Konkrete Vielfalt Migration

Rund um DOMiD, einen dynamischen Erinnerungsort in Köln

„Deutschland kommt langsam im Kreis der westlichen Einwanderungsnationen an. Unity in Diversity, E Pluribus Unum – das steht zum Beispiel auf dem amerikanischen Wappen. Und das ist genau die Story: wir sind nicht mehr eins, weil wir gemeinsames Blut haben. Die Einheit wird durch die Akzeptanz der Vielheit, auch und gerade von Herkünften hergestellt.“ (Joachim Baur, Musealisierung als Gefahr? Bielefeld, transcript, 2009, zitiert nach: Manuel Gogos, Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft – DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n), Bielefeld, transcript Edition Museum, 2021)

Manuel Gogos zitiert die Sätze von Joachim Baur am Schluss seines Buches über das Kölner Museumsprojekt DOMiD. Ich gestehe, dass ich bei dem Wort „Blut“ immer zurückzucke. Eigentlich sollte es inzwischen selbstverständlich sein, dass alle Menschen zwar unterschiedliche Blutgruppen, aber dennoch das gleiche Blut haben. Stimmt die Blutgruppe, sind Blutspenden jederzeit möglich. Und dennoch gehört das Wort „Blut“ immer wieder zu den Metaphern, mit denen Unterschiede zwischen den Menschen suggeriert werden sollen. Ich verstehe Joachim Baurs Wortwahl so: die Gemeinsamkeit der Menschen ist nicht nur biologisch begründet, sondern auch sozial und kulturell, bei allen Unterschieden sind alle Menschen Teil einer Menschheit. Migration wäre dann lediglich ein aus welchen Gründen auch immer motivierter Ortswechsel. Menschlichkeit realisiert sich allerdings in der Reaktion auf Migration, entweder in Akzeptanz und Respekt oder durch Ablehnung und Diskriminierung. Und damit wären wir wieder bei den vielen Metaphern, die Unterschiede zwischen den Menschen schaffen.

Am Anfang war Exil

Manuel Gogos referiert in seinem Buch „Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft“ die Chronologie von DOMiD. DOMiD ist die Abkürzung für „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.“. Gegründet wurde DOMiD im Jahr 1990 in Essen als DOMiT. Die Gründer*innen waren eine Gruppe von Menschen, die nach dem Militärputsch des Jahres 1980 die Türkei verlassen hatten. Aber auch DOMiT entstand aus zwei Vorläuferorganisationen, Türkei-Data und Türkei-Archiv. Im Jahr 2007 erfolgte eine Fusion mit dem Verein „Migrationsmuseum in Deutschland e.V.“ In diesem Kontext erfolgte auch der Namenswechsel: aus dem „T“ („aus der Türkei“) wurde ein „D“ („in Deutschland“). Inzwischen gibt es eine Machbarkeitsstudie für das Museum. Die Eröffnung ist für das Jahr 2027 vorgesehen. Eine alte Industriehalle in Köln-Kalk kann als Ausstellungsgelände genutzt werden. Bundes- und Landesregierung, die Stadt Köln und diverse Stiftungen sichern die Finanzierung. Ein erstes Logo des Museums gab es bereits 1990.

Manuel Gogos stellt sich selbst auf seiner Internetseite „Geistige Gastarbeit“ als „freier Autor und Ausstellungsmacher“ vor. Er beteiligte sich mehrere Jahre lang an der Konzeption von DOMiD. Er referiert, dokumentiert, illustriert und kommentiert die Geschichte des Projekts in seinem Buch mit Testimonials, Bildern und thematisch gehaltenen Abhandlungen. Sein Buch enthält Vorworte des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet und der Publizistin Jagoda Marinić. Jagoda Marinić vergleicht DOMiD mit Ellis Island vor New York City: „Eine Schwelle zur Vergangenheit, in der zugleich Gegenwart entsteht“. Ort der Träume und Hoffnungen auf Freiheit und Zukunft, auf eine Erzählung, die manche Vergangenheit hinter sich lässt, der Beginn einer lange währenden neuen Geschichte, die Gegenwart schafft, aber dennoch immer Vergangenheit in sich birgt. All das war Ellis Island mit seiner Freiheitsstatue vielleicht für die Ankommenden früherer Einwanderungsbewegungen in die USA, Ort der Träume, Ort konkreter Utopie, Ort der Überwindung des Vergangenen. Eine solche Reflexion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft finden wir bei vielen Literat*innen und anderen Künstler*innen. Zu den Literat*innen, die Manuel Gogos vorstellt, gehören beispielsweise Emine Sevgi Özdamar, Fakir Baykurt, nach dem inzwischen ein Duisburger Kulturpreis benannt ist, und Dan Thy Nguyen. Doch es sind nicht nur Träume, es ist auch handfeste Politik. Zu denjenigen, die eine solche Politik förderten, gehörte Armin Laschet. Doch dazu später.

Gründer*innen von DOMiT waren Menschen, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 von Kenan Evren in der Türkei in Deutschland Zuflucht fanden. DOMiT begann sozusagen mit – ich wähle eine Formulierung von Joseph Brodsky – „The Condition We Call Exile“. Der gleichnamige Essay von Joseph Brodsky ist in der Essay-Sammlung „On Grief and Reason“ zu finden, die 1995 bei Farrar, Strauss and Giroux in New York und bei HarperCollinsCanada erschien. Der erste literarische Text im Buch von Manuel Gogos ist daher geradezu folgerichtig Bertolt Brechts „Gedanken über die Dauer des Exils“ aus den Svendborger Gedichten (in Band 9 der Werkausgabe bei Suhrkamp enthalten).

Am Anfang war Exil. Joseph Brodsky schreibt darüber, was Exil für Menschen, die mit und in und oft auch von ihrer Sprache leben, für Schriftsteller*innen, Dichter*innen, Journalist*innen bedeutet. „And perhaps the third truth of the matter is that a writer in exile is, by and large, a retrospective and retroactive being. In other words, retrospection plays an excessive (compared with other people’s lives) role in the existence, overshadowing his reality and dimming the future into something thicker than its usual pea soup.” Erinnerung mag den Alltag dominieren, immer mit einem oder sogar mehreren Gedanken in einem fernen Irgendwo, das als eigentliche Heimat empfunden wird, weil es dort eine Sprache gibt, in der sich all das Erlebte, einen Menschen Umgebende, Ereilende leichter und prägnanter fassen ließe als in der Sprache des Ortes, an dem die Migrierenden gerade erst angekommen sind. Vladimir Nabokov, der in seinen Romanen ein ausgezeichnetes, hoch differenziertes Englisch schreibt, beklagte, er könne es nicht so schreiben wie er es auf Russisch hätte tun können.

Dies ist auch eine der Wahrheiten von Brechts Gedicht. Brecht lässt es mit den folgenden Versen beginnen: „Schlage keinen Nagel in die Wand / Wirf den Rock auf den Stuhl / Warum vorsorgen für vier Tage?“ Diese Bilder erwecken einen Zustand der Vorläufigkeit, das Bild von etwas Verlorenen, das wiedergewonnen werden könnte und sollte. Sie erinnern an das Bild des unausgepackten Koffers, der mit der Zeit zwar ausgepackt wird, aber dennoch immer präsent bleibt, um schnell wieder gepackt zu werden, vielleicht nicht, um in das Land zurückzukehren, das verlassen werden musste, sondern angesichts neuer Bedrohungen sich eine neue Bleibe suchen zu müssen. Und es ist leider nicht so, dass es für alle, die gezwungen sind, von Land zu Land zu ziehen, die als „Displaced Persons“ im weitesten Sinne Heimatsuchende sind, ein Land gäbe, das eine Überlebensgarantie böte. Das, was Israel für alle Juden und Jüdinnen dieser Welt bietet, bietet kein Land für all die anderen verfolgten, vertriebenen Menschen. Exil kann zum Dauerzustand werden, ein Leben mit und aus dem Koffer. Migration in einen Ort, an dem sich sicher und frei leben lässt – das bleibt für manche ein unerfüllbares Versprechen.

Menschen erzählen Geschichten, ihre Geschichten

Vergangenheit zählt. Wer im Exil lebt, weiß, was das bedeutet, es ist nicht nur Nostalgie. Die im Exil lebenden Menschen haben eine weiterreichende Aufgabe, die Joseph Brodsky beschreibt: „Yet if we don’t use it, if we decide to remain effects and play exile in an old-fashioned way, that shouldn’t be explained away as nostalgia. Of course, it has to do with the necessity of telling about oppression, and of course, our condition should serve as a warning to any thinking man toying with the idea of an ideal society. That’s our value for the free world: that’s our function.”

Ebendies soll DOMiD leisten, als Ort der Erinnerung und als Ort der Begegnung, als Ort, in dem Geschichten erzählt und gehört werden, Geschichten, die vielleicht auch Heimat schaffen, und wenn nicht im Singular, dann im Plural. Es entstehen Heimaten, keine idealen Heimaten, aber immerhin Orte, in denen das Leben sicher ist, zumindest sicher erscheint. Manuel Gogos schreibt, bei DOMiD gehe es darum, „wie Migration lebensgeschichtlich erinnert wird“. Verbunden mit der Sammlung von Vergangenheit, mal materiell, mal immateriell, ist die Wertschätzung der eigenen Geschichte.

Das ist nicht immer so einfach wie es sich liest. Manuel Gogos sprach mit der Kulturanthropologin Barbara Wolbert. „Wolbert selbst räumt ein, authentische Objekte, die echte Spuren der Migrationsgeschichte in sich tragen, könnten vielleicht auch als eine Art ‚Antikörper‘ zu betrachten sein, die üblichen Musealisierungsphasen widerstehen. Ebenso wie die Musealisierung der Migration die Institution Museum selbst herausfordern kann.“ Es bestand und besteht auch die Gefahr, „authentische Objekte (…) mit Migrationsdiskursen gewissermaßen zu überfrachten.“ Umso wichtiger war und ist es, in DOMiD die ausgestellten Gegenstände mit den persönlichen Geschichten zu verbinden, die dazu führten, dass die ehemaligen Besitzer*innen sie dem Museum übergaben. Das ist – so Manuel Gogos – „ein Akt der historischen Selbstermächtigung und Selbstermächtigung von Migrant*innen“, die die „Bedeutung kultureller Überlieferung für die eigene Identitätsbildung“ dokumentieren und sich in dem Museum eine Art „(Gegen)Öffentlichkeit“ schaffen. Das Ziel von DOMiD ist es, „die historische Amnesie bezüglich der Einwander*innen zu beenden und im Hinblick auf die Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik die eigenen Bildungslücken zu schließen.“

Alle Gegenstände, die in dem Museum gezeigt werden können, haben eine sehr persönliche Geschichte, die Geschichte ihrer ehemaligen Besitzer*innen. Ich nenne die Schuhe einer Frau als Ghana, mit denen sie in Deutschland ankam, Einlieferungsscheine von Arbeiter*innen für Geldtransfer von Deutschland an ihre Familien, die erste Registrierkasse eines italienischen Lebensmittelgeschäfts, einen Schuhputzkasten, mit dem jemand einen Beruf, den er aus der Türkei kannte, in Deutschland heimisch machen wollte. Das Depot des Museums enthält eine Fülle solcher Gegenstände. Es ist sicherlich keine einfache Aufgabe, die dahinter liegenden Geschichten fühl-, sicht- und hörbar zu machen. Aber allein die Tatsache, dass so viele Menschen diese Gegenstände DOMiD überließen, belegt ihr Vertrauen, dass ihre Geschichte nicht vergessen sein wird. Besonders beeindruckend ist das Radio der Familie Genć, das ein Freund ihr nach den Morden vom 29. Mai 1993 schenkte, „damit sie wenigstens die Nachrichten verfolgen und Musik hören konnte.“ Die Überlebenden der Familie überließen dieses Radio DOMiD als Zeichen, dass sie sich nicht von Mördern vertreiben ließen, sondern Solingen weiterhin als ihre Heimat verstanden, dort bleiben und leben wollten.

DOMiD ist Zeichen eines „Kampf(es) gegen das Vergessen“, im Guten wie im Bösen. Dazu gehören die Wege, über die Menschen nach Deutschland kamen, die langen Zugfahrten, die „Transporte“ genannt wurden, die Ankunft auf Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs, die Leibesvisitationen durch Amtsärzte bei der Einreise. All dies ist Gegenstand der musealen Erinnerung im Museum. Sicherlich wäre es möglich gewesen, diesen Aspekt zu internationalisieren, denn die mitunter demütigende Art und Weise der Aufnahme von Migrant*innen war und ist nicht nur deutsche Praxis. Das wurde auch im Kreis der Kurator*innen der ersten Stunde diskutiert. „Bei DOMiD setzt sich in der Folgezeit die Fraktion derjenigen durch, die eine Politik der kleinen Schritte befürworteten. Das Museum blieb das Ziel aller Bemühungen, dabei stellte man die Vision eines grenzüberschreitenden, europäischen Hauses zurück und fokussierte sich stattdessen auf ein zentrales Migrationsmuseum für Deutschland.“ Es geht um die Ankunft und das Leben von Migrant*innen in Deutschland, um ihre Geschichte. Wer möchte, kann das Museum auch virtuell besuchen und dort erleben, wie sich Migration, Ankunft, Integration, auch mit all ihren Versprechungen, Zurückweisungen und Erfolgen anfühlen. Zeitzeug*innen erzählen ihre Geschichte, die Räume, in denen sie lebten und leben, werden erlebbar, zumindest nachvollziehbar, schaffen Empathie, machen nachdenklich.

Das ist mehr als die von Joseph Brodsky angesprochene „Nostalgie“, die aber bei weitem nicht so negativ verstanden werden sollte, wie es vielleicht auf erstes Hören erscheint. „Nostalgie“ erfüllt sich, wenn Geschichten der Vergangenheit bewusstwerden, ein Museum ist Ort der Kristallisation von Vergangenheiten und schafft kollektive Erinnerung. Manuel Gogos: „Darum hatten jüdische und armenische Diasporagemeinschaften Erinnerungstechniken entwickelt, um sich durch Erzählungen und Rituale im Rahmen der Familien immer weiter ihrer Herkunft zu versichern. Dasselbe galt auch für arabische Migrant*innen in Frankreich oder türkische Gastarbeiter*innen in Deutschland.“ Robert Fuchs, seit 2017 Leiter von DOMiD, hat über das Heiratsverhalten deutscher Auswanderer in den USA im 19. Jahrhundert promoviert und festgestellt, dass die Verhaltensweisen der deutschen Zuwanderer*innen der damaligen Zeit und die der heutigen Zuwanderer*innen in Deutschland einander durchaus ähneln.

Der Prozess der Migration dauert erheblich länger als der Weg von einem in ein anderes Land. Er endet nicht mit der Ankunft. Robert Fuchs sprach von der ersten Generation, die die Anerkennung ihrer Lebensleistung sucht und oft – wie mir die Frankfurter Wissenschaftlerin Meltem Kulaçatan in einem Gespräch vor allem in Bezug auf die Frauen sagte – nicht findet, sowie den Menschen der zweiten, dritten, vierten Generation, die sich viel zu oft als „fremd gemacht“ erleben und sich daher auch wieder, vielleicht nur notgedrungen, in das Milieu ihrer Familie und ihrer Peers zurückziehen.

Es ist ein ganz natürlicher Vorgang. Wenn ich in einem fremden Land, einer fremden Umgebung ankomme, suche ich erst einmal Menschen aus meiner alten Verwandtschaft und Bekanntschaft, die schon längere Zeit dort sind. Und ich pflege bestimmte Gewohnheiten, ich koche was ich kenne, feiere mit den Menschen, die ich kenne, heirate in meinem Bekanntenkreis. Dies diversifiziert sich erst nach einer relativ langen Zeit. Die Rede von der Parallelgesellschaft diffamiert das Sicherheitsbedürfnis der neu Angekommenen, sich zunächst mit Vertrautem zu umgeben. Mit der Zeit entstehen hybride Formen des Alltags und so zeigt DOMiD auch kleine Weihnachtsbäume aus zugewanderten Familien.

Die USA haben ein anderes Problem. Die deutschen, irischen, italienischen, jüdischen, polnischen Communities haben weitgehend ein gemeinsames Verständnis entwickelt, was es heißt, US-Bürger*innen, Amerikaner*innen zu sein. Genau genommen sind sie weiße Euro-Amerikaner*innen. Manche waren es nicht immer, aber sie wurden es. Das gilt beispielsweise nicht nur für Jüdinnen*Juden, sondern auch für irische Einwander*innen. Noel Ignatiev ist der Autor des Buches „How The Irish Became White“ (1995 bei Routledge erschienen). Afroamerikanische US-Bürger*innen, aus lateinamerikanischen Ländern eingewanderte Menschen spielen jedoch nur eine Nebenrolle in diesem inzwischen weiß gelesenen Amerika, ebenso die Angehörigen der First Nations, die von den euro-amerikanischen Einwanderer*innen im 19. Jahrhundert verdrängt, verjagt und ermordet wurden. Dieses euro-amerikanisch dominierte Bild von Einwanderung dominiert ein grundlegendes Buch zur Einwanderung in den USA, John F. Kennedys „Nation of Immigrants“ (1964 von der Anti-Defamation League of B’nai B’rith veröffentlicht). Die meisten politischen Programme zur Einwanderung in Europa und den europäisch dominierten Ländern wie den USA, Kanada, Australien oder Neuseeland sind Programme einer weißen Mehrheitsgesellschaft, selbst dort, wo diese Mehrheitsgesellschaft nicht mehr Mehrheit ist.

Normalfall Migration?

Doch wer sind die Menschen, die in Deutschland leben, jedoch nicht in Deutschland geboren sind, wer sind die Menschen, die zwar selbst in Deutschland geboren wurden, deren Eltern oder Großeltern jedoch aus einem anderen Land kamen, aus unterschiedlichen Gründen, als – so hieß das damals – „Gastarbeiter“, ein Begriff, der nur in der männlichen Form verwendet wurde, obwohl es in der Textilindustrie oder in der Krankenpflege auch viele Frauen gab, als vor einer Diktatur Flüchtende, als Studierende. Eine in der kollektiven westdeutschen Erinnerung wenig präsente Gruppe sind beispielsweise die südkoreanischen Krankenschwestern und Textilarbeiterinnen der 1960er und frühen 1970er Jahre. Mit der Zeit verloren die Gründe der Ein- beziehungsweise Zuwanderung vielleicht an Bedeutung, man*frau richtete sich ein: Dennoch blieben sie Teil der Familiengeschichte, die im bürokratischen Jargon „Migrationshintergrund“ genannt wird, aber eigentlich nicht mehr und nicht weniger ist als eine internationale Familiengeschichte, nur mit der Besonderheit, dass eine deutsch-türkische oder deutsch-arabische Internationalität beispielsweise bei Bewerbungsgesprächen weniger Anerkennung gewinnt als eine deutsch-englische oder deutsch-französische.

Heimat gibt es nur im Plural, auch Migration. Wer der Entwicklung der Migrationen gerecht werden möchte, muss die verschiedenen Anlässe und Phasen der Ein- und Zuwanderung nach Deutschland zusammendenken. Manuel Gogos verweist auf Rainer Ohliger, der in seinen Publikationen und Vorträgen immer wieder diesen Gedanken vertritt. Ein Anliegen von DOMiD ist daher „eine Erinnerungskultur der Migrationsgesellschaft“. „Migrationsgesellschaft“ bezeichnet als Begriff sozusagen das Ergebnis, zumindest das gewünschte Ergebnis, vielleicht sogar die Vision einer „Einwanderungsgesellschaft“. Ein wegweisendes Dokument zur Diversität von Erinnerungskulturen in einer Migrationsgesellschaft sind die von der damaligen KMK-Präsidentin Sylvia Löhrmann angeregten KMK-Empfehlungen zur Erinnerungskultur vom Dezember 2014. Diese Empfehlungen versuchen, die Vielfalt der Erinnerungskulturen in Deutschland abzubilden, ein Vorhaben, das auch in diesem Text bei allem Bemühen nicht immer gelang und vielleicht auch nicht gelingen konnte. So fehlt im Dokument beispielsweise ein expliziter Verweis auf die Singularität der Shoah. Dieses Defizit war jedoch wiederum Anlass zu einer gemeinsamen Erklärung der KMK und des Zentralrats der Juden, die dann im Herbst 2016 beschlossen wurde. Auch Erinnerungskultur ist ein dynamischer Begriff.

Forschungen von Rainer Ohliger und Viola B. Georgi belegen, wie junge Menschen mit einer internationalen Familiengeschichte anders als oft unterstellt sich sehr für die Shoah interessieren, Julia Bernstein hat mich darauf hingewiesen, dass die eigenen Familienerinnerungen oft auch als Türöffner für ein Verständnis der Shoah wirken. Arbeitsmigration, Flucht, Vertreibung lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Andererseits gibt es auch Grenzen. So wurde anlässlich einer Tagung von DOMiD diskutiert, ob Erika Steinbach eingeladen werden sollte. Sie wurde nicht eingeladen. Allgemeiner formuliert bedeutet die Öffnung der Erinnerungskultur für die vielfältigen Erfahrungen von Ein- und Zugewanderten „Transnationalisierung“. „In einem Positionspapier von 2004 skizzierte die Frankfurter Kulturanthropologin Regina Römhild (jetzt an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig, NR) konzeptionelle Grundüberlegungen für das Projekt Migration: Migration, so heißt es, wandle sich ‚vom Sonderfall zum Normalfall modernen Lebens.‘“ Ich verstehe diese Formulierung als konkrete Utopie. „Normalfall“ wird „Migration“ sicherlich nie für alle, sie wird immer Gegenstand von politischem Streit bleiben, aber es gibt eben auch Entwicklungen, zum Beispiel allein schon in der Begrifflichkeit.

Heute spricht kaum noch jemand von „Ausländerpädagogik“. Ein großes Projekt des Deutschen Jugendinstituts aus den 1990er Jahren trug den Titel „Integration junger Ausländerinnen und Ausländer“. Der Jugendkulturbericht des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 1995 sprach von Ein- und Zugewanderten als „EmigrantInnen“ (daran störte sich der damalige Ministerpräsident Johannes Rau nicht, wohl aber an dem von seinen Ministern Hans Schwier und Franz Müntefering gebilligtem Binnen-I, wie er am Rosenmontag 1996 in einem persönlichen Brief an die beiden festhielt). Niemand spricht heute noch von „Ausländerpolitik“. Heute dominieren Begriffe wie „Interkulturelle Pädagogik“, „Integrationspolitik“, „Diversity Management“ oder „Migrationsmanagement“, und wenn der politische Streit härter wird, ist die Rede von „Flüchtlingspolitik“. Insofern mutet der Name des aktuellen Integrationsministeriums in Nordrhein-Westfalen etwas hybrid an. Im Namen finden wir „Flüchtlinge“ und „Integration“, als wenn sich diese beiden Begriffe ausschlössen. Die Integrationsstaatssekretärin ist nicht für die „Flüchtlinge“ zuständig. Zumindest signalisieren all diese Begriffe, dass wir in Deutschland auf dem Weg sind, „Ausländer“ als „Inländer“ zu begreifen, aber die Sprache, die wir dazu bräuchten, noch nicht gefunden haben. Unvollkommen und mitunter verletzend ist die Rede von den „Mitbürgern“, aber vielleicht erleben wir eines Tages, dass nur noch von Bürger*innen die Rede ist, von Menschen, die mit ihren unterschiedlichen Familien- und Herkunftsgeschichten, ihrer Mehrsprachigkeit, ihren internationalen Familien einander respektieren und bereichern. Dann wäre das, was wir in manchen Festtagsreden hören, Wirklichkeit, erst dann. Konkrete Utopie.

Fragile Akzeptanz

Ist Migration inzwischen wirklich – wie es Regina Römhild und andere 2004 in einem Text mit Manifestcharakter formulierten – „Normalfall“ geworden? Die Antwort fällt nach wie vor nicht leicht, aber es gibt eine Fülle von Erfolgsgeschichten. Aladin El-Mafaalani weist in seinen Vorträgen gelegentlich darauf hin, dass es heute kaum noch eine Nachrichtensendung gibt, in der nicht ein Migrantenkind moderiere. Erfolgsgeschichten im Journalismus sind allerdings nur die eine Seite. Die andere Seite sind die Mühen, die den Weg zum Erfolg prägen. Und diese Mühen haben viel mit allgemeiner gesellschaftlicher Akzeptanz zu tun. Es ist nach wie vor für Menschen mit einem türkischen oder arabischen Namen schwierig, eine Wohnung zu mieten. Kindern, die zu Hause oder mit ihren Freund*innen auf dem Schulhof eine andere Sprache als Deutsch sprechen, wird unterstellt, dass sie in der Schule kaum erfolgreich lernen könnten. Ein „Migrationshintergrund“ wird erst einmal als Defizit verstanden, und die Migrantenkinder haben eine Holschuld, die Mehrheitsgesellschaft jedoch keine Bringschuld.

Hier kommt der Name Armin Laschet ins Spiel. Er war in seinen Zeiten als Integrationsminister und später als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen einer der verlässlichen Förderer von DOMiD. Als Integrationsminister sorgte Armin Laschet im Jahr 2009 für staatliche Zuschüsse zur Konzeption und Ausgestaltung des Migrationsmuseums. Und nicht nur das. Er schreibt im Vorwort des Buches von Manuel Gogos: „Einwanderung und Vielfalt sind nicht die Ausnahmen, sondern sie sind seit Langem ein Teil unserer Geschichte und Identität. Nur, wenn wir das anerkennen, können wir heute und in Zukunft ein gutes Miteinander gestalten.“

Armin Laschets Leistungen als Integrationsminister werden in der Regel unterschätzt. Ich wage die These, dass heute über Armin Laschet anders gesprochen würde, wenn er nicht Ministerpräsident und Kanzlerkandidat geworden wäre, sondern der erste Integrationsminister einer deutschen Bundesregierung. Armin Laschet hat seine ursprünglich und in vielen Teilen leider noch immer migrationskritische Partei für das Thema Migration gewonnen und darüber hinaus auch vielen jungen Migrant*innen die Chance eröffnet, sich ihre eigene politische Karriere zu erschließen. Die bekannteste ist vielleicht Serap Güler, die 2017 bis 2021 als Integrationsstaatssekretärin in Düsseldorf wirkte. Inzwischen ist sie Bundestagsabgeordnete und als eine der profilierten liberalen Stimmen in der CDU gefragt. Gleichwohl musste Armin Laschet in seiner eigenen Partei manchen Spott ertragen. Dort gab man ihm den Spitznamen „Türken-Armin“. Mit diesem Etikett wurde nicht nur er diffamiert, diffamiert wurden alle Migrant*innen in Deutschland, als Menschen zweiter oder dritter Klasse, für die sich einzusetzen nicht zu den Prioritäten seiner Partei gehörte. Diffamiert wurden nicht nur Migrant*innen mit türkischer Familiengeschichte, alle anderen wurden geradezu ignoriert oder wenn man so will alle über einen Leisten geschlagen, „Türke“ wurde zur Metapher für ungeliebte, nicht den behaupteten Standards der Mehrheitsgesellschaft entsprechende Migranten. Eine Steigerung war jedoch möglich, denn „der Türke“ wurde als „Muslim“ gelesen.

Zwischen den Positionen von Armin Laschet und Horst Seehofer gab es viele verschiedene Spielarten der Einstellung zur Migration. Ein Indikator dieser Spannungen ist der langjährige Streit um die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Während Wolfgang Schäuble als Bundesinnenminister die Frage bejahte, eine Antwort, die dann Christian Wulff als Bundespräsident popularisierte, wehrte sich Horst Seehofer als Bundesinnenminister gegen eine positive Aussage zum Islam. Sein Nachfolger im Amte des bayerischen Ministerpräsidenten, Markus Söder, verfügte in einer seiner ersten Amtshandlungen, dass in allen öffentlichen Gebäuden, auch in Schulen, Kreuze aufzuhängen seien. Der Islam – und als Kollateralschaden alle anderen Religionen einschließlich des Judentums – wurden auf die hinteren Plätze der Hierarchie in Deutschland gepflegter Religionen verwiesen. Manuel Gogos verweist auf ein Ereignis, das zeigt, wie schwierig es war und heute noch ist, als Muslim*in zu leben. So durften am 3. Februar 1965 Muslime, damals in der Öffentlichkeit noch „Mohammedaner“ genannt, im Kölner Dom beten. „Das Gebet war ein religionsgeschichtlich bedeutsames Ereignis, das allerdings wegen Bedenken im Vatikan einmalig blieb.“ Inzwischen gibt es eine Menge Moscheen in Deutschland, aber nach wie vor ist jeder Bau einer Moschee ein Politikum. Viele Moscheen haben ihren Platz nach wie vor in wenig attraktiven Gewerbegebieten. Gemeinsame Gebete in einem Gotteshaus sind nach wie vor die Ausnahme. Eine solche Ausnahme ist die Berliner Initiative „House of One“.

Die liberale Einstellung Armin Laschets geriet vor allem nach 2015 mehr und mehr in Vergessenheit, vielleicht nicht bei ihm selbst, aber sie war nicht mehr sonderlich geeignet, um sich für höhere Aufgaben zu empfehlen, sei es als Ministerpräsident, der er im Jahr 2017 wurde, sei es als Kanzlerkandidat, als der er 2021 scheiterte. Es ist nun jedoch nicht so, dass in den anderen demokratischen Parteien durchweg eine offene Haltung bestünde. SPD und FDP waren gleichermaßen empfänglich für diverse Konjunkturen der Ablehnung von Ein- und Zuwandernden. Bei der Linken und den Grünen war dies – wenn auch aus anderen Gründen – nicht anders, oft gepaart mit einer gewissen Naivität gegenüber der Aufnahmebereitschaft in Deutschland und der Integrierbarkeit der Ein- und Zugewanderten. Auch sie verloren schnell die Geduld und suchten Schuldige, allerdings weniger bei den Ein- und Zugewanderten als bei der Aufnahmegesellschaft, die eine nachhaltige und schnelle Integration mit inakzeptabel hohen Hürden verhindere.

Manuel Gogos verweist in seinem Buch auf diverse Initiativen in Deutschland, die Integration von Ein- und Zugewanderten zu erleichtern. Dazu gehört das vom ersten Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen, Heinz Kühn, im Jahr 1979 veröffentlichte Memorandum, das unter seinem Namen bekannt wurde. Das Memorandum formulierte kein bewusstes politisches Programm, es war eher eine Anerkennung von Realitäten, denn viele als Gastarbeiter*innen angeworbene Menschen blieben, viele holten ihre Familien nach Deutschland, Kinder wurden geboren. Das Kühn-Memorandum forderte unter anderem islamischen Religionsunterricht. Ein zweites grundlegendes Dokument schuf die von dem damaligen Bundesinnenminister eingesetzte nach ihrer Vorsitzenden benannte Süssmuth-Kommission mit ihren Empfehlungen vom 4. Juli 2001.

Manuel Gogos hebt hervor, dass die Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts die entscheidende politische Folge der Empfehlungen der Süssmuth-Kommission war, und damit sind wir wieder bei der Frage des „Blutes“, das manche eben nicht nur als Metapher verstanden: es ging um den „Abschied vom ethnonationalen Prinzip einer vererbten Staatsangehörigkeit (ius sanguinis)“ und im Gegenzug um die „Hinwendung zum Prinzip der erworbenen Staatsangehörigkeit qua Geburt (ius soli).“ Die doppelte Staatsbürgerschaft, die viele EU-Bürger*innen besitzen, auch einige deutsche Abgeordnete im europäischen Parlament, wurde damit noch nicht zur Regel. Jugendliche müssen sich als junge Volljährige für eine Staatsangehörigkeit entscheiden. So lautete der damalige Kompromiss. Aber damit war – zumindest vorerst – die Zeit vorbei, in der eine Partei eine Landtagswahl mit einer Unterschriftenliste gegen die doppelte Staatsbürgerschaft emotionalisieren und gewinnen konnte. So geschehen in Hessen im Jahr 2001. Auf der anderen Seite ist es in Deutschland immer noch nicht möglich, Ein- und Zuwanderung vom Asylrecht abzukoppeln. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wird zwar vorgeschlagen, das kanadische Punktesystem einzuführen, es gab auch schon ein wenig erfolgreiches eigenes Gegenstück zur US-amerikanischen Greencard. All diese Versuche verliefen halbherzig und wurden oft ebenso schnell wie sie kamen wieder zu den Akten gelegt. Ob die 2021 neu gewählte Bundesregierung Grundsätzliches zu verändern vermag, wird sich zeigen. Und ob die Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine die Einstellungen zu Ein- und Zuwanderung nachhaltig verändern wird und vielleicht auch ein gleiches Verständnis für die Menschen entsteht, die vor den Bomben und Raketen Assads und anderer Diktatoren flüchten, bleibt offen.

Gegen Wände

DOMiD ist als Dauerausstellung geplant, die gleichzeitig ein Begegnungsort ist. Es gab und gibt immer wieder eigene Ausstellungen zum Thema Migration, beispielsweise im Ruhrlandmuseum, im Deutschen Historischen Museum, oder bezogen auf Deutsche, die ausgewandert waren, im „Deutschen Auswandererhaus“ in Bremerhaven, in dem Robert Fuchs arbeitete, bevor er nach Köln zu DOMiD kam. Eine grundlegende Frage all dieser Projekte und Konzepte lautet: „Gibt es eine Erfahrung der Welt ohne Er-Fahrung der Welt?“ Eine solche Welterfahrung ohne zu reisen hat Grenzen, sicherlich, aber ein Begegnungsort wie DOMiD könnte Abhilfe schaffen, zumindest ein wenig. Aber wie soll es anders gelingen, Verständnis für die verschiedenen Wege und Folgen der Migration zu vermitteln, auch über die Erfahrungen des Unwohlseins, die nicht unbedingt mit Diskriminierung zu tun haben müssen, aber mit dem Gefühl, nicht ankommen zu können.

Ich möchte dieses Gefühl am Beispiel von Filmen skizzieren, die viele Menschen in Deutschland gesehen haben. Möglicherweise lässt sich aus der Person der Regisseur*innen schließen, dass sich in Deutschland etwas verändert hat. Die beiden Filme der 1970er Jahre hatten mit Helma Sanders-Brahms und Rainer Werner Fassbinder deutsche Regisseur*innen, die beiden Filme der 2000er Jahre mit Fatih Akin einen deutsch-türkischen Regisseur. Dies ließe zwei Schlüsse zu: die Emanzipation von Künstler*innen mit türkischer Familiengeschichte oder die Rückdelegation des Themas von deutscher Seite an die Seite der Migrant*innen. Möglicherweise stimmt beides.

Ein drastisch inszeniertes Beispiel für eine Biografie von Menschen, die nicht ankommen können, bietet der Film „Gegen die Wand“ von Fatih Akin. Cahit, die männliche Hauptperson, gespielt von Birol Ünel, wird von seinem Schwager in spe angesprochen, warum er so schlecht türkisch spreche. Seine Antwort: „weggeschmissen“. Entsorgt hatte er seine türkische Vergangenheit. Er findet sie erst nach mehreren Jahren wieder, nach einer Liebesgeschichte, einem ungewollten Totschlag, einer mehrjährigen Gefängnisstrafe und der Abschiebung in die Türkei. Seine Hoffnung, vielleicht doch mit Sibel, gespielt von Sibel Kekilli, die er in Hamburg geheiratet hatte, um sie von ihrer Familie zu befreien, in Istanbul wieder zusammenzukommen, scheitert, aber wir sehen ihn auf der Fahrt mit dem Bus nach Mersin im fernen Südosten der Türkei, in den Herkunftsort seiner Vorfahren. Eine Fahrt nach Hause?

Eine ähnliche Heimfahrt sehen wir in Fatih Akins „Auf der anderen Seite“ in der Gestalt des Germanistikprofessors Nejat Aksu, gespielt von Baki Davrak. In diesem Fall ist sein Vater Ali Aksu, gespielt von Tuncel Kurtiz, der Mann, der seine Frau, die ehemalige Prostitutierte Yeter mit dem sprechenden Namen (deutsch: „es ist genug“), gespielt von Nursel Köse, in einem Wutanfall tötet, ins Gefängnis kommt und abgeschoben wird. Sie treffen sich – so scheint es – am Strand von Trabzon. In der Schlussszene sehen wir Nejat, wie er auf die Rückkehr seines Vaters vom Meer wartet. Wir sehen bei Fatih Akin Heimfahrten von Menschen der zweiten Generation, die in Deutschland nicht bleiben können.

Vielleicht gibt es eine Antwort auf die Frage, warum dies so ist, wenn man die Filme von Fatih Akin und den Film „Shirins Hochzeit“ von Helma Sanders-Brahms aufeinander bezieht. „Shirins Hochzeit“ ist ein Film von 1976 und meines Erachtens neben Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ aus dem Jahr 1974 der beeindruckendste Film zum Thema Migration aus den 1970er Jahren, einer Zeit, in der das Memorandum von Heinz Kühn noch nicht geschrieben, vielleicht noch nicht einmal vorstellbar war. Shirin, gespielt von Ayten Erten, ist verliebt. Der Geliebte Mahmud, gespielt von Aras Ören, arbeitet in Deutschland, aber er ist sich der Liebe Shirins nicht bewusst. Sie reist ihm hinterher, wird Prostituierte und trifft auf den geliebten Mann als Kunden. Er erkennt sie nicht. Erschütternd ist eine Szene, in der der Geliebte zu Besuch in die Türkei kommt und allen etwas mitbringt, der verliebten treuen Shirin jedoch nicht mehr und nicht weniger als ein Nudelsieb, das er ihr mit einer als verachtend, zumindest als achtlos charakterisierbaren Geste übergibt.

Filme und Bücher sind nicht nur Fiktionen, sie sind Spiegel, ganz im Sinne von Stendhal, der im Vorwort zu seinem für den französischen Realismus programmatischen Roman „Le rouge et le noir“ aus dem Jahr 1830 seine Arbeit als Romanschriftsteller mit einem Spiegel vergleicht, der an einer schmutzig-schlammigen Straße vorbeigetragen wird. Der italienische Neorealismus eines Vittorio de Sica oder Pier Paolo Pasolini arbeitete ähnlich, bis an die Grenzen veristischer Traditionen. Auch bei Luchino Visconti finden wir in „Rocco e i soio fratelli“ entsprechende Elemente. Hier findet die Migration innerhalb Italiens statt, vom armen und elenden Mezzogiorno in den reichen vielversprechenden Norden. Letztlich ist das Gefühl, nicht aufgenommen zu werden, nicht ankommen zu können, ein Ergebnis verschlossener sozialer Mauern, Wände, durch die niemand mit dem Kopf hindurch kommt.

In den genannten Filmen geht es um fehlende Akzeptanz, um Heimatlosigkeit, um das Gefühl von Exklusion und Hilflosigkeit. Und es ist nicht nur die Exklusion durch eine wie auch immer geartete Aufnahmegesellschaft. Es gibt eine Hierarchie der Ausgeschlossenen, zu denen auch die von Brigitte Mira gespielte Witwe Emmi in „Angst essen Seele auf“ oder die jungen römischen Kleinkriminellen in Pasolinis „Accattone“ oder „Mamma Roma“ gehören. Bei Fatih Akin geht es um die zweite Generation, sicherlich übertragbar auf die dritte. Nicht alle finden einen Ausweg, manche suchen ihn auch nicht. Die Familie Sibels in „Gegen die Wand“ richtet sich ein und lebt eine Art bieder-beschaulicher Parallelgesellschaft, die sich von anderen kleinbürgerlichen Haushalten eigentlich nur dadurch unterscheidet, dass man darauf achtet, dass die Pralinen keinen Alkohol enthalten und Gebetszeiten einhält.

Die Orte, an denen sich Schicksale entscheiden und kreuzen, sind Flughäfen und Bahnhöfe. Es sind Orte der Hoffnung, aber auch Orte des Horrors. Manuel Gogos schreibt „So ist der Bahnhof in Deutschland – ebenso wie der Zug oder das Lager – von der Geschichte des Holocaust her per se als Erinnerungsort bereitet.“ In dieser Spanne vollzieht sich Erinnerungskultur. Ist in diesem Rahmen „antirassistisches Kuratieren“ denkbar, ein Kuratieren jenseits von Ausgrenzung und Diskriminierung, jenseits von Heimatverlust? Was bedeutet das „Trauma von Solingen“? DOMiD zeigt Plakate einer Demonstration nach den Morden von Solingen, auf denen wir lesen: „Gestern die Juden, heute die Türken“. Faruk Şen, der langjährige nicht unumstrittene Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg – Essen, musste im Jahr 2008 wegen einer vergleichbaren Aussage seinen Hut nehmen. Auch das gehört sine ira et studio zur Migrationsgeschichte. Auch diese Geschichten müssen erzählt werden, sie müssen Wirklichkeit werden, nachfühlbar, einfühlbar und vor allem – sie dürfen nicht vergessen werden.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Ich danke Robert Fuchs für die vielen Hinweise und Einsichten, die meinen Essay bereicherten. Erstveröffentlichung im März 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 2. März 2022. Das Titelbild wurde mir von DOMiD zur Verfügung gestellt © facts and fiction.)