa 2500 Stunden im Jahr. Heute macht eine volle Stelle 1700 Stunden im Jahr aus – das sind rund 100 Achtstundentage weniger.“ Ulrike Hermann nennt zahlreiche weitere Beispiele. All dies im Kontext einer Erde, auf der inzwischen etwa vier Mal so viele Menschen auf der Erde leben wie vor noch etwa 100 Jahren.
Ulrike Hermann referiert im ersten Teil ihres Buches die Geschichte des Kapitalismus, sie setzt sich im zweiten Teil kritisch mit der Hoffnung auf ein „grünes Wachstum“ und ausreichend technologische Innovationen auseinander und formuliert im dritten Kapitel eine Perspektive für die Überwindung des Kapitalismus. Dem Kapitalismus müsse eine „Überlebenswirtschaft“ folgen. Als Vorbild eigne sich die britische Kriegswirtschaft unter Winston Churchill, die dazu geführt habe, dass knappe Güter – vereinfachend formuliert – so verteilt werden konnten, dass niemand fror und niemand hungerte: „Mit Knappheit steuern: Dieses Prinzip bietet sich jetzt wieder an.“ Auf die Verfügbarkeit von Energie angewendet: „Die Regierung müsste also festlegen, was mit dem begrenzten Ökostrom noch hergestellt wird. Medikamente dürften weit oben landen, private Autos sehr weit hinten.“ Das heißt im Grunde „Rationierung“.
Zurzeit werden Güter jedoch nur für diejenigen verknappt, die ohnehin schon Probleme haben, sich das alltägliche Leben finanziell zu organisieren. Es wird daher nicht leicht sein, Akzeptanz für eine solche Politik zu schaffen. Die mit dem privaten Auto mögliche Mobilität möchte man jeden Tag genießen und manche sind darauf angewiesen. Medikamente braucht man eigentlich nur, wenn man krank ist. Immerhin zeigte die Corona-Pandemie, was es bedeutet, wenn auf einmal bestimmte Medikamente kaum noch lieferbar sind. Staatliche Steuerung wird jedoch von den meisten Menschen abgelehnt und kann zu Aufständen führen. Aber aus diesem Grunde eignet sich die britische Kriegswirtschaft als Vorbild, denn die Briten lebten während des Zweiten Weltkriegs nicht in einer Diktatur, sondern in einer Demokratie. „Sie befanden sich in einer unfreiwilligen Notsituation, die zudem verspätet erkannt wurde. Lange Zeit hatten die Briten noch gehofft, sie könnten Hitler durch ‚Appeasement“ befrieden und von einem Krieg abhalten. Ähnlich erleben wir heute den Klimawandel. Seine Dramatik wurde nur verzögert verstanden, zwingt uns aber jetzt zum Handeln.“
Die heutige Situation ist durchaus vergleichbar. Auch beim Versuch, den russischen Angriff auf die Ukraine zu analysieren, gab es Hinweise auf das Jahr 1938, in dem das sogenannte Münchner Abkommen dafür sorgte, dass das damalige Deutsche Reich kampflos Teile der Tschechoslowakei besetzen konnte. Für einen solchen Vergleich sprechen die hilflosen Bemühungen des „Westens“ nach der russischen Besetzung der Krim und von Teilen des Donbass im Jahr 2014. Diese Analogie hat zwar auf den ersten Blick nichts mit der Klimakrise zu tun, auf den zweiten Blick jedoch sind Kriege um Ressourcen, Boden, Wasser, Energie schon Alltag. Billiges Gas und billiges Öl in Deutschland wurden beispielsweise mit großer Nachsicht gegenüber den imperialen Ansprüchen und Handlungen Putins erkauft. Und die Zahl derjenigen, die in Deutschland und in anderen westlichen Staaten bereit wären, Putins Aggressionen zu akzeptieren, hat durchaus etwas mit der Frage zu tun, ob man bereit ist, auf das ein oder andere zu verzichten. Offenbar eben nicht unbedingt.
Die Kriegsmetapher wird – so nicht nur von Ulrike Hermann – ohnehin immer dann bemüht, wenn bestimmte Güter knapp zu werden drohten. Die Fronten verlaufen allerdings nicht unbedingt zwischen Staaten, sondern oft genug innerhalb bestehender Staaten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Berthold Vogel gab seinem Essay in der bereits zitierten Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ den programmatischen Titel „Klimapolitik geht nur sozial“. Die Lösung, die die meisten Politiker:innen zurzeit präsentieren, ist jedoch nicht die Abschaffung von Privilegien der Reichen und Superreichen, sondern die Rückkehr zu abgeschlossenen Territorien, in denen sich nur noch diejenigen aufhalten dürfen, die schon immer dort waren. Armen Menschen wird suggeriert, die Vertreibung und Exklusion anderer armer Menschen aufgrund ihrer Herkunft aus einem anderen Territorium würde ihre Probleme lösen. Eigentlich sollte es einfach sein zu erkennen, dass dies nicht funktionieren kann, denn selbst die höchsten Mauern werden nicht verhindern, dass Menschen, die unter dem Klimawandel leiden, versuchen, ihre Heimat zu verlassen. Steffen Mau hat dies in seinem 2021 bei C.H. Beck erschienen Buch „Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ beschrieben. Wir erleben „eine Metamorphose der Grenze“. Es mag zwar zeitweise gelingen, manche Menschen davon abzuhalten, in den wohlhabenden Ländern des Nordens einzuwandern, aber eine nachhaltige Strategie ist dies nicht. Schutzzölle werden den freien Verkehr von Waren vielleicht behindern, aber invasive Arten und Extremwetter werden sich nicht durch nationale Grenzen aufhalten lassen.
Die Grenzen, die wir respektieren sollten und müssten, liegen in unserer Bereitschaft zu wirksamen Einschränkungen, durchaus im Sinne der vom Club of Rome vor etwa 50 Jahren verkündeten „Grenzen des Wachstums“ Ulrike Hermann stellt nüchtern fest: „Leider wird es ohne Verbote nicht gehen. Unsere Lebensweise kann nur dann ökologisch sein, wenn nicht jede jederzeit unbegrenzt konsumiert.“ Die entscheidende Frage lautet daher nach Christian Jakob nicht, ob wir uns noch „Fortschritt“ leisten können, sondern ob es gelingen wird, „Akzeptanz zu schaffen für Einschränkungen, vor allem aber für Umverteilung. Denn das Überleben, das so viele infrage gestellt sehen ist heute in erster Linie eine Frage der globalen Gerechtigkeit.“ Erforderlich wäre auch eine Neubewertung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) als Messgröße für „Wohlstand“, „Fortschritt“ und „Wirtschaftswachstum“. Ulrike Hermann erklärt dies am Beispiel des „Hausfrauenparadoxes“: „Wenn ein Unternehmer eine Haushaltshilfe beschäftigt, geht ihr Gehalt in die BIP-Rechnungen ein. Heiratet der Firmenchef dann diese Angestellte, schrumpft das BIP, wenn sie jetzt umsonst für ihren Gatten putzt.“ Dies gilt auch für einen großen Teil der Care-Arbeit, die oft – überwiegend von Frauen – unentgeltlich erledigt wird, andererseits aber auch – wenn in Pflegedienste oder Kindertageseinrichtungen ausgelagert – das BIP steigert. Auch Zerstörungen führen, da Reparaturen erforderlich sind, zu einer Steigerung des BIP: „Die Flutkatastrophe an der Ahr wird sich ebenfalls positiv auf die deutsche Wirtschaftsleistung auswirken, weil die zerstörten Gebäude nun wieder aufgebaut werden müssen.“ Die angesichts der russischen Zerstörungen in der Ukraine erforderlichen Wiederaufbauarbeiten motivieren manche Unternehmen nicht nur aus humanitären Gründen sich zu beteiligen.
Wie wir heute Karl Marx lesen könnten
Ulrike Hermann zitiert zentrale Grundlagenwerke marxistischer Philosophie, das „Manifest der Kommunistischen Partei“ und „Das Kapital“. Wer sich jedoch intensiver mit Karl Marx befassen möchte, sollte sich an Texte des späten Karl Marx heranwagen, die einen anderen Blick auf die Entwicklung seines Denkens ermöglichen. Bei der Rezeption von Karl Marx im 20. Jahrhundert wurde auch oft außer Acht gelassen, dass er keine Handlungsanweisungen formuliert, sondern eine Methode entwickelt hatte, mit der sich kapitalistische Entwicklungen und Phänomene analysieren lassen. Eben dies ist eine der zentralen Botschaften des Buches von Kohei Saito.
Kohei Saito darf sich mit Fug und Recht als Marxisten bezeichnen. Er ist Associate Professor für Philosophie an der Universität von Tokyo, hat 2016 an der Berliner Humboldt-Universität promoviert und ist Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Er betont den fragmentarischen Charakter später Schriften und oft nur handschriftlich überlieferten Konzepte sowie die Meinungsverschiedenheiten zwischen Marx und Friedrich Engels. Die Einstellungen des späten Marx bezeichnet Saito als „Ökosozialismus“. Saitos These: „Es kommt also nicht nur auf das BIP an. Viel wichtiger wäre es, ernsthaft darüber nachzudenken, ob im Kapitalismus eine faire Verteilung überhaupt dauerhaft möglich ist. / Die Schwierigkeit bei der Frage der gerechten Ressourcenverteilung ist, dass es sich nicht nur um eine nationale Angelegenheit handelt. Es geht um die große Frage, wie sich globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gleichermaßen erreichen lässt.“ Diese Frage versteht Karl Marx – beispielsweise in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (in MEW 19) aus dem Jahr 1875 – international. Den internationalen Charakter der von Karl Marx beschworenen Arbeiterbewegung habe jedoch schon Lassalle entwertet: „Lassalle hatte, im Gegensatz zum ‚Kommunistischen Manifest‘ und zu allem früheren Sozialismus, die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen Standpunkt gefasst. Man folgt ihm (im Gothaer Programm, NR) darin – und dies nah dem Wirken der Internationalen.“
Kohei Saito beginnt mit der provozierenden These: „Die Ziele für nachhaltige Entwicklung sind das Opium des Volkes!“ Alle Appelle, mit einer Änderung persönlichen Konsumverhaltens und Lebensstils die Klimakrise zu bewältigen, bezeichnet er als „Ablasshandel“, da die Auslagerung der Problemlösung auf die einzelnen Bürger:innen das Grundproblem nicht löse. Dies gelte auch auf staatlicher und überstaatlicher Ebene für alle Versuche, die Sustainable Development Goals (SDG) umzusetzen. Das entscheidende Problem sei die „imperiale Lebensweise“, die dafür sorge, dass einige wenige reiche und superreichen Menschen keinerlei Einschränkungen ihres aufwändigen und ressourcenintensiven Lebensstils hinnehmen müssten und dies auch noch durchsetzten, indem sie das Wirtschaftswachstum, mit dem sie ihren eigenen Wohlstand sichern und ausbauen, zur allheilbringenden Lösung aller Probleme erklärten. Dazu gehöre auch die Verklärung von „Effektivitätssteigerung“. Kohei Saito verweist auf das „Jevons-Paradoxon, das der englische Ökonom William Stanley Jevons in seiner 1865 veröffentlichten Schrift ‚The Coal Question‘ (Die Kohlefrage) aufwarf.“ Effektivitätssteigerung reduziert nicht den Verbrauch einer schädlichen Ressource, sondern steigert sie. Klassisches Beispiel: wer den Flottenverbrauch eines Automobilherstellers senkt, sorgt nicht für weniger Verbrauch, sondern investiert seine technologischen Erfolge in den Bau größerer, breiterer und längerer Autos, die genauso viel oder sogar mehr Ressourcen verbrauchen als ältere ressourcenintensivere Modelle. Ein anderes Beispiel: die Digitalisierung mag manche Reise überflüssig machen, aber letztlich erhöht sie den Energieverbrauch.
Diese Strategie verfolgen nicht nur Reiche und Superreiche in ihren Gesellschaften, es ist auch die Strategie der reichen Nationen dieser Erde. Kohei Saito bezieht sich unter anderem auf Stephan Lessenichs Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ (Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin, Hanser, 2016). Wer auf welcher Seite der „Externalisierungsgesellschaft“ lebt, ist messbar. Stephan Lessenich: „Die individuelle Lebenserwartung ist der soziale Wohlstandsindikator schlechthin. Eine existenziellere Ungleichheit gibt es nicht: Wer früher stirbt, ist länger tot. Und siehe da: Länger tot sind in der Regel die anderen.“ Das gilt selbst innerhalb wohlhabender Gesellschaften: „So erreichen in Deutschland zum Beispiel nur 70 Prozent der Männer aus ärmeren Haushalten das 65. Lebensjahr – aber fast 90 Prozent jener aus den wohlhabensten Milieus.“
Eben dies sei auch der Ansatz von Karl Marx. Karl Marx habe – so Kohei Saito – die Auslagerung von Belastungen bereits beschrieben. Dies gelte gleichermaßen für die ökologischen Belastungen einer Technologie wie für die Lebensbedingungen von Arbeiter:innen. Wenn Industriestaaten wie Deutschland oder Frankreich bei ihrem Streben nach einer klimaneutralen Wirtschaft Kohlekraftwerke stilllegen, im Gegenzug angesichts ihres Energiebedarfs jedoch Kohle aus Ländern importieren, in denen die Arbeitskräfte unter Leben und Gesundheit bedrohenden Verhältnissen arbeiten, lagern sie die Konsequenzen ihres Lebensstils an die „Peripherie“ aus. Dies gilt nicht nur für die Kohle, sondern auch für all die Mineralien, die – wie Lithium – für den Ausbau der E-Mobilität und moderner Kommunikationstechnologie benötigt werden. Und wenn sich dann Menschen aus den Ländern des „globalen Südens“ – wie man so sagt – beschweren und versuchen, ihrer Situation zu entkommen, indem sie Richtung Norden migrieren, werden sie als das eigentliche Problem markiert, nicht jedoch der im Norden gepflegte Lebensstil. Das Hauptproblem sind der „Konsumismus“ und der „Produktivismus“ des Nordens (der etwas unsauber in der Regel als „Westen“ bezeichnet wird. Die Ergebnisse ließen sich in den Textilmüllhalden in der chilenischen Atacama-Wüste oder am Strand westafrikanischer Staaten besichtigen. Wenn jemand hinschauen möchte. Die Konsequenz: „Die Umweltkrise hält der Menschheit eine harte Realität vor Augen: dass wir die auf Extraktivismus und Externalisierung beruhende imperiale Lebensweise infrage stellen müssen, und das radikal.“
Karl Marx hat dies in seinen späten Texten erkannt. Eine wichtige Quelle Kohei Saitos ist der Brief an Wera Iwanowna Sassulitsch aus dem Jahr 1881, dessen verschiedene längeren und handschriftlich überlieferten Vorfassungen einen genaueren Blick auf die Entwicklung des Marx’schen Denkens erlauben. „Aus den Briefen können wir herauslesen, dass der späte Marx nichtmehr dachte, dass eine Steigerung der Produktivkräfte zwangsläufig zur Emanzipation der Menschheit führe.“ Dies bedeutet auch eine Abkehr vom früheren Marx’schen „Eurozentrismus“. Marx erklärt seine ursprüngliche Grundannahme somit für falsch, dass jede Gesellschaft den Kapitalismus durchlaufen müsse, um zu einer gerechte(re)n Ordnung zu gelangen. Marx verabschiedet sich somit von einem linearen Geschichtsbild. „Wirtschaftswachstum“ ist kein Kriterium für gesellschaftlichen Fortschritt.
Die Sowjetunion beispielsweise funktionierte – mit den bekannten Ergebnissen – nach den Regeln des „Produktivismus“. Auch die schwächelnde Wirtschaft Chinas weist darauf hin, dass jedes Wachstum irgendwann an Grenzen stößt. „Von maßgeblicher Wichtigkeit ist an dieser Stelle Marx‘ Erkenntnis, dass die Stabilität kommunaler Gesellschaften ohne Wirtschaftswachstum für einen nachhaltigen und egalitären Stoffwechsel von Natur und Mensch sorgte.“ Aus dieser Erkenntnis leitet Kohei Saito seinen Begriff des „Degrowth-Kommunismus“ ab. „Green New Deal“ – in welcher Form auch immer – oder technologische Lösungen müssten scheitern, weil auch sie an Grenzen stoßen würden. E-Mobilität mag den Rückzug fossiler Energien herbeiführen, aber die Arbeitsbedingungen, unter den die Rohstoffe der Batterien, der Energiebedarf der Ladestationen und die auch nicht endlose Lebensdauer der Batterien müssen mitgedacht werden, wenn eine ehrliche Ökobilanz erstellt werden soll.
Marx verbindet „Kommunen- und naturwissenschaftliche Forschung“ und wendet seine Ergebnisse im weltweiten Maßstab an. Es reicht eben nicht aus, immer effizientere Produktionsweisen und Technologien zu entwickeln, es geht letztlich um die „Umwälzung von Arbeit und Produktion“. Vereinfachend gesprochen: niemand braucht drei Autos, niemand braucht zwanzig Paar Schuhe, niemand muss, um sich zu erholen, Tausende von Kilometern in die Ferne fliegen, es hilft auch nichts, wenn Fahrräder dank ihrer Batterien so schnell werden wie Autos. Entschleunigung statt Beschleunigung, Innehalten statt Wachstum, vielleicht eine neue Bescheidenheit? Arbeit und Natur müssen in ein neues Verhältnis gebracht werden. Karl Marx schrieb in seiner Kritik des Gothaer Programms (MEW 19): „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ Es ließe sich glaubhaft begründen, dass alle liberalen und sozialistischen Programme der vergangenen 150 Jahre mehr oder weniger auf dem Stand des Gothaer Programms verharrten.
Die „Commons“
Letztlich geht es um die „Commons“, die „Allmende“, die wir gemeinsam bewirtschaften müssen. Und dies lässt sich – so Kohei Saito – nur über „Degrowth“ erreichen. „Die gängige Meinung innerhalb der Linken ist doch, dass Marx niemals für den Degrowth eingetreten ist. Die Rechte wiederum würde darüber spotten, dass die Fehler der Sowjetunion allen schlechten Erfahrungen zum Trotz wiederholt wurden. Und auch unter Liberalen sitzt die Abneigung gegen den Degrowth tief.“ In der politischen Alltagspolemik lässt sich dann von allen Seiten behaupten, dass „Degrowth“ das Leben vor allem der weniger betuchten Teile der Bevölkerung beeinträchtige. Eben diese rhetorische Figur ist auch das Erfolgsrezept der Neuen Rechten, die in großen Teilen eine klassische neoliberale an Hayek und Friedman orientierte Wirtschaftspolitik verfolgt.
Ein kleiner Exkurs angesichts einer aktuellen deutschen Debatte vom Sommer 2023: für einen großen Teil der 14 Millionen Eigenheimbesitzer:innen in Deutschland wäre das Gebäudeenergiegesetz (GEG, vulgo „Heizungsgesetz“) in seiner ursprünglichen Form durchaus zu einer Existenz bedrohenden Belastung geworden. Es gibt viele Menschen, die zwar ein Haus besitzen, aber nur wenige Rücklagen. Es sind oft dieselben Menschen, denen ein Verweis auf den bei ihnen nicht vorhandenen öffentlichen Nahverkehr wenig hilft, weil sie ihr Auto nun einmal brauchen, um überhaupt zur Arbeit oder zum Einkaufen fahren zu können. Eine Buslinie, die vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren fahren könnte, gehört in das Reich der Utopie. Die Erfahrungen mit stillgelegten Eisenbahnstrecken verweisen eine solche Hoffnung in den Bereich eines Märchens. Vielen Menschen erscheint „Degrowth“ daher als Bedrohung. „Degrowth“ bedarf einer ausführlichen Begründung und einer neuen politischen Kommunikationsstrategie. Ansätze hätte es gegeben. Insofern verwundert, dass niemand auf die Idee gekommen ist, im Vorfeld des GEG die erfolgte Einführung kommunaler Wärmeplanung in Baden-Württemberg, die Nutzung von Abwärme in verschiedenen Kommunen und andere Möglichkeiten eines behutsamen Umgangs mit Energie vorzustellen, auszuwerten und daraus eine Strategie zur Beteiligung möglichst vieler Bürger:innen zu entwickeln bis hin zur Nutzung von Beteiligungsinstrumenten wie der von Peter Dienel entwickelten Planungszelle.
Die „Commons“ werden knapp, weil sie nicht als „Commons“ wahrgenommen werden, sondern als endlos zur Verfügung stehende Ressource: Boden, Wasser, nicht zuletzt das Wohnen. Eben dies ist die „Tragödie der Allmende“. Der aktuelle Wohnungsmarkt ist gerade in wohlhabenden Gesellschaften ein wesentlicher Indikator dafür wie Kapitalismus funktioniert: die künstliche Verknappung von Gütern schafft Reichtum bei wenigen und Armut bei vielen. Gefordert werden anlässlich diverser Hitzewellen kommunale Wasserbewirtschaftungskonzepte. Ohne solche Konzepte ist absehbar, dass private Wirtschaftsunternehmen diese Aufgabe übernehmen und Wasser verknappen und verteuern. Wer jedoch die Verfügbarkeit der „Notwendigkeiten“ verknappt, wird auch letztlich „Freiheit“ einschränken, „da der Mensch ohne die drei Grundbedürfnisse Kleidung, Nahrung und Wohnung nicht überleben kann und produktive Tätigkeiten somit weiterbestehen müssen. Auch Marx sagte, das Reich der Freiheit könne ‚nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn‘.“
Hier liegen die Grenzen einer klassischen sozialdemokratischen Umverteilungspolitik. Das heißt: „Um das Reich der Freiheit zu erweitern, müssen wir ein System zerschlagen, das nichts als endloses Wachstum im Sinn hat und die Menschen zu überlangen Arbeitszeiten und schrankenlosem Konsum antreibt.“ In diesem Kontext hat auch die noch leise, aber sicherlich demnächst lauter werdende Debatte um die Vier-Tage-Woche ihre Berechtigung. Möglicherweise führt diese gar nicht dazu, dass bestimmte Arbeiten nicht mehr erledigt werden können, sondern eher dazu, dass Betriebe Menschen einstellen können, die mit einer Fünf-Tage-Woche nicht motiviert werden konnten, und vielleicht auch dazu, dass wir lernen, uns auf die Dinge zu beschränken, die im Kontext der genannten „Notwendigkeiten“ tatsächlich auch „notwendig“ sind, weil sie Grundbedürfnisse befriedigen.
Aber wie tief ist das sprichwörtliche Kind bereits in den Brunnen gefallen? Wurde mit den Debatten um die Restlaufzeiten von drei Atomkraftwerken, die mangels Brennstäben ohnehin nicht mehr lange hätten weiterbetrieben werden können, und ein unzulängliches Gebäudeenergiegesetz die Chance verpasst, die mit dem Krieg um die Ukraine durchaus sichtbar gewordene Bereitschaft zu stärken, den eigenen Lebensstil zu verändern? Eine Partei, die die Klimakrise abstreitet („Don’t Look Up!“), eilt in den Umfragen von Erfolg zu Erfolg, indem sie auf die Rezepte von gestern und vorgestern verweist. Andere Parteien neigen nach wie vor dazu, den Eindruck zu vermitteln, es müsse sich eigentlich gar nichts ändern, oder es wäre alles nur halb so schlimm. Man könnte dies als allgemeine Realitätsverweigerung bezeichnen. Umso wichtiger ist es, dass Autor:innen wie Ulrike Hermann und Kohei Saito Alternativen entwickeln und veröffentlichen, auch wenn sie natürlich Gefahr laufen, dass manche Politiker:innen reflexhaft reagieren ohne ihre Bücher zu lesen (manche reagieren schon reflexhaft, wenn sie den Namen „Karl Marx“ hören oder lesen). Mit dem, was bestehende kommunistische Parteien unter Kommunismus verstehen, hat das, was Kohei Saito beschreibt, nichts zu tun, eher vielleicht mit innerkommunistischen Reformbewegungen wie dem Prager Frühling oder dem Eurokommunismus eines Enrico Berlinguer, die jedoch nie eine Chance hatten, sich zu erproben.
Die Alternativen
Kohei Saito nennt vier „Alternativen für die Zukunft“. Zwei der vier Alternativen sind autoritär und antidemokratisch, er nennt sie „Klimafaschismus“ und „Klimamaoismus“. Unter „Klimafaschismus“ versteht er eine Diktatur der „Superreichen“: „Der Staat versucht, die Interessen dieser privilegierten Schicht zu schützen, und geht daher hart gegen Klimaflüchtlinge und Klimawandelverlierer vor, die eine Bedrohung für die neue Ordnung darstellen.“ Der „Klimamaoismus“ hingegen ist „eine zentralistische Diktatur“ (…) die möglicherweise ‚effektivere‘ und ‚egalitärere‘ Klimaschutzmaßnahmen forciert.“ Die dritte Variante wäre die „Barbarei“, das „Chaos“, das ausbricht, wenn zwar die „Superreichen“ entmachtet werden, aber letztlich nur noch alle „ums eigene Überleben“ kämpfen. Für die vierte, die eigentlich wünschenswerte Alternative, „das Zukunftsszenario einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft“, „mit einer aktiven Demokratie und gegenseitiger Hilfe, die von den Menschen freiwillig getragen werden“, gibt es keine Namen, daher gibt Kohei Saito ihr „vorerst einmal den Namen X“. Im Verlauf des Buches erfahren wir, wie Kohei Saito die Idee eines „Degrowth-Kommunismus“ entwickelt, der gleichermaßen soziale, ökologische und demokratische Ziele verwirklicht.
Konkrete Beispiele für „Klimafaschismus“ und „Klimamaoismus“ konnten wir bereits beobachten, nicht zuletzt auch während der Corona-Pandemie. Kohei Saito nennt Trump und Bolsonaro als Beispiele für „Klimafaschismus“, China für „Klimamaoismus“. In beiden Fällen litten und leiden große Teile der jeweiligen Bevölkerungen. Denkbar wäre auch, dass Aufstände zur „Barbarei“ führten, einer Art Hobbes’scher Wolfsgesellschaft (no offense to the wolves) in Reinkultur. Kohei Saito formuliert als Gegenbild seinen „Degrowth-Kommunismus“. Um den Begriff mag man sich streiten, es gäbe auch andere vergleichbare Begriffe wie beispielsweise den von ihm zitierten „partizipativen Sozialismus“, wie ihn Thomas Pickety beschrieb (beispielsweise in „Kapital und Ideologie“, München, C.H. Beck, 2020, französische Originalausgabe 2019 bei Seuil). Ohne neue Formen der Beteiligung der Bürger:innen wird es nicht gehen. Letztlich geht es um „Demokratisierung der Arbeitsprozesse“, in Produktion, Dienstleistung und Care-Arbeit.
Als Beispiele für die wachsende Bereitschaft nennt Kohei Saito Barcelona und das Netzwerk der Fearless cities. Vorläufer waren vielleicht auch die Vorhaben zur Schaffung eines Bürgerhaushaltes, die in Porto Alegre begannen, es gab Bürger:innenbewegungen wie die der Zapatist:innen Anfang der 1990er Jahre im mexikanischen Chiapas, Occupy Wallstreet, Gelbwesten und nicht zuletzt die verschiedenen Arme der Klimabewegung. Kohei Saito bezieht sich auf die These, dass 3,5 Prozent einer Bevölkerung ein Umdenken und Umsteuern bewirken könnten. Diese These ist nicht falsch, allerdings sind Umdenken und Umsteuern durchaus in mehrere Richtungen denkbar. Wir sollten nicht vergessen, dass die Hegemonie-Thesen von Antonio Gramsci zurzeit von rechts und von links gleichermaßen rezipiert werden.
Konvivialismus
Kohei Saito hat die „Degrowth“-These nicht erfunden. Weniger popularisiert als die Veröffentlichungen des „Club of Rome“ wurden die konvivialistischen Manifeste, die in Deutschland der Bielefelder transcript-Verlag veröffentlichte. Auch diese thematisierten ein Ende des „Wachstums“ als Grundlage einer zukunftsfähigen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Im Jahr 2020 erschien das „Zweite konvivialistische Manifest“ (Untertitel: „Für eine post-neoliberale Welt“, das französische Original erschien in Arles bei Actes Sud), die Autor:innen firmieren als „Die konvivialistische Internationale“. Das erste 2013 erschienene Manifest des Konvivialismus trug den Untertitel „Déclaration d’Interdépendence“ (bei Le Bord de l’eau, 2013.) Im Jahr 2022 veröffentlichte der transcript-Verlag in englischer Sprache den von Frank Adloff und Alain Caillé herausgegebenen Band „Convivial Futures – Views from a Post-Growth Tomorrow“.
Konvivialismus ist ein philosophischer Ansatz, der das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten gestalten soll. Autor:innen der Manifeste sind über 300 Wissenschaftler:innen, Künstler:innen, Journalist:innen aus Hochschulen, unabhängigen Forschungseinrichtungen, Nicht-Regierungsorganisationen, aus allen Kontinenten, darunter aus Deutschland Susanne Bosch, Adalbert Evers, Axel Honneth, Claus Leggewie, Stefan Lessenich, Hartmut Rosa. Sie sprechen von „Philosophie und Kunst des Zusammenlebens“. Ihre Definition: „Konvivialismus ist der Name, der allem gegeben wurde, was in den bestehenden oder vergangenen, weltlichen oder religiösen Lehren und Weisheiten zur Suche nach Prinzipien beiträgt, die es den Menschen ermöglichen, zu rivalisieren, um besser zu kooperieren und humanitäre Fortschritte zu machen – im vollen Bewusstsein der Endlichkeit der natürlichen Ressource und in der geteilten Sorge um den Schutz der Welt.“
Die Frage gilt: „Was ist das Wertvollste? Und wie definieren und erfassen wir es?“ Sie lässt sich nur beantworten, wenn die Betroffenen, und das sind alle (nicht nur die jungen) Menschen, die Chance erhalten, darüber nachzudenken, zu diskutieren und zu entscheiden. Ich bin versucht zu sagen: Partizipation, that’s the future, stupid. Dies ist das Gegenteil einer rein caritativen Politik wie sie von vielen Akteur:innen der sogenannten Entwicklungshilfe praktiziert wird. Es geht um die „Entwicklung dessen, was man heute die Commons nennt“. Letztlich wäre so eine Lösung des Allmende-Dilemmas beziehungsweise der Tragödie der Commons, wie es auch genannt wird, denkbar und erreichbar.
In einem Nachwort formulieren die Autor:innen die Anforderungen an einen „Konvivialismus nach der Corona-Krise“: „Dabei wird mittlerweile vielen mehr und mehr klar, dass die Corona-Pandemie erst der Anfang ist. Im Vergleich zu den Folgen des Klimawandels stellt der Umgang mit COVID-19 wahrscheinlich noch eine Leichtigkeit dar. (…) COVID-19 hat auch deutlich gemacht, wie interdependent unsere Welt ist. (…) Die kommenden Jahre werden viele Fragen aufwerfen und bestehende Konflikte verschärfen oder neue schaffen. Dahinter wird aber stets die Frage stehen, wie mit dem ‚imperialen‘ Gesellschaftsmodell weiter zu verfahren ist.“
In einer Fußnote verweisen die Autor:innen des 2020 veröffentlichten Manifestes auf ein weiteres Manifest, das „Manifest für ein Wirtschaften nach der Pandemie ‚Arbeit – demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten“, das über 3.000 Wissenschaftler:innen unterzeichnet haben. Es wurde am 15. Mai 2020 in der ZEIT veröffentlicht. Auch dort spielt die Beteiligung der Bürger:innen die zentrale Rolle: „Diejenigen, die ihre Arbeit, ihre Gesundheit, ja, ihr Leben, in eine Firma investieren, sollten auch das kollektive Recht haben, derartigen Entscheidungen zuzustimmen oder ein Veto einzulegen.“
Die Frage liegt auf der Hand: handelt es sich bei den zitierten Manifesten sowie den Büchern von Ulrike Hermann und Kohei Saito um intellektuelle Gedankenspiele oder haben wir es mit potenziell mehrheitsfähigen Positionen zu tun, die sich auch in politischen Entscheidungen niederschlagen. Die Antwort kann nur lauten: teils, teils. In Umfragen gibt es durchaus Mehrheiten für eine andere Sozialpolitik, für Klimaschutz, nicht zuletzt für die Demokratie, geht man jedoch in die Details, wird es schon schwieriger: die Mehrheiten schwinden, weil offenbar kein Zusammenhang zwischen Problem und Maßnahmen erkannt wird. Anders gesagt: es fehlt möglicherweise einfach daran, dass sich Parteien und Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik auf etwas Gemeinsames verständigen, das sich zunächst vor allem auf eine Bestätigung des Wertes des gemeinsamen Gutes „Erde“, der „Commons“ stützen müsste. Eine Analyse kapitalistisch geprägter Politik gehört dazu, aber eine Analyse alleine macht noch keine Politik. Und damit sind wir bei der Frage, wie nicht nur Analysen, sondern auch konkrete Maßnahmen, die durchaus „anti-kapitalistisch“ genannt werden könnten, mehrheitsfähig werden. Vorerst bleibt es bei dem diffusen Gefühl, das Heinrich Böll in einer seiner kurzen satirischen Geschichten treffend persiflierte: „Es wird etwas geschehen – Eine handlungsstarke Geschichte.“
Das (r)evolutionäre Subjekt – Hegemonie und Bündnisse
Es wird nicht reichen, einzelne Kommunen, Parteien oder Organisationen der Zivilgesellschaft zu motivieren, den Kapitalismus abzuschaffen oder zumindest dazu beizutragen, dass er abgeschafft werden könnte. Das wäre so etwas wie die Rede vom „richtigen Leben im falschen“, das es nach dem Diktum Adornos in den Minima Moralia gar nicht geben kann. Insofern besteht durchaus die Gefahr, dass sich die Umsetzung der SDG’s und die Initiativen von Städten wie Barcelona letztlich in ihrer Relevanz für eine gewendete und zukunftsfähige Politik ähneln. Die 3,5 Prozent, von denen Kohei Saito spricht, können sicherlich einiges erreichen, aber die aktuellen Protestbewegungen blieben Protestbewegungen, eine Strategie für die Bildung eigener Mehrheiten hatten sie nicht. Je nachdem konnten und können die jeweiligen Regierenden sie mehr oder weniger brutal unterdrücken – wie in China – oder zumindest durch beharrliche Ignoranz wieder eindämmen – wie beispielsweise zuletzt in Frankreich oder in Chile.
André Gorz hat diese Dilemmata in seinem „Abschied vom Proletariat“ bereits thematisiert. Man kann so viel man möchte über Evolutionen und Revolutionen diskutieren, aber die Klasse, die Gruppe, die Avantgarde (durchaus im Sinne Lenins), die sie betreiben könnte, hat noch niemand beschrieben. Dies liegt auch daran, dass es nicht mehr möglich ist, eine bestimmte Gruppierung homogen zu beschreiben. Es gibt zwar einen Begriff von Klassismus – auch die Marx’sche Kritik am von ihm so genannten „Lumpenproletariat“ (im „Kommunistischen Manifest“) ist im Grunde klassistisch –, es gibt jedoch keinen Begriff mehr von einer „Klasse“, es gibt nur noch – ich verwende den Begriff der SINUS-Studien – „Milieus“.
Auch David Goodharts viel zitierter Versuch einer Binarisierung der Menschen in „Somewheres“ und „Anywheres“ (in „The Road To Somewhere – The Populist Revolt and the Future of Politics“, C. Hurst & Co., 2017, deutsche Ausgabe 2020 bei millemari) hilft nicht weiter, wenn man sich auf die Suche nach dem Subjekt einer zukunftsfähigen Veränderung begibt. Wer sich auf eine binäre Sichtweise einlässt, landet schnell beim Freund-Feind-Gegensatz von Carl Schmitt als Grundlage von Politik. Dies wäre jedoch fatal. Slavoj Źiźek zeigt, was dies bedeuten kann und wie bei den aktuellen politischen Debatten eine anti-politische Spaltung der ohnehin schon in prekären Verhältnissen lebenden Menschen droht. Gerade die migrationsfeindliche Politik vieler nördlicher beziehungsweise westlicher Staaten sorgt dafür, dass letztlich die eigenen Einwohner:innen die Ursache jeder Bedrohung bei Zuwanderer:innen suchen, obwohl diese kaum zu den von David Goodhart beschriebenen „Anywheres“ gehören. Źiźek schreibt in: „Wie ein Dieb im Tageslicht – Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus“ (aus dem Englischen von Karen Genschow, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2019): „Der Konflikt zwischen lokalen Unterschichten und Immigranten (oder zwischenfeministischem Kampf und Arbeiterkampf) ist keine extern auferlegte Abscheu, die durch die Manipulation feindlicher Propaganda erzeugt wird, sondern die Erscheinungsform desselben Klassenkampfs. Lokale Arbeiter nehme Immigranten als Handlanger des Großkapitals wahr, in das Land gebracht, um ihre Kraft zu unterwandern und mit ihnen in Konkurrenz zu treten, da ihre Löhne niedriger sind; Immigranten sehen lokale Arbeiter, selbst, wenn sie arm sind, als untrennbaren Teil der westlichen Ordnung, die sie marginalisiert. In einer solchen Situation, in der der Wettbewerb real ist, genügt einfaches Predigen nicht, dass sie beide tatsächlich auf derselben Seite stehen.“
Vielleicht hilft es, sich ein wenig mehr mit den Thesen von Antonio Gramsci zu beschäftigen. Es ist natürlich nicht so, dass dies nicht schon geschähe. Es fehlt zwar nach wie vor ein Band, der sich mit der Hegemonie-These Gramscis und ihren Perspektiven für die Lösung der Klimakrise beziehungsweise eine radikale Umsteuerung der kapitalistischen Wirtschaftsweise befasst, aber diejenigen, die diese These auf Bildungssysteme anwenden, kommen einer solchen Sichtweise schon recht nahe. Maria do Castro Varela, Natascha Khakpour und Jan Niggemann gaben im Jahr 2023 bei Beltz Juventa den Sammelband „Hegemonie bilden – Pädagogische Anschlüsse an Antonio Gramsci“ heraus. Der Band wurde unter anderem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt und ist daher im open access verfügbar. 21 Autor:innen analysieren die Bildungsverständnisse Gramscis und der Gramsci-Rezeption und untersuchen die „Kämpfe der Hegemoniebildung: Schule, Sprache und die Künste“.
Mehrere Beiträge des Buches befassen sich mit der Gramsci-Rezeption von von links und von rechts. Als Vorläufer aller rechten Rezipient:innen Gramscis gilt Alain de Benoist, beispielsweise mit seinem Buch „Kulturrevolution von Rechts“ (1985). Linke Strategien zur Schaffung von Gegenöffentlichkeiten, Aufrufe, die 3,5 Prozent oder gegebenenfalls auch die vielleicht sogar ausreichende Basis von einem Prozent zu schaffen – all dies gibt es von links wie von rechts und zurzeit scheint es durchaus Tendenzen zu geben, dass diejenigen, die eine Klimakrise leugnen, die Oberhand gewinnen könnten. Dabei fällt auf, dass Parteien der Neuen Rechten fast ohne Ausnahme einen radikalisierten neoliberalen Kurs verfolgen, soziale Ziele zwar verkünden, sich aber vorwiegend dann doch in ihren Programmen (zum Beispiel AfD und FPÖ) oder in ihrem Regierungshandeln (zum Beispiel Giorgia Meloni, Jair Bolsonaro oder Donald Trump) ausgesprochen anti-sozial verhalten, Sozialleistungen streichen und letztlich nur die wenigen oberen Prozent von Steuern und Abgaben entlasten.
Die Herausgeber:innen von „Hegemonie bilden“ formulieren prägnant in ihrer Einleitung die Methode, mit sich rechte und linke Gramsci-Rezeption voneinander unterscheiden ließen, sodass sie nicht mehr von den ursprünglichen inhaltlichen Ideen Gramscis getrennt werden können: „Mit dem Hegemoniebegriff in seiner politisch-pädagogischen Akzentuierung als Verallgemeinerungsweise liegt eine eigenständige Perspektive vor, Dynamiken zwischen verschiedenen sozialen Ungleichheiten zu verstehen, deren Wirkung sich in den verhandelten Gruppenhierarchien und -relationen manifestieren (…) und über rein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse hinausgehen.“ Und damit Inhalt und Methode zueinander passen und sich von einem kruden unter falscher Flagge segelnden Nationalismus und Neoliberalismus unterscheiden lassen, ist zu betonen, dass die Klassen „ohne Erfahrungen von Klassismus, Sexismus, Rassismus nicht verstehbar“ sind. Die Hegemoniethese Gramscis muss im Kontext damaliger wie heutiger Debatten um Imperialismus und Kolonialismus diskutiert werden. Aber eben dies fehlt in rechten Kontexten.
In diesem Kontext haben nicht nur Staat, Zivilgesellschaft und formale Bildungseinrichtungen, sondern auch – so Leila Haghigat in ihrem Beitrag – informelle und nicht-formelle Bildung wie „Museen, Kunstinstitutionen, Biennalen und verschiedenste staatlich geförderte kulturelle Projekte als zivilgesellschaftliche Akteure eine erziehende Funktion, indem sie an der Systematisierung des Alltagsverstandes beteiligt“ und „in emanzipatorisches Bildungsstreben eingebettet“ sind.
Die bei manchen Intellektuellen gegebene Skepsis gegenüber den „Massen“ ließe sich vielleicht auf diese Weise aufheben, aber – so notwendig dies wäre – ist dies ein langer Weg. Zunächst erforderlich ist eine schonungslose Analyse der Attraktivität der Vorhaltungen der Neuen Rechten gegenüber liberaler, linker, aber auch konservativer Politik. Ursula Apitzsch verweist in ihrem Beitrag „Massenhafter intellektueller Fortschritt“ auf einen Brief Gramscis: „Noch im September 1922 in Moskau in seinem berühmten ‚Brief über den italienischen Futurismus‘ an Leo Trotzki versucht Gramsci, die Wirkung futuristischer Kunst auf die Turiner Arbeiter:innen verständlich zu machen. Sie glauben im Futurismus die eigene Lebensweise und Kreativität zu verteidigen.“ F.T. Marinetti sprach in seinen futuristischen (und proto-faschistischen) Manifesten unter anderem davon, dass ein Rennwagen schöner wäre als die Nike von Samothrake. Bei den Turiner Arbeiter:innen wird er keinen Widerspruch geerntet haben (obwohl diese sicherlich nicht zu seinen Leser:innen gehörten). Auch im Jahr 2023 hätte Marinetti ein dankbares Publikum.
Was bleibt? Die in diesem Essay etwas ausführlicher vorgestellten Analysen von Ulrike Hermann und Kohei Saito überzeugen. Der Appell an die „Grenzen des Wachstums“, die Notwendigkeit eines „Degrowth“ belegen die Popularität einer Politik jenseits des (neoliberalen) Kapitalismus unter Intellektuellen. Eine Strategie haben wir damit noch nicht. Die pädagogische Gramsci-Rezeption der Autor:innen des Sammelbandes von Maria do Castro Varela, Natascha Khakpour und Jan Niggemann zeigt vielleicht einen Weg, aber die Bündnisse, die erforderlich wären, um die Machtfrage des Kapitalismus anders zu beantworten als dies in einer Zeit geschieht, in der sich – böse gesagt und böse gemeint – sozial orientierte Parteien nach wie vor auf dem Niveau des Gothaer Programms bewegen, müssen noch geschaffen werden. 3,5 Prozent werden auch nicht reichen. Etwa 3,5 Prozent – oder sogar weniger – stürzten die kommunistischen Diktaturen der Sowjetzeit, aber die Transformation der 1990er Jahre ist alles andere als ein gutes Vorbild für das Management der angesichts der Klimakrise erforderlichen Transformationen. Aber auf die Bündnisse kommt es an! Nur mit breiten Bündnissen sind tragfähige und zukunftsfähige Mehrheiten in einer liberalen Demokratie erreichbar.
Zum Abschluss noch einmal Slavoj Źiźek, diesmal zitiert nach seinem Buch „Die Revolution steht bevor – Dreizehn Versuche über Lenin“ (Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 2002): „Entweder man spielt das Spiel des Systems und lässt sich auf den ‚langen Marsch durch die Institutionen‘ ein, oder man engagiert sich in neuen sozialen Bewegungen, vom Feminismus über den Umweltschutz zum Antirassismus. Aber um es nochmals zu sagen, die Begrenztheit dieser Bewegungen besteht darin, dass sie nicht politisch im Sinne des allgemeinen Singulären, sondern ‚Einthemenbewegungen‘ sind, denen die Dimension der Allgemeinheit fehlt, d.h., sie beziehen sich nicht auf die gesellschaftliche Totalität.“ Vielleicht erwächst daraus sogar ein ganz neuer Begriff der „Revolution in Permanenz“, die Karl Marx und Friedrich Engels im März 1850 in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund“ formulierten (in MEW 7)? Das wäre nicht nur eine Denkaufgabe für politische Parteien, sondern auch – und nicht zuletzt – für die Zivilgesellschaft.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2023, Internetzugriffe zuletzt am 20. September 2023.)