„Nichts ist für mich wie es scheint“

Kunst und Wirklichkeit in den Arbeiten von Firouzeh Görgen-Ossouli

„Da nichts ist – von dem das ist – als Luft in der Hand. / So es ist, warum ist’s voll Mangel und Schand? // Nimm an, alles was ist, gäb es nicht in der Welt, / Denk: alles was nicht ist, sei in der Welt vorhanden.“ (Hakim Omar Khayyām, übersetzt von Purandocht Pirayech)

Unter dem Namen von Firouzeh Görgen-Ossouli sehen wir auf der Startseite ihres Internetauftritts zwei Worte: „Fine Art“. Keine weiteren Spezifika, ihr geht es um das In- und Miteinander der Künste, die keinen Plural brauchen, „Kunst“ im Singular, eine eigene Welt. Und „fine“ – ein Wort, für das es keine Übersetzungen geben kann, es ist so vielschichtig und vielbedeutend, dass man eine ganze Seite niederschreiben könnte, was es alles bedeuten und andeuten könnte. Vielleicht eben ein sehr lyrisches Wort?

„Fine Art“ – das sind Bilder, Gedichte, Filme, Installationen, Begegnungen mit der Wirklichkeit. Firouzeh Görgen-Ossouli illustriert ihre Bilder oft mit lyrischen Texten. Für die Dokumentation unserer Gespräche vom Sommer und Herbst 2023 bat sie, als Motto einen Vierzeiler – persisch: Rubaiyat – von Hakim Omar Khayyam („kh“ gesprochen wie „ch“ in „ach“) zu wählen. Ein Gedicht aus dem 11. Jahrhundert (nach europäischer Zeitrechnung).

Firouzeh wurde in Zanjan, Iran, geboren, sie lebt in Koblenz, mit der Absicht zu promovieren kam sie kurz vor der Revolution im Jahr 1978 nach Deutschland. In Deutschland heiratete sie einen Deutschen, sie hat eine Tochter, Sarah.

Das Gefühl ist wie die Luft um mich herum

Norbert Reichel: Warum ist dir das Gedicht von Hakim Omar Khayyām so wichtig?

Firouzeh Görgen-Ossouli: Das Gedicht hat mich schon in jungen Jahren inspiriert. Ich möchte so leben. Ob mir das gelingt, ist eine andere Frage. Es ist natürlich nicht leicht. In Deutschland werde ich oft als Künstlerin angesprochen, die aus Persien kommt. Niemand fragt mich allerdings, wie ich mich hier in Deutschland fühle, was mich hier in Deutschland beeinflusst. Es wird einfach vorausgesetzt, dass ich mich hier wohlfühlen müsste. Ich fühle mich hier in meiner Wahlheimat angekommen. Daher erlaube ich mir auch manche Dinge zu kritisieren. Den Leuten kann ich es nicht übelnehmen, dass sie der Meinung sind, jeder Ausländer muss sich einfach hier wohlfühlen. Ihnen fehlt die Information darüber, wie die Ausländer vorher in ihren Heimatländern gelebt haben. Bei mir zum Beispiel. war es so, dass ich in meinem Elternhaus die Privilegien liberaler Erziehung genießen konnte. Der Hintergrund war, dass meine Mutter eine moderne Schuldirektorin und mein Vater ein gläubiger Moslem war. Dennoch hielt er die individuelle Freiheit der Kinder für wichtig. Auch wenn es zur Schahzeit nicht üblich war, durften meine Geschwister und ich unsere Partner und unseren Beruf selbst wählen. Drei von uns haben danach Kunst studiert.

Je länger ich hier in Deutschland bin, ums so eher müsste ich glauben, angekommen zu sein. Aber es bleibt immer derselbe Konflikt: Wer bin ich? Es gibt nostalgische Momente, in denen ich auch meine Kunst ausleben kann. Aber das, was ich hier sage, ist alles Jammern auf hohem Niveau, über die kulturellen Unterschiede zwischen Koblenz und Teheran, über die Kommunikation, die stattfindet oder auch nicht stattfindet.

Wenn ich über meine Kunst rede, bereite ich nicht vor, was ich sage, denn im Grunde lebe ich in meinen Bildern. Am Anfang ist immer die Neugierde, das strikte Gefühl, das, was ich sehe, erleben müssen, können, wollen. In der Sprache, mit der Sprache.

Ich könnte niemals wie eine Deutsche denken, weil ich eine andere Geschichte habe, als Kind eine andere Erziehung erhielt. Wenn ich beispielsweise über Liebe rede, ist es ein Unterschied, ob ich dies als Europäerin oder als Orientalin tue. Eine Orientalin, die liebt, denkt ohne Kopf, sie schaltet das reelle Leben aus. Das Gefühl ist wie die Luft um mich herum, umgibt mich unbegrenzt, gibt, was man nicht sieht, macht alles Mögliche möglich. Ich fliege. Es gibt auch andere Wörter als Liebe, bei denen das so ist, vielleicht Sehnsucht, es geht um Dinge und Gefühle, die emotional eine heftige Farbe haben. Ich nehme in meiner Kunst das, was nicht da ist, gebe ihm eine Identität, mache es real, wirklich. Eben das sagt das Gedicht von Hakim Omar Khayyām.  

Wie ein Fisch gegen den Fluss

Norbert Reichel: Du sagtest eben, du würdest immer danach gefragt, wie du dich in Deutschland fühlst. Dahinter stecken Zuschreibungen, allein schon die Annahme, dass ein Mensch sich durch den Kontrast zwischen dem Land der Kindheit und dem Land des späteren Lebens definiere.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Alles ist individuell, niemand repräsentiert eine Gruppe, eine Masse. Manche sagen: du hast dich als Perserin aber gut angepasst. Für mich ist das ein Schimpfwort. Wer weiß denn, wie ich aufgewachsen bin, wie ich erzogen bin.

Norbert Reichel: Es geht um die Erwartungen der anderen, die du nicht erfüllen willst und auch gar nicht erfüllen solltest. Finde ich. Oder denke ich falsch?

Firouzeh Görgen-Ossouli: Es geht um Pauschalisierung. Wenn man alles als Masse denkt, nicht das Individuelle sieht. Als ich ein Teenager war, sagte mir meine Mutter: Du schwimmst wie ein Fisch gegen den Fluss. Du wirst dich verletzen. Ich sehe das völlig anders: Schwimmen gegen den Fluss bereichert mich. Auch die Verletzungen bereichern. Ich will selbst entscheiden. Ich sehe mehr, wenn ich gegen den Fluss schwimme.

Firouzeh mit Mary Bauermeister

Einige Menschen haben mich im Leben inspiriert und mich auf meinem Weg zu mir und meiner Kunst gestärkt. Dazu gehörte Mary Bauermeister. Ich habe das Glück gehabt, sie auf unserer gemeinsamen Ausstellung beim Frauenmuseum Bonn näher kennen zu lernen. Ich war fasziniert von ihrer Persönlichkeit und Kunst, wie auch von Simone de Beauvoir. Auch die persische Dichterin und Filmregisseurin Forough Farrokhzad hat mich mit ihren Gedichten und Lebensart fasziniert.

Stark inspiriert hat mich und sie tut dies immer noch Farah Ossouli, die glücklicherweise auch meine Schwester ist. Ein rastloser Kunstaustausch mit ihr bereichert auch mein Leben.

Alle diese Frauen haben eines gemeinsam, ihre ungewöhnliche Lebensart und ihre Kunst, die nicht immer von der Gesellschaft leicht angenommen wurden, aber dennoch mit Ausdauer gekämpft und ihren eigenen, erfolgreichen Weg gegangen sind. Sie kämpften und kämpften für das Einfachste der Welt, nämlich einfach selbst zu sein und das zu leben.

Ich kann aber auch nicht übelnehmen, wenn mich jemand pauschalisiert, wer mich nicht näher kennt. Ich habe in Persien so gelebt wie ich wollte. Ich musste um meinen Weg kämpfen. Ich muss mich selbst schätzen und ertragen können, in den Spiegel schauen und sagen können: Du bist in Ordnung.

Einmal im Jahr gehe ich mit mir ins Gericht. Ich schließe die Tür, ich bin alleine. Eine innere Reinigung. Ich frage mich, habe ich vielleicht jemandem ein Lächeln geschenkt, weil ich mir davon einen Vorteil verspreche.

Norbert Reichel: Aus jüdischer Sicht wäre das, was du beschreibst, Teschuwa. Die Botschaft von Yom Kippur. Ähnliche Selbstreflektion und Selbstreinigung gibt es natürlich auch in anderen Religionen, im Islam, im Christentum, im Buddhismus.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Das hat bei mir mit Religion nichts zu tun. Es geht darum, dass man sich nicht selbst bekämpfen sollte. Es geht darum, sich selbst neu zu ordnen, Selbstgewissheit finden.

Das betrifft auch mein Leben in Deutschland, vielleicht sogar gerade in Deutschland, als Künstlerin, als Ausländerin, als die mich viele sehen. Ich komme aus einer kultivierten Familie. Manche sagen: Sei froh, dass du in Deutschland bist. Hier musst du kein Kopftuch tragen. Sei glücklich, dass du hier bist. Das ärgert mich sehr. Persien ist eine Hochkultur!

Norbert Reichel: Da schauen viele in Europa nicht so genau hin. In den europäischen Schulen lernen die Kinder von der Bedrohung durch Persien in der Antike. In der Tragödie „Die Perser“ von Aischylos bezeichnen die Perser sich selbst als „Barbaren“. Alle Kultur, die es östlich der griechischen Hochkultur gab, wurde einfach nicht wahrgenommen beziehungsweise durch die Brille der damaligen Griechen gesehen. Das prägt.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Kunst und Kultur – das prägt das Leben meiner Familie. Ich selbst habe Theaterwissenschaften studiert. Mit meiner Schwester habe ich Theater gespielt, auf der Bühne gestanden. Das, was ich hier lebe, ist nicht so anders als es damals in Persien war: Ein Leben in der Kunst.

Leben in der Kunst

Norbert Reichel: Wie lebst du das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit?

Firouzeh Görgen-Ossouli: Es gibt für mich in der Kunst zwei unterschiedliche Wege. Die eine Richtung weist das Gedicht von Hakim Omar Khayyām, eine andere Richtung nenne ich realistisch. Meine Ausstellungen spiegeln meinen seelischen, inneren Weg zur Kunst, die auch reelle Welt ist, wie eine Reportage, ob es nun Conceptual Art oder Video oder Fotografie ist. Meine Beobachtungen zeige ich ohne Verschönerung. Ob das, was ich zeige, Kunst ist, das entscheide nicht ich, das entscheiden die Betrachter.

Das was ist, das was wir sehen, es ist schon verschwunden, bevor wir es sehen. Es ist sofort vorbei. Das halte ich in den Fotografien fest. Die Bilder zeigen mir die Welt als wenn ich bisher nicht gesehen hätte. Auge und Kamera ergänzen sich. Ich male mit der Kamera.

Norbert Reichel: Deine Bilder zeigen Augenblicke, Ausschnitte der Wirklichkeit, verweisen auf etwas außerhalb des Bildes, sind aber in sich und für sich existierende Wirklichkeiten. Wie schaffst du es, einen solchen Augenblick, einen solchen Ausschnitt zu fixieren? Wie gehst du vor?

Firouzeh Görgen-Ossouli: Augenblicke sind so schwer zu halten. Ich versuche das gar nicht. Aber wenn ich ein Bild mache, gehe ich oft fünf Mal hin, um einen einzelnen Baum zu fotografieren. Entscheidend ist das Licht. Alle meine Bilder sind Momentaufnahmen meiner jeweiligen Gefühle. Die Gefühle sind komplex. Wie die Wirklichkeit. Wenn ich in der Natur bin, bricht mein Inneres hervor. In meinen Bildern halte ich es fest.

Es gibt nicht nur ein Bild, immer eine Vielzahl. Jedes Bild einer Serie ist die ergänzende Variante der anderen. Ich suche mit meiner Kamera interessante Motive, intensive Lichtstimmungen oder einfach besondere Momente. Die Neugier, von der ich eben sprach. Nichts ist für mich wie es scheint. Alles führt ein Eigenleben und ist voller Widersprüche. Ich sehe die Bewegung in der Rast, die Explosion in der Stille, die Einsamkeit in der Fülle, das Fremde in der Heimat, den entscheidenden Moment davor oder danach. Ich interessiere mich nicht für die Wirklichkeit und ihre Dokumentation, sondern für die besondere Stimmung, die sie für mich ausstrahlt. Diese Stimmung versuche ich festzuhalten.

Das Licht ist in meinen Fotografien der Pinsel in meiner Kamera. Mit der Kamera hole ich das Licht und schiebe es in meine Naturbilder. Ich male mit der Kamera. Eigentlich wollte ich ja Malerin werden. Ich liebte die Malerei. Aber mit der Fotografie zeige ich das Licht von unten, von oben – gezogen in das gesamte Bild hinein. Alle Fotografien zeigen, was ich gesehen habe. Das Licht verwischt, es wird gehalten, losgelassen.

Beispielsweise: Ein Bild mit grünem Licht im Vordergrund. Der Hintergrund zeigt eine verwüstete Landschaft. Es ist nicht alles eine heile Welt. Ich zeige melancholische Bilder, ich zeige Kontraste. An einem sonnigen Tag, der Effekt des Lichtes auf den Bäumen. Es könnte eine Blume sein, vielleicht. Es ist Natur.

Ich zeige einen Baum mit Tropfen auf den Blättern. Das Bild ergab sich aus dem Zusammenspiel von Licht, Wasser, Baum, Blättern. Baum, Blätter – sie sind für mich keine Gegenstände, sondern eine Art bewegliche Gemälde – ein Baum, Blätter, die ich sehe, die eigentlich nicht da sind. Erst einmal sehe ich die Schönheit des Baums, ich hole etwas heraus und es ist noch schöner als ich es sehe. Es sind Bilder, die explodieren, mit ihren Farben, blau, grün, gelb. Ein Wald aus Bäumen mit Kirschblüten, die ausschauen wie ein Schwanentanz, tanzende Bäume. Es ist ein Wunder, wie viel Farbe in einem einzigen Blau zu finden ist. Manchmal sieht es auch so aus, als wenn Bäume an Bäumen hängen.

Norbert Reichel: Was bedeuten für dich die Farben? Zum Beispiel die Farbe Blau?

Firouzeh Görgen-Ossouli: Himmelblau? Ist es das Blau der Augen des Geliebten? Das Blau des Meeres? Kein Blau gleicht dem anderen. Die Gefühle geben der Farbe eine Identität. Oder Schwarz. Ich trage selbst zu 99 Prozent schwarze Kleidung. Ich sehe in Schwarz alle Farben. Mit Schwarz kann ich gesehen werden, ich kann nicht gesehen werden. Das entscheide ich.

Reportagen

Norbert Reichel: Du hast auch Bilder und Installationen gestaltet, die als Reportage gesehen werden könnten. Du selbst verwendest gelegentlich den Begriff, als komplementären Begriff. Als eine Reportage ließen sich deine „Sieben Seiten aus meinem Tagebuch“ verstehen. Es sind sieben Bilder, die im Bonner Frauenmuseum als Teil der Ausstellung „Single Moms“ gezeigt wurden.

Mutter und Tochter in der Ausstellung „Single Moms“.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Ich habe mich gefragt, was geschieht mit mir als Frau, als Ausländerin, als Perserin, als Schwangere. In der Serie „Sieben Seiten aus meinem Tagebuch“ ist das vorletzte Bild schwarz, das letzte Bild weiß. Es ist die Geschichte mit meiner blonden Tochter. In den Bildern gibt es Redeblasen, die den Augenblick auch sprachlich beschreiben. Es sind Zitate der persischen Dichterin Forugh Farrochzad. Die Serie knüpft an einen Satz von Rostam an: „Er musste sieben Prüfungen bestehen, um das Licht zu erblicken.“

Ich erzähle folgende Geschichte: Ich ging mit meiner kleinen Tochter Sarah in ihrem Kinderwagen spazieren. Meine blonde Tochter. Wir begegneten Menschen, die das tun, was sie gerne tun, wenn sie kleine Kinder sehen. Sie schauen sie an. Ich wurde von einem älteren Paar gefragt, ob ich das Kindermädchen sei. Ich sagte, nein, ich bin die Mutter. Das kann doch nicht sein. Ich sagte, mein Mann ist Deutscher und meine Tochter ist deshalb eben blond. Das wollte das Paar nicht glauben. Ich war für sie nicht die Mutter, ich war und blieb eben das Kindermädchen. Vielleicht hielten sie mich für verrückt. Sie wollten einfach nicht akzeptieren, dass es mein Kind war. Ich will keinen Rassismus unterstellen… Das Ganze ereignete sich allerdings in einem kleinen Dorf in den 1980er Jahren.

Die Bilder der Serie sind in der Tat eine Art Dokumentation der Augenblicke, der Veränderungen, die auch solche Geschichten wie ich sie gerade erzählte, reflektieren.

Norbert Reichel: Das Nebeneinander oder vielleicht doch auch Miteinander, die Möglichkeiten von Kommunikation, auch ihre Unmöglichkeiten – all das zeigt auch die Ausstellung „Freundinnen“ im Bonner Frauenmuseum, an der du dich beteiligt hast. Dazu zeigst du ein Gedicht von Saadi, ein Gedicht aus dem 13. Jahrhundert.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Es heißt „Der Lehm“: „Duftenden Lehm an einem Tag / Gab mir im Bad Freundes Hand. / Ich fragte: ‚Moschus oder Amber bist du, sag? / Betörend ich deinen Duft empfand.‘ / Er sprach: ‚Aus einfachem Lehm war ich geboren, / Doch zum Freund der Blume wurde ich auserkoren. /Ihr Duft drang tief in mich ein, / Sonst würde nichts als Lehm ich sein.“

Norbert Reichel: Die Luft, von der du sprachst. Die Luft um dich herum, die – wahrgenommen – alle Grenzen aufhebt, den Menschen weit über seine begrenzte Körperlichkeit hinaus entgrenzt, reicher macht.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Ich zeige dies in meinem Beitrag zur Ausstellung ‚Freundinnen“. Wir sehen vier Frauen, eine Nonne, Marianne Pitzen, die Gründerin und Leiterin des Bonner Frauenmuseums, eine Frau im Schador, eine modern gekleidete Frau. Bei allen Unterschieden sind sie einander gleich. Sie alle haben schwarze Kleidung, aber sie alle haben kein Gesicht, wir sehen an der Stelle des Gesichts eine weiße Fläche.

Es ist egal wie ich aussehe. Ich sehe wie du aussiehst. Wir sind alle gleich und doch sind wir alle individuell.

Ähnlich ist es in meiner Videocollage „Das Boot“. Ein Video von etwa acht Minuten Dauer. Es beginnt mit dem berühmten Bild von Michelangelo, in der Gott Adam mit einer Berührung seine Seele gibt, aber es fällt ein Tropfen Blut. Hinter Gott ist auf dem Bild eine unzufriedene Lilith zu sehen. Wir sehen dann weiter Kirschblüten, eine Schlange, einen Apfelbaum. Es folgen Bilder der Geschichte, historische Fotos, die ich jetzt nicht im Einzelnen beschreiben möchte. Der Film endet mit „Die Geburt der Venus“ von Botticelli. In der Mitte, in der Muschel steht jedoch nicht Venus, sondern ein schwangerer Mann mit einem Apfel in der Hand. Links sehen wir Lilith und rechts Eva. Eva hat das Gesicht meiner Tochter Sarah, Lilith mein Gesicht, die beide bereits vorher im Video szenenweise zu sehen waren.

Norbert Reichel: Die Bilder und Sequenzen erschrecken, sie sind auch so etwas wie etwa 100 Jahre Geschichte. Befreiendes, Verbotenes, Gewalt. Meines Erachtens sehen wir die ständige Opposition der Welten Liliths und Evas. Welche Rolle spielen Lilith und Eva? Zwei Schöpfungsberichte, die aufeinander folgen, sich sogar im Grunde widersprechen, von denen sich einer durchsetzte, mit dem Ergebnis, dass die gleichberechtigt geschaffene Frau der ersten Schöpfungsgeschichte – ich sage das mal so – von den patriarchalisch gesinnten Lesern aus dem kollektiven Gedächtnis verschwand. Ich sehe auch eine Parallele in der Geschichte von Isaak und Ishmael. Eva und Isaak bleiben, Lilith und Ishmael werden vertrieben, auch aus dem kollektiven Gedächtnis. Wir müssen sie beide entdecken, ihnen beiden ihre Wirklichkeit geben. Vielleicht ist es das, was ich in dem schwangeren Adam entdecke? Ist es nicht immer dieselbe Geschichte?

Firouzeh Görgen-Ossouli: Das was wir sehen ist nicht das, was wir wirklich sehen. Das gilt für die Wirklichkeit, das gilt für die Kunst. Ich zitiere dazu zwei Verse, die auf der Titelseite eines kleinen Katalogs zu finden sind: „Such mich nicht hier und nicht dort, / ich bin im Zwischenraum – im Niemandsland.“ 

Brücken bauen – eine Utopie?

Norbert Reichel: Du hast dich an einer Ausstellung mit dem Titel „Nexus Nordlichter“ beteiligt. Die Ausstellung wurde im August 2020 im Künstlerverein ark e.V. gezeigt. Dein Beitrag war das Bild „Ich habe Angst“. Eine Collage. Wir sehen das Kurfürstliche Schloss Koblenz, davor ein antikes Amphitheater. Der Platz ist voller Menschen. Auf dem Schloss wehen Fahnen, die deutsche Fahne und die Fahne der AfD. Wir sehen Polarlichter, die „Nordlichter“, das Schloss, den Ort der Macht, der Herrschaft, das Theater, den Ort der zujubelnden, in sich geschlossenen, Menschenmasse, die keine Individualität mehr zulässt. Auf mich macht das Bild schon einen sehr dystopischen Eindruck.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Auch das ist ein Teil meines Lebens. Ich kann die Ängste der Deutschen verstehen, wenn unkontrolliert immer mehr fremde Menschen kommen. Aber es ist auch unter den Ein- und Zugewanderten nicht anders. Die Türken mögen die Araber nicht, die Araber nicht die Türken. Es gibt erst- und zweitklassige Ausländer, so viele Kulturen, Identitäten. Die Angst, dass die Deutschen irgendwann alle sagen: die sind doch alle gleich.

Ich möchte das als Künstlerin zeigen. Ich bin keine Politikerin und ich bin auch nicht politisch. Aber meine Beobachtungen sind real. Ich kann meine Beobachtungen einbringen, darüber nachdenken. Das macht mir Kopfschmerzen. Es ist unwichtig, aus welchem Land ich komme. Meine Kunst ist ein menschliches Statement. Politik hat Verfallsdaten, Kunst nicht.

Norbert Reichel: Wie erklärst du dir dieses Unwohlsein? Es ist ja auch bei vielen jungen Leuten mit einer migrantischen Familiengeschichte vorhanden und prägt ihr Selbstgefühl und ihr Verhalten (offen gestanden: ich hasse diesen essentialistischen und pauschalisierenden Begriff des „Migrationshintergrundes“).

Firouzeh Görgen-Ossouli: Aus meiner Sicht sieht es in vielen migrantisch geprägten Familien so aus: Die wichtigste Person in der Familie ist die Mutter, nach außen ist es der Vater. Die türkischen und arabischen Frauen mussten meist zu Hause die Kinder versorgen und erziehen, aber wie sollen sie dann mitbekommen, was in der Gesellschaft geschieht? Wie sollen sie sich in eine Gesellschaft integrieren, die zu erleben sie gar keine Gelegenheit haben? Und dann wird ihnen vorgeworfen, sie sprächen kein Deutsch, nähmen ihre Kinder zum Dolmetschen mit, würden sich nicht integrieren. Mit diesem Erlebnis kommen auch ihre Kinder nicht zurecht. Muss man denn wirklich die persische, arabische, türkische Identität verlieren, um eine deutsche Identität zu finden Das ist eine Entwicklung über Generationen. Da man zukünftig als Deutscher sicher mit unterschiedlichen Kulturen leben wird, erleichtert ein Aufeinanderzugehen und ein Miteinander auf gleicher Augenhöhe das Zusammenleben.

Norbert Reichel: Immer wieder fordert jemand eine „Migrantenquote“ für Wohnviertel, zuletzt die Zeitung mit den vier großen Buchstaben, damit nicht alle in einem Viertel wohnen. Siehe Berlin-Neukölln oder den Wedding. Wenn jemand mit einem türkischen oder arabischen oder persischen Namen jedoch eine Wohnung in einem anderen Viertel sucht, gelingt dies nur selten, allenfalls dann, wenn jemand bereits einen so hohen sozialen Status hat, dass für die Vermieter der „migrantische“ Status keine Rolle mehr spielt.

Firouzeh Görgen-Ossouli: Warum wählen hier so viele Türken und Türkinnen Erdoğan? Auch liberal und fortschrittlich gesinnte sagen, er akzeptiert uns, hier in Deutschland sind wir nichts. Was tut man denn dafür, damit Menschen hier ein eigenes Zuhause haben, den sprichwörtlichen Koffer auspacken, den geistigen Koffer. Auch nach 30, 40 oder 50 Jahren haben viele das noch nicht getan. Das hat mich auch motiviert, in Koblenz zwei Orientalische Frauenfilmfestivals zu organisieren.

Ich möchte mit meiner Kunst Brücken bauen, Brücken zwischen der persischen und der deutschen Kultur. Deshalb baue ich auch so oft persische Gedichte ein. Auch bei den beiden Filmfestivals wollte ich eine Brücke bauen.

Es wäre so einfach: Jede deutsche Familie könnte helfen. Warum gehen sie nicht einfach mal nach nebenan, laden jemanden ein, trinken Tee miteinander? Ich beschwere mich nicht, es ist eine Tatsache. Eine Künstlerin mit dem so viel zitierten migrantischen Hintergrund hat das Privileg, eine andere Kultur mitzubringen, aber die Mühe, diese Wege zusammenzubringen, ist groß. Mein Platz ist weder hier noch da. Das tut mir weh. Die jungen Leute, die – ich bleibe im Beispiel – sich an Erdoğan aufrichten, aus ihm ihr Selbstbewusstsein ziehen, haben ein Recht, angenommen und gesehen zu werden.

Warum sage ich das? Wir müssen uns vor allem um die Frauen kümmern. Das betrifft weniger mich in meiner privilegierten Situation, aber in meiner Umgebung ist es Alltag. Im Vorwort des Programms habe ich das so formuliert: „Das Filmfestival möchte vor allen Dingen das Verständnis für die uns manchmal so fremd erscheinende orientalische Kultur wecken, insbesondere in Hinblick auf die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft. Als interne Orientierungsquelle der Familie ist sie für die Kindererziehung der nächsten Generation verantwortlich. Da orientalische Frauen im Ausland in der Öffentlichkeit weniger präsent sind, jedenfalls weniger als ihre Ehemänner, sind Einblicke in ihre Denkweisen für uns deutlich schwieriger. Eine bessere Kenntnis ihrer Welt erleichtert das Verständnis und eine Kooperation mit ihnen.“ Kuratorin war bei beiden Festivals Farah Oussouli. Auf ihrer englischsprachigen Internetseite zitiert sie ein Gedicht von Jelaluddin Rumi aus dem 13. Jahrhundert: „Out beyond ideas / of right doing and wrong doing, / There is a field / I’ll meet you there. / When the soul lies down in that grass / The world is too full to talk about. / Ideas, languages, even the phrase each other, / Does not make any sense.”

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2023, Internetzugriffe zuletzt am 2. Oktober 2023, die Rechte aller Bilder liegen bei Firouzeh Görgen-Ossouli.)