Kosmologische Science Fiction
Cixin Liu, Star (nicht nur) der chinesischen Science Fiction
„Das ultimative Schicksal aller intelligenten Wesen war es schon immer, so großartig zu werden wie ihre Gedanken.“ (Cixin Liu, in: Death’s End)
Der chinesische Autor Cixin Liu, geboren am 23. Juni 1963, ist der führende Science-Fiction Autor Chinas. Er hat den chinesischen Yinhe (Galaxy Award) acht Mal hintereinander gewonnen, von 1999 bis 2006 und noch einmal im Jahre 2010, darüber hinaus weitere chinesische Preise. Der erste Band der Trilogie Remembrance of Earth´s Past (deutsch: Trisolaris-Trilogie) wurde im November 2014, übersetzt von Ken Liu, auf Englisch bei TOR in den USA veröffentlicht und erhielt, als erstes übersetztes Buch überhaupt, im Jahre 2015 den Hugo Award in den USA.
Cixin Liu schreibt harte Science-Fiction in der Tradition von Autoren wie Arthur C. Clarke, auf den er sich explizit beruft. Cixin Liu ist von Beruf Ingenieur und hat bis 2014 für die China Power Investment Corporation in einem Kraftwerk in Niangziguan in der Shanxi Provinz gearbeitet. Er begann Science-Fiction-Kurzgeschichten als Hobby zu schreiben, bis mit Three-Body Problem der Durchbruch in China kam. Cixin Liu hat mit seiner Trilogie wesentlich dazu beigetragen, die Sichtweise der Chinesen auf Science-Fiction-Literatur neu und positiv zu bestimmen und umgekehrt die Anerkennung des Westens für literarisch wertvolle chinesische Science Fiction geweckt.
Bekannt geworden für Nicht-Science-Fiction-Experten ist die Trilogie von Cixin Liu durch das Interview der New York Times vom 16. Januar 2017 mit dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, in dem sich dieser sehr positiv über dieses Werk als Entspannung im Gegensatz zu seinem täglichen politischen, aber doch sehr irdischen, Problem-Marathon äußert. Obama bezeichnet Cixin Liu als „wild und fantasievoll, wirklich interessant“ und „der Umfang (seines Werks) sei immens“.
Sein Hauptwerk, die Trisolaris-Trilogie, bezeichnet er als Remembrance of Earth´s Past. Dazu gehören die folgenden drei Bände:
- The Three-Body Problem. Erschienen 2007 auf Mandarin, 2014 auf Englisch, 2017 auf Deutsch bei Heyne unter dem Titel Die Drei Sonnen, übersetzt von Martina Hasse. Das Buch erhielt im Jahre 2015 den Hugo Award für den besten Roman.
- The Dark Forest. Erschienen 2008 auf Chinesisch, 2015 auf Englisch, 2018 auf Deutsch bei Heyne unter dem Titel Der Dunkle Wald, übersetzt von Karin Betz.
- Death´s End. Erschienen 2010 auf Chinesisch, 2016 auf Englisch, 2019 auf Deutsch bei Heyne unter dem Titel Jenseits der Zeit, übersetzt von Karin Betz.
Literatur der Möglichkeiten
Die drei Bände der Trisolaris-Triologie sind Meisterwerke der Science Fiction, betrachtet unter den Gesichtspunkten einer „Literatur der Ideen“ im Sinne von Kim Stanley Robinson oder in der Form der von mir sogenannten „Literatur des Unmöglichen“, die Grenzen und Barrieren überschreitet und hinter die Horizonte des Wahrnehmbaren schaut. Cixin Liu definiert Science Fiction in The Worst of all possible universes and the best of all possible Earths: Three-Body and Chinese Science-Fiction (in: Ken Liu, Invisible Planets,. TOR/Head of Zeus, 2016): „Science Fiction ist eine Literatur der Möglichkeiten. Auch das Universum, in dem wir leben, ist eines mit unzähligen Möglichkeiten. Für die Menschheit sind einige Universen besser als andere, und Three-Body zeigt das schlimmste aller möglichen Universen, ein Universum, in dem die Existenz so dunkel und hart ist, wie man es sich nur vorstellen kann.“
Cixin Liu führt besonders in dritten Band Death´s End detailliert aus, wie seine Antwort auf das Fermi-Paradoxon lautet, also auf die Frage, warum die Menschheit noch keiner anderen intelligenten Spezies im All begegnet ist. Aufgrund des Alters des Universums mit 13,8 Milliarden Jahren und der großen Anzahl von Galaxien, Sternen mit Planeten hätte dies eigentlich längst der Fall sein sollen. Wenn auch nur eine einzige intelligente Art in der Milchstraße existieren würde, die interstellare Raumfahrt beherrscht, hätte die gesamte Galaxis innerhalb von einigen Millionen Jahren kolonialisiert sein sollen. Die Antwort von Cixin Liu auf das Fermi-Paradoxon ist die Theorie des Dark Forest im Kosmos, also der galaktische Daseinskampf, der zur weitgehenden Vernichtung intelligenter Arten führt. Der dritte Band der Trilogie ist, so meine ich, sein Meisterwerk: „Und so schrieb ich den dritten Band für mich selbst und füllte ihn mit mehrdimensionalen und zweidimensionalen Universen, künstlichen schwarzen Löchern und Mini-Universen, und ich verlängerte die Zeitlinie bis zum Wärmetod des Universums.“
Cixin Liu schreibt im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Die Drei Sonnen (2017): „Für mich ist der größte Reiz der Science Fiction die Erschaffung zahlreicher imaginärer Welten, die außerhalb der Wirklichkeit liegen. Ich war schon immer der Meinung, dass die großartigsten und schönsten Geschichten der Menschheit nicht von fahrenden Spielleuten gesungen oder von Stückeschreibern und Romanautoren verfasst werden, sondern uns von der Wissenschaft zukommen. (…) Die Schöpfungsmythen der verschiedenen Völker und Religionen unserer Welt verblassen angesichts der Pracht des Urknalls. Die drei Milliarden Jahre lange Geschichte der Evolution des Lebens von sich selbst vervielfältigenden Molekülen bis hin zur Zivilisation ist reicher an Überraschungen und romantischen Momenten als jeder Mythos und jedes Epos. Und dann ist da noch die poetische Vision von Raum und Zeit in der Relativität, von der seltsamen subatomaren Welt der Quantenmechanik … Diese wundersamen Geschichten der Wissenschaft verfügen alle über eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Durch das Medium der SF-Literatur möchte ich einzig und allein mit der Kraft der Fantasie meine eigenen Welten erschaffen und in ihnen die Poesie der Natur vermitteln, die romantischen Legenden erzählen, die sich zwischen dem Menschen und dem Universum entfalten.“
Cixin Liu auf Lesereise in Hamburg 2018
Cixin Liu las aus einem Werk und erzählte über sich und seine Ideen am 15. Oktober 2018 im Audi Max der Kühne Logistics University Hamburg vor vollem Haus mit ungefähr sechshundert Zuhörerinnen und Zuhörern. In der anschließenden Fragerunde erwähnte er einige interessante Dinge über sein Leben und sein Schreiben.
Cixin Liu ist aufgewachsen im China der Kulturrevolution. Bücher kannte er nicht. Als Kind entdeckte er dann später den Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864, deutsche Ausgabe: 1873) von Jules Verne, den er für eine reale Reise-Schilderung hielt. Damit begann sein Interesse an der Science-Fiction. Auf Nachfrage, was die für ihn wichtigsten Science-Fiction-Werke seien, sagt er: 1. Physik, 2. Chemie, 3. Biologie. Wobei die ersten beiden besonders seien durch ihre eigene (Formel-) Sprache, die nach einer Übersetzung für Laien verlangten. Dafür seien die Science-Fiction-Schriftsteller da, als Übersetzer der modernen Naturwissenschaften und erwähnte besonders Arthur C. Clarke.
Für Cixin Liu sind nicht die Mythen der Menschheitsgeschichte die wichtigsten Bezüge für die Science-Fiction, sondern ganz eindeutig die Naturwissenschaften. Gefragt, mit welchen Protagonisten seiner Trisolaris-Trilogie er sich am meisten identifiziert, sagte er, dass er eigentlich die Handlungsabläufe zuerst schreibe und in den Vordergrund stelle und dass die Protagonisten die Aufgabe hätten, die Handlung zu präsentieren, nicht die, im Vordergrund zu stehen. Cixin Liu erwähnte wie bereits im ersten Band seiner Trisolaris-Trilogie das historische chinesische Werk Die drei Reiche (1522, 1679) als Basis für Kriegskunst, List und Täuschung und wies darauf hin, dass die Kunst der Täuschung uns von den Trisolariern abhebt.
Gefragt, warum er nicht über das Thema Klimawandel schreibe, sagte Cixin Liu, dass Themen wie Klimawandel oder Terror sich dadurch vom Thema der Aliens unterschieden, dass sie sich ankündigen und man sich durch diese Vorzeichen auf sie einstellen könne. Bei dem Thema der Aliens wisse man nicht, ob sie bereits unter uns seien, ob sie morgen früh auftauchen würden oder vielleicht nie. Er wundere sich, warum die UN keine Vorsorge oder Vorbereitung in dieser Hinsicht träfe. Ein befreundeter Schriftsteller in den USA habe ihm mitgeteilt, dass er eine Webpage eingerichtet habe, auf der er dazu aufrufe, dass sich Interessenten melden und zweifelsfrei belegen sollten, dass sie Aliens seien. Es hätten sich bereits hunderte von Teilnehmern gemeldet, aber keiner hätte als Alien identifiziert werden können. Er wisse nicht, wie die Fragen lauten würden, um Teilnehmer zweifelsfrei als Nicht-Aliens identifizieren zu können. Dies sei allerdings ein interessanter Ansatz.
Genozid im dunklen Wald des Universums
Intelligenz im Kosmos ist universal, gefährlich und gefährdet, denn theoretisch wären intelligente Wesen in der Lage, in kosmisch gesehen relativ kurzer Zeit das gesamte Universum zu besiedeln und alle anderen Arten zu verdrängen. Deshalb kämpfen die höher entwickelten Superzivilisationen gegeneinander und versuchen, die anderen Intelligenzen auszulöschen. Sie tragen das „Versteck- und Reinigungs-Gen“, wie es der Autor nennt, haben nur die Wahl zwischen zwei Extremen: Entweder verstecken sie sich in ihrem Sonnensystem und bleiben und dem Kosmos auf alle Zeit verborgen oder sie „reinigen“ den Kosmos von allen anderen intelligenten Arten, löschen diese aus, die Alternative lautet auf den Punkt gebracht somit: Isolation oder Genozid. Wer seinen Standort preisgibt, ist verloren, denn die Superintelligenzen im Universum bestrafen solche Leuchttürme intelligenter Wesen, die durch Kommunikation oder interstellare Raumfahrt auffallen, unmittelbar mit Vernichtung. Das Universum ist ein dunkler Wald, in dem die Raubtiere ihre Beute schlagen.
Cixin Lius Roman-Trilogie ist ein großer Wurf, ein Meisterwerk der Science-Fiction, ein Epos, auf das ich seit langer Zeit gewartet habe. Sie erfüllt alle Kriterien der Bedeutung von Science Fiction im Sinne einer auf das zukünftige Schicksal der Menschheit im Universum bezogenen Literaturgattung, die Wissenschaft, Philosophie, Kulturgeschichte der Menschheit und ihre möglichen Zukunftserwartungen verbindet und in wunderbaren Geschichten präsentiert. Cixin Lius Werk ist eine über Äonen gehende Erzählung von der Zeit der Chinesischen Kulturrevolution bis in eine weit in die Zukunft gelagerten Situationsbeschreibung des gesamten Universums vor dem nächsten Urknall. Der Autor erzählt die Geschichte der Menschheit und ihre Rolle im Universum aber auch aus der Perspektive eines Menschen zwanzig Millionen Jahre in die Zukunft verlagert, in der die letzten intelligenten Wesen auf eine Wiedergeburt des Universums warten.
Im ersten Band The Three Body Problem, deutsch unter dem Titel Die Drei Sonnen, beginnt die Erzählung noch relativ konventionell wie eine Auseinandersetzung mit einem Online-Spiel, das eine virtuelle Welt mit drei Sonnen schildert, in dem die Spieler komplizierte philosophische Aufgaben lösen müssen. Was zunächst wie eine Fortsetzung von William Gibson Neuromancer-Trilogie erscheint, entpuppt sich in der Fortführung der Erzählung bald als reale Bedrohung der Menschheit durch die Trisolarier, den realen Lebewesen in einem nicht allzu weit entfernten Sonnensystem. Sie trachten danach, die Erde zu unterwerfen und suchen über das Spiel Menschen als eine Art fünfte Kolonne, die ihre Invasion vorbereiten helfen sollen.
Im zweiten Band The Dark Forest (Der Dunkle Wald) wird das Universum als dunkler Wald beschrieben, in dem das Gesetz des Daseinskampfes und der drohenden Vernichtung herrscht. Jede Zivilisation, die ihren Standort preisgibt, wird zur Beute und ist verloren. Die Flotte der Trisolarier ist bereits auf dem Weg, die Erde zu unterjochen und wird das Sonnensystem in vierhundert Jahren erreichen. In dieser Zeitspanne versuchen die Menschen, ihren Abwehrkampf zu organisieren, werden dabei aber von den überdimensionalen Sendboten der Trisolarier, den „Sophons“, daran gehindert, kosmologische physikalische Forschungen zu betreiben, die ihnen die interstellare Raumfahrt ermöglichen könnten. Die politisch geeinte Menschheit beginnt ihr „Wandschauer“– Programm und legt ihr Schicksal in die Hände von vier Individuen, von denen der chinesische Astronom Lou Ji die geringsten Erfolgsaussichten verspricht, aber derjenige sein wird, der bis zum Schluss der Erzählung die Menschheit immer wieder retten wird.
Im dritten Band Death´s End (Jenseits der Zeit) lesen wir die Weiterführung der Erzählung in erstaunliche Weiten und Zeiten mit einem grandiosen Finale zum Schicksal der Menschheit und zur Zukunft des Universums. Hier läuft der Autor Cixin Liu zu grandioser Form auf und verwebt die Schilderung der Wesensmerkmale seiner Protagonisten in spektakulären Handlungssträngen mit der Zukunft der Menschheit in physikalisch aufregenden Spekulationen über die Kosmologie des Universums, wie es zuvor noch keinem anderen Autor gelungen ist. Death´s End ist der Höhepunkt der Erzählung und gleichzeitig die neue Messlatte für kosmologische Science Fiction.
Diese Roman-Trilogie enthält darüber hinaus alles, was gute Literatur ausmacht. Und damit ist wirklich gute Literatur gemeint und nicht nur ein Spezifikum für Science-Fiction-Literatur. Das Epos ist von derartiger Wucht, dass es seine Leserin und seinen Leser emotional in die Handlungsmuster hineinzieht, dass man nach der abendlichen Bettlektüre kaum in den Schlaf kommt. Cixin Liu verwebt die Erinnerung an die Vergangenheit der Erde über einen Zeitraum von fünfhundert Jahren und danach weit in kosmische Zeitalter hinein, von der chinesischen Kulturrevolution bis zur völligen Vernichtung des gesamten Sonnensystems und später Milliarden Jahre in die Zukunft verlegt. Die handelnden Personen erleben eine bittere und scheinbar ausweglose Auslieferung an die Macht von höheren Intelligenzen im Universum, die keine Gnade kennen und von dem Verlangen geprägt sind, alle anderen intelligenten Spezies, die das Raumfahrt-Zeitalter erreicht haben und über ihr Sonnensystem hinausgekommen sind, auszulöschen. Dieser kosmische Genozid wird im zweiten Band The Dark Forest detailliert beschrieben und am Ende des dritten Bandes Death´s End exekutiert.
Zunächst versuchen die Trisolarier, die Erde zu beherrschen und die Menschheit verhungern zu lassen, nachdem sie die fünf Milliarden Erdenbewohner auf dem Kontinent Australien sowie in einigen Marsstationen zusammengepfercht haben. Allein diese Passagen erscheinen wie ein Zustandsbericht aus einem globalen Holocaust und sind kaum erträglich. Dennoch keimt wieder und immer wieder Hoffnung auf und die Menschheit rettet sich aus scheinbar ausweglosen Situationen. Am Ende des dritten Bandes allerdings herrscht die danteske Maxime vor: „Lasset alle Hoffnung fahren!“, denn das komplette Sonnensystem wird vernichtet. Wie dies geschieht und wo dennoch ein Fünkchen Hoffnung bleibt, soll weiter unten ausgeführt werden. Die Leserinnen und Leser sind, und ich kann dies persönlich bestätigen, mittlerweile völlig fertig und emotional ausgelaugt.
Dazwischen liegen spannende Abenteuer der Probanden und zahlreiche äußerst kreative Einbindungen naturwissenschaftlich-technischer theoretischer Möglichkeiten, die das Werk von Cixin Liu weit über das durchschnittliche Genre hinausheben. Zu den naturwissenschaftlich-technischen Wundern gehören:
- die besondere Art der Kommunikation zwischen Menschen und den Trisolariern am Anfang der Geschichte,
- die besonderen Schwierigkeiten der Kommunikation über Äonen am Ende des dritten Bandes,
- die Beschreibung der Beschleunigung der technischen Entwicklung von Zivilisationen,
- die Beschreibung des vier-dimensionalen Raum-Zeit-Gefüges,
- die Beschreibung des zwei-dimensionalen Raum-Zeit-Gefüges,
- die Beschreibung des Überlicht-Antriebes,
- Sternenkrieg einmal anders: wie die Droplets die Sternenflotte zerstören,
- die Weiterentwicklung von Naturwissenschaft und Technik über Jahrhunderte,
- der Bau von Städten im Weltraum hinter den großen Planeten des Sonnensystems im Bunker-Zeitalter.
Cixin Liu führt darüber hin viele kulturelle Utopien in seine Erzählung ein. Zu den kulturellen Wundern gehören:
- der Umgang mit Ausweglosigkeit und dennoch vorhandenen Auswegen,
- Stadtentwicklung über die Jahrhunderte,
- Mode und Kleidung über die Jahrhunderte,
- Philosophie und Wissenschaft über die Jahrhunderte,
- Politik der Abschreckung im neuen Gewande: Die „Wandschauer“-Philosophie.
Überlebensstrategien und Kämpfe
Natürlich ist leicht zu verstehen, dass der Autor Cixin Liu nichts anderes getan hat, als eine sozialdarwinistische und genozidale Abart eines „Survival of the fittest“ extrem zu überhöhen und für einen kosmologischen Daseinskampf ausgearbeitet zu haben, bei dem er von sechs Aspekten ausgeht:
- Das Universum ist von unzähligen intelligenten Arten besiedelt.
- Diese intelligenten Arten sind in der Lage (wenn sie gewinnen), sich das gesamte Universum in kosmologisch gesehen kurzer Zeit untertan zu machen und nach eigenen Entwürfen zu gestalten.
- Die intelligenten Arten sind in der Lage, die physikalischen Gesetzmäßigkeiten und Konstanten des Universums nicht nur zu verstehen und zu nutzen, sondern auch zu verändern.
- Die intelligenten Arten wollen nicht Frieden, Verständigung und kulturellen Austausch untereinander, sondern die Vernichtung der Anderen.
- Es gibt eine Art Wettrennen zwischen den intelligenten Arten an die Spitze des Daseins, einen Kampf ums Überleben im Universum.
- Es gibt keine Gnade und keinen Gott.
Wie reagiert die Menschheit auf die Bedrohungen des Dark Forest-Konkurrenzkampfes ums Überleben im Universum? Zunächst werden alle naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten der Menschen durch die „Sophons“ der Trisolarier verhindert, insbesondere die dringend notwendigen Erkenntnisse der Partikelforschung in den großen Ringbeschleunigern finden nicht mehr statt. Hier nimmt Cixin Liu einen raffinierten Kniff vor, indem er das aktuell wichtigste physikalische Forschungsfeld der Menschheit im Jahre 2017, die Arbeiten an den großen Teilchenstrahl- und Materiebeschleunigern, wie dem CERN Large Hadron Collider, in seiner Erzählung blockiert. Damit entfallen alle Entwicklungsmöglichkeiten für die interstellare Raumfahrt. Die Menschheit scheint im Sonnensystem isoliert zu sein und wartet nun auf ihre Henker, die erste Trisolarier-Raumflotte, die bereits auf dem Wege ist und in vierhundert Jahren auf der Erde eintreffen wird. In dieser Zeitspanne spielen die wesentlichen Vorgänge zwischen den Trisolariern und den Menschen im ersten und zweiten Band.
Nachdem die Konflikte zwischen den Trisolariern und den Menschen gelöst sind und die Menschheit sich im dritten Band von dem Joch der Trisolarier befreien konnte, beginnt sich ein noch größeres Problem abzuzeichnen. Wie kann die Menschheit im „Dark Forest“ langfristig überleben? Es werden, nachdem die Blockade der Forschungsmöglichkeiten durch die „Sophons“ weggefallen ist, drei grundlegende Konzepte für das Überleben diskutiert:
- Die „Bunkerphase“: Vorgeschlagen wird, Städte im All zu bauen, die hinter den großen Planeten des Sonnensystems geparkt werden, um einen wahrscheinlichen Schlag gegen die Sonne zu überstehen. Die Menschheit baut diese Städte im Verlauf eines Jahrhunderts auch tatsächlich sehr erfolgreich auf, muss allerdings am Ende des dritten Bandes lernen, dass all ihre technischen Bemühungen völlig vergeblich gewesen sind, denn der Schlag aus dem „Dark Forest“ ist von völlig anderer Natur als erwartet und kann auf keine Weise abgewehrt werden. Die Menschheit ist völlig hilflos und geht unter. Aber auch die Bunkerphase wird am Schluss des dritten Bandes, kurz vor dem Untergang des Sonnensystems, noch einen Sinn für das Überleben der Menschheit geben.
- Die „Black Domain Phase“. Es existieren Überlegungen, wie die Menschheit dem „Dark Forest“ klarmachen könnte, dass sie keine Gefahr für die Intelligenzen im Universum darstellen. Dieser Weg ist kompliziert und widerspricht den Gesetzen der Physik. Wenn es gelänge, die Konstante der Lichtgeschwindigkeit in dem abgeschlossenen Sonnensystem, beispielsweise durch eine Sphäre eines Schwarzen Lochs, so weit zu verringern, dass die Fluchtgeschwindigkeit aus dem Sonnensystem nicht mehr gegeben ist, dann wäre allen anderen Lebewesen im All klar, dass die Menschheit keine Gefahr darstellt, weil sie das Sonnensystem überhaupt nicht verlassen kann. Nur: Wie soll es möglich sein, eine Natur-Konstante zu verändern? Cixin Liu bietet am Ende des dritten Bandes tatsächlich eine plausible Lösung an, die interessant ist, sich aber nicht in das Paradigma der aktuellen Physik fügt. Dies ist überhaupt eine seiner großen Stärken: die Trilogie enthält zahlreiche äußerst interessante Ideen für eine weiterentwickelte physikalische Kosmologie, die sie zu einem sehr bemerkenswerten Kompendium für eine „Literatur der Ideen“ im Sinne von Kim Stanley Robinson macht. Hier wird eine weit entwickelte Technologie tatsächlich zu „Magie“, um eines der Bonmots von Arthur C. Clarke aufzugreifen.
- Der Bau von Lichtgeschwindigkeits-Schiffen. Der einzig sinnvolle Weg, das Sonnensystem zu verlassen und interstellare Raumfahrt zu betreiben, ist der Bau von Lichtgeschwindigkeits-Schiffen. Dies versucht die Menschheit, verlässt diesen Weg allerdings wieder, als klar wird, dass man die Wege dieser Lichtgeschwindigkeits-Schiffe durch die Krümmung des Raum-Zeit-Gefüges, die sie bewirken, nachverfolgen und so eine Verbindung zu ihrem Heimatplaneten herstellen kann. Erst ganz am Ende der Trilogie wird deutlich, dass die Menschheit damit den entscheidenden Fehler gemacht hat, als sie die Entwicklung dieser Technologie aufgab, denn Lichtgeschwindigkeits-Schiffe sind die Lösung sowohl für die Konstruktion einer „Black Domain“, also einer sicheren Heimstatt im Sonnensystem, als auch zur Flucht der Menschheit aus dem zerstörten Sonnensystem in eine andere Zukunft.
Cixin Liu arbeitet sehr oft mit Irrwegen und Umwegen seiner Probanden in den drei Romanen, die sogar dazu beitragen, die Menschheit im Sonnensystem zu vernichten, dann aber zu neuen kreativen Lösungen im Universum kommen. Verzweiflung, Fehlerkorrektur, Irrwege, Umwege, die Absage von großtechnischen Lösungsansätzen und die Ausarbeitung von philosophisch begründeten Guerillataktiken sind wesentliche Elemente der Handlungsmuster der Probanden. Ihr Scheitern ist nur die Vorlage für ein erneutes Probieren auch in scheinbar ausweglosen Situationen, bis etwas gänzlich Unerwartetes und Neues geschieht. Das Überraschungsmoment ist ein regelmäßig vorkommendes Gestaltungsmittel von Cixin Liu, verbunden mit einer sorgfältigen Ausarbeitung langfristiger und theoretischer Entwicklungsstränge in der physikalischen Kosmologie und der Zukunft der Menschheit in einem äußerst gefährlichen Universum.
Verrückte Wissenschaft – verrückte Literatur
Die Vorliebe von Cixin Liu für die Wunder der Wissenschaft kommt in seinen Werken zur Entfaltung wie in kaum einem anderen Werk der Science Fiction. Was man gemeinhin als „Weird Science“ bezeichnet, als sonderbare oder verrückte Wissenschaft, wird von ihm als erzählerisches Gestaltungsmittel eingesetzt, um seine eigenen Welten und Weltenzustände zu schildern, die langfristigen und dramatischen Veränderungen unterliegen, in denen das individuelle Schicksal von Menschen zum Schicksal des Universums in Beziehung gesetzt wird. Dahinter steckt letztlich die These vom „anthropischen Universum“, also einem solchen, das durch Intelligenz gesteuert und gestaltet werden kann.
Cixin Liu bewegt sich an den Grenzen von kosmologischer Wissenschaft und ausufernder Fantasie, erledigt dies allerdings, wie auch Kosmologen dies tun, durch Grenzüberschreitung des momentanen Standes der Wissenschaft weit ins Spekulative hinein. Er ist in der Lage, die Grenzen der Erkenntnis der Physik in seinen Werken vom Möglichen und Vorstellbaren weit in das Feld des Unmöglichen und Unvorstellbaren zu verschieben und kann somit als Apologet eines Paradigmenwechsels in der Kosmologie bezeichnet werden, auch wenn er „nur“ ein Schriftsteller ist. Cixin Liu ist als Science-Fiction-Autor mitten im Diskurs der Wissenschaftler angekommen, die sich erbittert über das kosmologische Inflationsmodell streiten. Anna Ijjas, Paul J. Steinhardt, Abraham Loeb rufen in ihrem Artikel Inflationsmodell in der Kritik (Spektrum der Wissenschaft 6 / 2017) zu einem notwendigen Paradigmenwechsel auf und zweifeln am gängigen Inflationsmodell, nach dem sich das Universum nach dem Urknall rapide aufbläht und fordern eine „andere Kosmologie“: „Die Tatsache, dass die gängigen Modelle nicht zutreffen, bietet die historische Chance für einen theoretischen Durchbruch. Die kosmologische Geschichte des frühen Universums muss neu geschrieben werden.“
Cixin Liu ist mittendrin in diesem wissenschaftlichen Diskurs und dokumentiert dies in seiner fantasievollen Ausschmückung der Erlebnisse von zukünftigen Menschen in einem zukünftigen Universum.
Die Trilogie „Remembrance of Earth´s Past“ bildet den gegenwärtigen Höhepunkt einer Science-Fiction-Richtung, die ich als „kosmologische Science-Fiction“ bezeichne. Sie spielt mit dem kreativen Einsatz von naturwissenschaftlichen Ideen, Erkenntnissen und Theorien bei der Erforschung des Universums, geht allerdings weit über den gegenwärtigen Forschungsstand hinaus hin zu Spekulationen, die plausibel, aber weit von allem derzeit Erkennbaren der Menschheit entfernt sind – und vielleicht niemals nachgewiesen oder begründet werden können. Wohlgemerkt: die Spekulationen gründen immer noch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen oder der Diskussion des wissenschaftlich Vorstellbaren und sind keine Fantasy. Sie spielen nur in Handlungsfeldern zwischen Rationalität, Erkenntnis und Hoffnung, also in den Diskursfeldern der modernen kosmologischen Forschung.
Historische Meisterwerke der Science Fiction mit Bezügen zu Cixin Lius Werk
Cixin Liu ist ein wirklich großer Science-Fiction Autor für große kosmologische Erzählungen in der Tradition eines Arthur C. Clarke. Seine preisgekrönten Kurzgeschichten verweisen ebenfalls auf die durch Kurzgeschichten bekannt gewordenen alten Meister der Science-Fiction wie Asimov, Clarke und Pohl. Liu Cixins Geschichten über den Planeten Erde, seine Vergangenheit und seine Zukunft sind zu finden in The Wandering Earth (2016). Er kann, ebenso wie Arthur C. Clarke allerdings auch vortreffliche Satiren schreiben, wie beispielsweise in der Erzählung Taking Care of God (2016) nachzulesen ist.
Die Grundidee dieser Erzählung handelt davon, dass die Aliens „Gott“ eines Tages mit 21.530 Raumschiffen am Himmel auftauchen und zwei Milliarden alte, weißgekleidete und weißhaarige Männer und Frauen auf der Erde abladen, die erklären, Gott zu sein und nun, nach einigen tausend kosmischen Jahren Arbeit, ihren Ruhestand im Kreise der Familien der fünf Milliarden Menschen auf der Erde genießen wollten. Die Technik ihrer Raumschiffe sei mittlerweile veraltet und sie könnten keine Wunder mehr bewirken. Als Ausgleich würden sie der Menschheit ihre überlegene Wissenschaft und Technik zur Verfügung stellen. Ein guter Ausgangspunkt für eine Satire und es geht, wie man sich vorstellen kann, alles ganz anders aus als gedacht, und, alles geht natürlich schief. Die Menschen sind nicht in der Lage, die überlegene Wissenschaft auch nur ansatzweise zu verstehen und das Zusammenleben gestaltet sich als Beziehungsdrama, das schließlich zu weiteren unvorhergesehenen Entwicklungen führt. Kosmologie ist am Schluss auch noch vertreten. Das überraschende Ende soll hier nicht verraten werden, bitte selbst lesen!
Liu Cixins Werk weist Bezüge auf zu weiteren literarischen Vorgängern, die als historische Meisterwerke der Science Fiction gelten:
- Olaf Stapledons Die Letzten und die Ersten Menschen (1930): Die hier erstmals geschilderte sehr langfristige Entwicklung der Menschheit könnte ein Vorbild für Cixin Liu gewesen sein, allerdings geht er mit der Einbindung modernster kosmologischer Theoriefragmente Anfang des 21. Jahrhunderts weit über die Möglichkeiten von Stapledon hinaus. Dies bezieht sich nicht nur auf die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Theoriebildung, die Stapledon zur Verfügung standen, als er sein Meisterwerk im Jahre 1930 schrieb, sondern auch auf die konsequente Schilderung brutaler gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, die Cixin Liu sich zu schreiben traut.
- Isaac Asimovs Foundation Zyklus (1950, 1955): Die in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geschriebenen Werke von Asimov schildern den Aufstieg und Fall eines galaktischen Imperiums der Menschheit über einen Zeitraum von tausend Jahren. Diese Werke sind der realen Geschichte des Römischen Reiches vergleichbar und in der Science Fiction ein Meilenstein für die Einbindung sozialer, gesellschaftlicher und politischer Überlegungen in einen Entwicklungsplan für tausend Jahre. Wissenschaftlich interessant ist die Vorstellung der von Asimov so genannten „Psychohistorie“, die aus sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen eine Vorhersage der Zukunft der Menschheit zulassen soll.
- Arthur C. Clarke und Gentry Lees Meisterwerk Rama (1973, 1993) schildert in vier Bänden, geschrieben zwischen 1972 und 1993, wie die Menschheit in ein Forschungsprojekt von Superzivilisationen eingebunden wird, das die galaktische Zivilisationsfähigkeit der im Universum vorkommenden Intelligenzen untersucht und herausfinden will, warum und wie sich intelligente Lebewesen im Universum verbreiten. Hier wird ein reichhaltiges Panoptikum von intelligenten Spezies im Universum vorgestellt, sehr farbig und interessant in der Kommunikation mit Menschen geschildert. Das furiose Finale in dem Buch Rama Revealed (1993) offenbart der Menschheit den Wert intelligenten Lebens im unendlichen Universum, das sich im Urknall immer wieder neu erfindet. Lebewesen im Universum werden als wertvoll an sich dargestellt und die Kommunikation untereinander und die gegenseitige Bereicherung als höchstes galaktisches Gut geschildert.
- Frederik Pohl entwickelt in seinem Gateway-Zyklus (1976, 1987), geschrieben in den Jahren zwischen 1976 und 1987 beziehungsweise 2004, nicht nur die Entwicklung des Protagonisten als individuelles Schicksal von seinem Einsatz als intergalaktischer Schatzsucher bis zu seinem Tod und darüber hinaus, als er sein Bewusstsein in ein Computerprogramm einspeisen lässt und damit potenziell unsterblich wird. Die Verbindung eines individuellen Schicksals mit dem Schicksal des Universums schildert Frederik Pohl vor allem in den Bänden Heechee Rendezvous (1984) und The Annals of the Heechee (1987), indem er über eine Superzivilisation schreibt, die alle anderen Intelligenzen auslöschen will und danach trachtet, die Ausdehnung des Universums umzukehren. Hier scheint eine direkte Verbindung zum Werk von Cixin Liu gegeben zu sein, in der Schilderung einer „Mörderrasse“ („Assassins“) im Universum, deren ausschließliches Ziel es ist, alles andere Leben zu unterdrücken, um selbst die Möglichkeit zur Gestaltung eines neuen Zyklus im Universum zu bekommen. Die gute Superzivilisation der Heechees sieht sich gezwungen, in den extradimensionalen Zustand eines Schwarzen Lochs zu flüchten. Dem körperlosen Protagonisten gelingt es schließlich, die Verständigung zwischen Menschen, Heechees und der Mörderrasse herzustellen.
- Poul Andersons Buch Tau Zero, geschrieben im Jahre 1970, steht wohl in der direktesten inhaltlichen Verbindung zu dem Werk von Cixin Liu in der Schilderung extremer Erkundungen von Raum-Zeit-Konstellationen, die sich an der Grenze der kosmologischen Forschung bewegen oder, wie bei Cixin Liu, weit darüber hinausgehen. Während Poul Anderson schildert, was die Mannschaft seines Raumschiffs beim Übergang in ein neues Universum erlebt, spielt Cixin Liu mit der Idee, Physik als Waffe bei der Auslöschung anderer Lebewesen im Universum einzusetzen. Die Superzivilisationen verändern die Naturgesetze und Naturkonstanten, um den Zustand des Universums nach ihren Vorstellungen zu gestalten. In diesem galaktischen Daseinskampf bleiben alle Schwachen auf der Strecke, es herrscht ein unbarmherziger Kampf in einem dunklen, sterbenden Universum.
Kosmologische Science Fiction: Eine Neubestimmung
Die Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu strahlt eine unwiderstehliche Wirkung auf die Leser aus und zieht diese wie ein Mahlstrom in die Handlung hinein. Die Leser werden emotional beteiligt und leiden mit den Protagonisten mit, verspüren neue Hoffnung oder fühlen sich den naturwissenschaftlichen Wundern ausgeliefert oder versuchen, diese zu verstehen. Es sind Bände für Interessierte an kosmologischer Physik, aber nicht nur für sie. Romantiker und Thriller-Kenner sowie Historiker, Kulturbegeisterte und Politikfans kommen ebenfalls auf ihre Kosten. Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Hoffnung gehen von der Erzählung auf die Leser über und beteiligen sie emotional dermaßen stark, dass ihnen kaum Platz für andere Emotionen bleibt. Eine derart nachhaltige Wirkung von Literatur ist ein Zeichen für ihre außerordentliche Qualität und geht weit über die Leseeindrücke eines üblichen Thrillers hinaus.
Cixin Liu stellt grundlegende Fragen nach dem Sinn der zukünftigen Entwicklung der Menschheit, begründet diese philosophisch aus verschiedenen Perspektiven heraus und hinterlässt, je nach Stand der Erzählung, eine große Leere oder eine große Hoffnung bei den Lesern. Es bleiben nicht nur Fragezeichen im Bereich der rationalen Erkenntnis hängen, sondern auch emotionale Instabilitäten an vielen Stellen und eine tiefe Zufriedenheit am Schluss. Die drei Werke der Trilogie regen an und regen auf und bleiben lange nach dem Lesen noch in den Köpfen der Leser hängen.
Die Trilogie setzt einen Endpunkt unter die Science-Fiction Literatur des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts und beendet die Phase der traditionellen Weltraumerforschungsgeschichten und Sternenkriegsrhetorik. Von nun an müssen sich alle künftigen Erzählungen an dieser literarischen Wendemarke messen lassen und die Fragestellung zulassen, wie sie sich in dem neuen Genre positionieren wollen. Das neue Genre könnte heißen: Kosmologische Science-Fiction.
Ein Grund für die Erweiterung des Begriffs der Science Fiction oder seine Neubewertung liegt einerseits in der enormen Ausweitung der Erkenntnisse des Forschungsfeldes der Kosmologie, die neue Fragen zur literarischen Bearbeitung anbietet und deshalb neue literarische Verarbeitungsformen verlangt. In der Trilogie „Remembrance of Earth´s Past“ malt Cixin Liu eine solche kosmologische Betrachtung des zukünftigen Schicksals der Menschheit universell aus und schildert die Weiten eines mehrdimensionalen Kosmos mit seinen unendlichen Zeiten in einem expandierenden Universum, in dem das Schicksal der Menschheit – das ist das wichtigste Kriterium einer Bewertung dieser neuen Spielart der Literatur – ene marginale Rolle am Rande der Bedeutungslosigkeit spielt.
Die Menschheit verlässt, von Cixin Liu in einem grandiosen Handlungsbogen beschrieben und über sehr lange Zeiträume betrachtet, ihren Heimatplaneten und versucht, im dunklen, gefahrvollen und unbarmherzigen „Dunklen Wald“ des Universums einen neuen Standort zu finden. Cixin Liu ist, so gesehen, ein würdiger Nachfolger von Olaf Stapledon und Isaac Asimov, was die sehr langen Entwicklungszeiträume fiktiver menschlicher Imperien angeht, sowie der transzendenten Entwicklungen der Menschheit in einem anthropischen Universum, wie es Arthur C. Clarke und Gentry Lee sowie Frederic Pohl beschrieben haben.
Cixin Liu benutzt ständig Überraschungsmomente im Handlungsablauf der Personen, die, wenn sie über lange Zeiten handlungsbestimmend sind, weise und edel im Sinne der Philosophie des Konfuzius erscheinen. Der Respekt vor Älteren und Alten bekommt ein neues Gewicht, wenn diese aus dem Winterschlaf nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten wieder auftauchen und in der neuen Welt, deren Ordnung sie kaum begreifen können, dennoch eine höchst respektierte Rolle als Ratgeber und Entscheidungsträger spielen. Die Hauptperson der Trilogie, Liu Ju, eine sehr farbig geschilderte Person, verbindet Weisheit mit Sturheit und Starrsinn, um beispielsweise die Rolle eines „Wandschauers“ spielen zu können, also die letzte Entscheidungsinstanz für die finale Abschreckung gegen die Trisolarier zu sein.
„Galactic Humans“
Cixin Liu schreibt im zweiten Band der Trilogie: „Das Universum ist groß, aber das Leben ist größer! Das ist die Bedeutung des zweiten Axioms. Die Menge der Materie im Universum bleibt konstant, aber das Leben wächst exponentiell. Exponentiale sind die Teufel der Mathematik. Wenn sich ein mikroskopisch kleines Bakterium im Ozean jede halbe Stunde einmal teilt, werden seine Nachkommen innerhalb weniger Tage den gesamten Ozean füllen, sofern es genügend Nährstoffe gibt. Lassen Sie sich von der Menschheit und Trisolaris nicht täuschen. Diese beiden Zivilisationen sind winzig, aber sie befinden sich erst in den Kinderschuhen. Sobald eine Zivilisation eine bestimmte technologische Schwelle überschritten hat, ist die Ausbreitung des Lebens im Universum erschreckend. Nehmen wir zum Beispiel die derzeitige Navigationsgeschwindigkeit der Menschheit. In einer Million Jahren könnte die irdische Zivilisation die gesamte Galaxie ausfüllen. Und eine Million Jahre ist eine kurze Zeit, gemessen am Universum.“
Dies ist der grundlegende theoretische Hintergrund für die von Cixin Liu aufgestellte Hauptthese in seinem Buch, dass das Universum ein „Dunkler Wald“ ist, in dem ein gnadenloser Überlebenskampf der Zivilisationen herrscht: „Das Universum ist ein dunkler Wald. Jede Zivilisation ist ein bewaffneter Jäger, der sich wie ein Geist durch die Bäume schleicht“.
Darauf baut er seine Erzählung auf, die mit der ersten Begegnung der Zivilisationen der Erde und von Trisolaris beginnt, deren Auseinandersetzung über fünf Jahrhunderte andauert und zwischen Kampf, Auslöschung und gemeinsamer technologischer Entwicklung hin und her pendelt. Dieser erste Teil endet mit der Zerstörung des Sonnensystems der Trisolarier und dem Übrigbleiben ihrer zwei interstellaren Flotten, deren Aufgabe es zunächst war, die Erde zu unterwerfen, und die nun im dunklen All nach einer neuen Heimstatt sucht. Diese Suche wird ganz anders geschildert als dies üblicherweise in Science-Fiction-Büchern zu finden ist, nicht als hoffnungsvolle Suche nach einer neuen Welt, sondern als Verzweiflungstat und als scheinbar auswegloser Irrtum.
Die Erde hat ebenfalls eine Sternenflotte zur Verteidigung des Sonnensystems gebaut, verliert diese aber schon beim ersten Angriff durch die Droplets der Trisolarier. Deren überragende Technologie ermöglicht ihnen die Geschwindigkeit, die irdische Flotte in kürzester Zeit zu zerstören, bis auf einige wenige Raumschiffe, die dem Massaker entkommen. Fünf Raumschiffe fliehen ins All, drei kehren zurück und zwei, die „Gravity“ und die „Blue Space“ verschwinden im unendlichen All. Cixin Liu beschreibt die Verzweiflung der Raumfahrer in der drohenden Einsamkeit des dunklen Alls angesichts der drohenden Vernichtung der Erde auf anrührende Weise: „Die Erde steuert auf den Jüngsten Tag zu. In unseren Köpfen ist sie sogar schon tot. Unsere fünf Raumschiffe sind mit keiner Welt verbunden. Es gibt nichts um uns herum, außer dem Abgrund des Weltraums. In der Tat. Die Menschheit war noch nie mit einer derartigen psychologischen Umgebung konfrontiert.“
Die Einsamkeit versetzt selbst die professionellen Raumfahrer in tiefe Depressionen. Der Kapitän eines Schiffes sieht keinen Ausweg mehr: „Dunkel. Es ist so verdammt dunkel, murmelte der Kapitän und erschoss sich dann.“ Und dennoch bergen die letzten beiden interstellaren Raumschiffe der Menschheit den Samen für eine neue Zivilisation als „Galactic Humans“ im Universum in sich.
Die letzte Überlebende aus der Anfangszeit der Erzählung, Cheng Xin, wacht, unterstützt durch die künstliche Intelligenz von „Sophon“, nach einem Zeitsprung von 13 Millionen Jahren in einem anderen Sonnensystem des „Planet Blue“ wieder auf, wird schließlich in ein künstliches Mini-Universum verfrachtet, in dem sie, wie die letzten übrig gebliebenen anderen 1,5 Millionen intelligenten Zivilisationen auch, auf den neuen Urknall wartet. Leider ist sich niemand von den Superintelligenzen sicher, ob die Masse des Universums ausreicht, um einen neuen Urknall einzuleiten oder ob durch die Auslagerung von zu viel Masse in die zahlreichen künstlichen Universen vielleicht stattdessen die ewige Ausdehnung des Universums sein Schicksal sein wird. Die hätte zur Folge, dass die Galaxien immer weiter auseinanderdriften und auf ewig im unendlichen All verschwinden würden. Die letzte Vertreterin der Menschheit muss eine Entscheidung treffen: „Ich bin verantwortlich für das Schicksal des Universums. (…) Und jetzt wissen wir, dass dies die Reise ist, die jede Zivilisation machen muss: in einer engen Wiege erwachen, aus ihr herauswatscheln, die Flucht ergreifen, schneller und weiter fliegen und schließlich mit dem Schicksal des Universums zu einer Einheit verschmelzen. Das ultimative Schicksal aller intelligenten Wesen war es schon immer, so großartig wie ihre Gedanken zu werden.“
Eine Mischung von Science Fiction und kosmologischer Wissenschaft
Liu Cixins Trilogie enthält viele traditionelle Elemente von Science Fiction und mindestens ebenso viele neue, außerordentliche Ansätze kosmologischer Wissenschaftsdiskurse, die sein Werk weit aus der Masse der üblichen SF-Literatur herausheben. Bemerkenswert erscheinen mir vor allem die folgenden Erzählstränge:
- Sternenkrieg einmal anders: Die Menschheit rüstet sich gegen die Übermacht der Trisolarier mit dem Bau einer gigantischen Sternenflotte, die alle Elemente eines klassischen Sternenkriegs enthält, wie wir es aus zahlreichen Filmen kennen, also Masse und Macht demonstriert. Cixin Liu gibt dieses Wesenselement der Science-Fiction der Lächerlichkeit preis, indem er den technologischen Stolz der Menschheit und das Gefühl von Sicherheit wie eine Seifenblase einfach zerplatzen lässt. Eine kleine Wunderwaffe der Zukunft, die nach den Gesetzen einer höheren Physik konstruiert wurde, als die, die der Menschheit zur Verfügung steht, vernichtet fast die gesamte Sternenflotte im Bruchteil des Reaktionsvermögens der Sternenkrieger. Die kleinen „Droplets“ sind so schnell, dass die Sternenkrieger nicht einmal verstehen, was passiert. Übrig bleiben nur wenige Raumschiffe, von denen fünf aus dem Sonnensystem fliehen, weil manche Kapitäne und Besatzungen als individuelle Entscheidungsträger verstehen, dass durch diese Demonstration übergeordneter technologischer Macht das Schicksal der Erde besiegelt ist. Nur zwei Raumschiffe kehren später zurück und werden in einem Tribunal als Verräter an der Menschheit veurteilt und gebrandmarkt. Der Vorwurf der Anklage klingt ähnlich wie der in Kriegen gebrauchte Begriff des Defätismus, also als starke Neigung aufzugeben, weil man nicht mehr an den Sieg glaubt. Die Bestrafung dafür ist der Tod. Die Menschen bringen sich an dieser Stelle, wie an vielen anderen im Buch auch, selbst um und erledigen das Geschäft ihrer Feinde.
- Globale Politik als Notfallmaßnahme und ihr Scheitern – Die „Wandschauer“: Eine zunächst einleuchtende Reaktion der vereinten Menschheit auf die Bedrohung durch die Trisolarier ist die Einrichtung eines Entscheidungsgremiums, das aus Individuen besteht, denen jegliche Macht der Erde übertragen wird. Vier Menschen dürfen als „Wandschauer“ Entscheidungen treffen und Entwicklungen veranlassen, ohne sie begründen oder erläutern zu müssen. Alle Ressourcen des Planeten werden ihnen zur Verfügung gestellt, in der Hoffnung, eine ungewöhnliche oder unbekannte Lösung gegen die Feinde zu finden. Drei „Wandschauer“ beginnen sofort mit riesigen Projekten des militärisch-industriellen Komplexes, die Schutz bieten sollen. Ein „Wandschauer“, Liu Ju, versucht zunächst, die Berufung abzulehnen, was allerdings nicht gelingt, weil es als Teil seines geheimen Planes interpretiert wird. Also lässt er sich ein verstecktes Refugium irgendwo in der ländlichen Idylle bauen – und tut nichts. Natürlich ist dies ein literarischer Trick des Autors und die Leser ahnen, dass ausgerechnet Liu Ju die entscheidende Rolle in der Erzählung spielen wird und bis zum Schluss der Trilogie auftritt. Er ist es auch, der die Bedeutung des „Dark Forest“ entschlüsselt, indem er „einen Stern verflucht“ und so für seine Vernichtung sorgt.
- Die Märchenerzählung als Geheimcode für das Überleben der Menschheit: Nicht irgendwelche technologischen Wundermaschinen chiffrieren und dechiffrieren die Nachrichten über das Schicksal der Menschheit, sondern ein Märchen. In diesem gibt ein des Körpers entledigtes menschliches Gehirn, das in einem Raumschiff auf den Weg zur Trisolarier-Flotte geschickt wurde, verschlüsselte Hinweise einer höheren Physik an die Menschheit weiter, um sie überlebensfähig zu machen. Die Entschlüsselung gelingt nur langsam und nur Stück für Stück. Die entscheidende Nachricht der Botschaft bleibt bis zum Schluss verschlüsselt und die Menschheit versteht erst, als es längst zu spät ist, worin das Gleichnis besteht. In dem Märchen kommt ein Maler vor, der in der Lage ist, Menschen so zu malen, dass er sie aus der Realität herausholt und in ein wunderschönes Gemälde bannt. Was als Machtspiel an einem historischen Königshof beschrieben wird, ist nur ein Hinweis auf die spätere Vernichtung des Sonnensystems in einem zweidimensionalen Raum-Zeit-Gefüge.
- Die Wunder des vierdimensionalen Raum-Zeit-Gefüges: Cixin Liu arbeitet in seiner Trilogie mit der Theorie des multidimensionalen Raum-Zeit-Gefüges und des Multiversums. Im zweiten Band lässt er die Besatzung eines der geflohenen Raumschiffe in ein vierdimensionales Kontinuum geraten, von dem aus die Besatzungsmitglieder Entwicklungen im untergeordneten dreidimensionalen Raum-Zeit-Gefüge beobachten und anders verstehen können. Sie verfügen nun über grandiose Möglichkeiten der Einflussnahme, die sie ausnutzen, um die Droplets und andere Technologien der Trisolarier auszuschalten. Sie erhalten aber auch Zugänge zu Wirkmöglichkeiten der Gestaltung des Universums, die uns als Wunder vorkommen mögen. Das anthropische Universum wird Wirklichkeit!
- Die Vernichtung des Sonnensystems in einem zweidimensionalen Raum-Zeit-Gefüge: Die Superintelligenzen des dreidimensionalen Universums verfügen über eine Wunderwaffe zweiter Wahl (die erste Wahl ist die Zerstörung der Sonne eines Systems), mit der sie ein komplettes Sonnensystem in ein zweidimensionales Raum-Zeit-Gefüge stürzen und damit vernichten können. Dieses geschieht unserem Sonnensystem. Wieder beschreibt Cixin Liu die völlige Ausweglosigkeit und Unumkehrbarkeit dieser Strafaktion und fügt lediglich hinzu, dass die Menschheit es als Ehre empfinden könne, dass diese Methode gewählt worden sei, der eine Bewertung als technologisch hoch entwickelte Zivilisation vorausgegangen sei. Die Hoffnung der Menschheit ist dennoch vorhanden und bleibt erhalten bei der Vorbereitung auf den kommenden Sprung in ein neues Universum: Kunst! Die bedeutendsten Kunstschätze der Menschheit werden in ein Museum auf den Saturn gebracht, in der Hoffnung, dass zukünftige Intelligenzen diese aus der Folie eines zweidimensionalen Universums rekonstruieren können. So kommt es, dass die letzten Flüchtlinge der Menschheit in ihrem Lichtgeschwindigkeits-Schiff mit dem Gemälde der Mona Lisa an Bord in die Unendlichkeit fliegen. Was Cixin Liu in diesen Kapiteln leistet, erinnert an die Novelle Flatland (1884) von Edwin Abbott Abbott , geht aber in der Ausführung weit darüber hinaus und eröffnet eine neue literarische Dimension abstrakten Denkens.
- Warten auf den Sprung in ein neues Universum: Am Ende der Trilogie werden, ähnlich wie im Rama-Zyklus von Arthur C. Clarke und Gentry Lee, die Gesetze des alten Universums entschlüsselt. Das Universum ist wirklich affin für intelligente Zivilisationen und wird von ihnen gestaltet. Am Ende der Zeit haben nur noch 1,5 Millionen Zivilisationen den „Dark Forest“ überlebt, darunter die Menschheit in der Galaxis und die Trisolarier. Nun warten alle in künstlichen Mini-Universen auf den Sprung in ein neues Zeitalter. Ob und wie dies gelingen könnte, bleibt am Ende von Death´s End offen. Aber wie gesagt: Die Menschheit hat die Hoffnung nie aufgegeben, auch nicht, als es scheinbar keine Hoffnung mehr gab. Und sie hat überlebt, am Ende des Universums!
Liu Cixins Trilogie als historisch-kulturelle und nicht zuletzt politische Literatur
Die Trilogie von Cixin Liu beginnt mit einem Rückblick auf die Wirren der chinesischen Kulturrevolution und endet in einer sehr weiten kosmologischen Zukunft der Menschheit. Dazwischen finden die Leser unterschiedliche Ausprägungen von Science und Fiction, aber auch zahlreiche Handlungsstränge, in denen sich die Probanden entwickeln und ihre Ansichten und Handlungsmuster erläutern. Die Entwicklung von Menschen, die in einem Kollektiv aufwachsen und zu einem Individuum als Naturwissenschaftler im Umfeld der kommunistischen Irrwege im China des zwanzigsten Jahrhunderts werden, ist eine solche Beschreibung des Autors. Das Wechselspiel von individuellen Entscheidungen gegen das Kollektiv der Militärstrategen zeigt, wie einsame Entscheidungsnotwendigkeiten mit kollektivistischen Mehrheiten in Konflikt geraten und dennoch obsiegen können, damit ein langfristiges Überleben des Kollektivs gewährleistet ist.
Cixin Liu schildert in allen drei Bänden der Trilogie mit zunehmender Intensität die Auswirkungen von dramatischen Fehlentscheidungen der Menschheit und ihrer politischen Organisationen und Interessengruppen angesichts der anwachsenden Bedrohung der gesamten Menschheit. Man könnte seine Beschreibungen als Philosophie der Bedeutung von Fehlentscheidungen bezeichnen, denn er führt aus, wie es zu solchen Fehlentscheidungen kommt, die die Leser zunächst immer sehr verwirren, weil man den Beginn solcher verschlungenen Wege zunächst nicht einordnen kann und später immer wieder überrascht ist, auf welchen Überlegungen die Entscheidungswege basieren und wie sich solche Entscheidungen auswirken. Überraschende Wendungen und völlig unvorhersehbare Auflösungen sind ein bedeutendes literarisches Wesensmerkmal der Trilogie von Cixin Liu. Die Philosophie von Fehlentscheidungen zeigt, dass es keinen direkten Ursache-Wirkung-Zusammenhang in der Erzählung von Cixin Liu gibt, sondern immer nur chaotische Lösungswege vor dem Hintergrund der kosmologischen Situation des „Dark Forest“. In diesem Lösungschaos allerdings sind individuelle Persönlichkeitsmerkmale wie Überzeugung, Ahnung, Wille und Ausdauer der Protagonisten extrem wichtig, um die Ziele auf verschlungenen Pfaden schließlich doch noch zu erreichen. Sie sind das heimliche Element einer Lösung, nicht Technologie, Wissenschaft oder Macht.
Das Werk von Cixin Liu weist viele Bezüge zu kulturellen und politischen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Menschheit auf. Europäischen Leserinnen und Lesern werden zunächst an den Holocaust und die beiden Weltkriege denken. Schilderungen von Völkermorden gibt es in den meisten Kulturen der Erde, man denke nur an die Ausrottung der Azteken, Inkas und Mayas in Südamerika, den Völkermord an den Indianern in Nordamerika, die Killing Fields in Kambodscha oder an das heutige Syrien. Die Gnadenlosigkeit und Unbarmherzigkeit, die Cixin Liu in seinem Werk der Zukunft der Menschheit im Universum beschert, findet sich in ähnlicher Weise in der interkulturellen Kulturgeschichte der Menschheit der Vergangenheit und Gegenwart wieder.
Cixin Liu ist sich der Geschichte der Kulturen auf der Erde sehr wohl bewusst. Der Antrieb für seine Art, Science-Fiction-Erzählungen zu schreiben, kommt wohl aus einem zutiefst humanistischen Weltbild, wie er selbst auf eine Kritik eines kanadischen Kollegen sagte, der ihm vorwarf, dass er zu sehr negativ von einer chinesischen Perspektive aus schreibe, während er, Robert Sawyer, eine optimistische kanadische Sicht auf ein zukünftiges Treffen und die Beziehung von Menschen und Aliens habe: „Aber wenn man den Platz der irdischen Zivilisation in diesem Universum bewerten sollte, scheint die Menschheit den Ureinwohnern der kanadischen Gebiete vor der Ankunft der europäischen Kolonisten viel näher zu stehen als dem Kanada der Gegenwart.“
Cixin Lius Trilogie sollte also auch im Kontext von Büchern wie Bartolome de Las Casas Bericht von der mörderischen Ankunft der Spanier im Amerika des 15. Jahrhunderts gesehen werden, diesmal aber Gott sei Dank nur als Fiktion und nicht als brutale Realität in der Geschichte, der Gegenwart, oder der Zukunft der Menschheit. Cixin Liu schreibt zwar über einen brutalen Überlebenskampf im „Dark Forest“ des Universums als Fiktion, sein Wunsch für die Gegenwart ist allerdings sehr irdisch und gegenwartsbezogen: „Ich habe über das schlechteste aller möglichen Universen (…) geschrieben , in der Hoffnung, dass wir das beste aller möglichen Universen anstreben können.“
Cixin Lius Meisterwerk neuer kosmologischer Science Fiction darf also so interpretiert werden, dass die Lösung für die Zukunft der Menschheit im Universum in den Handlungen der Menschheit der Gegenwart auf der Erde liegt – und hier ist aktuell derart viel politisch zu tun, dass wir alle uns darauf konzentrieren müssen. Ohne eine Lösung der irdischen Konflikte dürften die Erforschung des Sonnensystems und die interstellare Raumfahrt für die Menschheit ein Traum bleiben. Der dunkle Wald der Erde muss erleuchtet werden, bevor wir uns um den dunklen Wald des Universums sorgen können.
Eine Art Post-Scriptum: Eine Erzählung der Climate Science Fiction
Cixin Liu schreibt nicht explizit über Umweltprobleme oder den Klimawandel, wie er seinem Publikum bei der Lesung in Hamburg verriet, dennoch finden sich Narrative aus diesem Diskursfeld auch in seinen Kurzgeschichten. Die Short Stories von Cixin Liu sind – durchaus vergleichbar mit denen von Arthur C. Clarke – ebenso spannend, witzig und lesenswert wie seine großen Romane.
Die Kurzgeschichte Moonlight (2019, in: Ken Liu, Translator and Editor, Broken Stars. Contemporary Chinese Science Fiction in Translation) von Cixin Liu ist eine sehr ironische, fast schon satirische Erzählung darüber, wie die katastrophalen Umweltbedingungen auf der Erde der Gegenwart, hervorgerufen durch den Abbau und die Nutzung fossiler Brennstoffe, durch großtechnische Experimente in globalem Maßstab korrigiert werden sollen – und wie diese Versuche scheitern. Die Erzählung ist einfallsreich, kreativ und hält denjenigen einen Spiegel vor, die an einfache technische Lösungsmechanismen durch beispielsweise Geoengineering oder Kernfusion glauben.
In Cixin Lius Moonlight (2009) geht es um den Versuch, die katastrophalen Umweltbedingungen auf der Erde der Gegenwart zu korrigieren, die durch den Abbau und die Nutzung fossiler Brennstoffe verursacht werden. Ein Eingriff in den Lauf der Zeit soll alles regeln. Der Protagonist wird von seinem eigenen zukünftigen Ich aus dem Jahr 2123 angerufen. Er erfährt, dass die Eiskappen an den Polen verschwunden sind, dass der Meeresspiegel um zwanzig Meter angestiegen ist und dass 300 Millionen Menschen von der Küste ins Landesinnere geflüchtet sind. Es herrschen nur noch Verwüstung und politisches Chaos, die Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch. Es ist die Aufgabe der beiden Personen aus der Gegenwart und der Zukunft, dies zu verhindern, sagte er. Zu diesem Zweck gibt es eine Technologie namens „Siliziumpflug“. Mit diesem Gerät kann normaler Boden in eine Fläche für stromerzeugende Solarzellen verwandelt werden, denn es extrahiert die im Boden enthaltenen Siliziumverbindungen und wandelt sie in monokristallines Silizium um. Das jetzige Ich braucht nur die E-Mail zu öffnen und zu lesen, die es gleich erhalten wird. Gesagt, getan, und schon ist die Umstellung der Zeitabläufe in Gang gesetzt.
Natürlich ahnt der Leser, dass dies zu einer Kette von Fehlentwicklungen führen wird. Der zweite Anruf kommt aus dem Jahr 2119. Das zweite Zukunfts-Ich beschreibt, dass die Beseitigung des fossilen Zeitalters erfolgreich war und dass kein Klimawandel stattgefunden hat. Aber es seien andere Fehlentwicklungen begünstigt worden. Zunächst hätte in den 2020er Jahren die Solarenergie den Weltenergiemarkt dominiert und alle fossilen Brennstoffe wären sofort verschwunden. Dann aber sei der Flächenverbrauch der Solarfelder so groß geworden, dass fast die gesamte Erdoberfläche von Solarfeldern eingenommen werde, und das sei schlimmer und schneller als die Wüstenbildung der Erde in früheren Zeiten. Diese Entwicklung müsse rückgängig gemacht werden, denn die Erde sei verödet und leer. Es gebe eine Technologie, die dies verhindern könne, nämlich die „Ultra-Tiefenbohrung“. Mit dieser Technologie würde die Mohoroviĉić-Diskontinuität (die Schnittstelle zwischen Erdkruste und Erdmantel) in einer Tiefe von mehr als 100 Kilometern angebohrt, um dort geoelektrische Energie zu gewinnen. Damit könnten alle Probleme gelöst werden. Gesagt, getan …
Der dritte Ruf aus der Zukunft kommt aus dem Jahr 2125. Die Stadt Shanghai ist inzwischen unter die Erde verlegt worden. An der Erdoberfläche herrscht Radioaktivität; die Menschen würden dort ohne Schutzkleidung sofort einen schrecklichen Tod sterben, und ihr Blut würde aus der Haut austreten. Die Gewinnung von geoelektrischer Energie hat sich viel schneller durchgesetzt als die Nutzung der Sonnenenergie. Zu Beginn des 22. Jahrhunderts versiegte jedoch plötzlich die geoelektrische Energie, Kompasse zeigten nicht mehr nach Norden, und der elektromagnetische Schutzschild der Erde, der Van-Allen-Gürtel, verschwand, so dass die ultraviolette Strahlung der Sonne direkt auf die Erdoberfläche traf. Dies war jedoch nur der Anfang. In den nächsten drei bis fünf Jahrhunderten werden die Sonnenwinde die Erdatmosphäre vollständig zerstören und alles Wasser auf der Oberfläche und in den Ozeanen verdampfen. Allerdings war nun ein Durchbruch in der Fusionstechnologie erzielt worden, und es konnte unbegrenzte Energie erzeugt werden. Mit dieser Energie sollte versucht werden, das Magnetfeld der Erde wiederherzustellen. Die Ergebnisse waren jedoch nicht sehr ermutigend
„Wir müssen es wieder in Ordnung bringen“, so die einhellige Meinung des Zukunfts-Ichs und des Gegenwarts-Ichs. Der einfachste Weg wäre, dass beide E-Mails aus der Zukunft komplett gelöscht werden und das Gegenwarts-Ich einfach zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Alles auf Anfang! Die Kurzgeschichte endet mit dem Text: „Der Mann, der in einer einzigen Nacht dreimal den Lauf der Menschheitsgeschichte verändert hatte, aber am Ende nichts verändert hatte, schlief vor seinem Computer ein. Die Morgendämmerung erhellte den östlichen Himmel. Die Welt begann einen weiteren gewöhnlichen Tag. Nichts war geschehen, gar nichts“.
Der Meister dieser Art wissenschaftlich brillanter und ironisch verdrehter Science-Fiction kommt aus China und ist mit seiner Trisolaris-Trilogie auch in Deutschland außerordentlich erfolgreich und beliebt: Cixin Liu. In Moonlight beschäftigt er sich mit den katastrophalen Umweltbedingungen auf der Erde, die durch den Klimawandel verursacht werden, meines Erachtens ein passender Abschluss für jede Diskussion über Klimawandel-Literatur ist. Cixin Liu unternimmt mehrere Versuche, ein globales Problem zu lösen, aber sie scheitern alle. Seiner Erzählung liegt das Scheitern als Muster zugrunde, und er regt seine Leser zum Nachdenken darüber an, wie es um die Problemlösungsfähigkeiten der Menschen bestellt ist.
Fritz Heidorn, Oldenburg
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2024, Internetzugriffe zuletzt am 27. Juli 2024. Titelbild: Large Hadron Collider, Tunnel, Sektor 3-4, Foto: Maximilian Brice, CERN, Wikimedia Commons.)
Post-Scriptum des Herausgebers: Wolfgang M. Schmitt hat sich in einer seiner Filmanalysen mit der Netflix-Produktion „3 Body Problem“ befasst und stellt die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Cixin Lius Trilogie zu verfilmen. Die erste Staffel beruht auf dem ersten Band, all dies aus der Sicht von fünf jungen Wissenschaftler:innen aus Oxford, die in dieser Kombination in den Romanen nicht vorkommen. Die erste Staffel endete mit der Etablierung der „Wandschauer“. Die Serie soll fortgesetzt werden.