Nach Hause kommen

Ein Gespräch mit Olga Rosow, Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf

„Es ist relativ einfach: Deutschland mit seiner Geschichte und seiner Mentalität ist unser Land. Die jüdischen Gemeinden dieses Landes sind unsere Gemeinden und die jüdische Community unsere Gemeinschaft.“ (Dmitrij Belkin im Gespräch mit Leticia Witte, Jüdische Allgemeine 20.1.2021)

Eine der großen Erfolgsgeschichten der Einwanderungsgesellschaft, die Deutschland schon lange Zeit war, obwohl viele Politiker*innen sehr lange gebraucht haben, das zu begreifen, und manche es bis heute noch leugnen, ist die Einwanderung von Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und Nachfolgestaaten. Dass es eine Erfolgsgeschichte wurde, ist vor allem der Erfolg der jüdischen Community hierzulande. Heute stellen die nach Deutschland eingewanderten Juden*Jüdinnen, ihre Kinder und Enkel*innen etwa 80 bis 90 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinden, einige Gemeindeblätter erscheinen zweisprachig in deutscher und russischer Sprache.

Die offizielle, bürokratieverliebte Bezeichnung der eingewanderten Jüdinnen*Juden lautet „jüdische Kontingentflüchtlinge“. Wer auch immer diesen Begriff erfunden hat, dürfte sicherlich den ein oder anderen Preis verdienen, der gelegentlich für sogenannte „Unwörter“ verliehen wird. Der Begriff lässt erahnen, welche bürokratischen Hindernisse sich auftürmten. Die jüdische Einwanderung, die zu Beginn der 1990er Jahre begann, war von deutscher Seite eine Initiative der einzigen demokratischen Regierung der DDR. Markus Meckel, Außenminister dieser Regierung, hat in seinen Erinnerungen („Zu wandeln die Zeiten“) beschrieben, wie die damalige westdeutsche Bundesregierung versuchte, diese Initiative zunichte zu machen. Es gelang ihr nicht, aber sie schuf einen Begriff, der die Zuwanderung von Jüdinnen*Juden offenbar als so etwas wie einen gnädigen Akt darstellen sollte.

© Olga Rosow

Ich habe mit Olga Rosow gesprochen, die als 18jährige aus der Ukraine in Deutschland eingewandert ist. Sie ist die Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Wir haben versucht, uns der Vielfalt jüdischen Lebens im heutigen Deutschland zu nähern, auch im Lichte der diversen Erinnerungen an die vielen Facetten der Vergangenheit, die auch das heutige Leben bestimmen.

Ein Kulturschock

Norbert Reichel: Vielleicht beginnen wir mit einigen biographischen Daten.

Olga Rosow: Ich bin in Kiew in der Ukraine geboren. Ich habe dort die Schule besucht und an der Universität Kiew zwei Jahre lang Psychologie studiert. Im Alter von 18 Jahren bin ich nach Deutschland ausgewandert. Da ich schon 18 Jahre alt war, wurden meine Unterlagen und die Unterlagen meiner Familie getrennt, sodass ich als eigenständige erwachsene Person einreisen durfte. Meine Eltern haben ewig lange auf die Genehmigung warten müssen. Ich habe gesagt, ich bin groß genug, ich bin erwachsen, ich möchte die große Welt erkunden. Das war im Jahr 1992.

Zunächst war es für mich ein ziemlicher Umbruch. Ich kam aus einer Großstadt mit dreieinhalb Millionen Einwohner*innen und bekam eine Zuweisung in ein kleines Städtchen bei Frankfurt am Main, nach Bad Orb. Das war schon ein ziemlicher Zusammenbruch.

Zuerst ging es darum, Deutsch zu lernen, sich in Deutschland zu orientieren. Ein Jahr später kamen dann auch meine Eltern. Ich wollte eigentlich studieren, die nächste Universität war in Frankfurt. Die Sprache reichte jedoch noch nicht aus. Ich begann eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester. Mein Vater bekam eine Arbeitsstelle in Düsseldorf, sodass wir dann dorthin umgezogen sind. Seit 1995 lebe ich in Düsseldorf. Ich habe die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester abgeschlossen, gearbeitet, wollte aber weiter Psychologie studieren. Als ich mir dann die Vorlesungen an der Universität anhörte, stellte ich fest, dass das etwas ganz anderes war als ich aus Kiew kannte. Somit entschied ich mich für das Studium der Sozialpädagogik an der damaligen Fachhochschule Düsseldorf. Mein Anerkennungsjahr habe ich bei der Caritas absolviert und bin dort beruflich hängengeblieben. Im Jahr 2013 wechselte ich zur Jüdischen Gemeinde. Das ist mein beruflicher Werdegang.

Nach Hause kommen – in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf

Norbert Reichel: In der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf leitest du die Sozialabteilung.

Olga Rosow: Das war wie nach Hause kommen, als ich in der Jüdischen Gemeinde anfing. In Kiew spielte die Jüdische Gemeinde für mich keine Rolle. Es gab die Synagoge, in der meine Eltern zu Pessach Mazze geholt haben. Wir sind aber nicht in die Synagoge gegangen. Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Verbunden mit Religion waren eher die Feiertage, über meine Großeltern, meine Oma mit all den Gerichten. Es gibt dazu eine kleine Anekdote. Meine Großeltern und meine Urgroßmutter haben die jüdischen Feiertage gefeiert, mein Opa war beim Militär, stationiert auf Kamtschatka, im Fernosten von Russland. Irgendwann bekamen sie dort ein Telegramm im September mit schönen Grüßen zu Neujahr. Der Bote, der das Telegramm überbrachte, meinte, meiner Urgroßmutter ginge es wohl nicht mehr so gut. Es wunderte ihn, dass jemand im September zu Neujahr gratulierte. Von Rosh Hashanah wusste er eben nichts.

So war es mit dem Judentum in meiner Kindheit. In Düsseldorf sind wir zur Jüdischen Gemeinde gekommen. Unser ganzer Freundeskreis wuchs aus der Gemeinde. Das sind die Freundschaften, die nach wie vor halten. Es war nicht unbedingt die Religion der Auslöser, eher die sozialen Events, die in der Gemeinde stattfanden. Das war für mich die Gemeinde. Zu den Hohen Feiertagen sind wir auch in die Synagoge gegangen, auch durch die Kinder im Kindergarten und in der Schule sind wir in die Gemeinde hineingewachsen.

Als mein Vorgänger 2013 nach Berlin ging, habe ich mich beworben. Ich sage, für diesen Arbeitgeber arbeite ich gerne. Das ist mehr als ein Job, das ist ein Zuhause.

Norbert Reichel: Was sind deine Aufgaben in dem Job, der viel mehr ist als ein Job?

Olga Rosow: Ich habe die Sozialabteilung mit sechs Mitarbeiter*innen übernommen. Inzwischen sind wir 26. Vor der jüdischen Zuwanderung aus den GUS-Staaten gab es in der Sozialabteilung zwei Gemeindeschwestern, die aufsuchende soziale Arbeit machten, aber mehr oder weniger ehrenamtlich, für ältere Gemeindemitglieder. Erst mit der Zuwanderung kam klassische soziale Arbeit und Integrationsarbeit hinzu. Michael Szentei-Heise, der lange Jahre die Geschäftsführung wahrnahm, hat 2015, als die große Gruppe von Zuwanderer*innen nach Deutschland kam, gesagt, dass wir in der Gemeinde das doch alles schon mal durchgemacht hätten. Die Aufgaben sind immer dieselben. Es kommen Menschen ohne Deutschkenntnisse, sie müssen eine Wohnung suchen, brauchen die Anerkennung ihrer Schul- und Berufsabschlüsse, um eine Arbeit zu finden. Das waren die Aufgaben, die mit der Zuwanderung in den 1990er Jahren hinzukamen. Als ich die Sozialabteilung übernahm, gab es die allgemeine soziale Beratung in allen Lebenslagen sowie ein großes Seniorenzentrum, weil der Anteil der über 65jährigen in der Gemeinde bei etwa 67 % liegt.

Norbert Reichel: Das sind etwa zwei Drittel. Kann man von Überalterung sprechen? Kommen zu wenig junge Menschen hinzu?

Olga Rosow: Wir haben zurzeit etwa 6.500 Mitglieder in Düsseldorf. Von denen sind über 4.000 über 60 Jahre alt. Der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf geht es im Vergleich zu anderen Gemeinden noch ganz gut. Wir haben Kindergarten, Grundschule, jetzt auch ein Gymnasium, das Albert-Einstein-Gymnasium. Es gibt junge Familien, sodass wir Zuwachs haben. Aber viele junge Menschen ziehen auch aus Düsseldorf weg. Und diejenigen, die hier sind, sind nicht alle religiös und fragen, warum sie Mitglied in der Gemeinde sein sollen, wenn sie nicht zu Gottesdiensten gehen oder die Dienste der Sozialabteilung nicht unbedingt in Anspruch nehmen. Die Frage ist, was die Gemeinde für die junge Generation bietet. Daran arbeiten wir in der Gemeinde.

Norbert Reichel:  Was sind die weiteren Aufgaben der Sozialabteilung?

Olga Rosow: Als ich sie übernahm, gab es auch eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige. Das ist auch eine relativ große Gruppe, überwiegend russischsprachig, die nach Deutschland kamen und die Denkweise und die Standards aus dem russischsprachigen Raum mitbrachten. Diese Menschen hat man in Russland nicht gesehen, es gab keine Infrastruktur. Sie haben zu Hause gelebt, bis die Eltern irgendwann nicht mehr konnten oder gestorben sind. Sie haben sich zu einer Gruppe zusammengetan, mit dem Namen Hatikvah, das hebräische Wort für Hoffnung. Die Gruppe ist die größte unter den jüdischen Gemeinden in Deutschland. Sie ist nicht nur für Düsseldorf zuständig, sondern für ganz Nordrhein-Westfalen. Die Kolleginnen machen eine hervorragende Arbeit mit dieser Gruppe.

Im Seniorenbereich gibt es auch Demenzberatung. Im Integrationsbereich gab es zunächst nur noch ein paar Sprachkurse. Das war mir zu wenig, denn ich sah ja die Probleme und Bedarfe, die die zugewanderten Gemeindemitglieder hatten. Wir haben den Integrationsbereich mit unterschiedlichen Projekten ausgebaut. Wir haben Informationsveranstaltungen für junge Familien eingeführt, damit sie sich über Kindergarten, Schule orientieren konnten. Die Zuwanderung ist nicht mehr so hoch wie vor 25 Jahren, aber es kommen immer wieder welche, auch junge Familien mit Kindern. Sie legen sehr viel Wert auf Bildung. Sie kommen überwiegend aus Russland und aus der Ukraine. In der Konfliktzeit zwischen Russland und der Ukraine nahm die Zuwanderung aus der Ukraine zu. Wir haben auch Mitarbeiter*innen aus dem Bundesfreiwilligendienst, beispielsweise für den mobilen sozialen Dienst. Und es gibt auch eine Gruppe für Überlebende des Holocaust.

SABRA und die Meldestelle

Olga Rosow: Vor vier Jahren gab es die Möglichkeit, sich am Landesprogramm der Integrationsagenturen zu beteiligen. Bis dahin kamen die Gemeindemitglieder zum Thema Antisemitismus in die allgemeine soziale Beratung, außerhalb der Gemeinde. Die Berater*innen waren mit dieser Thematik überfordert. Sie hörten zu, beispielsweise wenn Nachbarn eine jüdische Familie terrorisierten, aber mehr als einen Brief zu schreiben, war nicht möglich. Wir haben dann SABRA gegründet, eine eigene Servicestelle zum Thema.

Norbert Reichel: Sabra, der Kaktus auf Hebräisch, ein schöner Name.

Olga Rosow (lacht): Ja, ein schöner Name, wir haben lange gesucht. Gut getroffen. Marina Chernivsky ist etwa zeitgleich mit ihrer Beratungsstelle OFEK gestartet. Sie sagte, so ein schöner Name, den hätte ich auch gerne gehabt.

Norbert Reichel: Abkürzungen sind in der Regel eher weniger schön, aber SABRA ist ja einmal eine wirklich gelungene Abkürzung, mit all ihren Haupt- und Nebenbedeutungen.

Olga Rosow: Mit SABRA kam ein ganz neuer Zweig meiner Arbeit hinzu. Ich könnte stundenlang über SABRA erzählen, aber das sprengt hier den Rahmen.

Norbert Reichel: In meinem Newsletter verweise ich immer gerne auf Veranstaltungen von SABRA. Einige habe ich selbst mitgestalten dürfen. Sophie Brüss habe ich vor etwa zwei Jahren interviewt. Im Jahr 2018 habe ich als eine meiner letzten Aktivitäten im Staatsdienst dafür sorgen können, dass SABRA auch auf die Mitarbeit von Lehrkräften zählen kann. Ich habe den Vertrag vorbereitet, der dann im Herbst 2019 unterzeichnet werden konnte.

Olga Rosow: Wir haben mit zwei halben Stellen angefangen, jetzt sind es neun Kolleg*innen, dabei auch die beiden abgeordneten Lehrkräfte. Es gibt viel Bedarf. Wir sehen, dass wir gar nicht alle Anfragen bedienen können. Wir bekommen Anfragen für Workshops, Vorträge, dazu kommt dann die individuelle Beratung. Wir befassen uns nicht nur mit antisemitischen Vorfällen. Wir sind eine Beratungsstelle gegen Diskriminierung und Rassismus. Es gibt ganz unterschiedliche Vorfälle, die gemeldet werden, zuletzt auch antiziganistische Vorfälle.

Norbert Reichel: Und jetzt kommt die Meldestelle hinzu.

Olga Rosow: Wir haben es jetzt endlich – nach drei Jahren – geschafft, die Meldestelle einzurichten. Mitte Oktober 2021 konnte das Personal mit der Arbeit beginnen. Das war meine Aufgabe, bis das geschafft wurde. Jetzt kann ich etwas loslassen. Es ist wirklich dringend notwendig und jetzt ist es offiziell da. Die Kolleg*innen sorgen jetzt für Informationsmaterial, sie nehmen mit den jüdischen Gemeinden Kontakt auf. Das wird alles etwas dauern. Ich gehe davon aus, dass wir RIAS in Berlin vor Ende 2022 keine Zahlen aus Nordrhein-Westfalen liefern können. Die Meldestelle muss erst einmal bekannt werden, damit die Vorfälle auch gemeldet werden können.

Gegen Armut und Einsamkeit im Alter

Norbert Reichel: Mich würde interessieren, wie ihr die soziale Lage von älteren Jüdinnen*Juden bewertet. Das ist in der allgemeinen Öffentlichkeit wenig bekannt. Die Jüdische Allgemeine berichtet regelmäßig, gelegentlich findet sich in der Süddeutschen Zeitung eine Notiz, dass die Renten nicht ausreichen, weil die Arbeitszeiten in der ehemaligen Sowjetunion bei Jüdinnen*Juden anders als bei Aussiedler*innen, die etwa zur selben Zeit nach Deutschland kamen, nicht anerkannt werden. Die finanzielle Lage dieser Menschen ist ein ziemlich großes Problem.

Olga Rosow: In der Tat. Wir sind auch Mitglied des Dachverbandes, der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST). Von dort aus werden die Verhandlungen mit der Bundesregierung und den Ländern geführt. Es war auf einem guten Weg im letzten Jahr, doch die Gespräche stocken wieder, und wir werden sehen müssen, was die neue Bundesregierung zu diesem Thema tut.. Die älteren Menschen leben überwiegend von der Grundsicherung, weil ihre Arbeitszeiten in den Herkunftsländern nicht anerkannt werden. Auch für diejenigen, die hier gearbeitet haben, reicht das Geld für die Lebensführung nicht. Altersarmut ist in der jüdischen Community ein sehr großes Problem. Wir sind zwar nur eine kleine Community mit etwa 200.000 Menschen, aber prozentual ist es ein sehr großes Problem.

Norbert Reichel: Was könnt ihr dazu beitragen, dass es den Menschen besser geht.

Olga Rosow: Das Seniorenzentrum ist eine Begegnungsstätte. Es gibt jeden Tag mehrere Veranstaltungen, Vorlesungen, Malerei, Bastelangebote, Filmvorführungen, Schach, Sprache, Konversationskurse. Im letzten Jahr mussten wir pandemiebedingt auf digitale Formate umsteigen. Wir haben einen technischen Support für Senior*innen eingerichtet. Zwei Kolleg*innen haben telefonisch beraten oder sind auch in die Wohnungen gefahren. Das Ergebnis: wir haben viel mehr Teilnehmer*innen an den Kursen als vorher. Wir haben ein Einzugsgebiet über Düsseldorf hinaus. Dazu gehören ja auch Neuss, Leverkusen, Ratingen, Mettmann. Für viele Senior*innen war die regelmäßige Fahrt ins Seniorenzentrum nicht möglich, aber digital ging es.

Ein Highlight war die jüdische Küche. Rezepte wurden vorher herumgeschickt. Jede*r hat dann per zoom in der eigenen Küche gekocht und alle haben sich gegenseitig ausgetauscht und unterstützt. Sie haben sozusagen digital gekostet. Die Senior*innen haben angefangen, mehr im Internet zu surfen, sie haben viele englischsprachige Sachen gefunden und jetzt dafür gesorgt, dass wir auch einen Englischkurs im Seniorenzentrum haben.

Dazu gehört natürlich auch viel ehrenamtliches Arbeiten. Wenn jemand beispielsweise einen Kurs über klassische Musik, über bestimmte Filmemacher*innen anbieten möchte, stellen wir den Raum zur Verfügung. Es gab auch ein Seniorentheater, das aber leider in der Pandemie nicht laufen konnte. Wir hoffen, dass wir im nächsten Jahr das Theater wieder aufleben lassen. Wir haben einen tollen Regisseur, der mit Senior*innen ein Stück inszenieren möchte.

Wege der Erinnerung – an Babij Jar, Czernowitz, …

Norbert Reichel: Wir sprachen eben schon über eure Angebote für Überlebende der Shoah oder der Leningrad-Blockade. Ihr habt vor fünf Jahren zwei Projekte zur Erinnerung auf den Weg gebracht.

Olga Rosow: Das sind die Projekte „Erinnerung lernen“ und „Wege der Erinnerung“. Ein zentraler Punkt ist das Massaker von Babij Jar Wir haben noch Zeitzeug*innen vor Ort in der Gemeinde. Wir haben gesagt, lasst uns doch Interviews, Videos machen, damit wir auch etwas für die folgende Generation festhalten können. Das Projekt ist so gewachsen. Die Finanzierung hat das Auswärtige Amt gesichert. Die Projekte laufen nicht nur hier, sondern auch in der Ukraine. Es beteiligen sich auch Menschen, deren Familienangehörige nicht in Babij Jar ermordet wurden, beispielsweise Menschen mit einer Familiengeschichte in Czernowitz. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen Städten und wollten alle ihre Geschichte erzählen. Wir haben alle Geschichten mitgenommen.

Vor etwa fünf Jahren gab es eine Reise, die über eine Stelle organisiert wurde, die die Verbrechen der Polizei untersuchte. Michael Szentei-Heise und ich sind mit einer Gruppe in der Ukraine in all diesen Orten gewesen. Das war keine Vergnügungsfahrt. Wir haben diese Ortschaften angeschaut, es waren keine Konzentrationslager, es waren Erschießungsorte, über die man hier leider nicht sehr viel weiß.

Norbert Reichel: Das wissen wenige, dass viele Menschen in den Erschießungsorten ermordet wurden, vielleicht sogar mehr als in den Gaskammern. Ich war in Riga und habe dort Bikernieki besucht. Ich empfehle zu diesem Thema auch immer die Lektüre von Timothy Snyders Büchern „Bloodlands“, das ich in Riga gelesen habe, und „Black Earth“. War Babij Jar auch ein Thema in der sowjetischen Zeit?

Olga Rosow: Ein Teil der Familie meiner Oma ist in Babij Jar erschossen worden. Meine Oma hat davon nichts erzählt. Bis irgendwann ein Mahnmal errichtet wurde und Jewgeni Jewtuschenko (1932-2017) zur Einweihung sein Gedicht „Babij Jar“ vortrug.

Norbert Reichel: Paul Celan, 1920 geboren in Czernowitz, 1970 tötete er sich in Paris, hat es 1961 ins Deutsche übersetzt. Ich darf die beiden ersten Verse zitieren: „Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. / ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.“ Das vollständige Gedicht ist im Internet verfügbar.

Olga Rosow: Ich war damals 16 Jahre alt, als das Mahnmal errichtet wurde. Meine Familie wusste Bescheid, sie haben mir dann erzählt, was geschehen war. Wir sind auch hingefahren und haben an der Denkmaleröffnung teilgenommen. Das war für mich die erste Berührung mit diesem Thema. Babij Jar war in der Ukraine schon ein Thema. Es hat so seine eigene Geschichte. Es gab viele Versuche, an dieser Stelle Gebäude, sogar einen Freizeitpark einzurichten. Das ist alles gescheitert. Es gab in den 1960er Jahren auch ein großes Unglück, als ein Damm brach und Tausende Menschen ums Leben kamen. Meine Mutter erinnert sich gut daran.. Es gab in der Schlucht Bauarbeiten und alles wurde weggespült. In der Ukraine, zumindest in Kiew, war schon Thema, dass dort eine Erschießungsstätte war, aber es wurde nicht darüber gesprochen und es war auch kein Thema, dass dort Jüdinnen und Juden erschossen wurden.

Jetzt sieht es ganz anders aus. Unsere Projekte haben auch zur Erinnerungsarbeit in der Ukraine beigetragen. Wir arbeiten viel mit Lehrer*innen zusammen, in vielen Städten, mit dem Jüdischen Museum in Czernowitz, weil viele Menschen in der Gemeinde aus dem dortigen Raum kamen, auch aus der Zeit, als Czernowitz noch rumänisch war. Das Jüdische Museum in Czernowitz ist unser Kooperationspartner. Es gibt viele Initiativen. Lehrer*innen sind so sehr daran interessiert.

Wir sind hier viel weiter in der Erinnerungsarbeit. Das steckt dort noch in den Kinderschuhen. Das ist für uns schön, dass wir sehen, welchen großen Beitrag wir leisten können, Initiativen zu unterstützen, zu Bildungsmaterialien beizutragen, viele tolle Menschen kennenzulernen, mit denen wir in digitalen Formaten, in Spielen, zu jüdischen Symbolen, mit virtueller Synagoge zusammenarbeiten.

Norbert Reichel: Welche Erfahrungen habt ihr in eurer Gemeinde gemacht? Ich lese immer wieder, dass ältere Menschen lange Jahre nicht über ihr Leid gesprochen haben und dann erst in hohem Alter anfangen zu sprechen.

Olga Rosow: In der Gemeinde war ich gespannt, wie viele Menschen auf unseren Aufruf reagieren. Es waren viel mehr Menschen als wir in unseren Interviews filmen konnten. Es waren so viele Menschen, die ihre Geschichte erzählen und mitteilen wollten. Sie sagten uns, wie wichtig diese Arbeit war, dass sie einen Raum bekamen, ihre persönliche Familiengeschichte zu erzählen, sich auszutauschen und so auch zu gedenken. Das war für sie sehr wichtig. Sie hatten auch Gelegenheit, uns im Nachhinein noch Informationen oder irgendwelche Gegenstände zu geben. Das war auch für Museen von Interesse. Das Jüdische Museum in Berlin war hier und hat bei unseren Gemeindemitgliedern nach Gegenständen für seine Ausstellung gefragt. Die Menschen, die uns von ihrem Erleben erzählten, brachten ihre Familien mit. Das war für die Kinder, für die Enkelkinder oft das erste Mal, dass sie Details ihrer Familiengeschichte während der Shoah erfuhren.

Norbert Reichel: Interviews und Berichte sind im Internet verfügbar?

Olga Rosow: Ja, auf der Seite „Erinnerung lernen“ ist alles verfügbar. Es gab auch weitere Dokumentationen, aber in diesem professionellen Format führen wir das nicht fort. Das Projekt läuft weiter in der Ukraine. Die dortige Ausstellung, die von unserem Kooperationspartner Centrum Judaicum in Kiew produziert wurde, steht die im Zentrum der Stadt. Da laufen jeden Tag ca, 4.000 Menschen vorbei. Auf zehn  großen Bannersehen sie Informationen zu Babij Jar. Gestern, am 2. November 2021 haben wir in Düsseldorf im Gerhart-Hauptmann-Haus eine kleine Ausstellung eröffnet, in der die Tafeln auch zu sehen sind.

1700 Jahre – ein Aha-Erlebnis

Norbert Reichel: Ich habe in Bonn Germanistik studiert. Es gab dort sehr grundlegende Anteile der Mediävistik im Studium. Meine damals erworbenen Kenntnisse des Mittelhochdeutschen helfen mir heute, mich auch jiddischen Texten zu nähern. All das, was wir eben zum Thema „Erinnerung“ angesprochen haben, lässt sich natürlich auch im Zusammenhang der aktuellen Veranstaltungen zum Thema „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ sehen. Was es mit dem Datum 321 auf sich hat und wie valide es ist, sich auf dieses Datum zu berufen, ist jetzt nicht unser Thema. Es hätte diesen Erlass des römischen Kaisers nicht gegeben, wenn es nicht schon vorher Juden*Jüdinnen in Köln gegeben hätte. Und letztlich ging es in dem Erlass darum, dass Juden in Zukunft nicht nur im Rat mitwirken, sondern auch zu bestimmten Finanzleistungen herangezogen werden sollten. Aber das alles ist vielleicht Beckmesserei. Was bedeutet das Jahr für euch in der Gemeinde?

Olga Rosow: Es finden in diesem Rahmen einige Veranstaltungen statt. Für die Mitglieder der Gemeinde kann ich nicht sagen, ob sie das alles so in diesem Kontext wahrnehmen. Das liegt sicherlich auch an der Pandemie, denn wir haben Präsenzveranstaltungen erst wieder seit einigen Wochen in etwas größerem Rahmen. Für viele ist das aber sehr interessant, gerade für diejenigen, die – so sage ich das mal – aus dem russischsprachigen Raum zugewandert sind. Sie sehen, so lange gibt es in Deutschland Jüdinnen*Juden.

In den Gesprächen, die ich geführt habe, war das so eine Art Aha-Erlebnis. Viele finden gut, dass Judentum so sichtbar wird, denn gerade bei der älteren Generation ist es immer noch ein Thema, dass sie nicht offen damit umgehen, dass sie jüdisch sind. Das hängt mit dem Antisemitismus in den Herkunftsländern zusammen. Dort war Antisemitismus sozusagen Staatsraison, schon durch die Markierung als „Jude“ im Pass, in der Rubrik „Nationalität.“ Im Klassenbuch gab es eine Zeile, in der die Nationalitäten standen, Russe, Georgier, Ukrainer, Jude und so weiter. Dementsprechend gab es auch Einschränkungen. So durfte man an bestimmten Universitäten nicht studieren, bestimmte Positionen im Berufsleben nicht erhalten. In der Generation meiner Eltern hat man daher versucht, nicht offen zu sagen, dass man jüdisch ist.

Norbert Reichel: Konnte man den Eintrag im Pass verhindern?

Olga Rosow: Man konnte es verhindern, wenn ein Elternteil eine andere „Nationalität“ hatte, aber nicht, wenn beide Eltern Juden waren. Alle in der Klasse wussten Bescheid. So gab es auch Hänseleien, Übergriffe. Wenn man ein Leben damit lebt, kann man das schwer ablegen und sagen, wie schön, dass wir jüdisch sind, wir können das jetzt zeigen.

Norbert Reichel: Und so offen und einfach ist das hier in Deutschland ja auch nicht.

Olga Rosow: Das ist sehr unterschiedlich. Die Identität bei der älteren Generation anders als bei der jungen Generation. Die jüngere Generation geht eher offen damit um, Studierende, die Generation 18plus. Schüler*innen sind da schon wieder anders, weil es in den Schulen auch viele antisemitische Vorfälle gibt. Es gibt aber auch Schulkinder, die offen sagen, dass sie zum Religionsunterricht in die Gemeinde gehen, dass sie jüdisch sind. Das Identitätsbewusstsein ist da schon größer, auch der Stolz darauf, jüdisch zu sein.

Norbert Reichel: Und da hilft das Festjahr?

Olga Rosow: Ich hoffe. Wir haben einen tollen Film gemacht, dessen Premiere am 15. Dezember 2021, um 18 Uhr, bei uns im Leo-Baeck-Saal stattfinden sollte, aber wegen der Pandemie leider auf nächstes Jahr verschoben werden musste. Der neue Termin ist der 31. März 2021, selbe Uhrzeit. Wir haben für den Methodenkoffer Malmad acht didaktisch begleitete Kurzfilme gemacht. Aus diesen acht Interviews wurde ein Film gemacht. Der Film heißt „8×2 Jüdische Perspektiven“, Anmeldung ist jederzeit möglich. Es sind ganz unterschiedliche jüdische Persönlichkeiten, orthodox, säkular, queer, immer zwei Personen im Dialog, die sich zum ersten Mal am Set treffen und miteinander sprechen. Die kleinen Filme kenne ich schon, aber den Zusammenschnitt noch nicht. Das findet im Rahmen der „1700 Jahre“ statt.

Norbert Reichel: Mitunter habe ich den Eindruck, dass bei Projekten zum Thema Judentum das Thema Antisemitismus immer wieder dominiert. Nora Pester, die Inhaberin des Verlags Hentrich&Hentrich, sagte mir in unserem Gespräch, sie würde viel lieber Bücher machen, in denen das Thema nicht vorkäme, aber man wolle das Thema ja auch nicht anderen überlassen.

Olga Rosow: Du sprichst einen wunden Punkt an. Wir haben auch gesagt, das Thema Antisemitismus solle nicht die entscheidende Rolle spielen, aber in allen Interviews kommt das Thema immer wieder ans Licht. Wir haben versucht, das Thema zu reduzieren, denn unser Ziel war es zu zeigen, wie unterschiedlich jüdische Menschen sind, wie vielfältig Judentum ist. Es ist in jedem Gespräch so: wir sprechen zum Beispiel über die Schulen, die Frage, wie offen man sich outen kann, und schon ist das Thema Antisemitismus da.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Dezember 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 21.11.2021. Rechte der Bilder bei der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.)