Orientalismus 2.0
Widersprüche und Paradoxien der Integrationspolitik
„‚Du sollst nicht wegsperren einen Sklaven zu seinem Herrn, der sich zu dir rettete vor seinem Herrn. Bei dir soll er siedeln, in deiner Mitte, bei dem Orte, den er wählt in einem deiner Tore, wo es ihm gefällt. Du sollst ihn nicht bedrängen.‘ (Deut 23,16,17). Damit sind nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs alle Flüchtlinge als ‚Ger‘ zu behandeln, es gilt für sie neben dem Internationalen Flüchtlingsrecht auch das jüdische Fremdenrecht. Und die Richterin Arbel am Obersten Gerichtshof zitiert dann zur Bekräftigung in ihrem Gutachten zum Urteil nochmals die Bibel: ‚Und einen Fremdling (ger) sollst Du nicht kränken oder unterdrücken: denn Fremde wart ihr im Lande Ägypten‘ (Ex. 22,20).“ (Christoph Schulte, Mendelssohns Verständnis der Noachidischen Gebote, in: Von Moses bis Moses … Der jüdische Mendelssohn, Hannover, Wehrhahn Verlag, 2020)
Der zitierte Text bezieht sich auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in Israel aus dem Jahr 2013, in dem er „einstimmig und mit den Stimmen aller neun Richterinnen und Richter eine Anti-Immigrations-Verordnung der rechtsgerichteten Regierung von 2012 für ungültig (erklärte), das die zeitlich unbefristete Inhaftnahme von afrikanischen Flüchtlingen, insbesondere aus dem Sudan und Eritrea, ermöglichen sollte, die seit etwa 2005 heimlich über den Sinai nach Israel buchstäblich eingewandert sind, an den Grenzen festgenommen wurden oder halblegal in den ärmsten Stadtteilen von Süd-Tel Aviv und anderen israelischen Großstädten hausen.“
Die Botschaft der Urteilsbegründung: Exklusion war und ist rechtswidrig, und dies betrifft nicht nur Inhaftierung oder Verbringung in ghettoartige Siedlungen außerhalb der Gesellschaft. Integration ist religiöse Pflicht, der*die Geflüchtete ist von Anfang an Mitglied der Gesellschaft, in der er*sie Zuflucht sucht, und die Geschichte des jüdischen Volkes ist Vermächtnis, politischer Auftrag, gesellschaftliches Leitbild und Vorbild für uns alle.
Integrationspolitik mit gefühlten Wahrheiten
Eine in den mehr oder weniger intellektuellen Debatten zur Integrationspolitik häufig zitierte These hat Aladin El-Mafalaani im Jahr 2018 mit dem Begriff „Integrationsparadox“ initiiert (sein Buch ist über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich). Es gibt – dies ist die These – eine Korrelation zwischen gelingender Integration, sozialem Aufstieg der Kinder von in Deutschland ein- und zugewanderten Menschen sowie dem Anstieg fremdenfeindlicher und rassistischer Anfeindungen.
Fremdenfeindlichkeit könnte somit auch als Indikator gelingender Integration verstanden werden. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um Teilhabe in der Konkurrenz um Arbeitsplätze und gesellschaftliche Präsenz. Die aktuelle Debatte um die Einführung einer Migrationsquote bei Einstellungen nicht nur im öffentlichen Dienst wird durch die These von El-Mafalaani plausibel. Zu erörtern wäre allerdings die Frage, ob wir es mit einer Korrelation oder einer Kausalbeziehung zu tun haben. Meines Erachtens illustriert der Begriff „Integrationsparadox“ die mediale Aufmerksamkeit, die sich aus der Gleichzeitigkeit der beiden Phänomene speist. Andererseits widerspricht die These von El-Mafalaani den Erfahrungen, dass die Ablehnung und Abwertung von als „fremd“ gelesenen Menschen vor allem dort besonders hoch ist, wo sich nur wenige dieser Menschen aufhalten. Möglicherweise lässt sich dieser Widerspruch auflösen, denn die heutige mediale Präsenz von Ein- und Zuwanderung, von Migration und Integration, lässt jedes Dorf zu einem Teil des sprichwörtlichen „globalen Dorfes“ der heutigen Zeit werden. Migration ist omnipräsent und vor allem die problematischen Seiten der Migration lassen sich in den Medien gut und einfach verbreiten und vermarkten. Sex and Crime sell – das gilt auch bei diesem Thema.
Meine These: Das Ausmaß des Streites um die Einwanderungsgesellschaft, in der wir leben, besteht unabhängig von der Zahl als „fremd“ gelesener Menschen in einer Gesellschaft. Ein kleiner Exkurs mag dies begründen: Es gelang den antisemitischen Bewegungen und Parteien der 1920er Jahre in relativ kurzer Zeit, den Eindruck zu erwecken, als wären Jüdinnen*Juden keine Deutschen, sondern „Fremde“ und als wären sie die heimlich Herrschenden, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Hand hätten. Sie konnten mit dieser Lesart an die Stereotype des 19. Jahrhunderts und früherer Zeiten anknüpfen. Im Ergebnis wurde der Anteil von Juden*Jüdinnen an der Bevölkerung im Deutschen Reich erheblich überschätzt. Diese Überschätzung wirkt heute noch. Wer beispielsweise eine Schüler*innengruppe in einer Gedenkstätte danach fragt, wie hoch der Prozentsatz der Jüdinnen*Juden im Deutschland des Jahres 1933 gewesen wäre, erhält in der Regel Antworten zwischen 15 und 25 Prozent. Richtig war: der Anteil von Juden*Jüdinnen an der Bevölkerung im Deutschen Reich lag 1933 bei 0,9 Prozent. Heute liegt er in Deutschland bei etwa 0,2 Prozent.
Unwissen und Fehleinschätzungen führen noch nicht unbedingt zu Antisemitismus, könnten ihn jedoch verstärken. Antisemit*innen übertreffen sich darin, den Einfluss von Jüdinnen*Juden quantitativ und qualitativ zu überhöhen und beeinflussen damit auch das Bild derjenigen, die (noch) keine antisemitischen Auffassungen hegen. So wie es Antisemitismus ohne Jüdinnen*Juden gibt, gibt es auch Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ohne das Vorhandensein ein- und zugewanderter beziehungsweise als solche gelesener Menschen.
Die Zahl 0,9 spielt auch in der heutigen Integrationspolitik eine Rolle. In seinem Buch „Das Integrationsexperiment – Flüchtlinge an der Schule – eine Bilanz nach fünf Jahren“ (Berlin, Dudenverlag, 2020) belegt Anant Agarwala, dass und wie der Anteil von Schüler*innen mit einer Fluchtbiographie überschätzt wird: „Wir zählen im Schuljahr 2015/16 etwa 460 000 Schulklassen mit durchschnittlich 24 Schülern in Deutschland. Die Kultusministerkonferenz (KMK) schätzte im Herbst 2015, dass im Zuge der Flüchtlingskrise ca. 325 000 Kinder und Jugendliche zusätzlich unterrichtet werden müssten. Ich gehe heute auf Basis der Asylanträge eher von etwa 400 000 aus. Verteilten sich diese 400 000 gleichmäßig und gerecht auf die Schulen und Jahrgangsstufen der Republik, ergäben sich knapp 0,9 Flüchtlinge pro Klasse (wenn der Mensch sich teilen ließe). Anders ausgedrückt: in neun von zehn Klassen säße jeweils ein Flüchtling zwischen 23 Nichtflüchtlingen. Das klingt nach Idealbedingungen für Integration. Bevor wir uns wieder der Wirklichkeit widmen, sei eine weitere Zahl vom grünen Tisch genannt: Insgesamt lernen etwa 11 Millionen Kinder und Jugendliche in deutschen Schulen: 400 000 davon entsprechen knapp 4 Prozent.“
Anant Agarwala fragt, warum bei dieser kleinen Zahl sich die Auffassung durchgesetzt hat, dass die mit der fluchtbedingten Zuwanderung der vergangenen Jahre verbundenen Aufgaben nicht gelöst werden könnten. Gibt es das in den Medien diskutierte Problem der Nicht-Integration beziehungsweise Nicht-Integrierbarkeit überhaupt? Die Überschrift eines Kapitels im Buch von Anant Agarwala spielt mit dieser Frage: „Eine Jahrhundertherausforderung – oder etwa doch nicht?“ Zahlen spielen offenbar keine Rolle, die empirische Grundlage, über die Lehrer*innen – und nicht nur diese – verfügen, ist dünn. Stattdessen dominieren „gefühlte Wahrheiten“, die wiederum das Ergebnis „eine(r) jahrzehntelang gepflegte(n) Ignoranz“ sind. Für die Polemik von Horst Seehofer, der 2018 die Migration als die „Mutter aller Probleme“ bezeichnete, gab es keine empirische Grundlage. Abgesehen davon, dass die Verwendung dieser Metapher als Wiedergängerin der von Saddam Hussein angekündigten „Mutter aller Schlachten“ geschmacklos ist, hat sie durchaus einen Hauch von Volksverhetzung. Horst Seehofer „sagte das wohlgemerkt nach Aufmärschen von Rechtsextremisten.“
Positive und negative Diskriminierung – zwei Seiten einer Medaille
Inzwischen haben Horst Seehofer und viele andere, allen voran der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, begriffen, dass sie mit solchen Bemerkungen die faschistisch-rassistische Hetze einer sich als „Alternative“ bezeichnenden Partei befeuerten. Los wurden er und seine vormaligen Mitstreiter*innen die herbeigerufenen Geister nicht.
Von liberaler oder linker Seite waren vergleichbare von jeder Empirie freie Äußerungen zu hören. Es gab im Herbst 2015 viele Politiker*innen, auch solche, die über jeden Verdacht linker Positionen erhaben waren, die in der fluchtbedingten Zuwanderung des Sommers ebenso wie viele Akteur*innen in Wirtschaft und Handwerk fast ausschließlich den möglichen Gewinn zahlreicher hoch- und höchstqualifizierter Arbeitskräfte sahen.
Nicht nur negative, auch positive Diskriminierung ist Alltag in solchen Debatten. Anant Agarwala verweist auf „das Jahr 2007, als der stern in einem Text mit dem völlig unironisch gemeinten Titel ‚Unsere Super-Türken‘ seinen damals über sieben Millionen Lesern eine gewagte These um die Ohren knallt: „Migranten sind nicht nur eine Last.‘“ Ein- und zugewanderte Menschen verwundern, wenn sie ein Leben führen wie die meisten Deutsch-Deutschen auch. „Es ist daher so konsequent wie unangenehm, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln noch heute manchmal ‚Musterbeispiele der Integration‘ genannt werden, nur weil sie ein von irgendwem als ‚normal‘ empfundenes Leben führen. Besonders grotesk wirkt das dann, wenn der oder diejenige sogar in Deutschland geboren wurde.“ Möglicherweise sogar in dritter oder vierter Generation.
Sind die Kinder von Migrant*innen, die – wie Aladin El-Mafalaani gerne betont – uns heute in den diversen Fernsehsendern die Nachrichten vorlesen, die Ausnahme oder die Regel? Allein die Debatte darüber hat schon einen rassistischen Unterton. In der Politik geht es Migrant*innen und ihren Kindern so wie es jahrzehntelang den Frauen in der Politik ging. Frauen wurden Ministerinnen für Familie, Kinder, Jugend, bis heute gab und gibt es in Deutschland keine einzige Innenministerin. Migrant*innen und ihre Kinder werden heute in der Regel Integrationsbeauftragte. Aminata Touré, die Vizepräsidentin im Landtag Schleswig-Holsteins, war eben doch eine Ausnahme. Erst nach der Bundestagswahl 2020 gab es mit Cem Özdemir den ersten türkeistämmigen Bundesminister, Aydan Özoğuz Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, 2021 folgte ihr Berivan Aymaz als Vizepräsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen und Aminat Touré wurde in Schleswig-Holstein zur Sozialministerin ernannt.
Die Stimmung schlug in Deutschland mit der sogenannten „Kölner Sylvesternacht“ um. Von einem Tag auf den anderen erschienen – auch dank des strategischen und taktischen Unvermögens der Kölner Polizeiführung und des ihnen vorgesetzten sozialdemokratischen Innenministers – Ein- und Zugewanderte in der öffentlichen Debatte vorwiegend als Kriminelle. Die Vergehen und Verbrechen der Sylvesternacht wurden im öffentlichen Diskurs ethnisiert und dann auch noch auf eine bestimmte Teilgruppe der Täter projiziert, vorwiegend Nordafrikaner, die gleichzeitig pauschal als „Flüchtlinge“ bezeichnet wurden, auch wenn sie das gar nicht waren.
Die positive Diskriminierung der Willkommenskultur vom Herbst 2015 wurde von einem auf den anderen Tag zur negativen Diskriminierung und führte zum Aufstieg einer in weiten Zügen rechtsextremen Partei, der es gelang, Wähler*innen der CDU, der CSU, aber auch von SPD, Linke und FDP auf ihre Seite zu ziehen. Dabei gab es durchaus Verwerfungen, die nach wie vor nicht aufgearbeitet werden konnten: auf der einen Seite gab es zweistellige Wahlergebnisse für die neue rechte Partei und ihre Vorfeldorganisationen in den Bundesländern, in denen die Begegnung mit Geflüchteten durchaus als Erstkontakt mit Fremden bezeichnet werden konnte, auf der anderen Seite gab es solche Ergebnisse in Regionen, die schon lange Zugewanderte kannten, so beispielsweise im nördlichen Ruhrgebiet und in Baden-Württemberg. Die 5-Prozent-Hürde übersprang diese Partei in allen Bundesländern. Bei Landtagswahlen und Bundestagswahl eroberte sie – die militärische Vokabel hat angesichts des Sprachgebrauchs in der öffentlichen Debatte ihre Berechtigung – Direktmandate. Rathäuser hat sie bisher nicht erobern können. Und ob der Stimmenrückgang bei den Landtagswahlen des Frühjahrs 2021 sich verstetigt, bleibt abzuwarten. Die aktuellen Sonntagsfragen zur Bundestagswahl gibt keinen Anlass zu solchem Optimismus.
Zwei Tatsachen werden in der Regel unterschlagen, wenn über die Integrationspolitik der letzten Jahre gestritten wird. Es gab nicht nur fluchtbedingte Zuwanderung, es gab auch eine schon länger währende Zuwanderung von armen Menschen vor allem aus südosteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, darunter viele Roma, obwohl nie nachgewiesen werden konnte, ob es sich tatsächlich um Roma handelte. „Roma“ wurde zur Metapher für Menschen, die in ihrer Armut darauf angewiesen waren, sich für Tagesjobs zu verdingen. Männer standen an bestimmten Straßen und Plätzen und warteten dort am frühen Morgen auf jemanden, der ihnen Arbeit verschaffte, moderne Tagelöhner. Mitunter konnte man*frau den Eindruck gewinnen, als versuchten manche Politiker*innen, vom Versagen der Integrationspolitik für diese Gruppe – wohlgemerkt: viele davon EU-Bürger*innen – abzulenken und die neu zugewanderten Menschen aus Syrien und benachbarten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens gegen sie auszuspielen oder alle als Angehörige einer und derselben Gruppe, der Ein- und Zugewanderten nämlich, zu verstehen, die keinen Platz in der deutschen Gesellschaft verdienten.
Provozierte Parallelwelten
Die Debatte um eine rationale und zukunftsorientierte Integrationspolitik ist nach wie vor vergiftet. Von „Normalität“ – was auch immer das sein mag – sind wir weit entfernt. Auch in der Bildungspolitik gilt das „Trial-and-Error-Prinzip“, Fakten und Analysen, wie zugewanderte Kinder und Jugendliche gefördert und auf Schul- und Berufsabschlüsse vorbereitet werden könnten, fehlen. Immerhin kann Anant Agarwala eine Absichtserklärung der KMK aus dem Jahr 2019 zitieren, die „die ‚Entwicklung länderübergreifender Standards als Referenzrahmen für die sprachliche Bildung‘ als ‚wünschenswert‘ bezeichnet.“ Von einer systematischen Evaluation verschiedener Methoden oder einer systematischen Aus- und Fortbildung von Erzieher*innen und Lehrkräften ist nichts zu spüren. Vorerst „müssen Schulen vor allem von anderen Schulen lernen“. Und so verhalten sich auch Ministerien und Landesinstitute. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen veröffentlichen sie auf ihren Plattformen eine Handvoll guter Praxisbeispiele. Die in Nordrhein-Westfalen verpflichtenden sechs Leistungspunkte zu „Deutsch als Zweitsprache“ in der Ausbildung angehender Lehrkräfte hat mehr oder weniger den Charakter einer Grundsensibilisierung, nicht mehr und nicht weniger.
Kinder und Jugendliche bleiben auf sich gestellt. Melissa Erkurt hat das Buch „Generation Haram“ geschrieben (Wien, Zsonay, 2020). Sie kam als Geflüchtete mit ihren Eltern nach Österreich, arbeitete als Lehrerin und ist heute Reporterin für den ORF. In einem Interview mit „jetzt“ fasste sie in wenigen Worten zusammen, wie sich junge Menschen, vor allem Jungen in der Schule in ihr Schicksal hineinfügen und ihrerseits eine Weltanschauung, die sie selbst kaum kennen, zur Stärkung ihres eigenen Selbstbewusstseins, ihrer Identität nutzen: „Die Jungs haben in den meisten Bereichen kein Selbstbewusstsein. Sie sagen also ‚haram‘”, weil sie das Gefühl haben, in diesem Bereich noch etwas zu sagen zu haben. Dabei haben sie nicht wirklich Ahnung vom Islam – sonst wüssten sie, dass laut Koran nur Gott und kein Mensch einem vorschreiben kann, was man darf und was man nicht darf. Indem sie ‚haram‘ sagen, fühlen sie sich mächtig in einer Gesellschaft, die sie abgeschrieben hat. Genauso wie Jugendliche aber negativ beeinflussbar sind, so sind sie auch positiv beeinflussbar. Nur gibt es niemanden, der diese Jugendlichen positiv beeinflussen möchte. In der Schule sagt man oft über die muslimischen Jungs: ‚Das ist ihre Kultur. Die sind halt so.‘“
Diese Jungen weisen Mädchen zurecht, auch andere Jungen, ignorieren ihre Lehrerinnen und schotten sich in eine Parallelwelt ab. Diese Parallelwelt ist nichts anderes als der Versuch, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der das gängige Erlebnis Ablehnung heißt, in der Schule, bei der Bewerbung um einem Ausbildungsplatz, bei der Wohnungssuche. Eigentlich kann man nichts richtig machen. Michel Abdollah bringt dies in seinem Buch „Deutschland schafft mich – Als ich erfuhr, dass ich doch kein Deutscher bin“ (Hamburg, Hoffmann und Campe, 2020) prägnant auf die Formel: „Feierst du Weihnachten, dann nimmst du diesen Leuten das Fest weg, feierst du kein Weihnachten, bist du integrationsunwillig“. Der Vorwurf der Cultural Appropriation lässt sich auch andersherum anwenden.
Oder anders gesagt: Quod licet Iovi, not licet bovi. Wer in diesem Sprichwort der Ochse ist, ist klar. Michel Abdollah spricht von „einer Art gesellschaftlicher Sippenhaft“ und belegt dies mit einer kontrafaktischen Fantasie: „Man stelle sich vor, was wäre, wenn ein Polizist mit Migrationshintergrund den Dienstrechner dafür benutzen würde, die Adresse eines AfDlers herauszufinden und diesem damit zu drohen, sein Kind abzuschlachten. Wenn der AfD-Politiker Frank Magnitz in Bremen niedergeschlagen wird, macht seine Lobby daraus eine Grundsatzdebatte über innere Sicherheit mit vielen Lügen, aber voller medialer Aufmerksamkeit. Das ist der Punkt: Den Migranten fehlt diese Lobby.“
Anant Agarwala formuliert zum Abschluss seines Buches eine Perspektive: Bildungspolitik – und nicht nur diese – „müsste Migration als jahrhundertealte Normalität erkennen, nicht als lästigen Sonderfall (…). Es ist Zeit das Labor aufzuräumen und endlich festzulegen, wo man hinwill. Und wie man dort ankommt.“ Besteht Hoffnung? Der Epilog des Buches verweist auf die aktuellen Erfahrungen mit dem „Digitalisierungsexperiment“. Jahrelang versäumten die Bildungsministerien der Länder die nachhaltige Digitalisierung der Schulen. Anant Agarwala hoffte, „dass im Digitalisierungsexperiment weniger verschleppt wird als bei der Integration. Und dass die beiden Themen zusammen gedacht werden und am Ende nicht nur jene von der digitalen Schule profitieren, die zu Hause die beste Ausstattung haben.“ Es sieht nicht danach aus und durchweg gilt das Grundproblem: „gefühlte Wahrheiten“ bestimmen politische Entscheidungen und fördern Unwillen und Überforderung von Lehrkräften. Im Grunde sind sie sich alle selbst überlassen. Politik hat mehr oder weniger sich von der Bühne des Bildungsgeschehens verabschiedet.
Die Verleugnung der Sprache
Aber letztlich geht es um ein Verständnis der Vielfalt von Kultur. Didem Ozan plädiert in ihrem Essay „Das Lieblingskleid im Keller“ für die Anerkennung von Mehrsprachigkeit. Viel zu oft werden Sprachen, die Zuwanderer*innen in der Familie sprechen, abgewertet. Mehrsprachigkeit beschränkt sich auf Englisch, Französisch, Spanisch. Seit der Abwicklung der DDR hat sich auch das Russische aus der Gruppe der akzeptierten Sprachen verabschiedet und findet sich in der Gruppe wieder, in der die vielen Sprachen der ein- und zugewanderten Menschen zu finden sind.
Türkischkenntnisse, Arabischkenntnisse oder gar Farsi oder Albanisch? Diese Sprachen werden im Alltag der Gesellschaft und infolgedessen auch in den formellen Bildungseinrichtungen, allen voran in der Schule, ignoriert. Didem Ozan nennt in ihrem Essay „Das Lieblingskleid im Keller“ vom 26. Januar 2021 in ZEITonline, das Recht auf die Muttersprache ein „kulturelles Menschenrecht“. Es ist eigentlich absurd, von jemandem, der*die eine Sprache erlernen möchte, zu verlangen, er*sie möchte erst einmal alle anderen Sprachen verlernen und vergessen. Aber genau das wird in vielen Schulen praktiziert. Und die Kinder, die keine Anerkennung ihrer Sprache erfahren, verstecken sich in einer „prophylaktische(n) Einsprachigkeit“.
Es ist in 60 Jahren Ein- und Zuwanderung in Deutschland nicht gelungen, einen Konsens über den Wert von Mutter- oder Herkunftssprache herzustellen. Allein die Begrifflichkeit ist schon schwierig zu fassen. Ich ziehe Familiensprache vor. Für viele Kinder von ein- und zugewanderten Menschen ist die Familiensprache Deutsch. Jemand, der nie im Iran, in Marokko oder im Kosovo war, wird die in der Familie gesprochenen Sprachen niemals als Herkunftssprache empfinden. Forschungsergebnisse der Linguistik, die den Wert von Mutter- beziehungsweise Herkunftssprache beim Erwerb von Deutsch als Zweit- und Fremdsprache belegen, werden in Schulen und Schulbehörden kaum rezipiert. Und in der Politik wird das Mantra gepflegt: „Deutsch lernen“, nur ja nicht eine andere Sprache sprechen, nicht im Unterricht, auch nicht um sich gegenseitig zu helfen, etwas besser zu verstehen, nicht auf dem Schulhof. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gibt es konservative Politiker*innen, die in Familien und auf Schulhöfen eine Deutschpflicht fordern.
Stephanie Zloch referiert in ihrem Essay „Migrationswissen – Das Beispiel der Bundesrepublik“ (in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 18. Januar 2021) die Vorbehalte gegen die Sprachen der Ein- und Zugewanderten auf der konservativen wie auf der linken Seite. Diese Auseinandersetzungen hatten in den 1970er Jahren durchaus auch ihren Grund, weil beispielsweise auf Betreiben der Militärregierung in Griechenland politische Inhalte im Griechischunterricht vermittelt werden sollten, die mit einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar waren. Eine vergleichbare Debatte ergab sich nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2015 in der Türkei. Die türkische Regierung versuchte, die Unterrichtsinhalte des Türkischunterrichts in Deutschland zu beeinflussen. Gleichzeitig gerieten die von der Gülen-Bewegung in Deutschland geführten Schulen in die Kritik, von der türkischen Seite als mutmaßliche Urheber des Putsches, von der deutschen Seite wegen einer vermuteten islamistischen Ausrichtung. Ähnlichen Einfluss suchte die rechts-konservative polnische Regierung für den Polnischunterricht.
Die Bundesländer, die den herkunftssprachlichen Unterricht als staatliche Veranstaltung durchführen, konnten die Angriffe aus Ankara und Warschau – wenn auch mit Mühe – abwehren, die Länder, die sich auf Konsulatsunterricht, Unterricht in Verantwortung der Konsulate der jeweiligen Länder, verließen, taten sich schwer. In den 2010er Jahren war die Kritik von rechts und links durchaus vergleichbar. Beiden ging es um die Verhinderung antidemokratischen politischen Einflusses von außen. Das war in den 1970er Jahren anders. Während die linke Seite damals die Vermittlung „nationalistische(r) Wissensbestände“ befürchtete, wies die rechte dem Unterricht vorwiegend die Vorbereitung auf die Rückkehr in die Herkunftsländer zu. Andererseits gab es auf der linken Seite auch Vertreter*innen der Auffassung, dass die reine Pflege der sogenannten Herkunftssprache als emanzipatorischer Akt zu verstehen wäre, unabhängig von den jeweiligen Verhältnissen, aus meiner Sicht nicht mehr und nicht weniger als eine Ausprägung der auf der linken Seite gängigen Spaltungen.
Von einer Einbettung des Unterrichts in der sogenannten „Herkunftssprache“ in ein umfassendes Konzept durchgängiger Sprachbildung mit dem Ziel der Mehrsprachigkeit waren die deutschen Schulen und die für sie zuständigen Ministerien in den 1970er Jahren meilenweit entfernt. Damals sprach man*frau von einer „Ausländerpädagogik“, die durchaus Anklänge eines Curriculum ad usum delphini hatte. In den 2010er Jahren drehte sich der Streit dann darum, ob die Pflege einer in den Familien gesprochenen Sprache, die nicht Deutsch war, den Erwerb der deutschen Sprache behindere oder fördere. Während die Vertreter*innen der fördernden Wirkung sich auf valide Studienergebnisse berufen konnten, konnten die Vertreter*innen der behindernden Wirkung dies nicht.
Viele Politiker*innen kümmerte dies jedoch nicht. Sie wiederholen – wie leider auch viele Lehrer*innen – wie ein Mantra die falsche These von der deutschen Sprache als alleinseligmachender Medizin. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft ergab jedoch, dass nicht die Frage, ob und wie viel Deutsch in den Familien gesprochen wird, über den zukünftigen Bildungserfolg oder -misserfolg entschiede, sondern die Frage, ob und wie weit Eltern ihre Kinder unterstützen könnten oder nicht. Kinder von Bildungsbürger*innen haben es eben leichter, unabhängig davon, ob sie den sogenannten „Migrationshintergrund“ haben oder nicht. Bernd Kramer berichtete am 5. Februar 2021 in der Süddeutschen Zeitung über die Studie.
Die Menschen, die mit zwei und mehr Sprachen lebten und leben, litten und leiden nach wie vor unter der mangelnden Wertschätzung ihrer Mehrsprachigkeit. Sie reagieren verunsichert, betrachten sich als defizitär. Karoshi Taha, eine der vielen erfolgreichen deutschen und mehrsprachigen Autor*innen mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ hat diesen Konflikt in ihrem Buch „Im Bauch der Königin“ (Köln, DuMont, 2020) illustriert: „Ich denke in letzter Zeit viel auf Kurdisch, auf Deutsch denke ich es, aber auf Kurdisch fange ich an. Ich sehe Kurdisch, ich denke Deutsch, ich spreche manche Sätze in beiden Sprachen aus, ganz leise, dass nur Gott es hören könnte, wenn Gott keine Frage wäre. Wenn ein kurdisches Wort in einem deutschen Satz auftaucht, verformt es meinen Mund, und das nachfolgende, deutsche Wort bekommt einen kurdischen Klang, und so gehen die Sprachen ineinander über in meinem Mund. Wenn ein deutsches Wort in einem kurdischen Satz auftaucht, hat es keine Auswirkung auf die kurdische Aussprache, ich weiß nicht, wieso, wahrscheinlich, weil das Deutsche und das Kurdische noch keine Aussprache hatten, kein Kur-Deutsch, das geheilte Deutsch.“
Migration als Metapher
Naika Foroutan diagnostiziert in ihrem Buch „Die postmigrantische Gesellschaft – Eine Versprechen der pluralen Demokratie“ (Bielefeld, transcript Verlag, 2019) das Elend der Integrationsdebatten. Schon im ersten Satz der Einleitung wird sie deutlich: „Die deutsche Gesellschaft ist polarisiert.“ Die gesellschaftlichen Debatten zeugen von „Gereiztheit“, es gibt „eine teilweise dystopische Stimmung (…) in akutem Identitätsstress.“ Als Ursachen gelten u.a. „Globalisierungsängste“, „Elitenkritik“, „Islamisierungsängste“, eine wüste Mischung, die alles aufzusaugen scheint, was irgendwie irgendjemanden in Deutschland, in Europa oder auch in den USA verunsichern könnte.
Naika Foroutan bietet einen ausgezeichneten Überblick über Forschungslage und politische Debatten aus der Perspektive des Themas „Migration“, die „nach demographischen Parametern zu einem Wesensmerkmal der gesellschaftlichen Realität geworden“ ist. Sie möchte aber die Bedeutung des Themas relativieren, denn „die große Gereiztheit liegt vielmehr daran, am eigenen Anspruch einer weltoffenen, aufgeklärten Demokratie zu scheitern. Die Migration ist dabei der Spiegel, in dem wir diese Gewissheit erkennen: Wir sind hässlich geworden und wir schieben die Wut auf den Boten, der uns das übermittelt.“
Naika Foroutan definiert den Begriff des „Postmigrantischen“ neu, den Shermin Langhoff und andere im Berliner Ballhaus Naunynstraße eingeführt und popularisiert hatten. „Das Postmigrantische verweist auf eine stetige Hybridisierung und Pluralisierung von Gesellschaften, die zwar nicht allein durch Migration erzeugt, jedoch an ihr entlang verhandelt werden.“ Ihr geht es nicht um das (Selbst-)Bewusstsein der zweiten und dritten Generation ein- und zugewanderter Menschen, sondern um das unerfüllte Gleichheitsversprechen demokratischer Gesellschaften. „Die Gesellschaft scheitert nicht an der Migration – sondern post-migrantisch: am Umgang mit der Gleichheitsfrage, die durch die Migration pars pro toto gestellt wird.“
In der Analyse des Sprachgebrauchs und der in einer Debatte verwendeten Begriffe und Metaphern trifft sich Naika Foroutan mit Anant Agarwala. Diese prägen ein Bild von Migration und von Migrant*innen und ihren Kindern, das nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern einem gefühlten Anders-Sein, das einfach stört. „Migration“ ist die Metapher für die Konfrontation mit dem Anderen, die sich dann in Zuschreibungen bestimmter Eigenschaften und Verhaltensweisen konkretisiert. Der Diskurs über und mit Migrant*innen und ihren Kindern, auch wenn diese hier in Deutschland geboren sind, verharrt im „Othering“ oder – wie Julia Reuter es treffend nannte – „Veranderung“. Man*frau könnte diesen Begriff auch als die moderne Variante des von Edward Saïd geprägten Begriffs des „Orientalismus“ verstehen.
„Pluralität“, Vielfalt werden im Grunde nicht akzeptiert. Es geht um Harmonie, letztlich mit dem Ergebnis einer „Gleichschaltung“, die – ich wage diese These auch im Hinblick auf die Ergebnisse der jüngsten Leipziger Autoritarismusstudie – durchaus Elemente des in der NS-Diktatur gängigen Begriffs umfasst. Ziel ist – so Naika Foroutan – die Auflösung von Hierarchien zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nicht nur zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen, auch zwischen Männern und Frauen, West- und Ostdeutschen, Stadt- und Landbewohner*innen. Die Diskriminierung von Menschen als „Migrant*innen“, als „Ausländer*innen“, als „Fremde“ profitiert von den verschiedenen Perspektiven intersektionaler Zuschreibungen.
Dabei geht es durchaus um Fragen erfolgreicher beziehungsweise verweigerter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit auch um Klassismus. Michael Ebmeyer schreibt in seinem Essay „Klasse ist kein Unwort mehr“ vom 13. September 2020: „Deutschland ist eine Klassengesellschaft, die so tut, als wäre sie keine. Gerade das macht sie besonders undurchlässig, wie jede vergleichende Statistik zur ‚sozialen Mobilität‘ in Europa von Neuem belegt. Fast nirgendwo ist der – gleichwohl fetischisierte – ‚Milieuwechsel‘ so schwer wie hier. In Reaktion auf diese Studien war bis vor Kurzem noch verlässlich vom ‚Prekariat‘ die Rede, von den ‚Abgehängten‘, von ‚Hartz-IV-Dynastien‘. Als sei die unterste Stufe unserer Klassengesellschaft ein Ausrutscher, ein Versehen, das mit unserer herrlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nichts zu tun hätte. Als sei ‚Hartz IV‘ ein Schicksal und kein Ausweis falscher Politik. Als seien Armut, soziale Ächtung und die so gerne naserümpfend unterstellte ‚Bildungsferne‘ allein den Betroffenen selbst anzulasten. Und als sei, von dieser Insel der Unseligen abgesehen, unser soziales Gefüge schön homogen und alle fühlten sich wohl darin.“
Ich erlaube mir, dem Begriff „Schicksal“ das Attribut „selbstverschuldet“ voranzustellen, allerdings nicht im Sinne von Immanuel Kant, sondern als Ergebnis einer Zuschreibung von außen. „Selbstverschuldetes Schicksal“ – unzureichende Integration wird zur Charaktereigenschaft erklärt. Wer es nicht schafft, wird zum Paria, der es auch gar nicht schaffen kann und schon gar nicht schaffen will. Wer so denkt, verabschiedet sich aus der Verantwortung und entlastet sein*ihr integrationspolitisches Gewissen. Thilo Sarrazin lässt grüßen.
Das „normative Paradox“
Solange Migrant*innen sich unterordnen, werden sie akzeptiert. Naika Foroutan nennt als gängiges Beispiel das Kopftuch, das bei Putzfrauen nicht problematisiert wird, wohl aber bei Frauen, die in der sozialen Hierarchie aufsteigen möchten, als Lehrerinnen, als Richterinnen: „Wenn diese ‚neuen‘ Deutschen aufsteigen, in Führungspositionen gelangen, ihre Kinder Bildungsaufstiege verzeichnen und sie die Popkultur, Politik und Zivilgesellschaft mitprägen, dann führt das nicht automatisch zu einer Erhöhung von Akzeptanz. Vielmehr kann das mit Konkurrenz- und Verteilungskampf einhergehen und weitere soziale Spannungen erzeugen.“
Diese Entwicklung nennt Naika Foroutan, u.a. in Anlehnung an Axel Honneth, ein „normatives Paradox“. Die plurale Demokratie verspricht Gleichheit, die sie „empirisch nachweisbar nicht gewährt“. „Dieses wirkt auf die migrantischen Kinder demotivierend, behindert Aufstiegsträume und führt zu Abkapselung. Gleichzeitig wird dagegen rebelliert. Das normative Paradoxon erzeugt somit eine Spannung in der postmigrantischen Gesellschaft.“ Es entsteht „Anti-Liberalität“, die sich aber nicht als illiberal empfindet.
Solche Illiberalität wird mehrheitsfähig, weltweit, und die Figur, mit der diese Mehrheitsfähigkeit entsteht, ist der*die abgelehnte „Fremde“. Und Illiberalität ist nicht nur eine Angelegenheit derjenigen, die sich als alteingesessen und gleichzeitig als deklassiert empfinden, sie wird auch von Menschen gepflegt, die durchaus am Wohlstand der Gesellschaft teilhaben. Naika Foroutan verweist auf das Tocqueville-Paradox, „dass mit einer nachweisbar abnehmenden Ungleichheit paradoxerweise die Unzufriedenheit und Kritik der Menschen am Staat zunehme.“ Alexis de Tocqueville sprach von „einer zunehmenden Erwartungshaltung der Bürger*innen, die, wenn Emanzipation, Reformen und Abbau von Ungleichheiten erst einmal eingeleitet seien, die bestehenden Ungleichheiten deutlich weniger tolerieren würden, als wenn alles beim Alten geblieben wäre.“
Es spielt keine Rolle, ob es Menschen gut geht oder nicht. Wenn sie sich bedroht fühlen, meckern, nörgeln, jammern sie, sozusagen auf hohem Niveau. Je besser es ihnen geht, umso unleidlicher und intoleranter verhalten sie sich, werten potenzielle Konkurrent*innen ab: „Die Maxime scheint also weniger ›Gleichheit für alle‹ (…) zu sein als vielmehr ‚Mehr Gleichheit für mich und meinesgleichen und weniger für die Fremden und ihre Kinder!‘“ Sie sorgen dafür, dass ihre Kinder eben gerade nicht die Schulen besuchen, die von vielen Kindern aus migrantischen Familien besucht werden. Sie praktizieren sozusagen „Bussing“ von oben und betreiben letztlich Klassismus, den sie mit scheinbarem Wissen um den unabweisbaren Misserfolg migrantischer Kinder tarnen. Akzeptiert wird allenfalls das, was das, was Amyrtya Sen „pluraler Monokulturalismus“ nannte, zumindest in den berüchtigten Sonntagsreden. Aber bloß keinen Kontakt, bloß keine Moschee im Stadtteil, bloß kein Flüchtlingsheim im Wohngebiet, bloß keine migrantisch geprägten Mieter*innen in der Nachbarwohnung.
Das „normative Paradox“ ließe sich auflösen, wenn wir lernten, besser mit „Ambivalenz“ und „Uneindeutigkeit“ umzugehen. Naika Foroutan plädiert mit Thomas Bauer und Jürgen Habermas, „Pluralität“ nicht „als Unordnung“, sondern als Chance zu verstehen: „Jene, die mit der Hybridisierung und Ambivalenz besser umgehen können, sind auch stärker bereit Pluralität progressiv zu begreifen, während die gleiche soziale Realität anderen Angst macht oder aggressiv abgewehrt wird.“ Damit geht es darum, ob eine Gesellschaft ihr Leitbild in „Partizipation und Teilhabe“ (Benjamin Barber, Anthony Giddens) oder in „Einheit und Gleichheit“ (Carl Schmitt) findet. „Migration“ ist in diesem Kontext „zum neuen Metanarrativ geworden, zum exemplarischen Kampffeld um Pluralität“ oder anders gesagt – im Sinne von Susan Sontag – zu einer der zentralen Metaphern politischen Streits. Ich neige daher zu einer Variante der berühmten Formel von Gertrude Stein: Migration ist Migration ist Migration, nicht mehr, nicht weniger.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Migrationsbegriff auch in Zukunft als orientalistische Metapher verwendet werden wird, ist groß. Angesichts der absehbaren Klimaveränderungen und einer aggressiven Ausbeutungspolitik der Länder des Südens durch die wirtschaftlichen Großmächte USA, Europäische Union und China erleben wir zurzeit nur Vorboten der Migrationsbewegungen und Verteilungskämpfe der Zukunft. Viele Migrant*innen erreichen nur andere Regionen ihres Landes, manche vielleicht noch ihr Nachbarland, eine geringe Zahl Europa, die USA, Kanada, Australien, Neuseeland. Das, was zwischen Staaten auszuhandeln ist, gilt für jeden einzelnen Staat und umgekehrt. Liberalität ist unteilbar. Das „normative Paradox“ (Naika Foroutan) bleibt, der Weg zu gelebter „Ambiguitätstoleranz“ (Thomas Bauer) ist lang.
Doch solange „gefühlte Wahrheiten“ (Anant Agarwala) die Integrationspolitik bestimmen, sind die Aussichten düster. Unbeschadet der jeweiligen Spezifika der Erscheinungsformen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die orientalisierende Exklusion rassistischer und fremdenfeindlicher Ansichten in ähnlicher Weise verstetigt wie wir das beim Antisemitismus schon seit langem erleben. „Jüdische Weltverschwörung“ und „gescheiterter Multikulturalismus“ sind dann Metaphern einer klassistischen Ab- und Ausgrenzung nach oben und nach unten, die es denjenigen, die sie pflegen, sogar erleichtert, sich selbst als unschuldiges Opfer zu fühlen.
Ob Bildung und Erziehung eine Lösung bieten könnten, muss leider bezweifelt werden. Bei aller Wertschätzung qualifizierter, methodisch gesicherter und regelmäßig evaluierter Bildungsprozesse, reichen selbst die besten Absichten nicht aus. Entscheidend ist das gesamtgesellschaftliche, politische Klima. Politik versagt, wenn sie die Lösung aller Probleme auf Bildung delegiert und sich selbst aus der Verantwortung stiehlt, indem sie Schulen, Hochschulen und vor allem Schüler*innen, Studierende, Absolvent*innen und das dort lehrende Personal für alle Fehlentwicklungen mehr oder weniger persönlich verantwortlich macht. Theodor W. Adorno hatte diese Rückdelegation politischer Prozesse auf Bildung und Erziehung im Sinn, als er in seinen „Studien zum autoritären Charakter“ schrieb: „Die eigentliche Ursache des Erziehungskomplexes mag die undeutliche Erkenntnis sein, dass unsere Kultur die Masse der in ihr Lebenden von der wirklichen Partizipation an ihren subtileren Befriedigungen ausschließt.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2021, alle Internetlinks wurde am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)