Keine Kerben im Kolben

Erich-Loest-Preis 2023 an Ines Geipel – Die Dankesrede

„Keine Hierarchie, sondern eine Geometrie von Leben – heißt das, gerechte Distanzen zwischen den Menschen zu erschreiben? Ihr Roman-Kaleidoskop würde diese Idee bestätigen. Ein Text, der sich nicht auf Bläcke und den einzigen Kern reduzieren lässt, sondern vor allem Verästelungen, Abzweigungen, Brüchen nachgeht. Und der den Einzelnen gelten lässt, seine Stimme, seine Sprache, seine Wahrnehmung, seine Entscheidung. Ein Entwurf also gegen den Sprachraum der Diktatur, der sie umgibt? Somatische Poesie, kein Darüber-hinweg-Spielen über das, was man schreibend als Wirklichkeit zu fassen sucht?“ (Ines Geipel über Inge Müller in: „Dann fiel auf einmal der Himmel um – Inge Müller – Die Biographie“, Berlin, Henschel, 2002)

Als Ines Geipel im Sommer 1989 unter einem Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich in das freie Europa gelangte, hatte sie einen Band mit Texten von Inge Müller dabei. Inge Müller begleitete sie auch die folgenden Jahre und Jahrzehnte. Inge Müller war ein Anfang, Zeichen eines Ausbruchs, der gleichzeitig Aufbruch war, vielleicht eine Seelenverwandte, deren Vermächtnis Ines Geipel gemeinsam mit Joachim Walther sel.A. in Biographien in der DDR verfemter Autor*innen, im Archiv unterdrückter Literatur der DDR in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in den zehn Bänden der „Verschwiegenen Bibliothek“ pflegte, erweiterte, wiederbelebte. In die Rowohlt-Taschenbuch-Ausgabe ihrer Inge-Müller-Biographie schrieb sie mir am 14. Februar 2022 folgende Widmung: „Lieber Herr Reichel, ach, noch einmal der Osten, noch einmal Berlin, noch einmal das Samenkorn Inge M., Herzlichst, Ihre Ines Geipel“.

Erich-Loest-Preis 2023 (v.l.n.r.): Laudator Durs Grünbein, Wolf-Dieter Jacobi (stv. Vorstandsvorsitzender der Medienstiftung), Preisträgerin Ines Geipel, Juryvorsitzender Andreas Platthaus (Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben der FAZ), Linde Rotta (Jurymitglied und langjährige Lebensgefährtin Erich Loests), Stephan Seeger (Geschäftsführender Vorstand der Medienstiftung und Direktor Stiftungen der Sparkasse Leipzig) und Dr. Harald Langenfeld (Vorstandsvorsitzender der Medienstiftung und der Sparkasse Leipzig). Foto: Medienstiftung Leipzig / Volkmar Heinz

Etwa 34 Jahre nach ihrer Flucht in die Freiheit, am 24. Februar 2023 erhielt Ines Geipel im Mediencampus Villa Ida in Leipzig den Erich-Loest-Preis. Der Preis wurde anlässlich des 90. Geburtstags des Schriftstellers Erich Loest von der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig gestiftet. Bisherige Preisträger waren Guntram Vesper, Hans-Joachim Schädlich und Ulrike Almut Sandig. Die Laudatio hielt Durs Grünbein mit der Überschrift „Die Einzelkämpferin“. Ines Geipel dankte der Jury, den Verleihenden des Preises und dem Laudator mit einer Rede, die im Titel Erich Loest zitierte: „Keine Kerben im Kolben“.

Die Laudatio von Durs Grünbein wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. März 2023 veröffentlicht. Die Medienstiftung hat auf ihrer Seite die Berichterstattung in der Presse dokumentiert. Auch die Rede von Ines Geipel ist dort online verfügbar. Ebenso verfügbar ist ein Videomitschnitt der Veranstaltung.

Ines Geipel danke ich, dass sie darüber hinaus dem Demokratischen Salon ihre Dankesrede für eine Veröffentlichung zur Verfügung stellte, der Medienstiftung für die Bereitstellung von Fotos der Verleihung. Ich gratuliere Ines Geipel von ganzem Herzen und freue mich auf die weitere Zusammenarbeit, wie wir sie schon seit einigen Jahren in Veranstaltungen und Texten pflegen.

Norbert Reichel, Bonn

Die Dankesworte: Keine Kerben im Kolben

Die Loest-Lektüren der letzten Wochen und meine Suche nach einem Motiv, einem Detail, nach dem bislang Nichtgesagten, vielleicht Übersehenen, das noch einmal etwas kenntlich machen würde und über das ich auch meinen Dank an Sie einschleusen könnte. Denn das ist heute doch zuallererst mein Part: Die Hände voller Dank in den Saal zu werfen und immerzu nur danke, danke, danke zu rufen! Danke sehr geehrter Dr. Langenfeld, danke lieber Stephan Seeger, danke lieber Martin Fiedler, danke sehr verehrte Damen und Herren der Medienstiftung.

Sehr geehrte, liebe Jury-Mitglieder. Ich kann heute hier nicht stehen, ohne den Namen Werner Schulz zu sagen. Es ist unvorstellbar, dass er nicht da ist, nicht mehr da ist. Ich weiß, was Erich Loest für ihn bedeutet hat und wie stark beide miteinander verbunden waren. Sie fehlen. Wie sehr – hat nur schon die Dynamik der letzten Wochen um die Preisverleihung vor Augen geführt. Was hätten die beiden wohl zu all dem gesagt? – Liebe Linde Rotta, lieber Andreas Platthaus, liebe Dr. Katrin Schumacher, sehr geehrter Prof. Dr. Jobst Welge – es gibt Preise, die fliegen einem zu, und es gibt welche, die muss man sich erarbeiten. Den Erich-Loest-Preis – und das muss vielleicht so sein – kriegt man nicht einfach so. Ich denke dabei an den bekannten Loest-Satz: „Die Geschichte qualmt noch!“ Ich würde sagen: Wir sind halt noch nicht durch hier.

Ich möchte der Jury, und ich möchte der Medienstiftung sehr danken – für Ihren Halt und Ihre Haltung, für Ihre Stoik und Ihre aktive Fürsorge, für Ihre Klarheit, Unbeirrtheit und Ihre umstandslose Unterstützung. Das ist alles überhaupt nicht selbstverständlich. Ja, es stimmt schon, es gibt die Angriffe, es gibt die Diffamierungen, aber es gibt vor allem sehr viel Beistand. Mein Eindruck ist, dass wir in den letzten Wochen richtig einen Weg zusammen gegangen sind. Da war für manches keine Zeit. Aber klar schien in meinen Augen immer, dass wir alle darin gemeinsam auch etwas von Erich Loest verteidigt haben. Das ist viel, denke ich. Und es bedeutet mir auch viel.

Ich danke insbesondere auch all denjenigen, die sich heute auf den Weg nach Leipzig gemacht haben. FreundInnen, politische Weggefährten, LeserInnen. Das ist Solidarität, und es ist auch Schutz. Auch das ist nicht selbstverständlich. Ich sehe Peer Steinbrück im Raum, die Vizechefin des Bundesarchivs Alexandra Titze, Dr. Michael Lehner als Präsident der Dopingopferhilfe, die Landesbeauftragte von Mecklenburg-Vorpommern Anne Drescher, Hauke Hückstädt den Chef des Literaturhauses Frankfurt. Ich sehe JournalistInnen und danke Ihnen für Ihr gründliches Interesse an der Sache und für Ihr journalistisches Herzblut. Und ich sehe Eva-Maria, Gerit, Heidi und nicht zuletzt auch den Liebsten. Ich bin glücklich, ich bin dankbar, und ich bin auch stolz darauf, dass Sie da sind, dass Ihr da seid.

Es gibt Dichter, die können das: Ein Satz, ein paar wenige Worte, und das Wesentliche ist im Raum. Die Dinge sind wieder ins Lot gesetzt. Ich danke Ihnen, lieber Durs Grünbein, für Ihre scharfen, klaren, guten Sätze! Es ist in meinen Augen alles zur Sache gesagt: zu der seit fünf Jahren laufenden Kampagne, zur Restauration des Systems im Osten, zur aktiven Desinformation des MDR im Zusammenhang mit dem Film „Doping – Dichtung“ – wobei mir durchaus helle ist, dass der MDR eine große Sendeanstalt ist, mit sehr unterschiedlichen journalistischen Profilen und sehr vielen engagierten MitarbeiterInnen. Richtig ist aber auch, dass es in ihm immer wieder zu schwerwiegenden Standardlecks kommt, zu bedenklichen journalistischen Ausfällen, deren Ursachen in meinen Augen geklärt gehören.

Verleugnung oder überfällige Anerkennung? Mythisierung oder harte Realität? Das scheint mir der Streit zu sein. Der Konflikt um die DDR-Sportopfer ist in meinen Augen eine Metapher für einen Wirklichkeitskonflikt. Bei ihr steht letztlich die Frage im Raum: welche DDR? Die allseits siegende oder eben die skrupellos jeden Preis einspeisende, auch den von tausenden kaputtgemachten Seelen und Körpern? Oder, um es nochmal auf eine andere Ebene zu setzen: Welche DDR erzählen wir uns im Hinblick auf die – laut UOKG, der Union der Opferverbände der kommunistischen Gewaltherrschaft – mehr als drei Millionen DDR-Unrechts-Opfer?

Im Jahr 2008 hielt Erich Loest in seinem Tagebuch fest: „Bei der Zusammenschau, der Deutung kommen wir nicht voran. Wir wursteln immer noch in der Frühphase der Zeitgeschichtsschreibung. Einfache Grundlagen bleiben ungefestigt.“ Im November 2012 schrieb er: „Ich begegnete den alten Konflikten in unerwartet zäher Form.“ Sein letzter öffentlicher Satz lautet: „Meine alten Gegner haben gesiegt, ich werde kapitulieren müssen.“ Das war im Juli 2013. Erich Loest starb wund. Und zehn Jahre später? Ich danke Ihnen, lieber Durs Grünbein, dass Sie in Ihrer Laudatio das gesagt haben, was zu sagen war. Ich danke Ihnen auch deshalb dafür, weil es mir die Möglichkeit gibt, bei aller Dynamik, bei aller öffentlich laufenden Familientherapie des Ostens auf die Rückgewinnung von politischer Kontur zu drängen, auf haltbare Referenzsysteme, auf die weiterhin notwendige Bearbeitung der doppelten Diktaturgeschichte des Ostens.

Es gibt das alles: die zunehmende Derealisierung von Geschichte, die im Osten strategisch agierende Altkaderstruktur und die Sehnsucht der Jungen nach historischer Unschuld. Aber es gibt auch die Quellen, die Fakten, die Archive. Wir dürfen wissen, wir haben die Freiheit, das Schicksal zu wechseln. Wir haben auch die Freiheit, nicht mehr lügen zu müssen. In dem Zusammenhang liegen mir für den Moment drei Punkte am Herzen:

  1. Durch die Veröffentlichungen dieser Woche in der „Welt“, der FAZ und durch den Aufsatz von Werner Schulz über die „Annullierung der Dopingaufarbeitung“ in der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat ist der Desinformationscharakter der MDR-Produktion „Doping – Dichtung“ vom 31. Januar 2023 detailreich nachgewiesen worden. Der Beitrag der MDR-Sportredaktion zielte vermeintlich auf meine Person, war aber der offensichtliche Versuch, das politische Projekt DDR-Sportopfer auf gravierende Weise zu diskreditieren. Ich fordere von der MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille, dass sie sich a. zu dieser Art von Nichtaufarbeitung eines der öffentlichkeitswirksamsten DDR-Themen vernehmbar verhält, b. dass sie im Sender klärt, wie ein solcher Beitrag der Sportredaktion überhaupt möglich werden konnte, auch im Hinblick auf die senderinstitutionelle Kontrolle und c. dass die MDR-Intendantin klärt, was der Sender beitragen kann, damit den DDR-Sportopfern endlich Gerechtigkeit widerfährt.
  2. Das Archiv der Stasiunterlagen ist weltweit einzigartig und eines der großen Errungenschaften der glücklichen deutschen Revolution von 1989. Werner Schulz schrieb in seinem postumen Aufsatz: „Dass Geheimdienstunterlagen missbraucht werden, wollten wir Bürgerrechtler am Runden Tisch unter allen Umständen verhindern. Insofern bin ich der Ansicht, dass Personen, die in solche Vorgänge verwickelt sind, nicht mehr mit Akten des Ministeriums für Staatssicherheit befasst sein sollten.“ Dabei ging es um den DDR-Historiker Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, der im Dezember 2019 Dokumente aus meiner Opferakte in einer Facebookgruppe teilte und damit öffentlich machte, vermutlich auch an die Medien. Der Philosoph, Theologe und ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende in der 1990 erstmals frei gewählten DDR-Volkskammer Prof. Dr. Richard Schröder äußerte im Zusammenhang mit diesem Datenleck im Stasi-Unterlagenarchiv: „Kowalczuk hat dokumentiert, wie die Behördenforschung illegales Aktenschnüffeln und -kopieren gar nicht verhindern kann.“ Kowalczuk ist derzeit beurlaubt. Am 1. April 2023 soll er seine Arbeit in der Stasiunterlagenbehörde neu antreten. Damit wird er Zugriff auf alle Anfragen an die Behörde und faktisch unkontrolliert auch auf alle dort lagernden Opferakten haben. Was den Missbrauch meiner Opferakte angeht, hat Kowalczuk die Klärung des Vorgangs gezielt verhindert, indem er teure Anwälte gegen seinen Arbeitgeber einschaltete. Er ist unermüdlich in Kampagnen verwickelt, bei denen er augenscheinlich nicht davor zurückschreckt, Dokumente und Informationen aus Opferakten zu instrumentalisieren. Liebe Alexandra Titze – Sie wissen, wie sehr ich Sie persönlich – und auch Ihre Arbeit schätze. Und dennoch: Im Sinne des Schutzes der von der Stasi Bespitzelten halte ich es für einen politischen Skandal, dass ein Wissenschaftler mit einem solchen Hintergrund weiterhin Zugang zu Opferakten erhält. Ich bitte Sie, dafür eine absolut sichere Lösung zu finden.
  3. Sehr geehrte Damen und Herren, Erich Loest ist Ehrenbürger von Leipzig. Wir sind uns mehrfach begegnet. In seinem Tagebuch hielt er für den Februar 2009 fest: „In Berlin sitze ich bei den Grünen mit Ines Geipel, Christoph Hein und dem damaligen Aufbau-Verlagsleiter Elmar Faber auf einem Podium. Thema: DDR-Literatur, ‚Leseland DDR‘. Faber verharmlost und wird von Ines Geipel abgebürstet. Sie nennt Namen und Strafzumessungen bis in die achtziger Jahre hinein, bisweilen verhängt wegen einiger missliebiger Gedichte.“ Die verfemte Literatur des Ostens. Das literarische Gegengedächtnis. Ein Stück Identitätsgeschichte. Ein nach wie vor offenes, weithin unerforschtes Land. Ich würde die Universität Leipzig, die Stadt, vielleicht auch die Medienstiftung gern für das Projekt erwärmen, in Leipzig einen Lehrstuhl der Verfemten Künste einzurichten, der den Namen Erich Loest trägt. Ich denke, hier in dieser Stadt, in der Stadt Revolution, muss diese Idee nicht erst erfunden werden. Sie gehört genuin hierher und entspräche ganz seinem Vermächtnis.

Sehr geehrte Damen und Herren, Ich hatte anfangs von der Suche nach einem Loest-Motiv gesprochen. Welches könnte ich meinen damit? Bei Börne lag das dämmernde Stubenhündchen hinterm Sessel, bei Hölderlin waren es die Kraniche, die ihn im Kopf in den Süden entkommen ließen. Aber wohin hätte ein Jungenschafts- und Fähnleinführer beim Deutschen Jungvolk – oder wie Erich Loest über sich selbst sagte – ein „Naziherz“ und „Tapferkeitssüchtiger“ von „heldischer Idiotie“, der am Ende des Krieges innen wie außen einzig auf „Leere, Stille, Vakuum“ stieß, wohin hätte er entkommen können? Wohin entkam Loests lodernder Hunger, der ihn über die Jahre quälte, bis er sich beim Strafgefangenen 23/59 im Zuchthaus Bautzen zu eisigen Magengeschwüren ausformte? Die Hitlerjungen und ihre kaputten Mägen, Knochen, Gedärme, Herzen. Wir meinen heute, dass wir genug darüber wissen. Erich Loest sagte bis zuletzt: „Nie wurde ein Roman über die Hitlerjugend geschrieben“. Ein forciertes Nein, das zur DDR-Heldenmanie gehörte. Das sogenannt „Bessere Deutschland“ wollte siegen. Erich Loest wollte öffentlich sagen dürfen, dass er sich geirrt hatte. Das war nicht erlaubt und blieb eine Wunde. Ein Loch, das schwelte, um sich umso gravierender gesellschaftlich auszudimensionieren. Die Loestsche Schlussfolgerung: „Ich will mitmischen und darstellen und erläutern“. Und: „Ich will Aufsehen, Krach. Im Knast hatte das ‚Bambule‘ geheißen!“ Das war Loest als Anspruch, in seiner unnachahmlichen Kontur als Schriftsteller und politischer Identitätsstifter.

Und das Loest-Motiv? Ich blättere durch seine Bücher. In der Autobiografie „Durch die Erde ein Riss“ wird das Bild der „Kerbe im Kolben“ stabil durch die Seiten gereicht. „Keine Kerbe im Kolben“, „Er fand keine Kerben im Kolben“, „ohne Kerbe im Kolben“ heißt es kapitelweise. Eine quälende Selbstbefragung, ein anhaltender „Alpdruck“. Als Hitlerjunge war die Kerbe eine Sache des Stolzes, nach 1945 wurde sie zur Frage von Schuld. Auf Seite 132 der knappe Satz: „Und L. hatte doch Kerben im Kolben.“ Es ging um die „vierzig seiner hundertzwanzig Pimpfe und Führer des Fähnleins 6/214, die freudig und leidenschaftlich seinen Befehlen gefolgt waren.“ Das Motiv kehrt wieder in seinem Buch „Der Zorn des Schafes“. Loest schreibt über eine Lesung 1985 im bayerischen Schönsee. In diesem für ihn historischen Ort war er zuletzt Anfang Mai 1945 als Neunzehnjähriger gewesen. Dort wurde die unter seinem Befehl stehende Truppe im Wald von den Amerikanern zerrieben. Der in den Westen ausgereiste Loest saß insofern – 40 Jahre später – vor den Schönseeern, um sich mit sich selbst zu konfrontieren. Das versuchte Gespräch nach der Lesung zielte ins Herz, in seinen innersten Stoff: „Wusste denn keiner, was mit den etwa vierzig Werwölfen geworden war, die nicht durchgebrochen waren? Waren sie niedergemacht worden? Aber wo liegen dann die Gräber? Nie hat sich einer bei mir gemeldet. Für mich bleiben bis heute vierzig Männer wie vom steinigen Erdboden nahe der böhmischen Grenze verschluckt.“ Auch im Westen bekam er lediglich das laute Schweigen der Alten, auch da nur dieses Nein.

Die Kerben, die von der Geschichte verschluckten Männer, die komplizierte Schuldfrage, die deutsche Wörterkrankheit oder wie Erich Loest diesen Stoff ein Leben lang mit sich herumschleppte. Er wollte von seinem, wie er es nannte, „gestörten Verhältnis zur Macht“ berichten, er wollte um seine Verantwortung für seine „Leute“ wissen, die Opfer und Täter zugleich geworden waren. Er wollte in den Schmerz desjenigen gehen, der überlebt hatte, der übrig geblieben war, der sich hatte verführen lassen. Wieviel Verantwortung galt also für einen Neunzehnjährigen in einer Kriegssituation? War es nicht eher so, dass Loest nach Schönsee gefahren ist, um endlich trauern zu dürfen, zu können und auch zu müssen? Doch die Zeiten waren nicht so. Der Stoff hockte in ihm wie seine unerlöste Frage. Loest las die Bücher, sah die Filme, die über die Jahrzehnte über die Hitlerjugend erschienen. Es war ein Stoff, der sich zum medialen Longseller eignete. Er fand nicht darin, was ihn so schmerzte. Und dann?

War das Leben von Erich Loest zu prallvoll, zu hochkarätig, zu diktaturbelastet, zu sächsisch, zu gesamtdeutsch, als dass es sich auf einen einzigen Punkt, ein Motiv, einen Stoff einschmelzen ließe. In „Der Zorn des Schafes“ laufen, um beim Thema zu bleiben, unentwegt Hunde durch die Landschaft. Es sind keine Börne-Hunde. Bei Loest dämmert nichts vor sich hin. Loests Doggen sind scharfgestellte Exponenten des deutschen Wachhundewesens. Ich denke an Zuchthausmauern, gestaffelte Zäune, ich denke an Sperrgitter, Isoliertrakte, Sonderüberwachung. Ich denke an die ostdeutsche Einschlussgesellschaft und daran, dass der Kommunist Erich Loest am 14. November 1957 verhaftet wurde und für sieben Jahre in Cottbus und Bautzen II hinter dicken Gefängnismauern verschwand. Sieben endlose Hundejahre. Als Fähnleinführer, so wollte Loest es für sich halten, hatte er Befehle ausgeteilt und Macht besessen. Nun hatte die Macht ihn. „Zuchthaus: der tiefste Sturz“, notierte er. Und: „Er war starr vor Wut. Er wusste nicht genau, ob er kapituliert hatte. Ein Jahr bestand aus 365 Tagen, zwölf Briefen, vier Besuchen und zwei bis drei Magengeschwüren.“ Und noch: „Walter Kempowski, der acht von geplanten fünfundzwanzig Jahren Erfahrung mit gemordeter Zeit besaß, schrieb mir in sein wundervolles Buch ‚Im Block‘: ‚Bautzen eins, Bautzen zwei, einerlei.‘“ Im Grunde haben alle, die durch diesen Abgrund gingen, lebenslänglich.“

Die Werwolf-Schlucht an der böhmischen Grenze Anfang Mai 1945 und die scharfgemachten Kettenhunde, die durch seine Nächte hechelten: „Mein Nachtschlaf ist in den Knastjahren versaut worden, stündlich kippt er in eine neue Position, Situation“, hielt er im Tagebuch fest. Krieg und Zuchthaus als zwei Extrempunkte der Diktatur, für Loest zwei Todeszonen. Neben vielen anderen Motiven in seinem Leben und Werk waren es die beiden Glühkerne seiner Existenz. Es sind auch seine beiden literarischen Kernstoffe.

Die Verzahnung von Nationalsozialismus und DDR-Diktatur bleibt das Basisbrot der deutschen Frage und Erich Loest als Mentor der doppelten Aufarbeitung eine Aufgabe. In der DDR wollte er den großen Roman über die Hitlerjugend schreiben. Es war sein Stoff und blieb eine Leerstelle. Nach 1989 wollte er den Opfern der DDR-Diktatur in Leipzig einen Ort geben. Das Bild an der Universität, für das er so lange gekämpft hatte, hat er Zeit seines Lebens nicht hängen sehen. Erich Loests Vermächtnis ist unerlöst. Sein Konflikt aber ist da, er drängt, er will nicht verwartet werden.

Ines Geipel im Demokratischen Salon:

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im März 2023, die Rede von Ines Geipel ist auch auf der Seite der Medienstiftung online verfügbar, Internetzugriffe zuletzt am 7. März 2023.)