Jüdisches Leben in der Nachkriegszeit

Ein Gespräch mit Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe

„Vor gut einem Jahr habe ich – zum ersten Mal – ein Konzentrationslager besucht. Ich war in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. In Anbetracht der Tatsache, dass sowohl meine Großmutter Luise aus Münster als auch meine Großmutter Rosa aus Wien sowie weitere Verwandte in der Shoah ermordet wurden, habe ich erst im Alter von 75 Jahren den Mut gefunden, diese Reise anzutreten. Angesichts der Haufen von abgeschnittenen Haaren, der Berge von zurückgebliebenen Schuhen und Koffern und der sich türmenden, leeren Zyklon-B-Dosen kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendein Mensch davon unberührt bleibt. Ich hoffe, ich behalte Recht.“

Zwi Rappoport, Hendrik Wüst, Ruth Weiss, André Kuper. Foto: Landtag NRW / Bernd Schälte

Mit diesen Sätzen beendete Zwi Rappoport seine Rede am 27. Januar 2023 im Düsseldorfer Landtag. Er sprach von der Hoffnung, dass Menschen nach einem Besuch der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager mit einer Ahnung von der Konsequenz und Brutalität der nationalsozialistischen Verbrechen in ihren Alltag zurückkehrten. Das oft zitierte Wort vom „Nie wieder“ verwendete er Rede nicht, aber es war klar, was er meinte, gerade in einer Zeit, in der viele junge Menschen viel zu wenig über die Shoah wissen, in der viele Menschen in Deutschland wieder einmal einen „Schlussstrich“ fordern. Es geht um viel mehr als Mitgefühl, es geht um die Übernahme von Verantwortung in der deutschen Gesellschaft, durch jede*n Einzelne*n: Für die Überlebenden und ihre Nachkommen ist ein Schlussstrich ohnehin nicht möglich. Sie leiden generationsübergreifend unter den Traumata der Shoah und die Vergangenheit ist stets gegenwärtig.“

In seiner Rede sprach er über die eigene Familiengeschichte, die auch in unserem hier dokumentierten Gespräch vom 31. Januar 2023 eine wichtige Rolle spielt. Zwi Hermann Rappoport wurde im Jahr 1946 in Israel geboren, wenige Jahre vor der Staatsgründung. Seine Eltern hatten im damaligen britischen Mandatsgebiet Zuflucht gefunden. Heute, im Jahr 2023, ist Zwi Rappoport seit zwanzig Jahren Vorstandsmitglied und seit vier Jahren Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, einer der drei Jüdischen Verbände in Nordrhein-Westfalen, die als Mitglieder im Zentralrat der Juden organisiert sind. Die beiden anderen sind der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und die Synagogen-Gemeinde Köln.

Eine assimilierte Familie

Norbert Reichel: Ich schlage vor, wir beginnen mit der Rede, die Sie am 27. Januar 2023 im Düsseldorfer Landtag gehalten haben.

Zwi Rappoport: In meiner Rede ging es im Wesentlichen um die Frage, wie weit wir eine Gedenkkultur entwickelt haben, die dazu führt, dass es an diesem Tag tatsächlich ein Nachdenken gibt. Eingerichtet wurde der Tag 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, mit dem Hinweis, dass es ein wirkliches Gedenken werden solle und der Tag keine Alibi-Funktion haben dürfe. Zu Beginn meiner Rede habe ich die neueste Umfrage bemüht, nach der die Hälfte der Deutschen, konkret 49 Prozent, sich einen Schlussstrich wünschen und lediglich ein Drittel dies für falsch hält. Dieses beunruhigende Ergebnis zeigt, dass wir mit allen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen dagegenwirken müssen. Für die Opfer und ihre Nachkommen aber kann es keinen Schlussstrich geben, weil sie generationsübergreifend ständig mit dieser Thematik konfrontiert werden und sie ihnen ständig gegenwärtig ist.

Ernst Rappoport (3. von rechts) bei er Lauf-Staffel vom Sportclub „Preussen 06 e.V.“ Foto: Geschichte der Juden in Münster – Dokumentation einer Ausstellung in der VHS Münster, hg. Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. Münster.

In meiner Rede habe ich von meiner Familiengeschichte erzählt, von meinem Vater, der einer typischen deutsch-bürgerlichen, jüdischen Familie entstammt. Mein Großvater Hermann war Getreidehändler in Münster, zeitweise Stadtverordneter im Gemeinderat der Stadt Münster. Die Mutter meines Vaters, meine Oma Luise, war in der Jüdischen Gemeinde engagiert. Mein Großvater starb im Jahr 1932 und hat die Schrecken des Nationalsozialismus nicht mitbekommen. Mein Vater war 1929 zum Amtsgerichtsrat ernannt worden. Er war ein begeisterter Hobbyflieger, ein hervorragender Leichtathlet im Stabhochsprung und 1928 im Kader für die Olympischen Spiele in Amsterdam. Kurz und gut: eine assimilierte jüdische Familie.

1933 war das alles vorbei. Mein Vater wurde aus dem Richterdienst entlassen. Er wurde aus dem Sportverein und aus dem akademischen Segelfliegerclub herausgeworfen. 1935 ist er in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert und hat dort sein Hobby, die Fliegerei, zum Beruf machen müssen. Er wurde einer der führenden Ausbilder in der Segel- und Motorfliegerei und  gilt als einer der Gründerväter der israelischen Luftfahrt. Er hatte aber immer Sehnsucht nach seiner westfälischen Heimat, nach der deutschen Sprache und ein Bedürfnis nach später Gerechtigkeit.

Im Jahre 1954 ist er mit der Familie zurück nach Deutschland gegangen. Ich war acht Jahre alt und kann mich an einen sehr harten Konflikt zwischen meiner Mutter und meinem Vater erinnern. Meine Mutter saß weinend auf unserer Terrasse in Cholon und bekniete meinen Vater, nicht nach Deutschland zu gehen. Sie war bereits 1932 als überzeugte Zionistin in einen Kibbuz gegangen, um am Aufbau des zukünftigen jüdischen Staates mitzuwirken. Als gute Ehefrau ist sie mit nach Deutschland zurückgegangen, aber es war für sie eine persönliche Katastrophe. Für sie war Deutschland ein großer jüdischer Friedhof, auf dem die Täter weiterlebten. Das empfand sie so und das hat sie mir auch so vermittelt. Wir hatten nur wenige Freunde, einige Antifaschisten, gläubige Christen und ein Gewerkschafter –  ein Richterkollege meines Vaters –, von dem wir wussten, dass er kein Nazi gewesen ist.

Mit diesem Bewusstsein bin ich aufgewachsen. Da waren Männer wie Theodor Oberländer, damals Bundesvertriebenenminister, und Hans Globke, die rechte Hand von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Kommentator der Nürnberger Gesetze! Antisemitismus habe ich persönlich eigentlich nicht erlebt. Das war damals noch tabuisiert. Es gab Antijudaismus, das war nicht weit weg davon. Im katholischen Religionsunterricht, an dem ich in der Schule teilnahm, lernte ich, dass ich ins Fegefeuer käme, weil ich nicht getauft wäre. Das berührte mich aber nicht.

Norbert Reichel: Der berüchtigte Limbus, in dem sich bei Dante die antiken Dichter, die keine Christen sein konnten, freudlos aufhalten mussten, eben auch Vergil, der Dante durch Hölle und Fegefeuer führen durfte, aber keinen Eintritt ins Paradies erhielt. Papst Benedikt XVI. hat den Limbus dann abgeschafft.

Zwi Rappoport auf dem Fahrrad in Münster. Foto: privat

Zwi Rappoport (lächelt in sich hinein): Wir werden ja sehen. Ich habe noch ein paar Jährchen. (Beide lachen.) Pädagogen bestimmten mein Leben. Ich bin in Münster bis zur Obersekunda aufs Gymnasium gegangen. Da hatte ich einen Religions- und Deutschlehrer, der mich so geprägt hat, dass ich jedem erzähle, ob er es hören will oder nicht, wie es dazu kam, dass ich die Schule verlassen habe. Meine Eltern hatten zum Glück die finanziellen Mittel, mich auf die berühmte und später berüchtigte Odenwald-Schule zu schicken. Das kostete damals 500 D-Mark pro Monat, daran kann ich mich noch genau erinnern.

Es war das Jahr 1963. Der Deutschlehrer hieß Peter Riegelmeyer und ließ uns einen Aufsatz über die Vor- und Nachteile der Einführung der Bundesliga schreiben. Das Thema hat mir sehr gelegen, weil ich ein begeisterter Anhänger von Preußen Münster war, Gründungsmitglied der Bundesliga, einmal und nie wieder, leider dann abgestiegen und nie wieder aufgestiegen. Ich schaue heute noch jeden Monat auf die Tabelle und sehe, dass Preußen Münster in der Regionalliga mit relativ großem Vorsprung führt und wohl wieder wenigstens in die dritte Liga aufsteigen kann.

Ich selbst habe in den Jugendmannschaften von Preußen Münster gespielt und habe in diesen Deutschaufsatz mein ganzes Herzblut hineingelegt. Es war eine Art Besinnungsaufsatz, in dem ich all die Argumente genannt habe, wie besserer Sport einerseits, Kommerzialisierung andererseits, und so weiter. Ich fand das Thema toll und den Aufsatz gut. Und dann stand da drunter: „Ein sowohl äußerliches als auch inhaltliches Geschmiere. Mangelhaft.“ Der Satz hat sich mir eingebrannt. Und dann bin ich aufgestanden. Das war für die damalige Adenauerära ungewöhnlich, einem Lehrer zu widersprechen! Ich bin aufgestanden und habe gesagt: „Herr Riegelmeyer, dass es ein äußerliches Geschmiere ist, kann ich angesichts meiner Handschrift noch nachvollziehen, aber was meinen Sie eigentlich mit inhaltlichem Geschmiere?“ Ich wurde niedergeschrien: „Was deutelst du an meinen Worten rum?!“ Ich habe dann die Schule verlassen und die Schule hat mir noch fünf Fünfen hinterhergeschickt. Die haben mich so richtig fertiggemacht. Wie gesagt: das hat mich geprägt.

Und dann kam ich in ein Paradies. Ich kam am Tag vor meinem 18. Geburtstag an der Odenwald-Schule an, am 7. April 1964. Ich bin also relativ spät auf diese Schule gekommen. Erstmal gab es da Koedukation, das gab es im katholischen Münster nicht. Ich hatte ein klitzekleines Zimmer, das ich noch mit einem anderen Schüler teilte. Meine Mutter besuchte mich und fragte zweifelnd: „Bist du hier glücklich?“ Und als ich das bejahte, hat ihr das wohl einen Stich ins Herz gegeben, denn zu Hause hatte ich ein großzügiges Zimmer und sie verstand nicht, dass die ganze Umgebung, auch die ersten Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht, für mich sehr inspirierend waren. Es war eine sehr schöne Zeit.

Die Tragödie der Reformpädagogik

Norbert Reichel: Haben Sie Gerold Becker (1936-2010) kennengelernt?

Odenwald-Schule. Foto: privat

Zwi Rappoport: Nein, Gerold Becker kam erst 1972. Ich habe 1966 Abitur gemacht. Unser Direktor hieß Walter Schäfer (1910-1984). Ich habe nachher gehört, dass die bekannten Probleme damals schon angefangen hätten. Ich selbst habe nichts Derartiges erlebt. So Größen wie Daniel Cohn-Bendit (*1945) waren eine Stufe über mir; sagt Ihnen der Name Otto Herz (*1944) etwas?

Norbert Reichel: Natürlich. Ich war 1986 bis 1994 Referent im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Ich war angesichts des deutschen Föderalismus auf der Bundesebene der einzige Referent für den Schulbereich. Damals war Otto Herz schon sehr aktiv, gestaltete unter anderem Programme zur Öffnung von Schule in Nordrhein-Westfalen mit. Aber nicht nur er, auch Gerold Becker, sie alle waren damals für uns die Götter der Pädagogik, die wir auch auf Tagungen einluden. Von dem, was Gerold Becker an Unheil anrichtete, waren wir alle geschockt. Mitbekommen haben wir nichts, aber wie sollten wir auch aus der weiten Entfernung eines Ministeriums, und auf Fachtagungen blieben diese Verbrechen unsichtbar.

Otto Herz habe ich immer sehr geschätzt, es ist leider schon einige Zeit her, dass wir uns getroffen haben. Ein anderer unserer pädagogischen Götter war Hellmut Becker (1913-1993). Ich durfte einmal ein ganzes Jahr mit ihm zusammenarbeiten. Naja, zusammenarbeiten ist zu viel gesagt: ich durfte ihm zuhören, wie er die Welt sah, und ihm beim Telefonieren zuschauen. Aber es war ein gutes Projekt, dessen Organisation meine Aufgabe war. Hellmut Becker gab den Namen und sah in der Bildung für nachhaltige Entwicklung, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, die Zukunft einer zeitgemäßen Pädagogik. In diesem Punkt kann ich ihm nur zustimmen. Konkretes Thema des Projektes war die Aufnahme der Ergebnisse der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz der Erdatmosphäre“ in Schulen, Hochschulen, Berufsbildung und Weiterbildung. Das Ergebnis erschien 1992 im Economica-Verlag. Lektor war der spätere Chef des Umweltbundesamtes und heutige Staatssekretär Jochen Flasbarth.

Zwi Rappoport: Ich kannte Otto Herz, weil er einen Jahrgang über mir war. Hellmut Becker kannte ich auch, allerdings mehr über seine Tochter Sophinette Becker (1950-2019), die dann Sozial- und Sexualwissenschaftlerin geworden ist. Über sie habe ich auch die Familie Becker kennengelernt. Sophinette hat mir sogar einmal geholfen, einen Schein in meinem Jurastudium zu erwerben. Es ging um einen Vergleich des Widerstandsrechts in der hessischen Verfassung und im Grundgesetz. Das hessische Widerstandsrecht ist ein reines Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat, in unserem Grundgesetz gilt der Widerstand gegen jeden, der das Grundgesetz angreift. Das wurde von manchen Linken als eine Art Lynchparagraph verstanden, weil es auch ein Recht des Bürgers gegen andere Bürger ist. Nur am Rande: Roman Herzog hatte ich damals im Polizei- und Ordnungsrecht.

In der Odenwald-Schule. Zwi Rappoport am Schlagzeug. Foto: privat

Wieder zu Hellmut Becker: Erst nachher habe ich festgestellt, dass Hellmut Becker Gerold Becker protegierte (die beiden sind aber nicht verwandt). Die Kontinuität des Nazismus spiegelt sich auch in seiner Person wider. Er war nicht nur Bildungsforscher und Bildungspolitiker, er war auch Rechtsanwalt und hat in der Nachkriegszeit Kriegsverbrecher verteidigt, unter anderem im Wilhelmstraßenprozess den Staatssekretär Ernst von Weizsäcker (1882-1951). Da ist der Satz gefallen, den er über Otto Ohlendorf gesagt haben soll, der sei zwar ein Massenmörder, aber ein echter Intellektueller. Das drückt die gesamte Zwielichtigkeit und Kontinuität aus. Schon 1937 war Hellmut Becker in die NSDAP eingetreten. Inzwischen ist klar, dass es ein Märchen war, dass Ernst von Weizsäcker keine Verbrechen begangen hätte. Er hat Deportationsbefehle abgezeichnet.

Norbert Reichel: Hellmut Becker hat in der Verteidigung von Ernst von Weizsäcker argumentiert, dass eine Paraphe nicht bedeute, dass jemand das, was er da abgezeichnet hätte, gebilligt oder gar veranlasst hätte. Ich habe lange genug in Verwaltungen gearbeitet und muss schon sagen, eine solche Argumentation ist mehr als ein starkes Stück.

Zwi Rappoport: Hellmut Becker kam auch aus dem George-Kreis. Die Knabenliebe war aus dem antiken Griechenland übernommen worden. So weit war das alles nicht entfernt von dem, was in der Odenwald-Schule geschah. Es ist im Grunde die Tragödie der Reformpädagogik, dass diese Leute ihre zweifellos verdienstvolle Arbeit durch ihr persönliches Fehlverhalten beschmutzt haben.

Aus Israel nach Deutschland

Norbert Reichel: Welche Sprache haben Sie in Israel gelernt?

Zwi Rappoport: Ich habe dort Hebräisch gelernt. Meine Eltern haben sich zwar teilweise auf Deutsch unterhalten, aber davon habe ich nur wenig verstanden. Als ich nach Deutschland kam, bekam ich einen pensionierten Lehrer, der mir die Grundlagen vermittelte. Ich bin auch zurückgestuft worden, denn ich kam aus Israel, kam in die dritte Klasse, kann mich auch noch an ein Heft mit vielen roten Strichen und voller Rechtschreibfehler erinnern. Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich sitzengeblieben bin oder einfach zurückgesetzt wurde. Auf der anderen Seite habe ich mich eigentlich sehr schnell eingelebt. 1954 wurde Deutschland Fußballweltmeister. Meine Eltern erzählten mir später, ich wäre wohl aus einem Bierzelt, wo es einen ganz kleinen Fernseher gab, herausgelaufen und hätte freudig gerufen: „Nizachnu“. Das heißt: „Wir haben gewonnen“. „Wir“! „Wir haben gewonnen“ – das zeigt, wie schnell sich Kinder anpassen können.

Ernst Rappoport im Flieger. Foto: Geschichte der Juden in Münster – Dokumentation einer Ausstellung in der VHS Münster, hg. Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. Münster.

Aber da war die Diskrepanz zwischen meinen Eltern. Mein Vater sprach schlecht Hebräisch, obwohl er in Israel Direktor des kleinen Flughafens Sde-Dov bei Tel Aviv war. Obwohl er keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatte, sehnte er sich nach Deutschland zurück. Meine Mutter erzählte mir leicht amüsiert, dass er, wenn er sagte, „ich bin hier der Leiter des Flughafens“, auf Hebräisch immer fälschlicherweise sagte: „die Leiter“. Meine Mutter hingegen sprach perfekt Hebräisch, ihr Bruder, Benno Zell, war ebenso ein überzeugter Zionist und hat sein Leben im Kibbuz verbracht. Überhaupt blieben die Deutschen in Israel unter sich. Sie spielten zusammen Karten, es wurde nur Deutsch gesprochen, man war Deutscher, Schweizer, sie haben sich also isoliert. Mein Vater hat dann 1952 im Rahmen des sogenannten „Wiedergutmachungsverfahrens“ mal in Deutschland vorgefühlt und wurde auch wieder als Richter eingestellt. Er hatte aber ein fast übertriebenes Rechtsgefühl: So bekam er als Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg eine Pension nach Israel geschickt. Später fand ich Briefe zu Hause, in denen er an das Oberlandesgericht Hamm geschrieben hatte, wieviel Stunden er im Café Mugrabi in Tel Aviv gekellnert hatte, damit sie ihm seinen dortigen Verdienst korrekterweise von der Pension abziehen können. Das war mein Vater. Man will sagen: ein richtiger Deutscher, ein richtiger Jecke.

Es gab das Bonmot in Israel: Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland? Die Deutschen hatten die Illusion einer deutsch-jüdischen Symbiose, die ja dann so tragisch geendet ist.

Norbert Reichel: Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal nach dem Lehrer fragen, der im Grunde bewirkte, dass Sie das Gymnasium in Münster verließen. Hatte das auch etwas mit Antisemitismus zu tun?

Zwi Rappoport: Wissen Sie, ich dachte zunächst, der mag mich nicht. Er hatte eine wunderschöne Handschrift und ich hatte immer eine ganz schreckliche Handschrift. Wir hatten natürlich immer Lehrer aus der Nazizeit. Unser Sportlehrer, eigentlich ein ganz netter Kerl, ein Berliner, der schlug, wenn ihm was nicht passte. Er zog seine Uhr aus und wir wussten, jetzt schlägt er zu. Mir imponierte, dass ein Schüler – er hieß Bademeier – zurückschlug. Auch der Direktor Schmüling schlug einen Schüler, der das Klassenbuch, in dem er zu oft notiert war, im Aasee hatte verschwinden lassen. Durch einen Kriminalfall angeregt – man hatte im Aasee eine Leiche gefunden und es gab Prozesse, in dem die Ehefrau des Toten mal als Mörderin schuldig gesprochen wurde, mal wieder nicht – hatte er das Klassenbuch ebenda versenkt.

Wir wurden von Lehrern geschlagen, an den Ohren gezogen. Wir hatten einen Lehrer, der im Widerstand war, aber auch ein Choleriker. Eine Szene: auf die Frage des Lehrers, ob jemand einen Politiker nennen könnte, der Fehler gemacht habe, aber dennoch für die deutsche Politik von Bedeutung war – er hoffte wohl, etwas über Friedrich den Großen zu hören – antwortete ein Schüler: „Adolf Hitler“. Da war alles aus.

Ich habe Schule als sehr negativ empfunden. Das war auf der Odenwald-Schule alles anders. Ich muss ehrlicherweise aber sagen, dass ich auf der Odenwald-Schule fachlich sehr gut zurechtkam. Die Kenntnisse, die ich in der Staatsschule bekommen hatte, reichten locker aus, um dort zurecht zu kommen. Das Lernniveau war nicht so hoch, aber man lernte diskutieren. Wir hatten einen Lehrer, Ernest Jouhy, der jüdischer Widerstandskämpfer war und auch Dani Cohn-Bendit sehr inspiriert hatte. Er kam aus Frankreich. In der Odenwaldschule gab es eine Liberalität, die mich sehr geprägt hat. Allerdings bin ich auch im Elternhaus liberal erzogen worden. Diese liberale Erziehung hat mir später in Berlin geholfen, die Situation zur Zeit der 68er richtig einzuschätzen.

Norbert Reichel: Gab es in Münster damals eine Jüdische Gemeinde von nennenswerter Größe?

Von links nach rechts: Mutter von Zwi Rappoport, Zwi Rappoport, die Schwester des im Text genannten Gewerkschafters und der katholische Rechtsanwalt Georg Jöstingmeier. Foto: privat.

Zwi Rappoport: Eine nennenswerte Größe ist relativ. Es waren etwa 70 oder 80 Leute. Wie überall waren einige wenige Emigranten dabei, die zurückgekehrt waren, dazu Displaced Persons, polnische Juden, die keine Kraft mehr hatten, nach Polen zurückzukehren. Ich habe dort meine Bar Mitzwa gefeiert. Es gab einen liberalen Rabbiner, er hieß Chanoch Meyer, auch deutschstämmig. Mein Vater hatte mit der Synagoge nichts zu tun, er ging hin, las dann aber im Hintergrund Bücher über den Buddhismus oder Literatur der griechischen und römischen Antike, das interessierte ihn, nicht aber das Judentum. Er war da, weil er mit Rabbiner Meyer eng befreundet war. Dessen Sohn schrieb mich jetzt an, ob er mal nach Dortmund kommen könne.

Norbert Reichel: Wie war das für Ihre Mutter?

Zwi Rappoport: Meine Mutter hat ihre Abneigung, in Deutschland zu leben, kompensiert, indem sie Mit-Gründerin der  Christlich-Jüdischen Gesellschaft war, sich im Sozialausschuss der Stadt engagierte, Schöffin war und sehr viele Spenden für Israel gesammelt hat. Nach meiner Rede im Landtag kam der Geschäftsführer der KKL Deutschland auf mich zu und sagte, er habe noch nie eine so bewegende Rede gehört, wohl auch wegen der Erinnerung an meine Mutter, die nicht nur viel Geld für Israel gesammelt hatte, sondern auch viele Vorträge über Israel hielt. Im Gegensatz zu meinem Vater war sie ein sehr kommunikativer Mensch. Sie wäre zugrunde gegangen, wenn sie nicht in irgendeiner Form versucht hätte, ihr Leben weiter zu gestalten.

Mein Vater war eher introvertiert, er pflegte seine Juristerei, nahm seine Arbeit mit ins Wochenende, war sehr genau, sehr gründlich, las griechische Philosophen und Bücher über den Buddhismus. Kurz vor seinem Tod kamen seine ehemaligen israelischen Fliegerkollegen und haben ihm noch einen Preis überreicht. Auf der Seite des Israelischen Luftfahrtmuseums finden Sie Bilder von ihm. Mit mir hat er nie darüber gesprochen, aber ich habe dann erfahren, dass er 1935 nicht nur emigriert war, sondern auch zwei Segelflugzeuge aus Deutschland mitgebracht hatte. Bei der Makkabiade gab es damals noch einen Segelflugwettbewerb. Dafür hatte er dann die Maschinen mitgebracht. Bis 1947 wurden alle bedeutenden israelischen Flieger durch ihn betreut und ausgebildet. Er hat auch im Unabhängigkeitskrieg gekämpft.

Norbert Reichel: Ein logistisch versierter Mann. So einen Transport muss man ja erst einmal hinbekommen.

Zwi Rappoport: Das ist richtig. Aber er bekam keine Bindung zum Land. Damals war in Israel die Sozialdemokratie am Ruder. Alles war für ihn aber verfilzt, er hat sich auch in Israel wieder angelegt. Gerechtigkeit über alles.

Studium in Berlin – Die 68er-Zeit

Norbert Reichel: Sie haben Jura studiert.

Zwi Rappoport: Ich habe zuerst Volkswirtschaft studiert, ein Semester. Eigentlich wusste ich nicht so richtig, was ich studieren sollte. Dann habe ich eben Jura studiert. In diesem Fach erfährt man eigentlich erst nach dem vierten oder fünften Semester, um was es eigentlich geht. Das Problem war, ich hatte in Münster angefangen, mit Nazi-Professoren, aber Koryphäen ihres Faches. Man hatte ausgezeichnete Juristen, aber das waren im Grunde Fachidioten. Deshalb ging das auch so übergangslos in Westdeutschland weiter. In Ostdeutschland auch, nur unter einer anderen Flagge.

Dann kam meine Ex-Freundin von der Odenwald-Schule und überzeugte meine Eltern und mich, ich solle doch nach Berlin kommen. Wir waren schon auseinander, aber ich bin ihr gefolgt. Am ersten Tag, als ich ankam, war die Freundschaft zu Ende. Sie hatte auch schon jemand anderen. So bin ich in Berlin gelandet. Nach einigen Monaten der Desorientierung bin ich dortgeblieben und habe mich immer wohler gefühlt. Ich habe auch Kontakt zur Jüdischen Gemeinde aufgenommen, ohne dass das Religiöse für mich eine Rolle gespielt hat.

Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich jüdisch heirate, haben mich 1969 sogar nach Kanada geschickt zu meinem Onkel, Bruder meines Vaters, damit ich dort ein jüdisches Mädchen kennenlernte. Ich wurde von einem Mädchen zu einem anderen weitergereicht, in Blind Dates. Dann habe ich aber in Toronto ein Mädchen in einem Party-Keller kennengelernt, das leider nicht jüdisch war. Mir ihr wollte ich nach Woodstock, wir sind aber in New York hängengeblieben. Als wir abends angekommen sind, waren alle Straßen nach Woodstock blockiert. Da bin ich in New York geblieben und habe mir „Hair“ im Original angehört. Vielleicht hätten wir uns doch nach Woodstock durchkämpfen sollen.

Norbert Reichel: Wäre ziemlich matschig geworden und lange Fußmärsche an den parkenden Autos vorbei. 30 bis 40 Kilometer.

Zwi Rappoport: So war das in Berlin auch: ich habe zwar die gesamte Studentenrevolte mitbekommen, war irgendwie mittendrin, aber doch eher Zeuge. Aufgrund meiner liberalen Erziehung habe ich sofort die Widersprüche gesehen. Mit meiner Freundin war ich bei Anti-Vietnam-Demonstrationen, dabei trug meine Freundin hochhackige Schuhe. Oder Rudi Dutschke im Audi-Max: da will der Konkurrent vom RCDS, Bernd Runge, etwas sagen und wird niedergeschrien.

Norbert Reichel: Jürgen-Bernd Runge? Den kenne ich, aber aus der Bonner FDP, die sich damals mit Pünktchen schrieb, F.D.P., so etwa Mitte der 1970er Jahre, in Bonn. Auch William Born war da.

Zwi Rappoport: Der war überall. Runge war Mitarbeiter bei William Born. Die waren beide StaSi-Mitarbeiter, aber ohne voneinander zu wissen. Runge hat das dann durch Zufall erfahren. Die haben das aber wohl nie artikuliert. Er war in Berlin im RCDS, der war damals nicht so rechts wie heute, die haben auch mit dem SDS kooperiert. Aber er wollte im Audi-Max etwas sagen und wurde niedergeschrien. Das war die Diskussionskultur! Dieses Ereignis und die hochhackigen Schuhe bei der Ho-Chi-Minh-Ruferei.

Norbert Reichel: Irgendwie doch auch ein Déjà-Vu, wenn ich mir heutzutage manche Debatten der sogenannten „Identitätspolitik“ anschaue.

Ich erlebte Jürgen-Bernd Runge in einer internen Wahl der Bonner FDP. Er argumentierte für die Jungdemokraten, die damals in Bonn ziemlich stark auftraten. Er wollte für irgendetwas gewählt werden und stellte sich mit vielen Akten unter dem Arm als Europabeauftragter des Ortsverbandes Bonn-Poppelsdorf vor. Das war schon etwas schräg. Aber zu seiner StaSi-Zeit – so habe ich später in einer TV-Dokumentation mitbekommen – steht er heute. Er weiß, was er getan hat, und ich halte seine Art der Aufarbeitung für ehrlich. Diese Haltung imponiert mir.

Zwi Rappoport: Er hat das wohl echt bereut. Das habe ich auch aus dem geschlossen, was ich gelesen habe. Er war zunächst von Dutschkes Argumentation überzeugt und ist erst einmal links geworden.

Archiv: Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Wikimedia / Commons

Norbert Reichel: Sie haben den 2. Juni 1967 erlebt.

Zwi Rappoport: Ich hatte nicht an dem Protest mit den Jubel-Persern teilgenommen, aber ich habe ihn mitbekommen. Für mich gab es allerdings noch ein anderes Problem: wenige Tage später fand der Sechs-Tage-Krieg statt. Ich verteilte für den Bundesverband Jüdischer Studierender in Deutschland Flugblätter für Israel. Das hat keinen Menschen interessiert, vielleicht verständlicherweise, wenn man es so rückblickend sieht.

Ich habe die Kommune 1 erlebt, wie sie und andere versuchten, Politiker lächerlich zu machen, zum Beispiel mit dem Puddingattentat gegen den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey oder durch Störungen bei Reden der Regierenden Bürgermeister Berlins, Albertz und dann Schütz. Es gab aber auch den Kommunarden Kunzelmann, der ein ausgesprochener Antisemit war, von einem „Judenknacks“ sprach und auch der wesentliche Akteur des Attentats vom 9. November 1969 auf das Jüdische Gemeindehaus war, das zum Glück scheiterte, weil der Sprengsatz nicht funktionierte.

Norbert Reichel: Dieter Kunzelmann starb 2018. Jürgen Trittin hat ihn in einem Nachruf als „großen Sponti“ gewürdigt. Dazu fällt mir nicht mehr viel ein.   

Zwi Rappoport: Das ist die gesamte Problematik, die die Linke teilweise hat und die ich damals auch erlebt habe. Ich habe damals Flugblätter gesammelt, leider hat sie irgendwann meine Mutter weggeworfen. Bei diesen Flugblättern war fast jeden Tag eines dabei, das sich gegen Israel als „Speerspitze des Imperialismus“ richtete. Der Begriff „Kolonialismus“ war damals noch nicht gängig wie heute in den identitätspolitischen Debatten.

Norbert Reichel: Eine anti-israelische Linie, die sich etwa seit Beginn der 1950er Jahre durch den Positionswechsel der Sowjetunion durchgesetzt hatte und mit dem Sechs-Tage-Krieg radikalisierte.

Zwi Rappoport: Die Sowjetunion gehörte damals zu den ersten, die Israel anerkannten und in der UNO für den Teilungsbeschluss stimmten. Noch vor den Amerikanern. In Israel gab es ja durchaus sozialistische Tendenzen. Mit der Zeit setzte sich der Kapitalismus durch, gerade auch mit der amerikanischen Connection. Man muss sagen, zum Glück.

Die Kibbuz-Bewegung und die damalige Mapei sind inzwischen bedeutungslos.

Norbert Reichel: Die Nachfolgepartei Awoda schaffte zuletzt gerade mal knapp die 3,5-Prozenthürde. Meretz ist daran gescheitert.

Zwi Rappoport: Die Linke in Israel hat bei den letzten Wahlen auch den Fehler gemacht, sich nicht zu vereinen.

Norbert Reichel: Was Linke so falsch machen, immer wieder.

Zwi Rappoport: Was Linke so falsch machen. Ich habe damals in Berlin auch die theoretische Diskussion um die Zulässigkeit von „Gewalt gegen Sachen“ oder auch „gegen Personen“ verfolgt. Persönlich habe ich die Schlacht am Tegeler Weg am 4. November 1968 mitbekommen. Im Internet ist heute eine Szene sichtbar, die ich miterlebt habe: da taucht auf einmal ein Lastwagen mit Pflastersteinen auf. Ob der zufällig da war oder nicht, weiß ich nicht. Ich war auch nur da, weil ich damals eine linksradikale Freundin hatte. Das war die Situation, in der ich meine einzigen Knüppelschläge bekommen habe, von einem berittenen Polizisten, weil ich geflüchtet bin. Meine Freundin ist dageblieben, ich habe mir die größten Sorgen gemacht, bin ins Krankenhaus, sah dann aber, da kamen nur verletzte Polizisten hinein. Nachher habe ich gelesen, dass etwa 100 Polizisten und 20 Demonstranten verletzt wurden. Das war das Ende des friedvollen Protestes, das war schon Gewalt gegen Personen.   

Norbert Reichel: Hatten Sie damals noch Kontakt zu Daniel Cohn-Bendit?

Zwi Rappoport: Dani Cohn-Bendit habe ich noch einmal erlebt. Das war sein triumphaler Empfang im Audi-Max nach seiner Ausweisung aus Paris. Da bin ich natürlich hin.

Meine Freunde und ich sind auch zu den Sternmärschen gegen die Notstandsgesetze nach Bonn gefahren.

Deutschlandbilder

Norbert Reichel: Ich habe die Sternmärsche als 12-, 13jähriger Schüler erlebt, weil ich damals immer mit dem Zug von Bonn nach Köln in die Schule und zurückfuhr. Die Züge waren ziemlich voll, wenn Sternmarsch war. Aber viel Inhaltliches habe ich nicht mitbekommen.

Zwi Rappoport: Das ist verständlich, dass man in dem Alter noch nicht so das politische Bewusstsein hatte.

Norbert Reichel: Im Zug erlebte man schon einige merkwürdige Dinge. Einmal saß ich in einem vollen Abteil eines D-Zugs ein Mann im Trachtenjanker, mit kurzem Haarschnitt – er sah aus wie aus einem Nazi-Heimatfilm entsprungen. Er erklärte einem anderen Mann in etwas abgetragenem Anzug, übergewichtig, mit Zigarette in der Hand, wie toll es damals war, als er Hindenburg in der Kutsche gesehen habe und wie schön die Zeit beim Arbeitsdienst, wie sie den Studenten, die nicht so geschickt waren, beim Schaufeln geholfen hatten. Den konnte keiner stoppen. Sein Zwangs-Zuhörer schaute ziemlich angewidert. Eine solche Szene kann ich mir heute nicht mehr vorstellen, abgesehen davon, dass diese Leute wohl nicht mehr leben.

Zwi Rappoport: Wenn man in die Details einsteigt! Die Deutschen haben den 8. Mai 1945 ja auch nicht als Befreiung empfunden, sondern als Zusammenbruch. Das war das meistbenutzte Wort.

Norbert Reichel: In meiner Jugend erlebte ich noch die große Angst der Erwachsenen vor einem Friedensvertrag. Da spielte sicherlich auch die Erinnerung an Versailles eine Rolle, aber man sah sich nach dem Krieg in einer Defensive, aus der man nicht herauskommen konnte, es sei denn, man ignorierte was gewesen war. Vielleicht ist das eine der Motivationen für die Schlussstrich-Debatten, die in Deutschland immer wieder aufkommen. Andererseits gab es in dem katholischen Milieu in Bonn auch eine andere Linie: meine Mutter, überzeugte Katholikin, und ihre Familie, hatten eine antifaschistische Grundstimmung, sie erzählte, dass sie glaubte, dass die Nazis, wenn sie den Krieg gewonnen hätten, nach den Juden die Katholiken verfolgt, deportiert und ermordet hätten.

Zwi Rappoport: Die Sternmärsche nach Bonn waren für meine politische Sozialisation sehr wichtig. Die DDR hat das gleich propagandistisch ausgenutzt. Sie hat den Leuten, die von Berlin nach Bonn zum Sternmarsch fuhren, die Transitgebühr erlassen. Wir –  einige ehemalige Odenwald-Schüler – haben aber darauf bestanden, diese Gebühr zu bezahlen. Von der DDR wollten wir uns nichts schenken lassen.

Grenzkontrolle am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Bundesarchiv Bild 183-1990-0403-311. Wikimedia / Commons

Nur einmal habe ich die Gebühr bewusst nicht bezahlt. Ich wollte mit jüdischen Jugendlichen von Berlin in ein Ferienlager nach Holland fahren. An der Grenzkontrolle der DDR standen wir und hatten fünf verschiedene Pässe, Israeli, Deutscher, Staatenloser, Amerikaner und einer, von dem ich es nicht mehr weiß. Bei einem fehlte auf dem Bild ein Stempel. Damit wollten die uns nicht durchlassen. Ich bin dann als der Einzige, der einen deutschen Pass hatte, nach Ostberlin in das Konsulat gefahren. Bei der Einreise in die DDR sollte ich dann noch einmal 20 D-Mark „Eintritt“ bezahlen, den bekannten „Zwangsumtausch“. Ich habe erfolgreich protestiert, denn es war ja nicht mein Fehler, dass in einer DDR-Behörde ein Stempel vergessen wurde. Nun hatte ich aber das Problem, wie ich ohne DDR-Geld zur Botschaft kam. Ich sprach einen DDR’ler an, der mir ein Ticket schenkte, damit ich mit der Straßenbahn dort hinkam. Ich bekam den Stempel und wir fuhren fünf oder sechs Stunden später ins Ferienlager.

Ich habe immer mal daran gedacht zu schauen, ob ich eine StaSi-Akte hätte. Habe ich bestimmt, aber bisher habe ich nicht nachgefragt. Ich kann mich daran erinnern, dass ich einmal an einer Grenzkontrolle stundenlang festgehalten wurde, weil die Motorhaube von meinem Citroën, ein Ami 6, nicht aufging. Sie sahen meine juristischen Unterlagen und haben mir einen Vortrag über den Staatsmonopolistischen Kapitalismus gehalten.

Norbert Reichel: Ich habe auch noch nicht geschaut, obwohl ich aufgrund meiner DDR-Kontakte in der Bonner Ministerialzeit und meinem studentenpolitischen Engagement in einer nicht-marxistischen Gruppe mit Sicherheit eine Akte habe. Ein Freund von mir hat mal nachgeschaut und war verwundert, wer da aus seinem Freundeskreis in der DDR über ihn berichtet hatte. Oft allerdings völlige Lappalien.

Zwi Rappoport: Vielleicht gilt ja auch: was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. Aber manche Bürgerrechtler*innen haben sehr darunter gelitten, das ging bis in den engsten Familien- und Freundeskreis hinein.

Norbert Reichel: Berüchtigt sind die Beispiele von Sascha Anderson oder Ibrahim Böhme. Oder Vera Lengsfeld, vormals Vera Wollenberger, die von ihrem Mann ausspioniert wurde. Das ist schon tragisch, unabhängig davon wie man zu ihrem heutigen politischen Auftreten stehen mag.

Zwi Rappoport: Partei- und Meinungswechsel sind immer so eine Sache. Besonders heftig sind ja die Wechsel von Horst Mahler oder Bernd Rabehl. Völkisch bis dort hinaus. Ich weiß nicht, ob das schon untersucht wurde: wir haben als Opfer des Nationalsozialismus die deutsche Teilung eher als eine gerechte Strafe betrachtet. Wir haben nie zu denen gehört, die die Wiedervereinigung euphorisch begrüßten. Das war eine Tendenz, die es auch bei Dutschke gab, der auch seine nationalen Vorstellungen hatte. Willy Brandt sowieso.

Norbert Reichel: Ihre Skepsis verstehe ich gut. Ich war damals auch skeptisch und hatte Sorge, dass die Deutschen mal wieder durchdrehen.

Zwi Rappoport: Das waren auch die Sorgen im Ausland, bei den Franzosen, den Briten. Gut, dass sich diese Sorgen nicht bewahrheitet haben. Dennoch haben wir das Problem mit dem Rechtsextremismus in Ostdeutschland.

Jüdisch sein

Norbert Reichel: Sie erwähnten Ihre Fahrten mit jungen Menschen in jüdische Ferienlager. Wie war Ihr Verhältnis zur Jüdischen Gemeinde in Berlin.

Zwi Rappoport: Ich habe in Berlin nette Berliner*innen kennengelernt, auch diese Berliner Schnauze. Die Jüdische Gemeinde war eine große Gemeinde. Ich habe mein Jüdisch-Sein nie verheimlicht. Ich bin aber auch über die Odenwald-Schule in einem liberalen Milieu aufgewachsen, sodass mir das Religiöse nicht so wichtig war. Ich habe das Judentum als Schicksalsgemeinschaft angesehen, war aber eher säkular eingestellt. Ich habe eine nicht-jüdische Frau geheiratet, die erst gemeinsam mit den Kindern übergetreten ist, als wir dachten, dass wir sie jetzt in eine Richtung erziehen müssten.

Das Jüdische als das Religiöse in mir, das kam erst später. Ich habe immer noch Probleme mit der Ultra-Orthodoxie.

Mein Engagement für die jüdische Gemeinschaft hat erst im reiferen Alter begonnen, vielleicht auch aus der Tatsache heraus, dass ich Volljurist war. Da wurden meine Kenntnisse in der Jüdischen Gemeinde immer wieder benötigt. Wie gesagt – ich war immer mit jüdischen Organisationen und Aktivitäten verbunden, die Ferienlager, der Studentenbund, aber das rein Religiöse hat mich nicht so sehr interessiert.

Norbert Reichel: Aber es war anders als bei Ihrem Vater, der in der letzten Bank der Synagoge seine buddhistischen und griechischen Schriften gelesen hat?

Foto aus der neu gegründeten Synagoge in Münster. Zwi Rappoport ist ganz rechts in der Bankreihe zu sehen. Foto: Erinnerung und Neubeginn – Die jüdische Gemeine Münster nach 1945 – Ein Selbstporträt, Hg: Sharon Fehr.

Zwi Rappoport: Das liegt wohl an meiner Mutter, die aus einem tiefreligiösen Elternhaus in Wien kam. Sie hatte vier Geschwister, die alle wie sie nach Israel ausgewandert sind. Sie haben alle dort gelebt, der letzte, ihr Bruder Benno, ist 2021 im Alter von 100 Jahren gestorben. Einer ist im Unabhängigkeitskrieg drei Tage vor dem Waffenstillstand getötet worden. Meine Mutter war Mitglied der Sozialistischen Partei Österreichs, der SPÖ. In der Partei gab es eine zionistische Organisation, mit der sie nach Israel ausgewandert ist. Sie war im Gegensatz zu ihrem streng religiösen Elternhaus sozialistisch eingestellt, hatte aber eben eine religiöse Erziehung. Dies hat sie mir weitervermittelt. Sie hat in der Familie das Jüdische aufrechterhalten.

Norbert Reichel: Sie haben in der Familie Schabbat gehalten, die Feiertage?

Zwi Rappoport: Jein. Ich habe ein Bild aus Israel. Sie kennen ja Sukkot, das Laubhüttenfest. Mein engster Freund, Chaimi, kam aus einem sehr religiösen Elternhaus. Und sie hatten eine wunderschöne Laubhütte. Mit Vögeln aus ausgeblasenen Eiern, wunderbar bemalt. Ich war so neidisch und habe meine Eltern gebeten, so etwas möchte ich auch haben. Wir hatten in Israel keine Sukka. Was haben Sie gemacht? Sie haben über unsere Wäscheleine ein paar Betttücher gehängt (breitet die Arme aus, als würde er die Tücher selbst aufhängen) und provisorisch etwas geschaffen. Das Religiöse war für meine Eltern auch in Israel nicht so wichtig. Ich war aber immer stolz auf meinen Vater, der mit seiner Piper über unser Haus in Cholon flog und uns von oben mit seinen Flugzeugflügeln zugewunken hat. Ich selbst bin einige Male mit meinem Vater geflogen, konnte das Fliegen aber nicht vertragen.

Und Israel?

Norbert Reichel: Welche Rolle spielt Israel heute für Sie?

Zwi Rappoport: Israel sehe ich als meine zweite Heimat an und, wie die meisten Juden, als eine „Lebensversicherung“.

Aber mit der politischen Entwicklung zurzeit in Israel kann ich mich so gar nicht abfinden.

Ihnen kann ich das ja sagen: das ist für uns ganz schwierig. Ich spreche jeden Schabbat darüber, wie diese Woche aus jüdischer Sicht gelaufen ist. Das ist schon schwierig, dass da jetzt Parteien in der Regierung sind, die auch Netanjahu vorher abgelehnt hat, und dass diese extremen Splitterparteien, die weniger als ein Prozent bekommen haben, durch einen Koalitionstrick überhaupt erst in die Knesset gekommen sind und jetzt – aus meiner Sicht – das ohnehin oft zu Unrecht bestehende sehr negative Bild Israels bestimmen und den Antisemiten in die Hände spielen.

Norbert Reichel: Ich bin immer wieder entsetzt, wenn jemand Deeskalation auf beiden Seiten fordert. Aber was heißt das, wenn jemand einen an manchen Tagen und das regelmäßig mit über 70 – 80 Raketen beschießt?

Zwi Rappoport: Die „Gewaltspirale“, von der immer die Rede ist.

Norbert Reichel: Wenn mehr Siedlungsbau eine Antwort auf palästinensische Gewalt ist, kann man schon zweifeln.

Zwi Rappoport: Als Liberaler habe ich sehr begrüßt, dass sich Josef Schuster für die Verhältnisse des Zentralrats sehr kritisch geäußert hat. Ich kenne Josef Schuster sehr gut weiß, dass ihm das sehr schwergefallen ist. Aber ich bewundere das. Als liberale Demokraten müssen wir auch etwas Kritisches sagen, auch wenn zu befürchten ist, dass man Beifall von der falschen Seite bekommt.

Norbert Reichel: Wir sehen auch diese großen Demonstrationen in Israel gegen die geplanten Verfassungsänderungen.

Jerusalem, Westmauer nach 1967. Fotograf: unbekannt. Wikimedia / Commons

Zwi Rappoport: Eben! Das müsste man aber viel positiver in der Berichterstattung hervorheben. Man müsste auch darstellen, dass es in zwei Jahren fünf Wahlen gab. Wenn man sich die Gegenseite anschaut: es gab seit 15 oder 20 Jahren im Westjordanland keine Wahlen. Von der Hamas will ich gar nicht sprechen. Aber was sagen einem die Rechten in Israel? Sharon hat 2005 die Siedlungen im Gaza-Streifen geräumt. Statt zur Gründung eines palästinensischen Staates wurde Gaza ein Aufmarschgebiet der Hamas für Raketen. Das Geld fließt nicht in Aufbauprojekte für die Bevölkerung, sondern in Tunnel, in neue Raketen. Mit anderen Worten: die Extreme auf beiden Seiten – ohne dass ich sie gleichstellen will – kennen ihr Handwerk.

Norbert Reichel: Das begreifen viele in Deutschland nicht.

Zwi Rappoport: Mir ist klar, dass diese Situation zur Schuldabwehr sehr geeignet ist.

Norbert Reichel: Es spielt auch eine Rolle in der Kontroverse um den Band „Frenemies“, den die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank im Verbrecher Verlag herausgegeben hat. Der Kern: einige Autor*innen zogen ihre Zusage zurück, als sie erfuhren, wer sonst noch zugesagt hatte. Es ist natürlich schwierig. Ich denke, es ist klar, wie antisemitisch BDS ist, sollte es zumindest, aber das heißt nicht, dass es unter den Unterstützer*innen von BDS nicht auch Leute gibt, die keine Antisemit*innen sind, sich aber von falschen Thesen einfangen lassen. Vielleicht bin ich da aber auch zu optimistisch.

Zwi Rappoport: Da beginnt das Problem. BDS hat dazu geführt, dass linke oder gar linksradikale Israelis ausgeladen werden. Hier geht es gar nicht darum, eine linke israelische Position zu hören, sondern nur darum, Israel zu isolieren. Die antisemitischen Positionen von BDS sind eindeutig. Ich kenne keinen Linken, keinen echten Linken meine ich, der BDS befürwortet. Meron Mendel hat mir so leidgetan, wie er da zwischen allen Stühlen sitzt. Auch in der Aufarbeitung der documenta hat er sich um alles bemüht, aber es war wirkungslos.

Norbert Reichel: Es wird zu viel relativiert, zu viel verharmlost. Zu den Verharmloser*innen zähle ich auch Claudia Roth, die immer wieder laviert, beispielsweise in einem Interview, das am 9. Februar 2023 in der Jüdischen Allgemeinen veröffentlicht wurde.

Zwi Rappoport: Ich mochte ihre Band, „Ton Steine Scherben“ mit Rio Reiser! Aber Claudia Roth pflegte gedankenlos freundschaftliche Kontakte zum Mullah-Regime des Irans, das den Holocaust leugnet und Israel vernichten will. Ich glaube, dass sie eher im Lager der Israelskeptiker*innen zu finden ist. Über das Rechtsgutachten zur documenta wird sie recht glücklich sein, denn es besagt meines Erachtens, dass man letztlich gegen Antisemitismus nichts machen kann, dass die Kunstfreiheit weit auszulegen ist. Mag ja juristisch alles richtig sein, es ist aber eine politische Entscheidung.

Nach dem Festjahr

Norbert Reichel: Das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ist zu Ende gegangen. Wie sieht Ihr Fazit aus?

Zwi Rappoport: Tja. Ich (zögert mit der Antwort) finde das ja eigentlich als Idee gut. Auch wenn es durch die Pandemie unterbrochen oder verzögert wurde. Die Grenzen der Aufklärung kennen wir alle. Es bleibt uns aber nichts anderes übrig als durch Wissensvermittlung und durch Erzeugung von Empathie an der ein oder anderen Stelle den grassierenden Antisemitismus einzudämmen. Solange die demokratische Mehrheitsgesellschaft weiterhin unsere Demokratie verteidigt, bin ich auch relativ optimistisch. Die einzelnen Veranstaltungen waren teilweise gut, teilweise leider auch schlecht besucht. Es waren aber auch sehr viele. Es müsste eine Fortsetzung geben. Ich sehe keine Alternative. In verschiedenen anderen Bereichen muss das Bewusstsein der Stellung des Judentums im Verhältnis zum Christentum viel intensiver diskutiert werden. Das Festjahr war ein Versuch. Wie weit das jetzt erfolgreich war, das müssen andere beurteilen. Es war der Versuch durch Wissensvermittlung darzustellen, wie sehr das Judentum gewirkt hat und dass ein erneutes Deutschland ohne Juden nicht mehr das demokratische Deutschland wäre, das es jetzt ist. Natürlich findet sich die Aufmerksamkeit oft bei Leuten, die ohnehin schon interessiert sind. Man könnte sagen, wenn nur einer mehr sich interessiert, wie man das kulturelle Erbe der Juden sieht, dann wäre das schon ein Erfolg.

Manchmal habe ich das Gefühl, wir müssten uns dafür rechtfertigen, dass wir hier in Deutschland existieren. Aber auch wenn das Judentum, die kulturellen Leistungen des Judentums hier in Deutschland nicht so großartig wären, müsste man darüber nachdenken, wie einzigartig die Schuld ist, das Judentum ausrotten zu wollen.

Ich habe mich an dem Festjahr beteiligt, Veranstaltungen durchgeführt, mich mit Frau Löhrmann darüber unterhalten. Aber es kann nur ein Schritt sein. Wir haben jetzt auch ganz andere Herausforderungen, die Debatten in der Identitätspolitik, um den Kolonialismus, gerade auch über den israelbezogenen Antisemitismus. Allein die Tatsache, dass man Israel durchaus kritisieren kann und auch in manchen Punkten kritisieren muss, aber Gefahr läuft, mit Leuten in einen Topf geworfen zu werden, die unter dem Vorwand der „Israelkritik“ ganz andere Ziele haben, ist ein Problem.

In meiner Rede am 27. Januar 2023 habe ich aufgezeigt, wie weit wir von einer Normalität entfernt sind. Unsere Kinder müssen nach wie vor von der Polizei bewacht werden, sie müssen durch Sicherheitsschleusen, sie müssen bei jedem Spaziergang oder Ausflug von Sicherheitspersonal begleitet werden. Das zeigt, dass die sogenannte Vergangenheitsbewältigung im Grunde gescheitert ist, jedenfalls weitergehen muss, das ist das Wenigste was ich sagen will. Unabhängig davon, dass ich die Bundesrepublik Deutschland als weltoffenes Land zu schätzen weiß. Aber es ist viel zu tun. Eine Sache in ganz Europa, wenn man sieht, wie der Populismus dort überall Fuß fasst. Hoffen wir, dass er in Grenzen bleibt.  

Norbert Reichel: Ich denke, dass viele auch darüber nachdenken müssen, was es heißt, Enkel*innen oder Urenkel*innen von Täter*innen zu sein, oder was es heißt, wenn die Groß- und Urgroßeltern einfach nur zugeschaut, das Unrecht, die Verbrechen akzeptierend haben geschehen lassen.

Zwi Rappoport: Ich hoffe auf den Abstand der Zeit. Natürlich gibt es die Schlussstrichdebatte. Aber auf der anderen Seite denke ich, dass die Familiengeschichten der Täter noch mehr zu Tage treten werden. Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, dass mit dem Abstand der Zeit dieses Märchen von dem unschuldigen von den Nationalsozialisten verführten Volk endgültig der Vergangenheit angehört.

Norbert Reichel: Hoffnung gibt vielleicht auch, dass die berühmte Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 inzwischen von vielen Seiten zunehmend kritisch gesehen wird. Er sprach zwar von „Befreiung“, zählte aber die Deutschen gleichberechtigt und undifferenziert unter die „Opfer“. Täter konnte es nur einen geben. Das hatte Walter Scheel zehn Jahre zuvor in seiner Rede vom 7. Mai 1975 schon etwas anders gesagt. Er sprach sinngemäß von der Schande, dass die Deutschen befreit werden mussten, weil sie sich nicht selbst befreien konnten und dies auch nicht wollten.

Chanukka-Aufführung in der Jüdischen Gemeinde Münster 1961. Von links nach rechts: Heinz Jaeckel, Zwi Rappoport, Paul Spiegel. Foto: privat.

Zwi Rappoport: Auch das habe ich in meiner Rede gesagt, dass die Deutschen damals das Ende des Krieges als Niederlage und Zusammenbruch empfanden und nicht wie meine Mutter als Befreiung. Das ist einfach ein Fakt. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Aber es gab eine negative Kontinuität. Ich habe im letzten Jahr im Oberlandesgericht Hamm die Wanderausstellung „Die Rosenburg“ über NS-Kontinuität im Bundesjustizministerium der westdeutschen Nachkriegszeit gesehen.

Obwohl die Leiter im Ministerium, Thomas Dehler und Walter Strauß, selbst Diskriminierung ausgesetzt waren, da sie in der NS-Zeit jüdischen Hintergrund hatten, scheuten sie sich nicht, NS-belastete Mitarbeiter einzustellen, weil diese fachliche Kompetenz und ministerielle Erfahrung hatten. In allen Bereichen – das wird mir immer bewusster – gab es Kontinuität. In der Bundeswehr, im Auswärtigen Amt, in der Staatsanwaltschaft. So sahen auch die Gerichtsurteile aus. Nicht ein einziger Richter ist verurteilt worden. Auch wenn die Fakten auf dem Tisch lagen! Sie wurden freigesprochen, bekamen ihre Pension, sogar die Witwe von Freisler bekam ihre Witwenpension.

Norbert Reichel: Was bedeutet dies alles jetzt für Ihren Verband und Ihre Gemeinde in Dortmund? In Dortmund haben Sie ADIRA gegründet, das westfälische Gegenstück zur in Düsseldorf bei der dortigen Jüdischen Gemeinde beheimateten SABRA.

Zwi Rappoport: Ich bin mit der Entwicklung von ADIRA sehr zufrieden. Wir haben sehr qualifizierte Leute, die auch präventiv arbeiten. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit SABRA. Im Hinblick auf die Meldestelle gibt es immer noch eine gewisse Scheu. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass fast alle Mitglieder der Gemeinde aus der ehemaligen Sowjetunion kommen und so sozialisiert wurden, dass man lieber nichts sagt. Manche lassen sich die Rundschreiben der Jüdischen Gemeinde nur anonym schicken, ohne Aufkleber, im neutralen Umschlag.

Da müssen wir noch einiges tun, damit alle verinnerlichen, dass man in einer Demokratie seine Meinung sagt und das Recht hat, Unrecht anzuzeigen. Viele haben Angst, nach einer Meldung mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Ich habe einen Fall erlebt, da hat eine Geschichtslehrerin den antisemitischen Witz in der Klasse in Gegenwart einer jüdischen Schülerin gemacht, dass Juden so geringe Renten bekämen, weil sie nur zwischen 1933 und 1945 gearbeitet hätten. Die Sache verlief im Sande, weil die Eltern der Schülerin nichts sagen wollten. Die Geschichtslehrerin ist immer noch an der Schule.

Es gibt jetzt eine neue Initiative der Bundesregierung. Vielleicht bringt diese mehr, und nicht nur Bürokratie. Im Bildungsbereich ist noch ein ganz dickes Brett zu bohren. Und es ist die Frage, welche Generation man heute ansprechen will. Es kann nur die jüngere Generation sein.

Norbert Reichel: Im Grunde sind wir schon bei der vierten Generation.

Zwi Rappoport: Und hoffentlich müssen wir nicht irgendwann von der vierten Schuld sprechen. Aber ich kann auch sagen, unser Geschäftsführer, Alexander Sperling, er ist viel optimistischer als ich. Ohne den Ballast der Vergangenheit. Es ist ja auch ein Ballast. Das muss man offen sagen. Viele junge Jüdinnen und Juden sind selbstbewusst und sagen, wir lassen uns nicht unterkriegen, wir kämpfen für unsere Rechte.

Norbert Reichel: Das ewige Dennoch im Sinne von Leo Baeck?

Zwi Rappoport: Sicherlich. Ich bin doch optimistisch, weil sich der Lebenswille und die Widerstandskraft des Jüdischen Volkes über Jahrtausende bewiesen haben. Und wenn man eine solche Katastrophe wie die Shoah wieder auffangen konnte…

Ich denke: Am Israel Chai – das Jüdische Volk wird weiterleben.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 28. Februar 2023. Alle Bilder wurden dem Demokratischen Salon vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe beziehungsweise von Zwi Rappoport zur Verfügung gestellt. Ergänzend empfehlenswert die Geschichte von Heinz Jaeckel, der im Bild von der Chanukka-Aufführung zu sehen ist, in dem er erzählt, wie ihm und seiner Mutter eine Kassiererin das Leben rettete. Georg Jöstingmeier, der auf dem Bild mit der Mutter von Zwi Rappoport zu sehen ist, war Mitbegründer der nordrhein-westfälischen CDU und einige Zeit Landtagsabgeordneter.)