Mit der Kunst für Freiheit und Demokratie
Ein Gespräch mit Rolf C. Hemke, Künstlerischer Leiter des Kunstfestes Weimar
„Wir können keine Barbaren sein. Nimmt man das Wort Barbaren wörtlich, können per Definition immer nur die anderen Barbaren sein, denn Barbar ist bekanntlich derjenige, dessen Sprache man nicht versteht. Für die Griechen waren alle, die nicht griechisch sprachen, Barbaren. Für die Araber waren die marokkanischen Ureinwohner Barbaren, deshalb haben sie sie so genannt: Berber. Für das allgemeine Bewusstsein ist der Barbar der andere. Ich glaube, die Aufgabe von Literatur, von Kunst überhaupt ist es, genau diese Definition des anderen umzukehren und immer wieder neu das Barbarische in uns selbst zu entdecken – das zu verstehen, was in uns fremd ist: ‚Wir, die Barbaren‘.“ (Navid Kermani, Nach Europa – Zweig und die Grenzen, in: Navid Kermani, Zwischen Koran und Kafka – West-östliche Erkundungen, München, C.H. Beck, 2014)
Das Motto des Kunstfestes Weimar im Jahr 2024 lautet: „Wofür wir kämpfen“. Das Kunstfest hat eine inzwischen mehr als 30jährige Tradition seit dem Jahr 1990. Es stand und steht immer im Kontext von Weimar als Stadt der Deutschen Klassik, als Stadt Goethes und Schillers, aber auch im Kontext eines Schauplatzes des Menschheitsverbrechens der Shoah mit dem Konzentrationslager „Buchenwald“. „Buchenwald“ war jedoch auch ein Erinnerungsort der DDR, allerdings insbesondere im Hinblick auf den kommunistischen Widerstand und ist somit selbst ein Ort widerstreitender Erinnerungskulturen. Auch heute in einer Zeit, in der es in Parlamenten und Stadträten eine Partei gibt, die die Bedeutung und die staatliche Finanzierung von Gedenkstätten an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors ebenso in Frage stellt wie die Freiheit der Kunst, die diese Partei als primär völkische Kunst verstehen will. Bei den Kommunalwahlen 2024 gewann diese Partei auch in Weimar zusätzliche Prozentpunkte, jedoch nicht in dem Maße, das sie in anderen Regionen Thüringens erreichte. Sie verfügt im Rat der Stadt Weimar über 6 von 42 Sitzen, gewann somit lediglich einen Sitz hinzu.
Künstlerischer Leiter des Kunstfestes ist Rolf C. Hemke. Er beteiligt sich mit dem Kunstfest Weimar in der Kampagne „Die Vielen“, in der sich zahlreiche Kunst- und Kulturschaffende und ihre Institutionen und Organisationen, nicht zuletzt der Deutsche Kulturrat, unter anderem mit der Aktionswoche „Shield & Shine“, engagieren. „Die Vielen“ ist ein Bündnis der Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen für die freiheitliche Demokratie und gegen jede Art von Menschenfeindlichkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus und gegen Rechtsextremismus.
Die Debatten um die städtische Förderung des Kunstfestes Weimar
Norbert Reichel: Weimar ist in der deutschen politischen Geschichte ebenso wie in der Kulturgeschichte ein ganz besonderer Ort. Auch das Kunstfest Weimar hat inzwischen eine mehr als 30jährige Tradition. Es war jedoch in den letzten Jahren durchaus auch umstritten.
Rolf Hemke: Ich bin seit 2018 Leiter des Kunstfestes, meine erste Edition des Kunstfestes fand 2019 statt. Im Herbst 2017 ging es um die Verlängerung der Förderung. Mein Vorgänger Christian Holtzhauer hatte das Kunstfest erfolgreich geleitet, aber dennoch gab es nicht unerhebliche Diskussionen, wie es weitergehen sollte. Mehrere Fraktionen im Weimarer Stadtrat wollten das Kunstfest abschaffen, nicht nur die AfD, auch CDU, FDP und weimarwerk, ein Bürgerbündnis in einer Fraktion mit der FDP. Die AfD war nicht Teil der Initiative, obwohl sie einem Antrag zur Abschaffung des Kunstfestes sicherlich zugestimmt hätte. Der Deutsche Kulturrat hatte das Kunstfest angesichts dieser Diskussion unter dem Motto „Weimarer Kunstfest in Gefahr“ auf die Rote Liste der gefährdeten Kultureinrichtungen gesetzt. Letztlich wurde die Förderung verlängert, das war dann auch die Grundlage für meinen Vertrag.
Ich betrachte es als einen Erfolg unserer Arbeit, dass im Jahr 2023, als es erneut um die Verlängerung der Förderung ging, die Diskussion eine ganz andere war. Es ging nicht mehr darum, das Kunstfest abzuschaffen, sondern um die Frage, was das Kunstfest zum Überleben braucht. Letztlich haben alle Ratsfraktionen außer der AfD für eine Fördererhöhung gestimmt. Da Landes- und kommunale Förderung aneinandergekoppelt sind, bedeutete diese Zustimmung des Rates auch die Freigabe der Fördererhöhung durch das Land. Der Gesamtbetrag der Erhöhung beläuft sich auf 200.000 Euro, bei unserem kleinen Budget sind das rund 23 Prozent. Wir haben bis jetzt ein Grundbudget von 900.000 EUR Förderung. Das erhöht sich ab kommendem Jahr auf 1,1 Millionen Euro. Hinzu kommen Ticket-Einnahmen, Kooperations- und konkrete Projekt-Förderung, also Drittmittel. Da wir häufig mit Partnern zusammenarbeiten, die ihrerseits für die Arbeit mit uns Förderung erhalten, ist es Jahr für Jahr schwer zu beziffern, wie hoch das Gesamtvolumen eigentlich ist, man kann aber pauschal sagen, dass wir unser Grundbudget in der Vergangenheit immer wieder verdoppelt bekommen haben.
Norbert Reichel: Das ist eine gesunde Struktur.
Rolf Hemke: Aus Sicht der Förderer sollte es das sein, ja. Natürlich. Wir hatten im letzten Jahr 40.000 Zuschauer:innen. Das waren aufgrund des kostenlosen Projekts von Guenther Uecker auf dem Theaterplatz mehr als in den vorangegangenen Jahren. Dieses Jahr rechnen wir mit rund 30.000 Zuschauer:innen und peilen rund 10.000 verkaufte Karten an.
Der zuvor erwähnte Mittelaufwuchs ist in der heutigen Zeit, auch wenn unsere Massstäbe im Verhältnis zu anderen, medial ähnlich präsenten Festivals bescheidener sind, schon etwas Besonderes. Wir haben mit unserer Arbeit erreicht, dass wir auch Parteien, die an der Erforderlichkeit unserer sehr zeitgenössischen Programm-Arbeit für die Klassikerstadt Weimar grundsätzlich gezweifelt haben, überzeugen konnten – dass es eben doch eine Notwendigkeit für eine zeitgenössische und eine dezidiert politische Setzung der Kultur hier in Weimar gibt. Es war das erste Mal seit elf Jahren, dass unser Budget angepasst worden ist. Zuvor hatten wir – im Unterschied zum Deutschen Nationaltheater Weimar (DNT) – ein eingefrorenes Budget, das nicht einmal tarifliche Steigerungen der Personalkosten und auch keinen Inflationsausgleich enthielt. Wir mussten alle Mehrkosten einschließlich der Einführung des Mindestlohns über das künstlerische Budget auffangen.
Wir sind ein unabhängiger Betriebsteil des DNT, haben ein eigenes Förderbudget, über das auch immer gesondert entschieden wird. Die Stadt trägt einen anderen Quotenanteil als beim DNT. Das hat historische Gründe, weil das Kunstfest nicht immer Teil des DNT, sondern bis zum Ende der Leitungsperiode von Nike Wagner eine eigenständige GmbH war, damals auch noch mit Bundessubventionen. Diese wurden mit Gründung der Bundeskulturstiftung schrittweise abgeschmolzen. Der Bund versammelte seine Förderungen in der Bundeskulturstiftung. Damit konzentrierte sich die Kulturförderung – so wie es das Grundgesetz vorsieht – auf die Landeskompetenzen, auf die Förderung durch Land und Kommunen.
Erfolgreiche Überzeugungsarbeit
Norbert Reichel: Was hat die Kritiker:innen an der städtischen Förderung des Kunstfestes überzeugt?
Rolf Hemke: Es wurde immer wieder betont, dass sich das Kunstfest noch weiter geöffnet hat, niedrigschwellig arbeitete, mit dezidiert vielen Programmpunkten, die sich kostenlos an die Bevölkerung in Weimar und in Thüringen richtete. Das Kunstfest ist als wichtiger, kultureller Teil der Stadtgesellschaft auch von Menschen anerkannt, die aus persönlicher Neigung heraus vielleicht doch nicht unsere Veranstaltungen frequentieren. Die überregionale Presseresonanz tat sicherlich auch einiges dazu. Wir sind in den Medien national und international gut vertreten.
Norbert Reichel: Ich erlaube mir stellvertretend für viele einen Bericht von Christina Rietz vom September 2023 in der ZEIT zu nennen: „Krieg in der Stadt“. Der Titel bezieht sich nicht auf die Debatten um die Förderung, sondern auf ein konkretes Projekt, das Projekt „Kriegsweihe“ von Marc Sinan. Das Projekt ist eine Performance unter anderem mit Texten von Paul Celan, die mit einem Auftritt von Bläsern des Symphonieorchesters Kyiv auf dem Balkon des Stadttheaters endet. Christina Rietz bescheinigt dem Kunstfest, dass es „gegen Gleichmut und Ignoranz ankämpft“. Ihr Fazit ist leider nicht ganz so optimistisch: „Kurze Fassungslosigkeit bei den Zuschauern, dann geht der Abend weiter mit essen und reden in den umliegenden Restaurants. Aber das ist ja nach der Tagesschau auch nicht anders. Der Krieg scheint schlicht normal geworden zu sein, man nimmt ihn eben hin – und daran kann, offenbar, auch die Kunst nichts ändern.“ Aber damit sagt sie nichts über die Wirkungen in den einzelnen Zuschauer:innen, die nun einmal kein undifferenziertes Kollektiv sein dürften und mit Sicherheit etwas Nachdenkenswertes mit nach Hause genommen haben und darüber vielleicht auch in den Restaurants diskutieren. Oder was meinen Sie?
Rolf Hemke: Ich glaube, die Notwendigkeit der dezidiert politischen Haltung von Kulturproduktion hat noch nicht alle erreicht, aber die Auseinandersetzung darüber, dass Kultur auch die Aufgabe hat, sich zu politischen, sozialen, gesellschaftlichen Themen zu verhalten, dass sie somit auch Demokratie fördert, hat schon viele Menschen erreicht oder auch überzeugt. Wir wirken einerseits mit unserem sehr konsequenten Programm, auf der anderen Seite glaube ich, dass durch die Einengung des politischen Raumes durch die AfD als massivem Impulsgeber in eine nicht freiheitliche, antidemokratische Richtung auch in Teilen der bürgerlichen Fraktionen klar wurde, wie wichtig es ist, dieses Gut der Kunstfreiheit und des freien Ausdrucks generell zu pflegen und zu fördern, auch wenn man vielleicht nicht mit allem d’accord ist, was wir in unserem Programm thematisieren.
Norbert Reichel: Das spiegelt sich meines Erachtens auch in den Schirmherrschaften.
Rolf Hemke: Wir hatten drei Jahre lang die grüne Umweltministerin Anja Siegesmund als Schirmherrin, auch den linken Ministerpräsidentin Bodo Ramelow. Jetzt haben wir die russische Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa als Schirmherrin. In der Wahl der Personen lässt sich sicherlich eine gewisse Kontinuität erkennen. Aber auch unabhängig von den Personen, auch unabhängig von meiner Person, erweist sich eine solche, sich politisch positionierende Institution als wichtiges Gut, das man nicht einfach auf die Abschussliste setzen konnte.
Das ist ein Wandel, für den wir mit unserer erfolgreichen Arbeit eine Grundlage gelegt haben, aber ich glaube, dies hängt auch mit einer Verschiebung im politischen System zusammen. Im Grunde im Gegensatz zu all dem, was die AfD bezwecken will.
Die Stärken: Vielfalt und politische Setzung
Norbert Reichel: Sie sprachen eben von mehr niedrigschwelligen Angeboten. Kunst und Kultur wird oft vorgeworfen, man richte sich ausschließlich an eine Elite. Der Kampfbegriff lautet „Hochkultur“. Wie gehen Sie gegen solche Vorurteile vor?
Rolf Hemke: Da gibt es mehrere Ansätze. Wenn man sich während des Kunstfestes in Weimar aufhält, stolpert man immer wieder darüber. In der Stadt begegnet man ständig dem Kunstfest, kann sich verführen lassen und die Veranstaltungen kosten oft auch nichts. Wir haben natürlich auch Ticketing, wo man hingehen und eine Karte kaufen muss, aber man kommt mit dem Kunstfest leicht auch ohne das Zücken der Brieftasche in Berührung. Das ist das eine.
Das andere: Ich kenne das Kunstfest bereits seit den 1990er Jahren, haben es immer wieder als Besucher erlebt, zeitweise auch als Kulturjournalist erlebt. Nike Wagner hatte das Kunstfest in Pèlerinages umbenannt und sich sehr stark auf musikalische Angebote konzentriert. Christian Holtzhauer, der heute das Schauspiel in Mannheim leitet, hat anschließend das Kunstfest in ein Festival weiterentwickelt, dass überwiegend für sein Theater-, Performance- und Nouveau Cirque-Programm wahrgenommen wurde. Im Grunde haben die beiden das Kunstfest nach ihren persönlichen Prägungen – so darf man das vielleicht sagen – gestaltet. Das empfand ich in der Arbeit mit Zuschauern und Medien als weniger hilfreich, die sich diese bei einem Wechsel der Künstlerischen Leitung erst einmal neu orientieren müssen. Ach, das war doch ein Musikfestival und jetzt ist es ein Theaterfestival? Es war ein Problem, dass das Kunstfest regional wie überregional nicht mehr die hohe Wiedererkennbarkeit hatte, die es noch in den 1990er und den 2000er Jahren hatte.
Ich bin ein sehr breit interessierter Zeitgenosse und habe mich mit Bildender Kunst, mit Jazzmusik, mit ethnisch geprägter Kunst, mit klassischer und sehr zeitgenössischer Musik und bildender Kunst auseinandergesetzt, zum Teil auch mit eigenen Arbeitserfahrungen. Mein Impetus war dahin zurückzugehen, was das Kunstfest einmal war und woran sich die Menschen in Weimar auch noch erinnern. Mit dem Kunstfest verbinden die Menschen in Weimar – zumindest die älteren – das Programm der Kulturhauptstadt im Jahr 1999 und in den Jahren davor – als die finanziellen Mittel ein Vielfaches dessen betrugen, was wir heute zur Verfügung haben. Das ist eigentlich ein objektiv betrachtet unfairer Vergleich, aber nach Fairness fragt hier niemand. Aus dieser Zuschreibung habe ich versucht, Kapital zu schlagen, und war auch so frech zu sagen: Lasst uns doch versuchen, das Festival wieder über die Breite des Kunstschaffens zu ziehen und möglich viele, inhaltlich und künstlerisch sinnvoller Kooperationen zu akquirieren.
Es gibt heute ein Vielfaches an Kooperationen als seit der Zeit der Kulturhauptstadt. Das aktuelle Kunstfest-Programm ist erneut auch aus vielen Initiativen entstanden, von denen wir nur einen Bruchteil initiiert haben, und die oft von Künstler:innen an uns angetragen wurden. Ich habe viele Gespräche geführt, je nach Zeitpunkt der Anfrage konnte ich noch zwei- oder drei oder auch mal fünftausend Euro beisteuern, die dann aber natürlich durch weitere Fördermittelanträge ergänzt werden musste, was auch oft gelang. Wir haben so in vielen Projekten unsere Finger drin. Dazu kommt natürlich auch, dass die Kolleg:innen, mit denen wir kooperieren, auf diese Presseresonanz abzielen, die wir bieten können und die man für einzelne Projekte auch in Berlin nicht hat.
Wir haben uns eine schöne Position erarbeitet. Seit der Zeit von Christian Holtzhauer hat sich das Fest im Volumen mehr als verdoppelt. Das bedeutet natürlich nicht doppelte Arbeit, aber ein verdoppeltes Angebot. Niemand, der das Festival kennt, kann uns noch vorwerfen, ein eklektizistisches Festival für Spezialisten zu sein. Weimar hat eine breite Schicht von Kulturbürgern, die wir mit unserem Programm ebenso erreichen. Wir streuen das Programm über zehn Sparten, Tanz, Schauspiel, Musiktheater, Konzerte, Performance, Literatur, bildende Kunst und so fort. Nicht immer gleichwertig vertreten, aber alle hochkarätig.
Norbert Reichel: Ihre Stärke ist die Vielfalt.
Rolf Hemke: Ja, eine der Stärken ist die Vielfalt. Eine andere Stärke ist eine griffige starke politische Setzung in den meisten Projekten. Nicht alle Projekte sind tagespolitisch gemeint, aber man spürt bei vielen Projekten den Puls, die Ecke, aus der das kommt. Das wird auch in den Medien immer reflektiert, dass wir trotz der Vielfalt nicht in Beliebigkeit abgleiten. 2024, im Jahr des 75. Jubiläums des Grundgesetzes, haben wir uns mit dem Motto „Wofür wir kämpfen“ klar auf die Fahne geschrieben, dass wir uns für die Demokratie einsetzen.
Wir bekommen fast täglich Kooperationsangebote. Es kommen schon die ersten für das Jahr 2025 oder auch 2026, aber auch noch bis drei Wochen vor dem Starts für die aktuelle Edition. Da sind auch welche dabei, die gar nicht passen oder andere, die sind vielleicht ganz charmant, aber dann doch etwas versponnen. Da schreibe ich dann auch ganz freundlich zurück. Dann mögen mir die Künstler:innen widersprechen oder auch nicht. Ich habe meinen Zugriff auf diese Projekte. Ich habe meinen eigenen dramaturgischen Zugriff, mit dem ich Projekte lese und beurteile, dem diese standhalten müssen.
Ein wichtiges Moment in der Wahrnehmung unserer Arbeit war das Jahr 2020. Es hat uns damals auch sehr genützt, dass wir es sogar im Jahr 2020, mitten in der Pandemie, als einziges großes Festival in Deutschland geschafft haben, analog vollumfassend für rund 27.000 Zuschauer präsent zu sein. Das Kunstfest fand 2020 statt. Das DNT war rund sieben Monate lang geschlossen. Das war ein echter Coup, dass wir präsent waren. Im Jahr 2021 gab es dann auch durch das Programm Neustart Kultur einer Art besonderer Blüte, wir konnten uns vor oftmals voll finanzierten Angeboten kaum retten. Wir haben rund 200 Veranstaltungen gestemmt. Das war sicherlich zu viel für unsere kleinen Strukturen. Wir haben das Angebot in den folgenden Jahren auch deutlich reduziert. Dieses Jahr sind es etwa 140. Das können wir mit unserem kleinen Team von sechs Festangestellten gerade noch bewältigen. Während des Festivals haben wir natürlich noch etwa 30 kurzzeitig beschäftigte Unterstützer:innen, aber die gesamte Vorbereitung und Verantwortung liegt bis etwa Mai eines jeden Jahres bei uns sechs Personen.
Haltung zeigen – Die Kampagne „Die Vielen“
Norbert Reichel: Kennengelernt haben wir uns auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Neuauflage der Kampagne „Die Vielen“ unter dem Motto „Shield & Shine“ im Frühjahr 2023 in der Berliner Akademie der Künste. Warum beteiligen Sie sich?
Rolf Hemke: Wir haben schon bei dem letzten Aufruf mitgemacht. Da war allerdings das DNT federführend. Jetzt engagiert sich das DNT in der Kampagne „Weltoffenes Thüringen“. Wir haben uns für „Die Vielen“ stark gemacht, sind auch Teil von „Weltoffenes Thüringen“, haben uns mit dem DNT jedoch aufgeteilt, wie wir unsere Schwerpunkte bilden.
Ich halte „Die Vielen“ für eine tolle solidarische Aktion der Kulturszene, sich in einer Zeit zu positionieren, in der niemand schweigen sollte. Es ist sehr wichtig, Haltung zu zeigen, auch in unserem eigenen existenziellen Interesse. Auch wenn ich nicht glaube, dass die AfD in diesem Jahr in die Regierung in Thüringen kommt, wissen wir nicht, wie sich die Situation in den kommenden fünf Jahren entwickelt. Wehret den Anfängen, kann ich nur sagen. Es ist eine wichtige Bewusstmachung. Man muss immer wieder sagen: Wir sind im Höcke-Land. Wenn man dieses Buch „Nicht zweimal in denselben Fluss“ liest, …
Norbert Reichel: … ist das schon schwer erträglich um nicht zu sagen gruselig.
Rolf Hemke: Herr Höcke hat sich in dem denkwürdigen Spiegel-TV-Duell mit CDU-Ministerpräsidenten-Kandidat Voigt an diese abstoßenden Passagen, an die wir beide jetzt gerade denken, nicht erinnern wollen. Auch das ist bezeichnend.
Norbert Reichel: Darf ich fragen, wie Sie das Gespräch zwischen Herrn Höcke und Herrn Voigt wahrgenommen haben? Es gab ja unterschiedliche Reaktionen. Die einen sagten, Herr Voigt habe gezeigt, dass Herr Höcke außer Larmoyanz nichts zu bieten gehabt habe, andere sagten, er habe ihm ein Forum geboten, dass er ihm besser nicht hätte bieten sollen, er habe ihm zu wenig widersprochen.
Rolf Hemke: Ich fand, dass Herr Voigt besser rübergekommen ist als Herr Höcke. Herr Höcke hat sich weichgespült gezeigt, was seine eigene Klientel am meisten überrascht haben dürfte. Ich halte es aber für falsch, Herrn Höcke eine solche Plattform zu bieten. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt in Ordnung ist, ein solches Duell anzubieten. Ich denke nein. Aber wenn man sich dazu entscheidet, das durchzuziehen – wir leben ja Gott sei Dank in einem freien Land –, muss ich sagen, dann hat sich Herr Voigt, den ich aus einigen persönlichen Gesprächen kenne, gut vorbereitet, auch einige gute Pointen gelandet, aber das Ganze hat mir doch einen extremen Beigeschmack hinterlassen. Auch das Ganze am Gedenktag der Buchenwaldbefreiung stattfinden zu lassen,…
Norbert Reichel: …das war einfach geschmacklos.
Rolf Hemke: Ja, das geht einfach nicht. Ich bin im Urteil nicht ganz so drastisch wie mein Freund Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, aber ich finde, er hat mit seiner sehr vehementen Kritik der ganzen Veranstaltung schon einen Punkt gemacht.
Ich denke, mit anderen Leuten als Höcke kann man so etwas schon eher machen als mit Höcke. Höcke ist eine Symbolfigur der neuen Rechten. Bei mir löst dieser Mann schon von vornherein Unbehagen aus.
Norbert Reichel: Dieses Unbehagen teile ich. Ich habe es auch bei einigen anderen Kandidaten dieser Partei, nicht nur bei den Spitzenkandidaten der Europawahl, auch auf den hinteren Rängen. Man muss schon sehr klar sagen, was die wollen: ein Leben in einem von Putin beherrschten eurasischen Reich. Aber nach diesem Exkurs, der eigentlich kein Exkurs ist, sondern eher der Hintergrund der Entstehung der Kampagne „Die Vielen“: Wie wirkt sich die Beteiligung an dieser Kampagne für Sie aus?
Rolf Hemke: Erst einmal begleiten wir die Kommunikationsmaßnahmen, je nach unseren Möglichkeiten. Wir sehen unser Engagement bei „Die Vielen“ reflektiert in bestimmten Programmelementen, die wir haben. Es gibt zum Beispiel diese Plakataktion von „Die Vielen“, die von Kampnagel initiiert worden ist. Wir haben eine eigene Plakataktion. Mit einer privaten Kulturstiftung MeetFrida aus Hamburg und eigenen Förderern haben wir einen Open Call gemacht, Plakate zu entwerfen, die zu Demokratie und Toleranz aufrufen. Anfang Juni 2024 gab es eine Jury-Sitzung, die die drei Preisträger ermitteln konnte. Mit Auftakt des Kunstfest gibt es – mit einer Zusatzförderung, die wir bekommen haben – eine Plakataktion in ganz Thüringen mit 350 Großflächen-Plakaten, die wir die Dekade vor der Wahl ab dem 20. August hängen werden. Wir wollen nicht parteipolitisch festgelegt werden, aber wir sagen: Wir stehen für ein weltoffenes Thüringen, für eine demokratische Diskussions- und Streitkultur. Wir wollen, dass unsere Gesellschaft so verfasst bleibt, wie sie ist. Das ist ein massives Element, mit dem gleichen Impuls wie die bundesweite Kampagne, aber bezogen auf Thüringen.
Ich möchte auch ein konkretes Projekt hervorheben, das musikalische Kabarett „Bevor wir kippen“ von Schorsch Kamerun. Dieses Projekt hatte ich auf der Pressekonferenz in Berlin auch vorgestellt. Es geht um nützliche und unnütze Ausdrucksformen. Es geht darum, Repräsentant:innen unterschiedlicher Ausdrucksformen sichtbar zu machen. Es geht um das Gendern, um die Integration von Geflüchteten, um Inklusion, auch um künstlerische Fragen, zum Beispiel Ausdruckstanz, Obertongesang, auch um die Frage einer Gedenkkultur. Brauchen wir eine zeitgenössische Erinnerungskultur. Wir laden Vertreter:innen dieser verschiedenen Inhalte ein. Schorsch Kamerun wird sich mit ihnen unterhalten. Zum Abschluss laden wir die Zuschauer:innen ein, über diese Ausdrucksformen abzustimmen, ob sie diese Institutionen, die sich vorstellen, für erforderlich halten oder nicht. Damit positionieren wir uns für die Themen, gegen die sich die Rechte positioniert. Wir stellen die Frage in den Raum: Seid ihr euch darüber im Klaren, dass all diese Dinge, an die wir uns in den letzten Jahren gewöhnt haben, auf dem Spiel stehen? Und zwar nicht einzelne, sondern alle! Wollt ihr das oder wollt ihr das nicht? Ist das alles unnütz? Oder ist es nicht Ausdruck der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung, dass wir diese Dinge akzeptieren.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2024, Internetzugriffe zuletzt am 29. Juli 2024. Titelbild: Thomas Müller. Rolf C. Hemke und Marcus Gränz danke ich für die Bereitstellung der in diesem Text gezeigten Fotos.)