Kunst und Kultur – DNA einer offenen Gesellschaft
Das Engagement der Theatergemeinde Bonn
Die Kulturszene einer Stadt lebt vom Engagement vieler hauptberuflich und ehrenamtlich engagierter Menschen. Die Theatergemeinde Bonn sorgt seit Jahrzehnten dafür, dass die Bonner Kulturszene mit Leben erfüllt ist. Und sie bietet erheblich mehr als der Name vermuten lässt: Lesungen, Kunstausstellungen, Kulturreisen, eine Zeitschrift, Angebote für Kinder und Jugendliche. Mit ihrem Engagement arbeitet sie vorbildlich auch für andere Städte. Elisabeth Einecke-Klövekorn ist die Vorsitzende der Theatergemeinde Bonn, Autorin und Publizistin. Sie lebt in Bonn.
Norbert Reichel: Kunst und Kultur gehören zur DNA einer offenen Gesellschaft. Bonn hat eine ausgesprochen vielfältige Kulturszene. Vielleicht darf man Bonn sogar eine informelle Kulturhauptstadt nennen?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Die schon vor knapp einem Jahrzehnt diskutierte Bewerbung um den Status einer Kulturhauptstadt Europas im Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 wurde leider wegen anderer Projekte und Konflikte bald ad acta gelegt. Bonn ist auch nach dem Umzug der Bundesregierung immer noch eine attraktive, wohlhabende Stadt, gilt wirtschaftlich als ‚Boom-Town‘ und braucht beim reichhaltigen Kulturangebot den Vergleich mit anderen mittleren Großstädten nicht zu scheuen. In diversen ‚Rankings‘ belegt Bonn Spitzenplätze. Merkwürdigerweise spiegelt sich das viel zu wenig im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und auch nicht in der Kommunalpolitik. Im Bereich der kulturellen Angebote für Kinder und Jugendliche beispielweise kann Bonn locker mit den deutschen Millionenstädten mithalten. Ebenso bei den Unterhaltungsangeboten mit zwei bundesweit renommierten Kabaretts und mehreren Bühnen mit eigenem Genre-Profil. Etiketten wie ‚Kulturhauptstadt‘ sind gar nicht so wichtig. Mehr kulturelles Selbstbewusstsein würde schon reichen.
Norbert Reichel: Die Theatergemeinde trägt maßgeblich zur Vielfalt des Kulturlebens in Bonn bei. Welche Schwerpunkte hat Ihre Arbeit zurzeit und wo sehen Sie die wesentlichen Zukunftsaufgaben?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Vielfalt. Wir sind eine gemeinnützige Besucherorganisation mit einem sozialen Auftrag und kein Ticketshop. Wir heißen zwar seit 68 Jahren ‚Theatergemeinde‘, aber unser Angebot umfasst alle Kunst- und Kultursparten. „Gemeinde“ klingt zwar etwas altmodisch, hat jedoch viel mit sozialem Zusammenhalt und mit Nachhaltigkeit zu tun. Wir bieten mit unseren über 70 Abonnements regelmäßige Kulturerlebnisse für alle Interessenschwerpunkte und jeden Geldbeutel – schon wieder so ein altmodisches Wort. Selbstverständlich benutzen wir für unseren Service moderne Management- und Kommunikationssysteme und arbeiten ständig an deren Verbesserung. Grundsätzlich gilt: Wir wollen Publikum aller Generationen und Kunstschaffende zusammenbringen. Also „Kultur für alle“ – eine eigentlich immer noch aktuelle kulturpolitische Forderung. Wesentliche Zukunftsaufgabe bleibt die Förderung von kreativem Nach- und Vorausdenken. Auf praktische Beispiele können wir nachher noch eingehen.
Norbert Reichel: Die Theatergemeinde lebt von Haupt- und Ehrenamt. Wie sieht das Verhältnis aus und wie verknüpfen Sie die jeweiligen spezifischen Fähigkeiten und Interessen von Haupt- und Ehrenamtler*innen? Und wie werben Sie Nachwuchs für das Ehrenamt?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Wir haben ein hochmotiviertes hauptamtliches Team mit ca. 10 Mitarbeiter*innen, davon die meisten in Teilzeit oder in geringfügiger Beschäftigung. Alle müssen unter der Leitung eines Geschäftsführers sehr effizient arbeiten, um ihre tariflichen Gehälter und die laufenden Betriebskosten zu erwirtschaften. Sie machen alle Dienste von der Mitgliederverwaltung/-betreuung, Aboplanung bis zu Kartenverteilung und -versand. Es gibt keine öffentlichen Zuschüsse, der gesamte Verein finanziert sich nur aus der Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis der jährlich rund 60.000 vermittelten Karten.
Die Gesamtverantwortung trägt ein dreiköpfiger ehrenamtlicher örtlicher Vorstand. Die über 100 für uns tätigen Ehrenamtler*innen stehen im ständigen Kontakt mit der Geschäftsstelle. Beispielsweise unsere über 50 Gruppenleiter*innen aus der Region von der Eifel bis zum Westerwald, die Busse für Theaterbesuche organisieren und ggf. beim Bäcker oder der Dorfapotheke für Kulturerlebnisse in Bonn werben. Wer das (wie etliche) seit über 40 Jahren macht, ist naturgemäß trotz aller Begeisterung nicht mehr jung. Glücklicherweise kümmern sich die meisten selbst um Nachfolger*innen.
Ehrenamtlich tätig sind zahlreiche fachlich qualifizierte Menschen vor allem im Jugendbereich: als Jury unseres Schultheaterfestivals „spotlights“, als Theaterpat*innen, als Kulturlots*innen etc.; sie erbringen wichtige Leistungen, die vom hauptamtlichen Personal unterstützt werden. Wer sich ehrenamtlich engagieren möchte, braucht klar definierte Aufgaben, konkrete Erfolgsaussichten, eigenen Gestaltungsspielraum und deutliche Wertschätzung. Die Abstimmung „Wer macht was, wann, wie, warum“ funktioniert erfreulicherweise reibungslos.
Norbert Reichel: Eine der Hauptaufgaben der Theatergemeinde ist die Werbung und Betreuung des Publikums der Bonner Spielstätten. Haben sich die Ansprüche des Publikums in den letzten 20 Jahren verändert?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Ja, die Bevölkerungsstruktur in Bonn hat sich nach dem Regierungsumzug deutlich verändert. Das klassische Bildungsbürgertum gibt es nicht mehr, die neuen akademischen und wirtschaftlichen Eliten sind eher technisch orientiert und überwiegend popkulturell sozialisiert. Außerdem wurden überall die Arbeitszeiten erweitert: Wer beispielsweise in einem Bioladen in Alfter oder als Pflegekraft in einer Klinik arbeitet (also eher unsere Normalverdiener-Klientel), schafft es werktags abends nur selten rechtzeitig zu einer Kulturveranstaltung. Die freie Zeit verteilt sich heute anders als von 20 Jahren. Der Trend geht klar zu kleineren Abos und flexibleren Angeboten. Der Preis ist für viele gar nicht so wichtig (wir bieten etliches in Low-Budget- und Premium-Varianten an), entscheidend ist eher der gute Service. Individuelle Wünsche nehmen zu; der Aufwand pro Mitglied hat sich fast verdoppelt. Der Mitgliedsbeitrag pro Monat liegt bei einem Fest-Abo bei gerade mal 3 Euro pro Monat, bei einem flexibleren Abo bei 4,50 Euro. Das ist immer noch extrem günstig, weil der Mitgliedsausweis (= KulturCard) bei so gut wie allen Museen in Bonn und der Region einen ermäßigten Eintritt garantiert. Ein solch breit gefächertes Netzwerk ist tatsächlich bundesweit einmalig.
Norbert Reichel: Eine bedeutende Sparte des Bonner Theaterlebens ist die Oper. Welche Bedeutung hat Oper in Ihrer Arbeit?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Die Oper und das Beethoven Orchester sind die Flaggschiffe der Bonner Bühnen- und Musikkultur und gerade in einer Stadt mit vielen internationalen Einrichtungen unverzichtbar. Die Gastspielreihe der Highlights des internationalen Tanzes ist auch wegen der nonverbalen Ausdrucksform überaus beliebt. Die großen städtischen Kulturinstitutionen, zu denen auch das Kunstmuseum gehört, liefern die Atmosphäre für das Gedeihen kleinerer Einrichtungen. Umgekehrt ist eine lebendige freie und private Szene wichtig, um den Blick für verschiedene ästhetische Ansätze zu schärfen. Das Schöne an Bonn ist: Jede Kultureinrichtung hat ihr spezifisches Profil. Es gibt hier keine Konkurrenz untereinander, sondern viel gegenseitige Unterstützung.
Für die Theatergemeinde ist die Oper ökonomisch überlebenswichtig. Nur wenn wir viele Opernkarten vermitteln, können wir Theater unterstützen, an denen wir nichts verdienen. Das ist eine komplizierte Balance. Aber unser Publikum schätzt gerade die Vielfalt und die Mischung. Unsere größten Abos mit über 1.000 Mitgliedern sind immer noch die ‚Gemischten‘. Am meisten freuen wir uns, wenn jemand sagt: „Ohne euch wären wir gar nicht auf diese Vorstellung gekommen und hätten echt was verpasst.“ Wer sich nur für die Oper oder ein bestimmtes Theater interessiert, ist mit deren eigenen Abos besser bedient. Ich kenne aber auch etliche Leute, die ein Opernabo haben und zusätzlich eins bei der Theatergemeinde, weil sie deren Anregungen und Vorteile gern nutzen.
Norbert Reichel: Es gibt immer wieder Streit, ob man eher die Oper oder eher kleine Theater wie in Bonn die „Pathologie“ oder das „Euro Theater Central“ fördern solle. Großen Streit lösten in Bonn auch die Debatten um das Festspielhaus und die Renovierung der Beethovenhalle aus. Ich kann mir vorstellen, dass auch in der Theatergemeinde unterschiedliche Positionen vertreten werden. Wie bewerten Sie solche Debatten?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Ersteres ist – wie gerade erläutert – schlichter Unfug. Die Oper braucht naturgemäß viel Personal und ist ein großer Arbeitgeber für Menschen mit eine hochwertigen Ausbildung, die täglich viel Lebensenergie in die Kunst investieren. Das ist teuer und nur mit öffentlichen Mitteln machbar. Musiktheater ist jedoch kein überflüssiger Bespaßungs-Luxus für wenige, sondern wie das Schauspiel ein gesellschaftlich notwendiges Reflexionsinstrument. Wie auch die von Ihnen genannten kleineren Bühnen, wo hautnah verhandelt wird, was uns bewegt. Die „Pathologie“ finanziert sich weitgehend durch Idealismus ohne öffentliche Mittel. Ohne die vielen Besucher*innen der Theatergemeinde wäre dieses intime Kellertheater längst schon geschlossen. Die Streichung aller kommunalen Zuschüsse für das Euro Theater Central, war skandalös. Das groteske Argument „50 Jahre sind genug“ mag ich hier ungern weiterdenken. Das Tolle und für Bonn Typische ist: Durch viel Solidarität ist die Rettung in greifbarer Nähe.
Die professionellen freien und privaten Bühnen haben unterschiedliche Finanzierungsmodelle über institutionelle Förderung und Projektförderung, zumeist nicht nur aus kommunalen Geldern, sondern auch vom Land und diversen Stiftungen. Einfach bei den städtischen Einrichtungen etwas wegzunehmen und an andere verteilen, klingt hübsch, würde aber niemandem nützen. Es ist gut, dass sich die Szene nie auf eine Neid-Debatte eingelassen hat.
Die „Festspielhaus-Debatte“ hat leider unsinnig viel Zeit verschlungen. Die Gründe für das Scheitern möchte ich hier nicht noch mal aufrollen. Es war absehbar, dass eine umfangreiche Renovierung der Beethovenhalle bis 2020 mit den vorhandenen Planungs-Ressourcen ins Reich der Illusionen gehörte. Hinterher ist man immer schlauer. Demokratie ist halt kostspielig, aber in der Theatergemeinde herrscht der Konsens: Da müssen wir nun leider durch. Es ist ja kein Einzelfall; schlechte Beispiele aus anderen Städten sollte man hier wirklich nicht hämisch aufzählen. Mit einem nach und nach sanierten Opernhaus haben wir eine stabile Interimsspielstätte für die nächsten Jahre.
Norbert Reichel: Ein Kampfbegriff war lange Zeit die „Hochkultur“, eine gängige Forderung die Beteiligung junger Menschen an der Programmgestaltung. Wie gewinnen Sie das Interesse junger Menschen?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Was ist der Gegenbegriff zu ‚Hochkultur‘? Historisch gesehen ist ‚Hochkultur‘ ein erstrebenswertes Gut, um dessen Teilhabe die Arbeiterklasse im frühen 20. Jahrhundert kämpfte. Die denunziatorische Umkehrung ist insofern geradezu absurd. Höchst anspruchsvolle, überregional ausgezeichnete Produktionen gibt es in der Oper und in der freien Szene.
Spitzenleistungen sind nur möglich durch Breitenarbeit. Die Theatergemeinde hat vor einigen Jahren den Mitgliedsbeitrag für Erwachsene leicht erhöht und für Jugendliche auf Null gesetzt. Niemand hat deshalb sein Abo gekündigt. Trotz der Dumpingpreis-Angebote der städtischen Bühnen (Schulklassen-Abo für 15 Euro mit drei Vorstellungen nach Wahl, das liegt deutlich unter unserem Karten-Einkaufspreis) ist in der gerade zu Ende gehenden Saison die Zahl unserer jugendlichen Mitglieder auf über 1.000 gestiegen. Außerordentlich beliebt sind neben den Schüler*innen-Abos auch die Angebote für Familien mit Kindern. Kein einzelnes Theater kann alle Altersgruppen von drei bis dreizehn bedienen. Das geht nur gemeinsam mit der Kompetenz der Theatergemeinde. Wir machen zudem gern und regelmäßig aufmerksam auf professionelle Workshops, Education-Angebote und die zunehmenden partizipativen Projekte.
Wir veranstalten seit 17 Jahren das Schultheaterfestival „spotlights“, bei dem herausragende Schultheater-Produktionen sich auf diversen professionellen Bühnen präsentieren können, und zwar auf Augenhöhe mit den erfahrenen Kolleg*innen. Auch das ist bundesweit einmalig und hat uns sogar Bewerbungen aus dem Ausland beschert. Schon dreimal war eine Jugendgruppe aus Belarus bei „spotlights“ zu Gast. Geht nicht, gibt’s nicht; um Sponsoring kümmern sich hauptsächlich wieder die Ehrenamtler*innen.
Vor drei Jahren haben wir die Organisation der Bonner Theaternacht übernommen und 2019 die Rekordmarke von fast 3.000 Besucher*innen erreicht. Damit sprechen wir besonders die hier Studierenden an. Momentan arbeiten wir mit dem AStA der Uni Bonn an einem Kulturticket-Modell, mit dem Studierende bei allen Bonner Theatern für 3 Euro an den Abendkassen noch verfügbare Karten erhalten. Zum Beginn des Wintersemesters 2019/20 wird eine entsprechende App an den Start gehen.
Norbert Reichel: Die Theatergemeinde hat eine eigene Zeitschrift, die den Mitgliedern frei Haus geliefert wird. Wie wichtig ist eine solche Printversion aus Ihrer Sicht in der heutigen Medienvielfalt?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Tatsächlich schlägt sich dafür ein Mini-Team von drei Leuten etliche Tage und Nächte um die Ohren. Natürlich haben wir überlegt, das Ganze kostengünstig nur ins Netz zu stellen. Eine Mitgliederumfrage ergab jedoch: Die Menschen möchten lieber etwas in der Hand haben und blättern. Im Netz findet man das, was man sucht. In einem Printmedium stößt man auf unerwartete Ideen. Mittlerweile haben rund 200 Leute das Blatt (für 20 Euro pro Jahr) abonniert, die gar nicht TG-Mitglieder sind. Sie finden dort eine Menge Anregungen, kommen zu angebotenen Sonderveranstaltungen und schätzen den konzentrierten Überblick inkl. Kino-, TV-, Lese- Restaurant-Tipps. Das TG-„kultur“-Magazin hat einen hohen Stellenwert im Bonner Kulturleben. Erfreulicherweise finanziert es sich teilweise durch Anzeigen.
Norbert Reichel: Von hoher Bedeutung für die Akzeptanz der örtlichen Kunst und Kultur ist die persönliche Begegnung mit Künstler*innen, Schauspieler*innen, Musiker*innen. Was bietet die Theatergemeinde für dieses Ziel?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Das fängt schon mit dem „Theaterspaziergang“ zum Welttheatertag an, wo wir seit inzwischen 19 Jahren an einem Tag mehr als 12 Stunden lang überall hinter die Kulissen schauen. 2019 war der ‚Marathon‘ wieder schnell ausverkauft. Sogar die neue Bonner Sport- und Kulturdezernentin machte mit. Wir arbeiten ständig an originellen Begegnungs-Formaten. Weil die Bildende Kunst bisher in diesem Interview etwas zu kurz gekommen ist: Sehr beliebt sind die Vernissagen unserer Hausausstellungen (ehrenamtlich hochkompetent kuratiert), wo immer wieder neue Dialoge entstehen. Bis Ende 2021 ist das Programm jetzt schon durchgeplant. Hinzu kommen Seminare, beispielsweise ein von Schauspielern geleiteter Rhetorikkurs.
Blicke über den Tellerrand gehören sowieso zu unserem Konzept: Also Ausstellungsbesuche, Tagesfahrten, Kulturreisen etc. Originelle Abos wie für 2019/20 die „Beethoven-Variationen“ (ohne Konzerte!) sind ein Sahnehäubchen, das nur wir so aufschäumen können. Damit habe ich gleich eine kulinarische Metapher: Ganz neu sind unsere Stadterkundungen in der Reihe „art & eat“. Unter sachkundiger Führung kann man da einzelne Bonner Stadtteile mit ihren Besonderheiten kennenlernen und die Spaziergänge in einem typischen Lokal beenden. Das hat durchaus etwas mit der Steigerung der Identifikation mit einer reizvollen Stadt und ihrer Diversität zu tun. Bildung muss ja nicht bloß trockener Stoff sein.
Norbert Reichel: Kulturelle Bildung ist heute grundlegender Bildungsauftrag. Auf der anderen Seite erhält kulturelle Bildung in der Hierarchie der Fächer und Inhalte schulischen Lernens in der Regel eher einen hinteren Platz. Manche sprechen despektierlich von „Feiertagspädagogik“ und „Sahnehäubchen“. Wie bewerten Sie diese Debatten?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Warum sagen Sie nicht gleich „Kuschelpädagogik“? Ich bin der Meinung, dass Kulturelle Bildung zum Kernauftrag jeder Schule gehört. Okay: Momentan beherrscht das Zauberwort „Digitalisierung“ die Debatten. In der gefühlten Hierarchie der Bildungspolitiker*innen stehen die MINT-Fächer weit oben, auch an den Universitäten werden die Geisteswissenschaften an den Rand gedrängt. In dieser Situation ausgerechnet das Deutsche Museum Bonn, das Wissen ganz sinnlich anschaulich vermittelt, wieder mal auf die Streichliste zu setzen, ist ziemlich seltsam.
Die Junge Theatergemeinde Bonn pflegt einen intensiven Austausch mit Kontakt-Lehrkräften an vielen Schulen. Unsere Jugendreferentin stellt dort regelmäßig die Spielpläne vor und stellt für sie Wunsch-Abos zusammen. Zudem versuchen wir, gezielt Jugendliche für die Vermittlung zu gewinnen, also Peer-to-Peer-Modelle weiter zu entwickeln. Wir arbeiten intensiv daran, die durch Beschäftigung mit Kunst, Musik, Literatur und Theater erworbenen Kernkompetenzen und kreativen Fähigkeiten im Bewusstsein aufzuwerten. Auch das ist ein Balanceakt, denn eine schlichte Instrumentalisierung der Künste lehnen wir strikt ab.
Norbert Reichel: Wer Kunst und Kultur fördert, möchte auch gerne Einfluss nehmen, darauf, welche Künstler*innen engagiert, welche Werke im Mittelpunkt der Programmgestaltung stehen und nicht zuletzt, wie diese Werke interpretiert und präsentiert werden. Die sogenannte „Werktreue“ war lange Zeit ein Kampfbegriff, heute verbinden ganze gesellschaftliche Gruppierungen einen eher dogmatischen Begriff von dem, was Kunst ist. Beeinflussen solche Debatten auch Ihre Arbeit?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Ja und Nein. Künstlerische Entscheidungen sind Sache der verantwortlichen Institutionen. Wenn das Ergebnis überzeugt, ist es doch völlig egal, ob ein Stück in seiner Entstehungszeit, der erzählten Zeit oder der Gegenwart des 21.Jahrhunderts angesiedelt wird. Jede Lektüre ist eine Interpretation, die sogenannte „Werktreue“ gehört zur Editionsphilologie. Es ist nicht Zweck des Theaters, Schüler*innen das Lesen zu ersparen, sondern zeitgemäße Deutungen auszuprobieren. Im Übrigen ist Scheitern ein ganz normaler Preis für originelle Versuchsanordnungen.
Einen direkten Einfluss auf Spielpläne gibt es nicht. Aber selbstverständlich findet ständig ein fachlicher Austausch statt. Es ist Aufgabe der Kritik, die ja in unserem „kultur“-Magazin großen Raum einnimmt, Regie-Ansätze zu beurteilen und ggf. auch zu sagen, wie ein Werk als Material für eine Inszenierung eingesetzt wurde.
Norbert Reichel: Durch Ein- und Zuwanderung verändern sich auch die Ansprüche an Kunst und Kultur. Wie verändert die Migrationsgesellschaft die Arbeit der Theatergemeinde?
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland. Die spezielle Situation in Bonn mit vielen hochwertigen Arbeitsplätzen bei internationalen Unternehmen hat unsere Arbeit kaum verändert. Wichtig ist natürlich ein fremdsprachiges Programm, wie es insbesondere das Euro Theater Central bietet.
Ansonsten fangen wir hier erst mal klein an. Seit 10 Jahren läuft unser zusammen mit der Bürgerstiftung der Sparkasse KölnBonn initiiertes „Patenprojekt“. Wir arbeiten da mit vier Bonner Grundschulen zusammen, die einen extrem hohen Anteil an Kindern mit migrantischem Hintergrund haben. Wir haben rund 35 ehrenamtliche Pat*innen (übrigens keineswegs nur Senior*innen), die dann gemeinsam mit ‚ihrem‘ Kind fünf Vorstellungen pro Jahr besuchen, darüber miteinander sprechen und ihre Erlebnisse gemeinsam in einem „Theaterbüchlein“ festhalten. Nach jeder Aufführung gibt es ein Treffen mit den Künstler*innen. Das Ganze ist eher unspektakulär, aber ein erster Schritt, der zudem allen Spaß macht und gegenseitiges Verständnis erzeugt. Wenn sich dadurch bei einem Patenkind die schulischen Leistungen verbessern, ist das ein schöner Nebeneffekt.
Norbert Reichel: Der Deutsche Kulturrat hat in letzter Zeit mehrfach die enge Verknüpfung kulturellen und künstlerischen Engagements mit den Erfordernissen einer demokratischen Gesellschaft betont. Auf der anderen Seite sollte man nicht den Eindruck erwecken, dass Kunst und Kultur nur Mittel zum Zweck sind. Wie bewerten Sie das Verhältnis zwischen Kunst, Kultur und Demokratie?
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2019, Internetlink zur Theatergemeinde wurde am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)
Elisabeth Einecke-Klövekorn: Theater ist als Gattung schon dialogisch und hat seine europäischen Wurzeln nicht grundlos in der ersten athenischen Demokratie vor rund 2.500 Jahren. Wir brauchen dringend Räume zur herrschaftsfreien Kommunikation, wie sie nur die Kunst bietet. Schon klar: Die Wirklichkeit entspricht nicht immer den Idealen. Aber wo, außer in der Kultur kann man mit allen möglichen Gedanken experimentieren in der Sicherheit, dass am Ende keiner wirklich tot ist? Kunst und Kultur sind kein Allheilmittel gegen die zunehmende gesellschaftliche Entsolidarisierung und die Macht der Medienkonzerne und des Kapitals. Kunst kann und soll jedoch sensibilisieren für Fehlentwicklungen (am liebsten dabei auch unterhaltsam sein) und tut das im besten Fall, indem sie mit ihren sinnlichen Mitteln Gefühl und Verstand bewegt.