Jung, muslimisch, demokratisch

Die DİTİB-Jugendstudie 2021 von Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan

„Die Neugier auf den Anderen beruhte nicht auf Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit, sondern verdankt sich vor allem der Tatsache, dass sich keine andere Kultur so leicht und so sehr von der Andersheit der Anderen in Frage gestellt sah. Wann immer man sich mühsam zur Wahrheit, zu einer Wahrheit durchgerungen hatte – vom Christentum des Mittelalters bis zu den Welterklärungsideologien des 19. Jahrhunderts –, gab es diese anderen Länder und anderen Menschen, die durch ihre bloße Existenz die mühsam errungene Gewissheit der eigenen Weltsicht in Frage stellten.“ (Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islam“, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2011)   

Der Islam ist – zumindest in den meisten europäischen Staaten – die einzige Religion, die in gesellschaftlichen Debatten durchweg mit dem Thema Migration verbunden wird. Von Muslim*innen wird in Parteiprogrammen, Koalitionsvereinbarungen und Regierungserklärungen, in Leitartikeln und Berichten der Presse „Integration“ gefordert, verstanden als Bringschuld. Der Islam ist das beispielhafte Andere, auf das immer verwiesen werden kann, um Unverwechselbarkeit und Unwandelbarkeit der eigenen Identität bestätigen. Wer Deutsch-Sein mit mitunter drohendem Nachdruck begründen möchte, verbindet es mit der angeblich dauerhaft christlichen Tradition Deutschlands, die es auch tatsächlich gibt, die aber heutzutage die deutsche Alltagswirklichkeit bei Weitem nicht mehr so prägen dürfte wie dies vielleicht noch in den 1960er Jahren der Fall gewesen sein mag.

Themenpaar Islam und Migration

Wer Großeltern, Eltern, Verwandte hat, die aus der Türkei oder aus arabischen Ländern nach Deutschland eingewandert sind, sieht sich mit der Zuschreibung konfrontiert, er oder sie wäre Muslim*a. Oft genug reichen ein etwas dunklerer Teint, schwarze Haare oder das berühmt-berüchtigte Kopftuch, um Menschen als orientalisch und muslimisch zu lesen, mit Bildern aus der Requisitenkiste des von Edward Saïd beschriebenen „Orientalismus“ zu versehen und ihnen undifferenziert radikale Ansichten zu unterstellen. Ein hybrides Ergebnis solcher Sehgewohnheiten ist die Rede von einem angeblich „politischen Islam“, das Schreckbild die Einführung talibanischer Praxis in Deutschland, als Schreckgestalten dienen mitunter – als personae pro totis – der türkische Staatspräsident und angeblich von ihm gelenkte Organisationen wie in Deutschland die DİTİB.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: in der deutschen beziehungsweise europäischen Wirklichkeit praktizieren bei weitem nicht alle Muslim*innen ihre Religion in dem Maße wie in diesen Zuschreibungen vermutet, wahrscheinlich auch nicht den Ländern, in denen der Islam als Mehrheitsreligion wirkt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Hauptgegner*innen fundamentalistisch-islamistischer Gruppierungen wie des sogenannten Islamischen Staates auch Muslim*innen sind, aber eben keine Islamist*innen. Auch unter Muslim*innen gibt es Entwicklungen einer Säkularisierung beziehungsweise zumindest einer Anpassung religiös geprägter Traditionen an den westlich-demokratischen Way of Life. Die demokratischen Ansätze des sogenannten arabischen Frühlings wurden weitestgehend wieder unterdrückt, in liberal-demokratischen Ländern hingegen diversifiziert sich der Grad von Religiosität im Alltag der dort in der Diaspora lebenden Muslim*innen. Möglicherweise lassen sich manche dieser Entwicklungen mit denen christlicher Deutscher in den 1960er und 1970er Jahren vergleichen. Zumindest ist der Alltag vieler Muslim*innen viel säkularer als angenommen, aber Zuschreibungen halten sich hartnäckig: Türke bleibt Türke, Muslim bleibt Muslim, „Orientalismus“ bleibt „Orientalismus“. Und dies erfahren selbst Enkel*innen und Urenkel*innen der eingewanderten Menschen.

Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan haben sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit immer wieder mit dem Themenpaar Islam und Migration befasst. Sie veröffentlichten 2022 im Verlag Beltz Juventa die „DİTİB-Jugendstudie 2021“, Untertitel: „Lebensweltliche Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland“. Auftraggeber war der Jugendverband der DİTİB, der Bund der Muslimischen Jugend (BDMJ). Die Studie wurde am 18. Mai 2022 in der Kölner Zentralmoschee der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Studie unterscheidet sich von anderen Jugendstudien durch ihren spezifischen auf türkische und muslimische Elemente der Einstellungen der befragten Jugendlichen bezogenen Ansatz.

Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan haben in Gesprächen mit den jungen Menschen, die im BDMJ Funktionen ausüben, beispielsweise als Gruppenleiter*innen, „intergenerationelle Dynamiken“ festgestellt, die einen Wandel in Einstellungen, in der religiösen und in der politischen Praxis nahelegen. Die befragten jungen Menschen sind fast alle in Deutschland geboren, somit schon qua Geburt in einer postmigrantischen Situation“. Die Befragten waren zwischen 14 und 27 Jahre alt, 79 % hatten die deutsche Staatsbürgerschaft, 57 % waren junge Frauen, 28 % hatten Berufsausbildung oder Studium abgeschlossen, 32 % besuchten ein Gymnasium, 15 % eine Berufsschule.

Die DİTİB und der Islam in Deutschland

Die DİTİB ist der größte der in Deutschland tätigen islamischen Verbände. Sie ist der deutsche Zweig der türkischen Religionsbehörde Diyanet, die Atatürk gründete, um einseitig islamisch orientierte – heute würde man „islamistisch“ sagen – Moscheen und Imame zu kontrollieren. Die DİTİB erhebt den Anspruch einer Religionsgemeinschaft nach Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz, wirkt aber gleichzeitig auch als Migrantenselbstorganisation, die die Interessen ihrer Mitglieder im und gegenüber dem deutschen Staat vertritt. Der BDMJ wurde 2014 gegründet und zählt etwa 900 Jugendgruppen und 15 Landesverbände.

Heute wird die DİTİB in der öffentlichen Debatte immer wieder mit der Politik des türkischen Staatspräsidenten identifiziert, die sie in Deutschland vertrete. Ihr Beitrag zum islamischen Religionsunterricht wird von Kritiker*innen als der lange Arm Erdoğans markiert, der in die Schulen antidemokratisch hineinwirke. Seit den vom türkischen Staatspräsidenten verfügten beziehungsweise vom türkischen Parlament beschlossenen Maßnahmen zur Aufarbeitung des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 hat sich diese Kritik verstärkt. Dies hing auch damit zusammen, dass Imamen vorgeworfen wurde, nach dem Putschversuch in deutschen Moscheen Personen zu identifizieren, die dem türkischen Präsidenten kritisch gegenüberstünden und diese dem türkischen Staat anzuzeigen. Die Vorwürfe erwiesen sich als nicht bewiesen, doch bestimmen sie nach wie vor die Diskussion um DİTİB in Deutschland. DİTİB wird mitunter jedes Recht abgesprochen, sich in irgendeiner Form am Aufbau islamischen Religionsunterrichts zu beteiligen. Gefordert wird sich von der Türkei loszusagen was letztlich den finanziellen Ruin bedeuten könnte. Der vielfältigen Realität der DİTİB-Moscheen wird diese Debatte nicht gerecht.

Offenbar unbekannt ist weitgehend, dass die Lehrpläne des islamischen Religionsunterrichts von deutschen Behörden geschrieben und erlassen, die Lehrkräfte in Deutschland ausgebildet werden und der Unterricht in deutscher Sprache unter deutscher Schulaufsicht stattfindet. Da bisher kein muslimischer Verband als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde, gibt es unter anderem von der Deutschen Islam Konferenz angeregte Hilfskonstruktionen, über die muslimische Verbände, wie eben auch DİTİB, mitwirken, um die der katholischen Missio beziehungsweise evangelischen Vocatio entsprechende Lehrbefähigung, die Idschāza, zu verleihen. Über die Genese des Islamischen Religionsunterrichts habe ich in meinem Essay „Gretchenfrage – islamische Version“ geschrieben, über die Praxis mit den beiden Religionslehrer*innen Bernd Ridwan Bauknecht und Lamya Kaddor gesprochen.

Hier ist nicht der Ort, die Wirrnisse um die Anerkennung islamischer Verbände als Religionsgemeinschaften nach Art. 7 Abs. 3 GG zu diskutieren. Relevant ist allerdings, dass die muslimischen Verbände über keine Wohlfahrtsorganisation verfügen, die Mitglied der Bundes- beziehungsweise Landesarbeitsgemeinschaften der freien Wohlfahrtspflege (BAG-FW beziehungsweise LAG-FW) ist. Ebenso ist kein Jugendverband, auch nicht der BDMJ Mitglied im Deutschen Bundesjugendring beziehungsweise einer der Dachorganisationen der Jugendverbände in den Ländern. Es gibt eine Ausnahme, der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ). Die Alevitische Gemeinde Deutschlands (AABF) hat den Status einer Religionsgemeinschaft. Ob die Alevit*innen Muslim*innen sind, ist umstritten, auch intern. Die AABF hat jeweils einen eigenen Sitz in der Deutschen Islam Konferenz.

Heimat Deutschland – Heimat Türkei

Wer die Einstellungen der von Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan Befragten fair bewerten möchte, muss sich von manchen Zuschreibungen der gängigen gesellschaftlichen Debatten verabschieden. „Ein maßgebliches Problem hinter solchen Plakatierungen liegt – vor allem wenn es um ihre Übertragung auf spezifische jugendliche Gruppen geht – aber nicht zuletzt darin, dass hier Prozesse der Migration von gesellschaftlichen Transformationsprozessen entweder gänzlich entkoppelt oder aber monokausal aufeinander bezogen werden. Beides ist falsch: Es gibt mittelbare Bezüge, zeitliche Koinzidenzen und multiple Kausalzusammenhänge.“ In der Pressekonferenz vom 18. Mai 2022 bezeichnete Harry Harun Behr die Einstellungen der jungen Menschen als „bürgerliche Normalität“, die sich allerdings auch aus dem überdurchschnittlich hohen Bildungsniveau der Befragten ergeben könnte.

Diese „bürgerliche Normalität“ spiegelt sich in der Vielfalt der Einstellungen. „So können beispielsweise durchaus starke Werte für gemeinschaftlich praktizierte Religion Hand in Hand gehen mit der Kritik an der eigenen Gemeinschaft in ihrer konkreten (die Moschee in der Nähe) oder abstrakten (Muslime in Deutschland) Form.“ Dies ist – so die beiden Autor*innen – durchaus auch ein Ergebnis der „Volatilität“ des Islam, der anders strukturiert ist als andere Religionen, die eher „wie Fußballvereine funktionieren“. Die „religiöse Volatilität“ des Islam bewirkt eine „Veruneindeutigung der religiösen Dogmatik zugunsten religiöser Diskursivität und geistiger Fluidität“. Dies entspricht in etwa dem Gedanken der im Islam ursprünglich durchaus gegebenen „Ambiguitätstoleranz“, die Thomas Bauer in seinem eingangs zitierten Buch analysierte.

Die jungen Menschen fühlen sich mehrheitlich in Deutschland zu Hause, Heimat gibt es gleichwohl im Plural. Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan sprechen von „Beheimatungen“. Ein interessantes Ergebnis ist der Wunsch vieler Befragter, in der Türkei begraben zu werden. Ob dies der Wunsch nach einer Rückkehr post mortem im Sinne der Perspektive einer letzten Ruhestätte ist oder eher der nicht überall in Deutschland gleichermaßen möglichen muslimischen Bestattung geschuldet ist, mag offenbleiben. Es zeigt aber auf jeden Fall, dass die befragten Mitglieder des BDMJ sich Deutschland und der Türkei verbunden fühlen. Mit einer Identifikation mit der türkischen Politik, welcher Partei und Ausrichtung auch immer, hat das nichts zu tun: „Die Türkei treibt im Vergleich zur religiösen Positionierung weiterhin führungslos durch die inneren Gemüter: Die pauschale Vermutung einer um sich greifenden nationalistischen Deklination des Islams unter Türk:innen in Deutschland lässt sich an Hand der vorliegenden Zahlen für die hier Befragten nicht bestätigen. Zudem löst sich der Aspekt der Nationalität und Staatsbürgerschaft für diese Generation auf, und eine andere Form der Selbstverortung greift deutlich Raum.“

In diesem Kontext spielen der ständig berichtete „Alltagsrassismus“ sowie „schulische Diskriminierungserfahrung“ eine Rolle. Eine zentrale Rolle spielt dabei – wie könnte es anders sein – das Kopftuch, das einige der jungen Frauen tragen. Diskriminierungserfahrungen allein führen jedoch nicht – wie oft unterstellt – zu Radikalisierung, sie stören allerdings erheblich das Wohlbefinden. Junge Menschen fragen sich natürlich, was da geschieht, und dies wäre auch ein geeignetes Thema religiöser Grundbildung, die – so Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan – Radikalisierung zu verhindern vermag. Mit Religion hat Radikalisierung zumindest nichts zu tun. Dieses Ergebnis entspricht auch Studien von Stefan E. Hößl, David Ranan und Michael Kiefer, die ich in dem Essay „Die Ausgeschlossenen“ vorgestellt habe. Wir sollten nicht vorschnell auf „Muslimischen Antisemitismus“ schließen, wenn es eigentlich nur um eine Form von Antisemitismus geht, die zwar auch von Muslim*innen vertreten wird, aber sich letztlich nicht aus der Religion, sondern aus anderen Kontexten ableiten lässt, die sich ebenso bei anderen Gruppen finden lassen. Dies gilt insbesondere für den israelbezogenen Antisemitismus.

Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan leiten aus ihren Befragungen die These ab, dass die religiöse Community in erster Linie hilft, mit Diskriminierung umzugehen. Religion schafft unter bestimmten Bedingungen Stabilität und Resilienz. Jugendliche denken mit der Zeit transnationaler, weniger identitätsgruppenbezogen, verantwortungsbewusster.  Alle religionsbezogenen Items der Untersuchung korrelieren positiv mit der Bereitschaft sich in Deutschland gesellschaftlich zu engagieren.“ Andererseits: „Was ihnen zu fehlen scheint, ließe sich als das Momentum des Empowerments als Deutsche und als Muslim:innen beschreiben (…). Die Bereitschaft, hier in die öffentliche Verhandlung zu treten, ist messbar groß.“

Die DİTİB aus der Sicht junger Muslim*innen

Die befragten jungen Menschen sehen die DİTİB als Verband durchaus kritisch, ebenso die aus der Türkei eingeflogenen Imame. Sie kritisieren das Alter, die schlechten Deutschkenntnisse, die sehr konservativen Einstellungen der Imame, schätzen aber die Potenziale der DİTİB. Gerade der Zugang der DİTİB zu religiösen Narrativen ermöglicht „einen religiösen Bildungseffekt mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Situation. (…) Was sie leistet, ist die Moderation divergierender Zugehörigkeitsgefühle und damit die Erschließung von Religion als sozialem Kapital. Hier wäre es nun angesagt, die DİTİB in dieser Rolle und Funktion zu stärken anstatt sie ständig zu schwächen.“ Die Art und Weise, in der über die DİTİB berichtet und gesprochen wird, be- und verhindert Integration und kann durchaus auch zu Enttäuschungen bei denen führen, die sich in der deutschen Gesellschaft engagieren möchten, dies aber nicht tun können, weil sie – zumindest nach ihrem eigenen Empfinden – be- und gehindert werden.

Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan formulieren sehr klar: „Das sollte noch einmal deutlich machen, dass Organisationen wie die DİTİB aus einer ganz grundsätzlichen demokratietheoretischen Betrachtung heraus für unsere bundesdeutsche Gesellschaft überlebenswichtig sind. Sie verfechten Rechte, die am Ende allen in Deutschland lebenden Menschen zugutekommen.“ Der Islamische Religionsunterricht hat eine wichtige Rolle bei der demokratischen Entwicklung junger Menschen: „Ein guter Islamunterricht wird von vielen Schüler:innen dieser Altersgruppe als ein safe space angesehen, und in ihm können sie sich an Fragen ausprobieren, mit denen sie sich nicht an Personen ihres soziale Nahbereichs wenden würden, und zwar aus Angst, als unfromm und unfolgsam stigmatisiert zu werden.“ Der „konfessionelle Religionsunterricht“ kann „identitätsfördernd“ wirken, „und zwar nicht zwangsläufig im Sinne der Glaubensbereitschaft, aber im Sinne der Befähigung, reflektiert mit Glaubensfragen umgehen zu können.“

Dies darf durchaus analog zu Entwicklungen verstanden werden, die es in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre gab, als Konflikte zwischen den Generationen auch als Konflikte zur Bewertung der Religiosität und der Relevanz von Religion für den Alltag ausgetragen wurden. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der grundsätzlichen Befürwortung von Religion bei den heutigen muslimischen Jugendlichen, die sich bei den christlich erzogenen Jugendlichen der 1960er und 1970er Jahre jedoch schrittweise auflöste.

Die Studie ist ein Appell für die Anerkennung der Leistungen und Potenziale der DİTİB, ein Plädoyer gegen Ausgrenzung, sie ist aber gleichzeitig auch ein Appell an die DİTİB, Vielfalt in der muslimischen Community anzuerkennen und zuzulassen. Es war in der Vergangenheit nicht zuletzt die DİTİB, die – das darf nicht verschwiegen werden – immer wieder dazu neigte, liberale Organisationen wie den Liberal-Islamischen Bund oder liberale Vertreter*innen wie den Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide aus dem Auf- und Ausbau unter anderem des islamischen Religionsunterrichts bei den Ministerien heraus zu verhandeln, zum Glück für den Islam, den Islamischen Religionsunterricht und letztlich auch für die Demokratie erfolglos.

Soziales Kapital Religion

Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan plädieren dafür, Religion als „Entwicklungsmotiv“ zu begreifen. DİTİB und BDMJ könnten dazu beitragen, „dass junge Muslim:innen die demokratische Allianz in Deutschland bereichern und stärken und nicht Verführungen anheimfallen, die sie über eine vermeintlich religionstreue, letztlich aber rigide Rhetorik von einem guten Weg kultivierter Religionsausübung abspenstig machen wollen.“ Damit entstünde eine Perspektive „Integration nicht nur zu verwalten, sondern sie zu gestalten“. Die jungen Menschen „stehen für eine Art von Religionsausübung, die wir hier als säkulare Spiritualität bezeichnen möchten, denn: Ihnen sind diese Differenzierungen bewusst, sie setzen sie in ihrem sozialen Kontaktmanagement und sie reflektieren sie religiös.“

In der Pressekonferenz vom 18. Mai 2022 bezeichnete Harry Harun Behr die Studie als „Pre-Test“. Folgestudien, vielleicht auch im Längsschnitt, wären wünschenswert, aber vielleicht wäre es auch interessant, unter dem Eindruck der offenen Einstellungen der jungen Mitglieder des BDMJ den Vergleich mit anderen sich religiös definierenden Verbänden zu wagen. Einen Ausblick bietet die spontane Äußerung einer in einer Diskussionsgruppe vertretenen jüdischen Kollegin zum Thema Partner*innenwahl: „‚Die ticken ja genauso wie wir!‘ Damit beschrieb sie eine gewisse Abkehr von der Idee, durch gemischte Heirat bewerkstellige sich Zusammenhalt; sie verwies dabei auch auf neuere Tendenzen in den jüdischen Religionsgemeinschaften, sich stärker um Konsolidierung nach innen zum Zwecke der Verteidigung des eigenen zu bemühen.“ Im Hinblick auf das Heiratsverhalten ist dies für migrantische Gruppen durchaus typisch. Robert Fuchs, Leiter des Kölner Migrationsmuseums DOMiD hatte dies anlässlich deutscher Einwanderer im 19. Jahrhundert in den USA untersucht. Religion und Migration hängen je nach Phase der Integration miteinander zusammen, entkoppeln sich jedoch möglicherweise auch mit der Zeit.

Ebenso interessant wäre, das Bild zu untersuchen, das in der deutschen Mehrheitsgesellschaft vom Islam, von der Türkei und anderen mehrheitlich islamischen Ländern vorherrscht und immer wieder reproduziert wird, selbst dann, wenn die Fakten die Bilder widerlegen. Wie hartnäckig wirken diese Bilder? Wie ließen sie sich dekonstruieren, relativieren, sodass ein anderer Blick auf das, was fremd erscheinen mag, möglich wird.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juni 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 12.6.2022.)