Paradigmenwechsel – Kinderrechte in Kommunen
Ein Gespräch mit Anne Lütkes über kinderfreundliche Politik
„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (Artikel 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention)
Es gibt wenige Politiker*innen, die Erfahrungen als Anwältin, als Minister*in, als Leiter*in einer Behörde, als Parlamentarier*in und als Akteur*in einer zivilgesellschaftlichen Organisation vorweisen können. Anne Lütkes, 1948 geboren in Bergisch Gladbach, war Ministerin für Justiz, Frauen, Jugend und Familie in Schleswig-Holstein, Regierungspräsidentin in Düsseldorf, Mitglied des Landtags von Schleswig-Holstein und des Rates der Stadt Köln. Sie arbeitet heute wieder als Anwältin und engagierte sich ehrenamtlich als Schatzmeisterin von UNICEF Deutschland, Vizepräsidentin des Deutschen Kinderhilfswerks und Vorsitzende des Vereins „Kinderfreundliche Kommunen“. Sie ist Mitglied der Partei Bündnis 90 / Die Grünen. In all ihren Tätigkeiten waren die Kinderrechte eines ihrer wichtigen Anliegen, das sie auch national und international vertrat. Wir sprachen am 11. Mai 2022 darüber, was eine kinderfreundliche Politik sein könnte. Ein zentraler Ort für die Verwirklichung der Kinderrechte in der Praxis sind die Kommunen, der Ort, an dem Kinder leben, lernen und aufwachsen.
Kinderrechte ins Grundgesetz!
Norbert Reichel: In Schleswig-Holstein waren Sie Justiz-, Familien-, Jugend- und Frauenministerin. Das war nicht das einzige Justizministerium mit einer weiteren Zuständigkeit. Auf Bundesebene war der Verbraucherschutz bis 2021 Teil des Justizministeriums, auch in Thüringen ist dies so, wo auch noch Migration zum Zuständigkeitsbereich gehört. Führen solche Kombinationen nicht zu Inkompabilitäten? Sie müssen sich im Grunde bei Gesetzesvorhaben selbst prüfen.
Anne Lütkes: Das ist schon etwas länger her, aber ich bin mir heute noch sicher, dass diese Kombination für dieses Ministerium ein Vorteil war. Die Verbindung zwischen Jugend, Frauen und Justiz führte zu einer Stärkung des Jugend- und des Frauenbereichs. In vielen Landesregierungen, auch in den Bundesregierungen – ich will jetzt nicht einen ehemaligen Bundeskanzler zitieren – ist es oft so, dass der Jugend- und der Frauenbereich unter „ferner liefen“ laufen und es sehr schwer haben, sich in die Debatten einzumischen, sowohl auf der Arbeitsebene als auch am Kabinettstisch. Die Tatsache, dass ich am Kabinettstisch Jugend und Justiz vertrat, hat Jugend nach vorne geholt. Ich war zudem stellvertretende Ministerpräsidentin und hatte das Laufzeichen II. Das führte dazu, dass der Jugend- und der Frauenbereich in interministeriellen Arbeitsgruppen, in Gremien immer vorne war. Das hat zu mehr Selbstbewusstsein in diesem doch sehr kleinen Ministerium geführt und damit auch zu einer inhaltlich größeren Präsenz.
Für mich persönlich war es schon wichtig, immer diese Abwägung zwischen den Bereichen vornehmen zu müssen und nach den jeweiligen Interessen zu fragen. Ein Beispiel, das mir gut in Erinnerung geblieben ist, ist die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Justiz, in Jugendstrafverfahren und auch in familiengerichtlichen Verfahren, in denen das Kindeswohl betroffen war. Wir haben als Justiz mit der Jugendhilfe damals schon Untersuchungen durchgeführt, die dieses Zusammenspiel zwischen Jugendgerichtshilfe, Strafverfahren, Jugendgerichten und Jugendhilfe untersuchten. Aus meiner Beobachtung ist es heute noch ein großes Problem, dass Jugendgerichtsbarkeit und Jugendhilfe kontinuierlich zusammenarbeiten. Für jedes einzelne Kind. Da waren wir damals schon sehr modern.
Norbert Reichel: Die jüngste SGB-VIII-Reform stärkt diese Zusammenarbeit meines Erachtens erheblich.
Anne Lütkes: Das ist richtig. Wir haben etwa im Jahr 2000 damit begonnen. Auch die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule ist meines Erachtens eine Aufgabe, die immer noch angegangen werden muss. Da hat es wenigstens vorübergehend geholfen, nicht nur Problembewusstsein zu schaffen, sondern auch Lösungsschritte zu finden.
Norbert Reichel: Eine wichtige juristische Frage ist immer noch die Frage, wie die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden können. Die UN-Kinderrechtskonvention wurde im Jahr 1989 beschlossen. Der Deutsche Bundestag hat es in der letzten Legislaturperiode nicht geschafft, das Grundgesetzänderung in diesem Punkt zu ergänzen. Die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit kam nicht zustande. Ein Streitpunkt war die Frage, ob Kinderrechte „angemessen“ oder „vorrangig“ berücksichtigt werden sollten. Die UN-Kinderrechtskonvention ist eigentlich klar: dort steht „vorrangig“. Wie optimistisch sind Sie, dass dieses Vorhaben in dieser Legislaturperiode gelingt?
Anne Lütkes: Zunächst: wenn wir von Kinderrechten im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention sprechen, geht es um die Rechte von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren.
Ich war eine derjenigen, die noch als Regierungspräsidentin in Düsseldorf mit anderen ehemaligen Justizminister*innen einen Vorschlag vorgelegt hatten. Wir hatten einen Entwurf für einen Artikel 2a GG formuliert, den ich immer noch für sehr gut halte, der aber in all den bisherigen zehn Debattenjahren keine Mehrheit fand. Kurz vor der letzten Bundestagswahl nahm die Kampagne für die Kinderrechte im Grundgesetz noch einmal Fahrt auf und wir hatten einige Tage die Hoffnung, dass wir es schaffen. Aber es gab nicht nur die Debatte um die Frage „angemessen“ oder „vorrangig“, es fehlte vor allem in der CDU-Fraktion die Bereitschaft, die Kinderrechte an einem Ort im Grundgesetz zu platzieren, der ihrem Gewicht entspricht, nicht als Staatsziel, sondern als subjektives Grundrecht für Kinder.
Es steht jetzt immerhin im Koalitionsvertrag. Auch die FDP, die immer etwas schwankte, hat zugestimmt, aber es fehlt die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Aber es steht meines Erachtens zurzeit nicht auf der Agenda, natürlich auch wegen der aktuellen internationalen Situation, aber auch weil es – so wie ich das sehe – keine Initiative beim Gesetzgeber gibt. Ich glaube aber, dass dies in der jetzigen Situation der Sache am Ende nicht schaden wird, weil zurzeit ein Zeitraum da ist, in dem wir die Kampagne verstärken, dafür sorgen müssen, dass ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Kinderrechte entsteht und dies in einer breiten öffentlichen Kampagne und auch in einer breiten alltäglichen Arbeit voranbringen. Die „Kinderfreundlichen Kommunen“ sind dabei auch ein Vorreiter – fast würde ich schon sagen: eine Vorreiterinstitution – für einen neuen Anlauf. Man sollte nicht zu früh beginnen, weil sonst alles wieder verpufft.
Kinderrechte, Elternrechte – die Praxis der Jugendämter
Norbert Reichel: Die Gefahr sehe ich auch. Aber wie kommt es, dass das Thema „Kinderrechte“ immer wieder mit dem Thema „Elternrechte“ kollidiert? Es wird immer wieder vorgetragen, dass mehr Kinderrechte die Elternrechte mindern. Betont wird das Bestimmungsrecht der Eltern, das gegenüber den Kinderrechten vorrangig wäre.
Anne Lütkes: Es gibt Verfassungsrechtler, die sich auf Artikel 6 GG berufen, das Elternrecht, und ein falsches Verständnis von diesem Elternrecht haben. Das Bundesverfassungsgericht hat schon vor längerer Zeit entschieden, dass das Elternrecht gegenüber dem Recht der Kinder ein dienendes Recht ist. Es ist kein eigenständiges Recht, hinter dem das Kindeswohl zurückzutreten hat. Die Eltern sind die Betreuer, die Fürsorger. Das ist ihr Recht. Der Staat muss sie dabei unterstützen und dafür sorgen, dass Eltern in diesen Rechten nicht beschnitten werden. Aber die Kinder sind eigenständige Träger von Grundrechten. Das ist etwas, das in stark konservativ geprägten Familienbildern immer noch keinen Platz hat. Da herrscht der Gedanke, dass das Elternrecht bei einer Aufnahme in das Grundgesetz hinter dem Kinderrecht zurücktreten müsse und daher obsolet würde. Das jedoch ist schlichter Unsinn.
Norbert Reichel: Besonders kritisch wird dies bei Inobhutnahmen. Es gibt sicherlich Inobhutnahmen, die nicht geschehen sollten, die als Übersprunghandlung der Behörden bewertet werden könnten, aber auch manche, die wegen des Kindeswohls, des Kinderschutzes geschehen sollten, aber mit falscher Rücksicht auf die Elternrechte nicht geschehen.
Anne Lütkes: Auch da hilft die UN-Kinderrechtskonvention. In Artikel 3 ist der Vorrang des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen formuliert. Vorrang des Kindeswohls heißt ja, die Kinderinteressen zu berücksichtigen, angemessen zu analysieren und dann zu einem Prozess der Entscheidung zu kommen. Es kann natürlich sein, dass das Kindeswohl eine Inobhutnahme gebietet, obwohl das Kind vielleicht bei den Eltern bleiben möchte. Dieser sehr differenzierte Abwägungsprozess ist bei den Inobhutnahmen auch nicht immer gewährleistet.
Norbert Reichel: Das ist vielleicht auch eine Frage des Problembewusstseins und der Qualifikation der zuständigen Mitarbeiter*innen in den Jugendämtern.
Anne Lütkes: Es ist sicherlich leicht, ein Jugendamt-Bashing zu machen. Wenn wir gerade einmal die beiden Jahre der Pandemie betrachten und sehen, wie gefordert und teilweise auch überfordert die Jugendämter in dieser Situation waren und sind, sollte man dies auf keinen Fall tun. Ich denke aber, dass die Analyse immer richtig ist, dass Leiter*innen der Jugendämter – natürlich nicht nur sie alleine, auch die Bürgermeister*innen, Landrät*innen, die Räte, der Haushaltsgesetzgeber – dafür sorgen müssen, dass die Personalausstattung so gut ist, dass die Mitarbeiter*innen die Kraft und die Räume haben, jedes einzelne Kind, das Hilfe braucht, zu betreuen. Wenn das nicht gewährleistet ist, bleibt der Abwägungsprozess auch manchmal auf der Strecke.
Norbert Reichel. Die aktuelle SGB-VIII-Reform fordert meines Erachtens eine deutliche Erhöhung der Personalausstattung der Jugendämter. Kinder haben das Recht auf jederzeitige und anlasslose Beratung. Ein Hindernis sind meines Erachtens die kleinen Jugendämter. Viele kleinere Städte haben inzwischen eigene Jugendämter, können aber nicht die Breite der erforderlichen Qualifikationen bereithalten, weil einfach das Personal fehlt. Wäre es nicht besser, die kleinen Jugendämter wieder in Kreisjugendämtern zusammenzufassen?
Anne Lütkes: Auch hier sollte man sehr genau abwägen. Die kleinen Jugendämter haben, wenn sie gut besetzt sind, natürlich auch den Vorteil, dass sie gut erreichbar sind. Für die betroffenen Familien und die betroffenen Kinder. Ein grundsätzliches kinderrechtliches Begehren ist ja der Zugang zum Recht. Das betrifft nicht nur den Zugang der Kinder zu den Gerichten, sondern auch zur Beratung, zu niedrigschwelliger Hilfe, die die Jugendämter leisten können. Das ist ein Vorteil örtlicher Jugendämter, die aber auch die Kraft dazu haben müssen.
Norbert Reichel. Eine entsprechende Ausstattung wäre erforderlich. Kleine Jugendämter müssten vielleicht relativ gesehen über einen besseren Personalschlüssel verfügen als Jugendämter in großen Städten.
Anne Lütkes: Das sehen wir auch so. Als Deutsches Kinderhilfswerk haben wir als großen Arbeitsbereich beispielsweise die kindgerechte Justiz. Es geht dabei nicht nur um die Arbeit der Gerichte, sondern um den grundsätzlichen Zugang der Kinder zu ihrem Recht. Dazu gehört die Frage, wie breit gefächert ist das Beratungsangebot, wo sind die Kinderrechtehäuser, wo erhalten Kinder die Hilfe, die sie brauchen?
Kinder sind Subjekt, nicht Objekt
Norbert Reichel. Sie sprachen schon von dem Thema kindgerechte Justiz. Was heißt das konkret?
Anne Lütkes: Das ist eine eigene Veranstaltung wert. Die UN-Kinderrechtskonvention muss für Kinder lebbar sein. Kinder müssen über ihre Rechte informiert sein, sie müssen sie dann nicht nur in Konfliktfällen, sondern in ihrem Alltag erreichen und leben können. Die kindgerechte Justiz soll den Zugang der Kinder zum Recht und ihre Beteiligung bis zum Ende des Verfahrens sichern. Dazu gehört auch die Berücksichtigung von Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention, das Anhörungsrecht des Kindes. Das ist die Grundlage für ein für das Kind fassbares Verfahren. Dazu gehört neben den Anhörungsrechten das Bewusstsein der Handelnden, dass das Kind nicht nur das Objekt eines Verfahrens ist, beispielsweise auch bei einer Inobhutnahme, sondern als Subjekt zu betrachten ist.
Die Leitlinien des Europarats zur kindgerechten Justiz sind ein sehr ausführlicher Leitfaden. Sie besagen, dass die Anhörung kindgerecht zu gestalten ist. Das kommt manchmal recht banal daher. Es geht aber auch um die Rahmenbedingungen, um kindgerechte Räume, ein kinderfreundliches Setting immer und eben nicht nur um einen Sitzungssaal, der auch schon Erwachsene erschreckt. Es geht um eine andere Gestaltung des Verfahrens sowie um die Fähigkeit und die Fortbildung der Entscheidenden, die Anhörung im Verwaltungsverfahren wie im gerichtlichen Verfahren durchzuführen, aber dann auch, wenn es zu der Entscheidung kommt, diese Entscheidung gegenüber dem Kind zu vermitteln, dem Kind deutlich zu machen, warum und wie die Entscheidung gefallen ist. Es ist eine Erfahrung, dass diese Verfahren auslaufen und die Kinder keine Rückmeldung bekommen, was in ihrem Fall entschieden worden ist. Das klingt so einfach, ist es aber in der Praxis überhaupt nicht. Wir machen gerade mit sechs Amtsgerichten ein Pilotverfahren, um zu erkunden, wie der Leitfaden umgesetzt werden könnten. Das macht das Deutsche Kinderhilfswerk gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte. Am 29. Juni 2022 machen wir dazu eine digitale Fachtagung.
Norbert Reichel: Wir haben eben das Thema angesprochen: Kinder als Objekt, Kinder als Subjekt. Das scheint mir der Kernpunkt zu sein. Oft wird über Kindeswohl, Kinderschutz gesprochen, aber die Kinder sind nur Objekte. Sie sind nicht Subjekt. In der Stadtplanung, in der Schule, überall sind sie Objekte, unbeschadet einiger guter Projekte. Für die Schule nenne ich das Landesprogramm „Kinderrechteschulen“ in Nordrhein-Westfalen, an dem sich über 100 offene Ganztagsgrundschulen beteiligen. Bei über 3.000 Grundschulen in diesem Land natürlich eine geringe Zahl, aber immerhin.
Anne Lütkes: Das ist richtig, der Kern in der UN-Kinderrechtskonvention und in der Debatte ist die Partizipation. Neben dem Vorrang des Kindeswohls, den kinderfreundlichen Rahmenbedingungen, der Information ist die Partizipation der Kinder der vierte wesentliche Punkt. Würde Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention gelebt, würde sich die Frage nicht mehr stellen, weil dort festgehalten ist, dass das Kind eigenständiger Träger von Rechten ist. Das Kind soll beteiligt werden und es kann es. Oft kommt der Fürsorgegedanke daher, ein Kind könne dies oder das doch gar nicht entscheiden. Oft heißt es, es werde gewarnt vor zu großer Beteiligung der Kinder.
Aber– wenn wir den Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention betrachten, heißt das natürlich nicht, dass der Wille des Kindes in jedem Fall durchgesetzt werden müsste. Das wäre blauäugig. Aber den Willen des Kindes nicht zu beachten, das ist genau der Fehler. Der führt dazu, dass dieser Mensch, dieses Mädchen, dieser Junge nur als zu Behandelnde betrachtet werden, nur als Objekt. Das ist ein großer Schritt. Ich weiß, dass das im Regelfall für Lehrer*innen oder Erzieher*innen sehr anstrengend ist, auch dass dies in vielen Verwaltungen gar nicht verstanden und auch nicht versucht wird, diesen Wechsel hinzubekommen. Aber das wollen wir ja ändern.
Kinder können Demokratie!
Norbert Reichel: Es gibt nun auch so eine Art Pseudo-Beteiligung. Die Kinder malen Bilder, wie sie sich die Welt, die Stadt, die Schule vorstellen. Es gibt eine Ausstellung im Rathaus, in der Schul-Aula. Der Bürgermeister kommt, der Schulleiter, alle loben die Kinder, doch nichts geschieht.
Anne Lütkes: Alle schütteln die Hände. Deshalb habe ich beim Thema der kindgerechten Justiz darauf hingewiesen, dass es darum geht, bis zum Ende des Verfahrens die Kinder zu begleiten, das Ergebnis des Verfahrens zu vermitteln, warum das so ist, wie es zustande kam. Auch in allen anderen Bereichen. Wir haben in Schleswig-Holstein eine noch heute aktive Fortbildungsreihe initiiert, die „Kinderstube der Demokratie“. Es ging um Kindertageseinrichtungen. Eines der ersten Vorhaben war „Eine Kindertagesstätte zieht um“. Mein Ministerium hat das damals gefördert. Die Kinder wurden nicht nur gefragt, sondern sie wurden in einem positiven Sinne beteiligt, wie das neue Gebäude gestaltet werden sollte.
Zwei Vorschläge sind mir in Erinnerung geblieben: die Kinder wollten eine Achterbahn im Garten und sie wollten alle gemeinsam essen. Der Vorschlag der Verwaltung war, dass die Kinder in ihren Gruppen essen sollten. Am Ende des Prozesses musste man den Kindern erklären, warum das mit der Achterbahn nicht klappte, aber das Essen wurde nach den Vorstellungen der Kinder organisiert. Dies ist für mich heute noch beispielhaft für die Ausgestaltung eines Partizipationsprozesses. Sie könnte erfunden sein, aber sie lässt sich nachlesen. Es war sehr eindrucksvoll, wie die Vorschläge der Kinder ernst genommen wurden, dann ein Abwägungsprozess in Konfrontation mit der Realität stattfand und die Kinder bis zum Schluss Subjekt des Verfahrens waren. Es gab ein kindgerechtes Verfahren und ein für die Kinder verständliches und akzeptables Ergebnis.
Norbert Reichel: Marina Weisband erzählte mir in einem Gespräch von einem Fall, in dem Kinder etwas grundsätzlich ändern wollten, dann aber nach einem längeren Prozess zum Ergebnis kamen, dass alles bleiben sollte wie es war. Das Entscheidende sei eben die Frage, ob eine Entscheidung zur Diskussion gestellt und dann transparent entschieden wird. Wenn dies nicht geschieht, sind ja auch Erwachsene nicht unbedingt zufrieden. Auch Erwachsene mögen es nicht, wenn ihnen alles vorgesetzt wird und sie nur als Konsument*innen betrachtet werden.
Anne Lütkes: Das ist gerade bei dieser Pseudo-Beteiligung – um dieses Wort aufzunehmen – das Problem. Die Vorschläge der Kinder werden zu den Akten genommen und gut ist. Das ist gefährlich. In all den Bereichen, in denen sich Partizipation glücklicherweise so langsam durchsetzt, nicht nur in den Kinderfreundlichen Kommunen, ist Beteiligung ja kein Selbstzweck. Es ist das Recht der Kinder, es ist die Schule der Demokratie oder wie es in unserem Projekt hieß die „Kinderstube der Demokratie“. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen, für die eigene Schule, die eigene KiTa. Das zeigt, dass man den eigenen Lebensbereich gestalten kann, auch positiv gestalten kann, dass sich Verantwortungsübernahme lohnt. Wenn die Vorschläge nur in den Akten landen und man nie wieder etwas hört, sagt man sich, da mache ich beim nächsten Mal keinen Vorschlag mehr.
Norbert Reichel: So geht es in manchen Beteiligungsverfahren. Ich denke an die Bürgerhaushalte. Es wurden Vorschläge eingeworben, zur Kenntnis genommen und die Räte oder die Verwaltung entschieden, ohne Rückmeldung. Beim nächsten Mal sank die Beteiligung erheblich.
Anne Lütkes: Bei Kinderfreundlichen Kommunen gibt es daher – so schwierig es ist – auch ein eigenes Budget für die Kinder, über das die Kinder entscheiden können. Sie verfügen selbst über Haushaltsmittel. In Köln wurde das auf die neun Bezirke heruntergebrochen. Die Bezirksvertretungen stellen die Haushaltsmittel zur Verfügung. Das ist auch ein Beispiel, wie man Demokratie lernen kann.
Norbert Reichel. Wie hoch sind die Budgets und was machen die Kinder dann damit?
Anne Lütkes: Das sind 5.000 EUR pro Bezirk. Das bekommt man nicht alles auf einmal. Damit kann man eine Veranstaltung machen, man kann eine neue Bank oder ein Spielgerät aufstellen. Das Programm heißt „Geld in die Hand von Jugendlichen“. Es geht um Geld für freizeitpädagogische Angebote. Es dauerte etwas länger, bis es eine Ausführungsverordnung gab, Rechtsgrundlage des Verfahrens ist § 80 SGB VIII. Zurzeit ist ein neuer Aktionsplan in der Abstimmung.
Kinderfreundlich – international und in Deutschland
Norbert Reichel: Der Begriff „Kinderfreundliche Kommunen“ entspricht dem englischen der „Childfriendly Cities“, auf die Sie auch auf Ihrer Internetseite verweisen. Ich habe dort ein sehr eindrucksvolles Beispiel aus Barcelona gefunden. Würden Sie von einer internationalen Bewegung sprechen?
Anne Lütkes: Es ist eigentlich keine Bewegung, sondern zunächst eine Initiative. Ins Leben gerufen wurde sie von UNICEF International. Etwa 40 Länder machen mit. 2019 hatten wir in Köln einen „Summit“ für die „Childfriendly Cities“, an der über 300 Bürgermeister*innen aus der ganzen Welt teilnahmen. Eine Bewegung ist etwas, das eine sehr breite Basis hat. Hier ist es aber so, dass die Initiative auf der Ebene der Stadtverwaltungen, auf der Ebene der kommunalen Spitzen ansetzt, also ein Top-Down-Ansatz ist. Der Ansatz braucht die Strukturen der Verwaltung. Die UNICEF-Büros sind weltweit unterwegs, aber sie haben nicht überall die Initiative unterstützt, einige versuchen, Partizipation von Kindern auf anderen Wegen umzusetzen. Es geht darum, das kommunale Leben mit den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention zu durchdringen, damit der Zulauf in den einzelnen Ländern, in den Städten positiv vorangeht. Man kann es auch als Bewegung bezeichnen. Die UNICEF spricht von „Initiative“. Die Abkürzung heißt CFCI („Childfriendly Cities Initiative“)
Norbert Reichel: Welche Länder sind besonders aktiv?
Anne Lütkes: Quer durch den Garten. Ich nehme mal Vietnam. Dieses Land ist in der Stadtentwicklung Vorreiter. Es gibt wenige Länder, die die Kinderrechte im Haushaltsrecht berücksichtigen, ähnlich wie es wenige gibt, die im Sinne des Gender Budgeting arbeiten. Da ist Schweden Vorreiter. Auch in Europa sind nicht alle Länder bei den Kinderfreundlichen Kommunen dabei. Sehr aktiv sind Spanien und Frankreich, die Ukraine war es auch, Österreich und Italien nicht so ganz. Inhaltlich, nicht quantitativ, ist Deutschland schon – klingt ein wenig wie Selbstlob, aber kann man ja auch mal machen – Vorreiter. Es gibt unterschiedliche Ansätze. UNICEF hat ein Handbuch veröffentlicht, das die Kriterien für die Anerkennung als Kinderfreundliche Kommune enthält, auch für die Berechtigung, das Siegel zu tragen. Wir sind in unserer deutschen Gründlichkeit schon sehr intensiv bei der Umsetzung der Anforderungen.
Ein anderes Beispiel: Tirana ist beispielsweise ebenso eine Kinderfreundliche Kommune, aber die Frage, ob Artikel 3 in der Verwaltung beachtet wird, die dürfen Sie nicht stellen. Der Bürgermeister ist sehr engagiert. Er hat in Köln 2019 im Gürzenich eine hervorragende und begeisternde Rede gehalten, darüber, dass Kinder ohne Probleme über die Straße gehen können, Fahrrad fahren können, ein Wahnsinnsvortrag. Eine Beteiligung im Sinne einer Umfrage war im Konzept enthalten, aber nicht die Nachhaltigkeit in der Verwaltung. Es war doch sehr punktuell. Wir legen in Deutschland sehr viel Wert darauf, dass Verwaltung den Paradigmenwechsel umfassend lernt, denn genau das ist es: ein Paradigmenwechsel, wenn man Kinderrechte mitdenkt und nicht nur pro forma, sondern bereit ist, den Abstimmungsprozess vorzunehmen.
Der Weg zur Kinderfreundlichen Kommune
Norbert Reichel: Ich habe mir die Kinderfreundlichen Kommunen auf Ihrer Internetseite angeschaut. Da sind Großstädte dabei, aber auch kleine.
Anne Lütkes: Ganz kleine.
Norbert Reichel: Einige haben ein Siegel, die meisten jedoch nicht.
Anne Lütkes: Aktuell haben von 44 Kommunen 25 das Siegel. Das ist schon die Mehrzahl. Acht Kommunen haben das Siegel schon verlängert, drei die Verlängerung beantragt. Und in diesem Jahr werden noch sieben Kommunen das Siegel erhalten.
Das ist also keine Hierarchie, sondern hängt damit zusammen, wann die Kommune begonnen hat und wie sie den Prozess aus eigener Kraft gestaltet. Es hat auch nichts mit der Größe der Kommune zu tun. Grundsatz ist, dass jede Kommune ihren Weg finden muss. Der Weg muss natürlich den Zielen entsprechen. Das dauert etwas. Das Siegel ist nicht das Ende des Wegs, es ist keine Belohnung, sondern markiert einen Zwischenschritt, eine Herausforderung, denn es wird verliehen, wenn der Rat einen Aktionsplan verabschiedet hat. Den schauen wir uns an. Dazu haben wir einen großen Pool von Sachverständigen. Wir entscheiden über die Verleihung des Siegels, wenn die Kommune alle Voraussetzungen zur Umsetzung ihres Aktionsplans geschaffen hat. Die Umsetzung begleiten wir. Dann kann die Kommune entscheiden, ob sie eine Verlängerung des Siegels möchte. Bisher wollten alle diese Verlängerung.
Norbert Reichel: Das Siegel ist befristet?
Anne Lütkes: Das Siegel ist befristet. Und wir kontrollieren auch. Perspektivisch gibt es eine Entfristung. Hanau, Weil am Rhein, Regensburg und Wolfsburg haben die Entfristung beantragt. Regensburg wird wohl die erste Stadt sein, die diesen Schritt geht. Nach der Siegelentfristung müssen wir schauen. Wir wissen noch nicht, wie es genau weiterläuft. Wir legen Wert darauf, dass die Kommunen weiterhin an unseren Veranstaltungen teilnehmen, die inhaltlich als Austauschveranstaltungen konzipiert sind. Es soll auch in regelmäßigen Zeiträumen ein Erfahrungsbericht vorliegen auch. Die erste Erfahrung nach der Entfristung ist positiv. Die Kommunen sind sehr interessiert.
Norbert Reichel: Wie prüfen Sie und wer prüft?
Anne Lütkes: Wir haben permanente Kommunikation. Bei der ersten Siegelphase gibt es die Begleitung durch Sachverständige, dann ein Halbzeitgespräch in Form einer großen Tagung auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, in dem der Stand der Umsetzung geprüft wird. In der Regel sind zwei oder drei Mitglieder des Vorstands dabei, auch mehrere ehrenamtliche Sachverständige aus unterschiedlichen Bereichen, Stadtentwicklung, Jugendhilfe und so weiter. Zu Beginn hatten wir drei Sachverständige pro Kommune
Jetzt haben wir 44 Kommunen, da sind es zwei Sachverständige, nur noch bei großen Städten drei. Diese nehmen ihren Auftrag sehr ernst. Sie machen eine schriftliche Stellungnahme zum Aktionsplan, sind beim Halbzeitgespräch dabei und bei der Frage der Verlängerung wieder mit einer sachlichen Stellungnahme. In der Anfangsphase haben wir all diese Fragen noch im Plenum des Vorstands erörtert. Die Kommunen haben mündlich vorgetragen.
Diese Struktur haben wir verändert, aber es gibt weiterhin einen sehr intensiven Austausch der Kommunen, während der Corona-Phase natürlich digital, jetzt Anfang Mai 2022 erstmals wieder in Präsenz, in Lampertheim in Hessen. Eine sehr engagierte Stadt, mit einem jungen Ersten Stadtrat. Es ist ein kontinuierlicher Prozess. Wir erwarten dann einen Abschlussbericht, der wieder bewertet wird und dann die Grundlage für die Entscheidung der Verlängerung ist.
Norbert Reichel: Wie fängt es in den Kommunen an? Sind es Initiativen der Bürgermeister*in oder Initiativen aus den Räten oder aus der Zivilgesellschaft?
Anne Lütkes: Das ist unterschiedlich. Eine der letzten Kommunen, die dazu gekommen ist, war Haan im Kreis Mettmann bei Düsseldorf. Da war es so, dass die Bürgermeisterin von einer anderen Bürgermeisterin gehört hatte, was Kinderfreundliche Kommunen ist. Dann hat sie ihre Verwaltung beauftragt zu schauen wie was wo. Die haben bei uns angerufen, wir haben das Konzept vorgestellt. Wir legen Wert darauf, dass die Entscheidung durch Bürgermeister*in und Rat erfolgt. Das ist die Voraussetzung für den Paradigmenwechsel, den wir wollen. Dazu brauchen wir Bürgermeister*in und Rat. Wichtig ist aber natürlich auch, dass die Verwaltung mitzieht.
Pflichtaufgabe Kinderrechte
Norbert Reichel: Ein wichtiger Ort für die Forderung nach Kinderrechten sind Parteiprogramme. Ich meine damit nicht unbedingt Bundesprogramme, sondern gerade auch Programme für Landtagswahlen oder Kommunalwahlen. Was könnten Länder und Kommunen noch tun? Ich habe lange Zeit im Schulbereich gehalten, mich für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule verwendet, aber mein Eindruck ist, dass es auf der gesetzlichen Ebene im Schulbereich noch viel Luft nach oben gibt, und nicht nur da.
Anne Lütkes: Ganz sicher. Als Kinderfreundliche Kommunen legen wir Wert auf das unmittelbare Alltagsleben. Bei Schulen ist natürlich die Frage, ob die Kommune der Träger ist, Bei Schulen sind wir auch bei den inhaltlichen Fragen, für die die Länder zuständig sind. Es ist ein grundsätzliches Vorhaben für unserer Träger UNICEF und Deutsches Kinderhilfswerk, auch in dieser Richtung weiterzuarbeiten. Als Vizepräsidentin des Deutschen Kinderhilfswerks bin ich da natürlich auch mit unterwegs. Wir haben schon mehrere Ansätze, wo die Landesregierungen gefordert sind. Ein Dreh- und Angelpunkt ist die Frage, ob die Umsetzung der Kinderrechte im Alltag eine Pflichtaufgabe ist oder nicht.
Norbert Reichel: Und nicht nur da stellt sich diese Frage!
Anne Lütkes: Das ist eine Frage, die Sie und mich durch unser ganzes Berufsleben begleitet. Wir sind der Auffassung, dass angesichts der UN-Kinderrechtskonvention, nicht erst mit Verankerung im Grundgesetz, sondern auch bereits jetzt, die Umsetzung der Kinderrechte eine Pflichtaufgabe ist. Wenn sie Pflichtaufgabe ist, ergibt sich auch haushaltsrechtlich eine Verpflichtung. Dazu bedürfte es dann eines klarstellenden Erlasses der Innenministerien beziehungsweise der zuständigen Kommunalministerien, damit auch die Kommunalaufsicht bei der Genehmigung der kommunalen Haushaltspläne entsprechend handelt.
Wir haben mit Unterstützung des Bundesjugendministeriums eine Leitlinie für die Aufstellung kindgerechter Haushaltspläne erarbeitet. Wir vertreten die Auffassung, dass Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention eine pflichtige Norm ist, die in jeder Kommune in den Alltag integriert werden muss. An dieser Richtlinie hat die Regierungspräsidentin von Köln als zuständige Kommunalaufsicht mitgearbeitet. Das hat mich sehr gefreut. Wir haben ohnehin immer gut zusammengearbeitet, auch als ich Regierungspräsidentin in Düsseldorf war. Wir hatten uns das damals schon ausgedacht. Als wir dann die Förderung des Bundesministeriums hatten, haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet, mit Bürgermeister*innen, Kämmerern, aus Hessen, aus Nordrhein-Westfalen, quer durch die Bundesrepublik. Es ist schon ein Signal, wenn eine einzelne Kommunalaufsicht sagt, es ist eine Pflichtaufgabe. Entscheidend wäre jedoch, wenn es nicht nur ein Landesministerium, sondern die Konferenz der Innenminister*innen dies klarstellte.
Norbert Reichel: Aber das steht in den Sternen?
Anne Lütkes: Das wollen wir mal sehen. Wir geben selbstverständlich nicht auf. Die Kölner Regierungspräsidentin hat das jetzt in Konferenz der Regierungspräsident*innen auf Bundesebene eingebracht. Ich hatte das zu meiner Zeit als Regierungspräsidentin auch schon mal auf diese Konferenz getragen. Mit dem Ergebnis, dass die Mehrheit meinte, „ist ja nett, dass du dich kümmerst, um Kindeswohl und Kinderschutz“.
Norbert Reichel: Da sind wir wieder bei dem Thema Kind als Objekt.
Anne Lütkes: Vielleicht verstehen manche „kinderfreundlich“ als Begriff so, als gehe es um ein paar Streicheleinheiten, nice to have. Es geht um den Rechtsanspruch des Kindes, auf Partizipation, Schutz und Förderung. Das kostet Geld, das ist anstrengend. Aber vielleicht war ich damals auch meiner Zeit voraus, ist ja auch schon einige Jahre her, dass ich dies gemacht habe. Aber die Kölner Kollegin macht das jetzt weiter.
Norbert Reichel: Das Framing des Begriffs „kinderfreundlich“ ist vielleicht wirklich ein wenig missverständlich.
Anne Lütkes: Es kommt aus der deutschen Übersetzung von „childfriendly“. Wir sind ja Teil davon und wollen auch das internationale Label haben. Es ist für die Kommunen hoch interessant, dass sie nicht nur bei uns, sondern international in den Austausch eingebunden sind. Der weltweite Gipfel in Köln vor zwei Jahren war eine sehr positive Erfahrung, auch im Sinne der gastgebenden Kölner Oberbürgermeisterin. Kinderfreundlichkeit ist ja unbestimmt. Wir definieren ihn über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und machen ihn damit greifbar.
Norbert Reichel: Im Jahr 2018 wurde die KMK-Empfehlung zur Menschenrechtsbildung – auf Initiative und unter Mitwirkung des Deutschen Instituts für Menschenrechte – überarbeitet und beschlossen. Ich war damals Vorsitzender der KMK-Arbeitsgruppe, die gleichzeitig die KMK-Empfehlung zur Demokratiebildung aktualisierte. Haben Sie als Kinderhilfswerk oder als Verein Kinderfreundliche Kommunen Kontakt mit den Schulminister*innen, auch mit dem Ziel von Änderungen der Schulgesetzgebung?
Anne Lütkes: Als Verein Kinderfreundliche Kommunen können wir dies nicht leisten. Wir haben die Form des Vereins gewählt, um die Nähe zum Deutschen Kinderhilfswerk und zu UNICEF deutlich zu machen. Es ist aber auch etwas ganz Besonderes. Normalerweise ist UNICEF nicht im operativen Geschäft tätig. Durch die Verbindung mit dem Deutschen Kinderhilfswerk haben wir die Möglichkeit. Die weitere Lobbyarbeit oder sagen wir lieber diese anwaltliche Tätigkeit für die Kinderrechte auf Landes- und Bundesebene ist Sache von Kinderhilfswerk und UNICEF. Beide sind auch im schulischen Bereich sehr aktiv. In Hessen wurden die Kinderrechte bei der letzten Wahl mit Volksabstimmung in die Verfassung aufgenommen. An der Formulierung haben wir mitgearbeitet. Die Fragestellung ist auf jeden Fall richtig. Die Kinderrechte müssen auf der Landesebene gesetzlich verankert werden, nicht nur als Anspruch, sondern als Norm. Das ist ein wichtiges Thema.
Plädoyer für eine Kindergrundsicherung
Norbert Reichel: Ein wichtiges Thema, das meines Erachtens immer eine Art Schattendasein fristet, ist die Kinderarmut. Es gibt inzwischen Hunderte von Studien, es ist Thema der regelmäßigen Pressekonferenzen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, aber ich habe oft den Eindruck, es ist ein Thema am Rande. Aber vielleicht ist mein Eindruck auch falsch.
Anne Lütkes: Für die Kinderfreundlichen Kommunen kann ich das so nicht bestätigen, aber gesellschaftlich gesehen ist es ein großes und auch ein beschämendes Problem. Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung ihr Vorhaben zur Einführung einer Kindergrundsicherung umsetzt. Das wäre die entscheidende gesetzliche Veränderung, die eine andere Basis für die Kinder schaffen würde. Lisa Paus, die neue Ministerin, ist ja vom Fach und insofern ist das vielleicht eine Fügung des Schicksals. Für uns ist das ein großes Thema.
Wir sind aber bei den Kinderfreundlichen Kommunen weniger theoretisch unterwegs. Wir unterstützen die Kommunen im operativen Geschäft. Wir haben uns in den letzten Jahren mit Unterstützung des Bundesministeriums mit der Umsetzung der Kinderrechte im allgemeinen Verwaltungshandeln mit entsprechenden Fortbildungen beschäftigt, auch im Haushalt. Demnächst denken wir darüber nach, auch Rechtsämter zu schulen. Die Frage ist die, ob Kinderrechte tatsächlich beachtet werden oder ob sie einfach so mitlaufen. Ist die Kenntnis da, dass ich diesen Abwägungsprozess führen muss? Die Frage, wie ich das Mittagessen in der Schule gestalte, ist nicht nur die Frage, wie viele Äpfel ich kaufe, sondern dass ich mich frage, was wollen die Kinder essen, wie beteilige ich die Kinder an der Ausgestaltung des Speiseplans, der Orte, an denen sie essen? Wie viele Kinder kommen ohne Frühstück in die Schule? Ein gewaltiges Thema. Als Sie im Schulministerium und ich ein paar Häuser weiter unterwegs waren, gab es eigene Programme.
Norbert Reichel: Auch heute noch, aber die Antragstellung ist leider mit dem Bildungs- und Teilhabepaket sehr kompliziert geworden. Vereinfachungen gab es mit der Zeit, aber sie lösten das Grundproblem leider nicht.
Anne Lütkes: Bei Kinderrechten ist es sehr klar, dass sie vom Abstrakten ins Konkrete heruntergebrochen werden können. Der rote Faden von der Kinderrechtskonvention bis zum Mittagessen in der Schule ist ein sehr klarer. Deshalb haben wir den Ansatz, dass Menschen in den Verwaltungen wissen müssen, dass Artikel 3 im Alltag zu anderen Perspektiven und Entscheidungen führen muss. Das bedeutet bei der Kinderarmut im Sozialamt, dass ich bedenke, was ein Kind braucht und die Sparbrille ausziehe, wenn es darum geht, dass ein Kind mal eine neue Hose bewilligt bekommt, um es mal etwas polemisch zu sagen.
Norbert Reichel: Ich finde das gar nicht polemisch. Das sind die entscheidenden Punkte. Was heißt das denn eigentlich, wenn man alles, was man braucht, einzeln beantragen muss? Das Bildungs- und Teilhabepaket war im Grunde eine Katastrophe. Wenn Mittel nicht abgerufen wurden, lag das nicht an fehlenden Bedarfen, sondern an dem fehlenden Zugang. Antragsformulare waren oft genug völlig unverständlich, die Antragsbehörden überlastet und wenig mit den Lebensverhältnissen der Kinder vertraut.
Anne Lütkes: Das hat ja noch nichts mit Partizipation zu tun, aber das ist mitzudenken, da gibt es noch viel zu tun. Deshalb haben wir diese Schulungen. Wir können beim Thema Kinderarmut den Kommunen helfen, aber es steht in der Regelungsverantwortung des Bundes und der Länder. Wir haben bei Corona, auch bei der Integration von Geflüchteten, einen Bürgermeisterdialog.
Norbert Reichel: Der fand zuletzt wegen der Pandemie leider nur digital statt. Eine Präsenzveranstaltung war leider nicht möglich, aber diese eine Stunde, die sie hatten, war sehr effektiv.
Anne Lütkes: In dieser einen Stunde kamen von den Bürgermeister*innen genau die Anforderungen zu Kinderarmut, zur Gesundheit, die Kinder brauchen. Die Bürgermeister*innen haben nicht nur unterschrieben, sie leben die Umsetzung der Kinderrechte in ihren Kommunen. Das Ergebnis war, dass die Träger besser befähigt werden müssen, für Kinder sorgen zu können. Das ist eine Aufgabe für die Lobbyarbeit gegenüber den Landesregierungen. Beispielweise: Antragstellung für den Computer im Homeschooling. Wie soll das ein Kind schaffen, wenn es kein Deutsch kann? Und die Eltern können es auch nicht. Diese Bürgermeister*innen – ich sage nicht, dass andere das nicht tun – sehen sehr gut, worauf es ankommt. Das hat mit der Farbenlehre gar nichts zu tun. Das geht quer durch die Parteien. Es kommt aus der operativen Welt heraus die Formulierung des politisch Gebotenen. Das war eindrucksvoll.
Kinder- und menschenfreundliche Verwaltung ist möglich
Norbert Reichel: Was sollten wir zum Abschluss des Gesprächs festhalten?
Anne Lütkes: Für mich ist die Botschaft, der Name „kinderfreundlich“ bedeutet nicht, das ist nice to have. Es geht darum, den Rechtsanspruch des Kindes auf kindgerechtes Aufwachsen, auf Beteiligung, auf Schutz und Förderung nicht nur zu akzeptieren, sondern alltäglich zu leben. Das ist der Impetus des gesamten Vorhabens „Kinderfreundliche Kommunen“: Man darf es nicht als etwas verstehen, dass in der Zuständigkeit der Jugendämter allein gut aufgehoben wäre. Es ist auch kein basisdemokratischer Ansatz, es ist etwas, das Verwaltung top down lernen und akzeptieren muss. Wir haben es nun einmal mit preußischen Verwaltungen zu tun. Ich habe das als Behördenleiterin und als Ministerin gelernt. Man muss sagen, was die Anforderung sind und diese dann transparent in Liebe zu den Kinderrechten umsetzen.
Norbert Reichel: Dann finden Beamt*innen auch die Spielräume, die sie brauchen, um etwas umsetzen zu können. Bürokratie-Bashing halte ich für wenig hilfreich. Ich halte diese Angst vor Mitnahmeeffekten im Sozialbereich auch für geradezu paranoid. Wegen einigen wenigen Missbrauchsfällen wird das gesamte Verfahren so verkompliziert, dass Kinder, vor allem arme Kinder, kaum eine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen. Das gilt natürlich genauso für Erwachsene. Wir brauchen dringend eine Grundsicherung, für alle.
Anne Lütkes: Ich komme aus dem freien Anwaltsleben, das ist ein anderes Leben, aber ich habe in meiner Behördenzeit Bürokratie nicht nur schätzen, sondern wirklich achten gelernt. Es ist auch diskriminierend zu sagen, es wäre etwas nur top down. Wir haben das „Handbuch Kinderfreundliche Kommune – Kinderrechte kommunal verwirklichen“ herausgegeben. Dazu gab es eine sehr lange Besprechung im Internet, in der der Autor kritisierte, dass wir diesen Top-Down-Ansatz hätten. Aber es geht um Verwaltung!
Norbert Reichel: Wir brauchen beides, top down und bottom up! Eine Verwaltung hat Regeln und es ist die Aufgabe der Parlamente, die Regeln so zu formulieren, dass sie Beteiligung ermöglichen, niemanden schikanieren und alle gleichermaßen und einfachen Zugang zu ihrem Recht haben.
Anne Lütkes: So machen wir das. Denn wenn Sie den Ansatz der Kinderfreundlichen Kommunen richtig leben, wird es immer eine breite Beteiligung geben. Das ist doch eigentlich klar.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juni 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 6. Juni 2022)