Literatur gegen die epistemische Ungerechtigkeit
Ein Porträt der britischen Literaturwissenschaftlerin Sarah Colvin
„When I first conceived of this book, I assumed I would be bringing epistemic injustice theory to the novels and reading them through it. As I read the novels it became clear to me that, on the contrary, I was reading it through them: the novels taught me a great deal about epistemic injustice and the forms it takes.” (Sarah Colvin, Literature and Epistemic Injustice: Power and Resistance in the Contemporary Novel, Routledge, 2025. Deutsche Übersetzung: „Als ich dieses Buch erstmals konzipierte, ging ich davon aus, die Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit auf die Romane anzuwenden und sie durch diese Linse zu lesen. Während der Lektüre wurde mir jedoch klar, dass vielmehr das Gegenteil der Fall war: Ich las die Theorie durch die Romane – sie haben mich vieles über epistemische Ungerechtigkeit und ihre Erscheinungsformen gelehrt.“)
Die Autorin
Sarah Colvin ist Schröder Professor of German an der University of Cambridge und Fellow des Jesus College. Nach dem Abschluss ihrer Studien an der University of Oxford (BA, MA, DPhil) war sie Junior Research Fellow am St John’s College, Oxford. Anschließend wechselte sie in Lecturer- und Reader-Positionen, zunächst an die University of Edinburgh, wo sie ihr Interesse an deutscher Literatur und Kultur in Verbindung mit Sozialtheorie weiterentwickelte. Ein Humboldt-Stipendium an der Universität Potsdam (2000–2001) folgte. Danach hatte sie den Eudo-C.-Mason-Lehrstuhl für Germanistik an der University of Edinburgh (2004–2010) inne und war Professorin für das Studium des zeitgenössischen Deutschlands an der University of Birmingham (2010–2012), anschließend Professorin für Germanistik an der University of Warwick (2013–2014). 2014 übernahm sie den Schröder Chair in Cambridge, wo sie seither ein eigenständiges Forschungsprofil aufgebaut hat, das literarische Analyse, politische Theorie, Kriminologie und Critical Race Theory verbindet, mit einem besonderen Schwerpunkt auf widerständiger Literatur, sozialer Gerechtigkeit, epistemischer Ungerechtigkeit, dem politischen Roman und Gefängnisschriften.

Sarah Colvin, Foto: privat.
Ein bemerkenswerter Aspekt von Sarah Colvins wissenschaftlichem Profil ist ihre intensive Zusammenarbeit mit Routledge, einem der weltweit führenden akademischen Verlage in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Mehrere ihrer Bücher sind inzwischen als Open-Access-Publikationen verfügbar, was Sarah Colvins Engagement für die Prinzipien der Open Science, die grenzüberschreitende Zugänglichkeit von Forschung und die Demokratisierung von Wissen widerspiegelt.
Ihre jüngste Monographie „Literature and Epistemic Injustice: Power and Resistance in the Contemporary Novel“ („Literatur und epistemische Ungerechtigkeit: Macht und Widerstand im zeitgenössischen Roman“; 2025), bildet das Herzstück dieses Œuvres. Als Teil der neuen Reihe Routledge Literary Studies in Social Justice veröffentlicht, positioniert das Buch Sarah Colvin an der Spitze einer wachsenden Bewegung, die Literaturwissenschaft durch die Linse epistemischer Ungleichheit, des Zum-Schweigen-Bringens und des Widerstands neu denkt. Sarah Colvin argumentiert hier, dass zeitgenössische Romane – ob aus der Ukraine, aus Zimbabwe, China, Deutschland oder den Vereinigten Staaten – als Laboratorien für die Produktion von Gegenwissen dienen und dazu beitragen, jene epistemischen Hierarchien zu destabilisieren, auf denen politische und soziale Gewaltformen beruhen.
Ein weiterer bedeutender Routledge-Band ist „Epistemic Justice and Creative Agency: Global Perspectives on Literature and Film“ („Epistemische Gerechtigkeit und kreative Handlungsfähigkeit: Globale Perspektiven auf Literatur und Film“; 2023), den sie gemeinsam mit Stephanie Galasso herausgegeben hat. Dieser Sammelband vereint Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Regionen und Disziplinen, um zu untersuchen, wie künstlerische Werke sich mit Rassifizierung, Kolonialität, geschlechtsspezifischer Gewalt und anderen Mechanismen sozialer Ungleichheit auseinandersetzen. Sarah Colvins eigener Beitrag zu dem Band bietet eine eindrucksvolle Reflexion über die narrative „Pilgerschaft“ – die Bewegung von Erzählerinnen und Erzählern durch Raum, Erinnerung und moralischen Konflikt – und verbindet dieses Konzept mit Fragen der Gerechtigkeit in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Der Band als Ganzes zeigt auf, wie sich epistemische Ungerechtigkeit in globalen literarischen und filmischen Praktiken nachzeichnen lässt und wie das Erzählen dazu dient, interpretative Autorität zurückzugewinnen.
Früher in ihrer Zusammenarbeit mit Routledge veröffentlichte Sarah Colvin das „Routledge Handbook of German Politics and Culture“ (2014), ein umfangreiches 500 Seiten starkes Nachschlagewerk, das das zeitgenössische Deutschland an der Schnittstelle von politischem Leben, kultureller Produktion, sozialem Wandel und kollektivem Gedächtnis verortet. Eine überarbeitete Ausgabe befindet sich derzeit in Vorbereitung und ist für 2026/2027 geplant. Zwar rückt das Handbook epistemische Ungerechtigkeit nicht ausdrücklich in den Vordergrund, doch legt es die Grundlagen für Sarah Colvins spätere konzeptionelle Wendung, indem es jene sozialen und politischen Diskurse kartiert – etwa zu Nationalismus, Minderheitenidentität, Rassismus, Migration und Sicherheit –, die das öffentliche Leben in Deutschland strukturieren. Das Handbook zeigt, wie kultur- und politikwissenschaftliche Analyse in die literaturwissenschaftliche Forschung integriert werden kann und dass Literatur nicht von den Strukturen von Wissen und Macht zu trennen ist.
Zu Sarah Colvins Routledge-Publikationen gehören außerdem zwei gemeinsam mit Katharina Karcher herausgegebene Bände: „Gender, Emancipation, and Political Violence: Rethinking the Legacy of 1968” und „Women, Global Protest Movements and Political Agency: Rethinking the Legacy of 1968”. Diese 2018 erschienenen Bücher analysieren, wie geschlechtercodierte Narrative bestimmen, welche Formen politischer Handlungsmacht als legitim gelten, welche abgewertet und welche kriminalisiert werden.
Rückblickend wird deutlich, dass diese Bände Sarah Colvins spätere Arbeiten zur epistemischen Ungerechtigkeit vorwegnehmen: Lange bevor sie die Terminologie von Fricker (2007) und Medina (2013) übernahm, untersuchte sie bereits, wie „Erzählungen über Terrorismus“ und politische Gewalt Wissenshierarchien hervorbringen, die die öffentliche Moral prägen.
Sarah Colvins Routledge-Publikationen reichen von präzisen Analysen der deutschen Politik und Kultur über geschlechterbezogene Protestformen und politische Partizipation bis hin zu globalen literarischen und filmischen Ausdrucksformen von Ungerechtigkeit – und münden schließlich in ein ausgearbeitetes theoretisches Rahmenmodell, in dem Literatur zu einem Ort wird, an dem verstanden werden kann, wie Wissen in Gesellschaften verteilt – und verzerrt – wird.
Diese Entwicklung spiegelt größere Transformationen innerhalb der globalen Geisteswissenschaften wider und bietet ein wertvolles Modell dafür, wie man Literatur in Zeiten von Krise, Übergang und politischer Turbulenz ethisch reflektiert einsetzen kann.
German Life and Letters
„German Life and Letters“ zählt zu den angesehensten Publikationsorten der Germanistik in der englischsprachigen Welt. In den letzten Jahren hat sich die Zeitschrift zu einer zentralen Plattform für Forschung entwickelt, die deutschsprachige kulturelle Produktion mit Fragen sozialer Gerechtigkeit, dekolonialem Denken, Critical Race Studies und der Politik des Wissens verbindet.

Screenshot von der Vorstellung am 4. November 2025. Foto: Pavlo Shopin.
In einer Reihe von Aufsätzen, die zwischen 2020 und 2024 in der Zeitschrift veröffentlichte wurden, entwickelte Sarah Colvin ein ausgefeiltes Vokabular, um zeitgenössische afrodeutsche und migrantische Literatur in deutscher Sprache als Interventionen gegen epistemische Ungerechtigkeit zu lesen – Formen der Ungerechtigkeit, die verzerren, wer sprechen darf, wessen Erfahrungen Glauben geschenkt wird und welches Wissen als gültig gilt.
Durch ihre genaue Aufmerksamkeit für narrative Stimmen, Zeitlichkeit und formale Experimente zeigt Sarah Colvin, wie die literarische Form selbst zu einem Ort des Widerstands wird.
Einer ihrer zentralen Artikel, „Talking Back: Sharon Dodua Otoo’s ‚Herr Gröttrup setzt sich hin‘ and the Epistemology of Resistance“ (2020), bietet eine detaillierte Lektüre von Otoos mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnetem Text. Sarah Colvin interpretiert Otoos spielerische, scharf ironische Erzählstimme als einen Akt des „Zurücksprechens“, als eine strategische Weigerung, rassifizierte Glaubwürdigkeitshierarchien zu akzeptieren. Durch ihre genaue Aufmerksamkeit für Wechsel in Stimme, Perspektive und Tonfall zeigt sie, wie die Erzählung die subtilen Mechanismen offenlegt, durch die dominante Gruppen bestimmen, was als „Realität“ gilt.
Ihr nächster wichtiger Beitrag, „Words That Might Save Necks: Philipp Khabo Koepsell, Epistemic Murder and Poetic Justice“ (2021), baut auf José Medinas Konzept „des epistemischen Todes“ auf, der symbolischen Vernichtung der Glaubwürdigkeit, Handlungsfähigkeit oder interpretativen Autorität einer Person. Sarah Colvin zeigt, wie Koepsells Lyrik die Nähe zwischen epistemischer Gewalt und physischer Gewalt konfrontiert, insbesondere im Kontext von Polizeihandeln und rassifizierter staatlicher Macht. Sie legt dar, wie poetische Form – Rhythmus, Wiederholung und rhetorischer Druck – einen Raum schafft, in dem diese Gewalt benannt, angefochten und neu imaginiert werden kann.
In „Freedom Time: Temporal Insurrections in Olivia Wenzels ‚1000 Serpentinen Angst‘ and Sharon Dodua Otoos ‚Adas Raum‘“ (2022) wendet sich Sarah Colvin der narrativen Zeitlichkeit als Ort des Widerstands zu. Unter Rückgriff auf dekoloniale und Critical-Race-Historiografie argumentiert sie, dass beide Romane eine „insurrektionäre Zeit“ schaffen – eine Zeitstruktur, die sich gegen die linearen, auf Fortschritt ausgerichteten Narrative auflehnt, welche von nekropolitischen Regimen auferlegt werden. Durch schleifenartige, zirkuläre und vielstimmige Temporalitäten eröffnen diese Romane imaginierte Räume, in denen marginalisierte Subjekte Handlungsmacht über ihre eigenen Geschichten und Zukünfte zurückgewinnen.
Ihr Engagement für die Zeitschrift findet 2024 einen wichtigen Höhepunkt, als sie das Sonderheft „Sharon Dodua Otoo—Literature, Politics, Possibility“ mit herausgibt. Dieses Heft versammelt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Otoos Werk aus verschiedenen disziplinären Perspektiven untersuchen, und positioniert ihr Schreiben als ein kraftvolles Beispiel dafür, wie Black German Literature Rassisierung, epistemische Marginalisierung und Erinnerungspolitiken herausfordert.
Sarah Colvins editorische Arbeit unterstreicht dabei ihr übergeordnetes Argument, dass Literatur ein Raum sein kann, in dem rassifizierte und geschlechtercodierte Wissenssubjekte den epistemischen Ausschlüssen widerstehen, die in gesellschaftlichen Institutionen verankert sind.
In ihrer Gesamtheit zeigen diese Beiträge, wie stark German Life and Letters Sarah Colvins Denken über epistemische Ungerechtigkeit geprägt hat – und wie ihrerseits ihre Arbeiten das zunehmende Engagement der Zeitschrift für sozialgerechtigkeitsorientierte Ansätze zur deutschen Kultur beeinflusst haben. Viele der in diesen Artikeln entwickelten konzeptuellen Werkzeuge – „epistemischer Mord“, „widerständiges Wissen“, „Transtemporalität“, „temporale Insurrektion“ – tauchen in erweiterter Form in ihrer Monographie „Literature and Epistemic Injustice“ wieder auf. Diese lässt sich daher als Kulminationspunkt mehrerer Jahre engagierter und thematisch kohärenter Forschungsarbeit lesen.
Sarah Colvin zeigt, wie die deutsche Literaturwissenschaft sich konstruktiv mit globalen Rahmenkonzepten von Race, Kolonialität und epistemischer Gerechtigkeit auseinandersetzen kann und so zur Internationalisierung der Disziplin beiträgt.
Literature and Epistemic Injustice

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Im Zentrum von Literature and Epistemic Injustice steht Sarah Colvins Anspruch, die Gegenwartsliteratur als ein entscheidendes Feld neu zu positionieren, in dem Kämpfe um Wissen, Autorität und Sichtbarkeit ausgetragen werden. Ihr erstes leitendes Ziel ist daher ein methodologisches: Sie will den Begriff der epistemischen Ungerechtigkeit in die Literaturwissenschaft auf eine entschieden rigorose Weise einführen, indem sie untersucht, wie die formale Architektur der Fiktion Macht-, Glaubwürdigkeits-, Ausschluss- und Anerkennungsverhältnisse einschreibt.
Dieses methodologische Anliegen bringt jedoch gewisse Herausforderungen mit sich. Die Einleitung versammelt eine ungewöhnlich breite theoretische Konstellation – sie greift gleichzeitig auf Miranda Fricker, José Medina, Charles W. Mills, Achille Mbembe, Avery F. Gordon, María Lugones, Gayatri Spivak, Judith Butler und andere zurück. Dennoch wird jeder dieser Ansätze aufschlussreich behandelt, sodass die kumulative Dichte den begrifflichen Fokus nicht verwischt. Die daraus entstehende Weite ist intellektuell anregend, ohne den zentralen theoretischen Faden des Buches zu verdunkeln, bevor die Lektüren ihn selbst vollständig etabliert haben. Eine solche Tendenz, mehrere Perspektiven einzubeziehen, ist in ambitionierten literaturtheoretischen Arbeiten üblich – und oft äußerst produktiv.
Um das Potenzial der Literatur sichtbar zu machen, epistemischer Ungerechtigkeit entgegenzutreten und Formen des Widerstands zu eröffnen, wendet sich Sarah Colvin acht zeitgenössischen Romanen zu – Mo Yans „Life and Death Are Wearing Me Out“ (2006), Serhij Zhadans „Voroshilovgrad“ (2010), George Saunders’ „Lincoln in the Bardo“ (2017), Preti Tanejas „We That Are Young“ (2017), Olivia Wenzels „1.000 Serpentinen Angst“ (2020), Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ (2021) sowie NoViolet Bulawayos „We Need New Names“ (2013) und „Glory“ (2022).
Diese Werke, die kulturelle und sprachliche Kontexte von China und Zimbabwe bis nach Deutschland und in die Ukraine umfassen, zeigen, wie autoritäre, patriarchale, rassistische und oligarchische Regime bestimmen, wer sprechen darf, wessen Wissen zählt und wie Bedeutung produziert oder unterdrückt wird.
Durch ihre vielfältigen narrativen Strategien – von reinkarnatorischer Satire und postsowjetischer Schelmenromantradition über polyphone Jenseitserzählung und transhistorisches Storytelling bis hin zur allegorischen politischen Fabel – legen die Romane die lähmenden Mechanismen ungerechter Macht offen und modellieren zugleich imaginative, epistemische und ästhetische Formen des Widerstands.
Sarah Colvin zeigt, dass die Fiktion die begrifflichen und imaginativen Werkzeuge bereitstellt, um epistemische Ungerechtigkeit sichtbar zu machen und autoritärer Macht zu widerstehen. Durch Verfahren wie schleifenartige, unterbrochene oder „insurrektionäre Zeit“, durch spektrale Präsenz und unruhige Geschichten sowie durch Erzählstimmen, die sich weigern, sich den offiziellen epistemischen Erwartungen zu fügen, halten diese Romane alternative Deutungen der Vergangenheit lebendig und eröffnen nicht verwirklichte Möglichkeiten für die Zukunft.
Literatur wird in Sarah Colvins Verständnis zu einem der wenigen Orte, an denen unterdrückte Geschichten zurückkehren können, an denen die Toten sprechen und an denen politische Imagination den Schließungen widerstehen kann, die autoritäre oder nekropolitische Regime auferlegen.
Sarah Colvin entwickelt eine Reihe origineller analytischer Werkzeuge – „epistemic haunting“, „epistemic revenants“ und „Animapoetik“ –, um sichtbar zu machen, wie Wissen unter Bedingungen von Gewalt und Unterdrückung zirkuliert. Diese Begriffe machen analytisch fassbar, was bestehende Theorie nur andeutet: wie spektrale Figuren Gegenwissen tragen; wie beschädigte oder ausgebeutete Körper als lebende Archive ausgelöschter Geschichten fungieren; und wie nicht-menschliche Akteure, affektive Intensitäten oder Alltagsgegenstände Spuren dessen bewahren, was autoritäre Macht zu tilgen versucht.
Indem Sarah Colvin diese Dynamiken benennt, stellt sie der Forschung ein Vokabular zur Verfügung, mit dem es gelingt zu analysieren, wie Literatur Regime des „Erinnerungsmanagements“ irritiert und Wissensformen bewahrt, die autoritäre Systeme zu vernichten trachten.
Sarah Colvin (2025, S. 6) warnt, dass „ (p)ostnarrative (…) brings about the end of knowing as a thing and, I argue, is ultimate epistemic injustice.” („das Postnarrative … führt zum Ende des Wissens als etwas Gegebenem und stellt, so argumentiere ich, die ultimative epistemische Ungerechtigkeit dar“.) In dieser Formulierung benennt sie den Punkt, an dem Macht selbst den Anschein von Bedeutung aufgibt und Sprache in ein reines Instrument der Herrschaft verwandelt.
Aus diesem Grund, so fährt sie fort, wird „(i)n the postnarrative context, meaningful storytelling becomes an act of resistance” („im postnarrativen Kontext wird sinnstiftendes Erzählen zu einem Akt des Widerstands“). Mit anderen Worten: Narration wird zu einem der letzten verbleibenden Räume, in denen Sinnstiftung überhaupt noch möglich ist, ein Akt epistemischer Auflehnung gegen Regime, die darauf ausgerichtet sind, Wissen und die Fähigkeit zu erkennen auszulöschen.
Methodologisch stützt sich die Monographie auf eine interdisziplinäre Konstellation von Denkerinnen und Denkern, darunter Miranda Fricker und José Medina zur epistemischen Ungerechtigkeit, Achille Mbembe (2019) zur Nekropolitik, Charles Mills (1997, 2007) zu rassifizierten Erkenntnistheorien sowie Avery Gordon (2008) zum „Haunting“ („Heimsuchung“). Sarah Colvin wendet diese theoretischen Ansätze nicht nur treffend an, sondern transformiert sie durch eine kontinuierlich präzise Textanalyse.
Sarah Colvins begriffliche Neuschöpfungen – insbesondere „Animapoetik“ und verwandte Formulierungen – verleihen der Monographie eine unverwechselbare konzeptuelle Textur.
Bemerkenswert ist, dass die Studie als Open-Access-Publikation in einer sozial engagierten Routledge-Reihe erscheint – ein Umstand, der Sarah Colvins umfassendem Engagement für offenes Wissen entspricht. Dadurch wird gewährleistet, dass Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Studierende freien Zugang zu ihren Argumenten haben und diese in laufende Diskussionen über Literatur, Gerechtigkeit und politische Imagination einfließen lassen können.
CAPONEU

Screenshot von der Vorstellung am 4. November 2025. Foto: Pavlo Shopin.
„Literature and Epistemic Injustice“ geht unmittelbar aus dem Horizon-Europe-Projekt CAPONEU—Cartography of the Political Novel in Europe hervor, einer großen internationalen Kooperation unter der Koordination der Universität Zagreb, an der Partner aus Zagreb, Posen (Adam-Mickiewicz-Universität), Nikosia (University of Nikosia), dem Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, University of Brighton, University of Cambridge, der NGO Autonomy sowie mehreren weiteren Institutionen beteiligt sind.
CAPONEU betrachtet den politischen Roman als eine genuin europäische Gattung und untersucht, wie solche Romane das öffentliche Verständnis von Politik, Krisen und gesellschaftlichen Konflikten in verschiedenen nationalen und sprachlichen Kontexten reflektieren und prägen. Das Konsortium ist bewusst interdisziplinär angelegt und verbindet Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit politischen Theoretikerinnen und Theoretikern sowie kulturellen Praxisakteuren. Zugleich hat es eine interaktive digitale Plattform geschaffen, die Leserinnen und Lesern, Forschenden und zivilgesellschaftlichen Akteuren ermöglicht, eine sich entwickelnde „Karte“ der europäischen politischen Fiktion zu erkunden. Parallel zu dieser digitalen Infrastruktur produziert das Projekt Open-Access-Sammelbände und entwickelt politische Handlungsempfehlungen dazu, wie Literatur zur demokratischen Resilienz beitragen kann – ein besonders dringliches Anliegen in einer Zeit, die von Populismus, autoritären Wiedererstarkungen und Krieg geprägt ist.
CAPONEU bietet damit ein konkretes Beispiel dafür, wie Horizon-Projekte geisteswissenschaftliche Forschung mit Public Engagement und digitaler Innovation verbinden können, während sie regionale Perspektiven in gemeinsame europäische Debatten einbetten.
Fazit
Sarah Colvins „Literature and Epistemic Injustice“ ist eine intellektuell kraftvolle Untersuchung darüber, wie die Gegenwartsliteratur aus verschiedenen Ländern und in verschiedenen Sprachen und gesellschaftlichen Kontexten die Mechanismen epistemischer Ungerechtigkeit offenlegt und Formen des Widerstands dagegen artikuliert. Die Studie bewegt sich souverän zwischen Ethik, politischer Theorie, Narratologie und globalen Literaturen und behandelt die ausgewählten Romane als reichhaltige Quellen der Erkenntnis.
Sarah Colvin positioniert die zeitgenössische Fiktion als aktiven Teilnehmer in Debatten über Wissen und Macht. Eine zentrale Leistung des Buches besteht in der klaren Demonstration, dass epistemische Ungerechtigkeit als absichtliche und strategische Praxis autoritärer Macht fungiert. Zugleich gehört die Betonung narrativer Sinnstiftung als Widerstandsform zu den stärksten konzeptuellen Linien der Monographie.
Das Buch bietet eine überzeugende, stringente, großzügige und klare Darstellung davon, wie Literatur in die Politik von Wissen und Macht interveniert und das Erzählen als lebenswichtige Praxis präsentiert, die die Fähigkeit zum Denken, Fühlen und Interpretieren unter Bedingungen wiederherstellt, die genau diese Fähigkeiten zu blockieren versuchen.
Es stellt damit einen bedeutenden Beitrag zur Literaturwissenschaft, zur Ethik und zur zeitgenössischen politischen Analyse dar.
Wie der Klappentext des Buches treffend hervorhebt, ist Sarah Colvins Buch „eine unverzichtbare Ressource für alle, die sich für Literatur und Politik interessieren; es ist die erste eingehende Studie, die epistemische Ungerechtigkeit als Konzept für die Literaturwissenschaft erschließt. Im Fokus steht zeitgenössische Fiktion im Zeitalter der Post-Truth-Politik. Das Buch zeigt, wie acht Romane, die in unterschiedlichen globalen Kontexten spielen, epistemische Ungerechtigkeit als autoritäre Praxis sichtbar machen und eine Ästhetik des Widerstands entwerfen“.
Pavlo Shopin, Mykhailo Drahomanov State University of Ukraine
Der Autor dieses Porträts befasst sich mit deutscher, englischer und ukrainischer Literatur- und Translationswissenschaft. Er ist Associate Professor am Department of Applied Linguistics and Translation Studies der Mykhailo Drahomanov University of Ukraine. Er promovierte an der University of Cambridge (2014–2017) unter der Betreuung von Sarah Colvin über Metaphern im Werk von Herta Müller und ihr Potenzial, autoritären Strukturen in totalitären Regimen wie dem von Nicolae Ceaușescu entgegenzuwirken. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Handlungsmacht von Übersetzer:innen, auf emergenten Übersetzungspraktiken sowie auf den sozialen, ethischen und pädagogischen Dimensionen des Übersetzens im Kontext des Krieges, so auch mit der Frage, wie kollaboratives Übersetzen als kulturelle Diplomatie und als Form bürgerschaftlichen Engagements wirken kann. Seine Forschung befasst sich zudem mit der zeitgenössischen ukrainischen Literatur, insbesondere mit den Werken von Serhij Zhadan.
Seine Übersetzungen sind unter anderem in Commons, The Claquers, Krytyka und Demokratischer Salon erschienen. Zudem leitet er die studentische Forschungsgruppe „Written Translation in Action“, die seit 2018 mehr als 400 veröffentlichte Übersetzungen journalistischer, akademischer und kultureller Texte hervorgebracht hat, darunter auch viele Beiträge aus dem Demokratischen Salon, die weitgehend auf dem Portal Eksperiment erschienen.
Quellen (Zusammenstellung von Pavlo Shopin):
- Bulawayo, NoViolet. (2022). Glory. London: Chatto & Windus.
- Bulawayo, NoViolet. (2013). We need new names. Little, Brown and Company.
- Colvin, Sarah. (Ed.). (2014). The Routledge Handbook of German Politics and Culture (1st ed.). Routledge.
- Colvin, Sarah, & Karcher, Katharina. (Eds.). (2018). Women, Global Protest Movements and Political Agency: Rethinking the Legacy of 1968. Routledge.
- Colvin, Sarah. (2020). Talking Back: Sharon Dodua Otoo’s Herr Gröttrup setzt sich hin and the Epistemology of Resistance. German Life and Letters, 73(4), 659-679.
- Colvin, Sarah. (2021). Words That Might Save Necks: Philipp Khabo Koepsell, Epistemic Murder and Poetic Justice. German Life and Letters, 74(4), 511-556.
- Colvin, Sarah. (2022). Freedom Time: Temporal Insurrections in Olivia Wenzel’s 1000 Serpentinen Angst and Sharon Dodua Otoo’s Adas Raum. German Life and Letters, 75(1), 138-165.
- Colvin, Sarah, & Galasso, Stephanie. (Eds.). (2023). Epistemic Justice and Creative Agency: Global Perspectives on Literature and Film. Routledge.
- Colvin, Sarah. (Ed.). (2024). Sharon Dodua Otoo—Literature, Politics, Possibility [Special issue]. German Life and Letters, 77(2).
- Colvin, Sarah. (2025). Literature and Epistemic Injustice: Power and Resistance in the Contemporary Novel. Routledge.
- Fricker, Miranda. (2007). Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford University Press.
- Gordon, Avery F. (2008). Ghostly Matters: Haunting and the Sociological Imagination (New ed.). University of Minnesota Press. (Original work published 1997).
- Karcher, Katharina, & Colvin, Sarah. (Eds.). (2018). Gender, Emancipation, and Political Violence: Rethinking the Legacy of 1968. Routledge.
- Mbembe, Achille. (2019). Necropolitics (S. Corcoran, Trans.). Duke University Press.
- Medina, José. (2013). The Epistemology of Resistance: Gender and Racial Oppression, Epistemic Injustice, and Resistant Imaginations. Oxford University Press.
- Mills, C. (1997). The Racial Contract. Cornell University Press.
- Mills, Charles W. (2007). White Ignorance. In S. Sullivan & N. Tuana (Eds.), Race and Epistemologies of Ignorance (pp. 13–38). SUNY Press.
- Mo, Yan. (2008). Life and Death Are Wearing Me Out (H. Goldblatt, Trans.). Arcade Publishing.
- Otoo, Sharon Dodua. (2021). Adas Raum. S. Fischer.
- Reed, Anthony. (2014). Freedom Time: The Poetics and Politics of Black Experimental Writing. Johns Hopkins University Press.
- Saunders, George. (2017). Lincoln in the Bardo. London: Bloomsbury.
- Taneja, Preti. (2017). We That Are Young. Norwich: Galley Beggar Press.
- Wenzel, Olivia. (2020). 1000 coils of fear. Catapult.
- Zhadan, Serhiy. (2016). Voroshilovgrad (R. Costigan-Humes & I. S. Wheeler, Trans.). Deep Vellum.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung der deutschen Fassung im Dezember 2025. Anlass des Textes ist die Buchpräsentation „Art and Authoritarianism: Resistant Fiction in an Age of Post-Truth“ von Sarah Colvin zu ihrer Monographie „Literature and Epistemic Injustice: Power and Resistance in the Contemporary Novel” (2025) am 4. November 2025 im Jesus College Intellectual Forum. Internetzugriffe zuletzt am 7. Dezember 2025. Titelbild: Screenshot von der Buchpräsentation, Foto: Pavlo Shopin.)
