Demokratie ist kein Luxusgut
Ein Gespräch mit der Beteiligungspädagogin Marina Weisband
„Ausschließlichkeitsansprüche nur einer Religion können deshalb nur unwahr sein. Der Ausschließlichkeitsanspruch irgendeiner Religion ist für Mendelssohn sogar ein Kriterium ihrer Unwahrheit. Er ist Fanatismus. Dieser Fanatismus der Ausschließlichkeit, dieser Heilsabsolutismus darf und soll öffentlich kritisiert werden.“ (Christoph Schulte, Die Ringparabel und Mendelssohns Kritik am Christentum, in: Christoph Schulte, Von Moses bis Moses … Der jüdische Mendelssohn – Studien, Hannover, Wehrhahn Verlag, 2020)
Christoph Schulte – oder sollte ich sagen Moses Mendelssohn – hätten diese Sätze auch auf jede beliebige Gesellschaftsform beziehen können. Sie formulieren im Grunde den Kern von Demokratie, die immer nur durch Dialog, immer nur durch Beteiligung lebendig bleiben wird. Viele Gedanken des Gesprächs, das ich am 5. April 2022 mit Marina Weisband führen durfte, erinnerten mich an diese Sätze, die vielleicht gerade heute im Zeitalter von Neo-Autoritarismus und oft kaum noch auflösbaren Polarisierungen, wie wir sie nicht erst seit dem Überfall der Putin’schen Truppen auf die Ukraine erleben, höchst aktuell wirken. Demokratie ist kein Luxusgut, sie ist unsere Zukunft, wir müssen sie pflegen und einfordern, wo auch immer, das ist vielleicht ein Fazit unseres Gesprächs.
Marina Weisband wurde am 4. Oktober 1987 in Kiew geboren und kam im Jahr 1993 nach Deutschland. Seit 2013 ist sie verheiratet und hat eine fünfjährige Tochter. Auf ihrer Internetseite beschreibt sie sich als Beteiligungspädagogin, Diplompsychologin und Autorin. Sie ist Co-Vorsitzende von D64 e.V, Expertin für digitale Partizipation und Bildung und leitet bei politik-digital e.V. das Demokratieprojekt „aula“. Sie betreibt eine regelmäßige Kolumne beim Deutschlandfunk und hat mehrere Bücher veröffentlicht, die in der Dokumentation unseres Gesprächs genannt werden. Auf ihrer Internetseite zeigt sie auch eine Auswahl ihrer Gedichte und Zeichnungen. Sie war von Mai 2011 bis April 2012 Mitglied des Bundesvorstands der Piratenpartei Deutschland. Heute ist sie Mitglied der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.
Der Abschied aus der Ukraine – die Ankunft in Deutschland
Norbert Reichel: Sie sind als kleines Kind mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie den Abschied aus der Ukraine und die Ankunft in Deutschland erlebt?
Marina Weisband: Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter beschloss, meinem Vater nach Deutschland zu folgen. Mein Großvater war mit seiner gesamten Sippe von einem Tag auf den anderen nach Deutschland gegangen, weil es damals Gerüchte über anstehende Pogrome in Kiew gab. Die haben sich nicht bewahrheitet. Mein Großvater ist Jahrgang 1906 und hat sich immer große Sorgen gemacht. Er hatte zunächst alle als Vaterlandsverräter bezeichnet, die die Ukraine verlassen hatten. Dann ist er von einem auf den anderen Tag gegangen. Meine Mutter wollte dableiben, aber ich war sehr schwer krank. Ich war für die Ärzte in der Ukraine austherapiert. Sie sagten, vielleicht versuchen Sie es im Westen. Deshalb ist meine Mutter gegangen. Ich weiß noch, dass ich vorher wusste, dass wir nach Deutschland gehen. Ich habe angefangen, schon ein bisschen Deutsch zu lernen. Ich konnte Vater, Mutter, Oma, Opa, Schwester, Bruder.
Ich fand, die größte Ungerechtigkeit war, dass ich mein Klavier zurücklassen musste und meinen Kater. Das war sehr schlimm. Ich habe sehr großzügig meine Spielsachen meinen Freundinnen und Freunden vererbt. Ich habe gesagt, da wo ich hingehe, gibt es viel mehr davon. Ich habe natürlich nicht verstanden, was es bedeutet. Es war ein Abenteuer. Flugzeug, Notwohnung, erste provisorische Unterkunft, in der wir nur ein Zimmer hatten zu viert, dann noch mehr Umzüge. Für meine Mutter ist das sehr schwer gewesen. Sie hat sich nachts an uns gehalten. Mein Geschwisterkind war zwei, ich war sechs, sie hat sich an uns festgehalten und geweint. Wir haben nicht geweint.
Wenn ich jetzt die Berichte sehe, dass die ukrainischen Kinder kommen und nicht weinen, kann ich mich sehr gut daran erinnern. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, was es heißt, nicht weinen zu dürfen, weil man gebraucht wird, von den eigenen Eltern, die alles verloren haben, auch die Sprache. In einer Fremdsprache verliert man 80 Prozent seiner Persönlichkeit. Ich weiß aber auch, dass wir in Deutschland willkommen geheißen wurden. Wir haben Sozialhilfe bekommen, meine Mutter durfte gleich Sprachkurse belegen. Die Mädchen in der Straße, in der wir gewohnt haben, haben mir Deutsch beigebracht. Ein Gefühl der Dankbarkeit ist bei mir geblieben und hat sich verwandelt in mein Engagement für dieses Land.
Norbert Reichel: Spielte die Jüdische Gemeinde am Ankunftsort bereits eine Rolle?
Marina Weisband: Die Jüdische Gemeinde spielte eine Rolle, aber eher als Russischer Kulturclub. Wir waren da, aber mir war nicht klar, dass das eine Jüdische Gemeinde war. Wir waren da, um Theaterstücke auf Russisch zu schauen, wir waren da, um irgendwelche Hilfen zu bekommen, wir waren da für irgendwelche russischen Cafés. Ich nahm nicht wahr, dass das eine Jüdische Gemeinde war, auch nicht, dass ich Jüdin war. Das kam erst später.
Norbert Reichel: Das Judentum wurde in Kiew nicht gepflegt?
Marina Weisband: In meiner Familie wurde es nicht gepflegt. Wie die meisten Kiewer Juden war meine Familie atheistisch. Ich bin diejenige, die dann zurück zum Judentum gekommen ist, erst später, mit 17.
Norbert Reichel: Und die Eltern, sind sie wieder zur Religion zurückgekommen?
Marina Weisband: Nein. Mein Vater auf eine verquere Weise vielleicht. Er wurde jetzt in Dortmund auf dem jüdischen Friedhof bestattet. Auf meinen Wunsch. Es hat – glaube ich – zum ersten Mal eine Jüdische Gemeinde für ihn gebetet. Meine Mutter interessiert sich, sie macht das mit. Ich mache ja jetzt Schabbat-Rituale bei mir zu Hause, meine Tochter wächst damit auf. Meine Mutter macht mit, sie findet das wunderschön. Sie hat sich sehr gefreut, sie hat das sehr bedauert, dass sie uns das nicht mitgegeben hat.
Norbert Reichel: Ich habe ihr Buch gelesen, dass Sie mit Eliyah Havemann gemacht haben: „Frag mich doch!“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2022). Dazu gibt es auch Beiträge von Ihnen beiden auf youtube. Es hat mir sehr gefallen. Ich zitiere in zwei Essays daraus, die ich im April 2022 veröffentlicht habe.
Marina Weisband (lächelt): Oh, sehr schön!
Ein Puzzle der eigenen Identität
Norbert Reichel: Es sind ein Essay über das Buch „Goynormativität“, das im Verbrecher Verlag erschienen ist, und ein Essay über neuere Forschungen zum Antisemitismus. Jetzt habe ich auf Ihrer Internetseite – und dazu sagen Sie ja auch einiges in dem Buch – gelesen, dass Sie sich als „sowjetisch-russischsprachig-ukrainisch-jüdisch“ bezeichnen, immer mit Bindestrichen dazwischen. Vielleicht könnte man „deutsch“ hinzufügen, vielleicht noch einiges mehr? Eine Vielfalt von Identitäten?
Marina Weisband: Ich glaube, Jüdisch in Deutschland zu sein bedeutet immer, dass man vor einem Scherbenhaufen von Identität und Tradition steht und versucht, sich daraus so etwas Eigenes zusammenzukleistern. Denn als ich nach Deutschland kam, war vieles, von dem, dass ich dachte, es wäre gut, falsch, und vieles von dem, was ich dachte, es wäre falsch, war richtig und gut. Ich sollte in der Schule laut sein, mich durchsetzen und rennen. Zu Hause wurde ich für so etwas bestraft. Ich glaube, Migration und speziell jüdische Identität sind beides Dinge, die einen dazu zwingen, ein Puzzle mit seiner eigenen Identität aufzubauen. Ich habe sehr darunter gelitten, lange Zeit, dass es keine fertige Nische für mich gab. Aber inzwischen mag ich es. Ich bin eine Brücke zwischen verschiedenen Welten, zwischen verschiedenen Lebenserfahrungen. Ich unterhalte mich mit hochrangigen Politiker*innen. Ich habe auf Sozialhilfe gelebt, ich bin ukrainisch, ich bin aber auch eigentlich sowjetisch, ich bin aber auch eigentlich deutsch. Ich übersetze. Das ist meine Aufgabe in der Welt.
Norbert Reichel: Vielleicht ist das dann sogar ein Vorteil, dass man so viele Identitäten hat, die sich dann doch zusammenfügen?
Marina Weisband: Es wäre gelogen zu sagen, es wäre leicht gewesen, hierhin zu kommen.
Norbert Reichel: Was ist denn das Sowjetische?
Marina Weisband: Ich habe ja im Grunde meine ganze Jugend in einer sowjetischen Enklave in Wuppertal verbracht. Meine Mutter hat die Ukraine ja nur am Rande erlebt, die Ukraine-Ukraine. Sie ist in der Sowjetunion groß geworden, und das sind die Vorstellungen, die sie mitgebracht hat. Die Ukraine hat sich weiterentwickelt, aber unsere Wohnung nicht. Wir lebten in so einer Art Zeitkapsel. Die Bücher, die wir mitgebracht hatten, stammten alle aus der Sowjetunion.
Norbert Reichel: Darf ich fragen, welche Bücher?
Marina Weisband: Literatur. Ich bin viel mit klassischer Literatur aufgewachsen. Hauptsächlich Belletristik. Das, woran man sich festhält. Wenn man seine Bibliothek zu Hause aufgibt, ist es das, woran man sich festhält. Für meine Mutter. Unsere Freunde stammten aus der Sowjetunion. Der Freund meiner Mutter stammte aus Riga, auch aus der Sowjetunion. Die kannten ihre Länder im postsowjetischen Zustand gar nicht. Ich bin ja auch russischsprachig. Ich spreche mit meiner Tochter russisch. Das ist das Sowjetische an mir. Ich werde das nicht los. Ich bin ja nicht in der Ukraine aufgewachsen. Ich bin nicht in einer ukrainischen Familie aufgewachsen.
Norbert Reichel: Für viele Deutsche ist es schwer unterscheidbar, ob jemand Russisch oder Ukrainisch spricht. Viele wissen wahrscheinlich erst seit Kurzem, dass das zwei Sprachen sind. Sie beherrschen beide Sprachen?
Marina Weisband: Ja, ich muss aber sagen, dass mein Russisch viel besser ist. Ich musste Ukrainisch erst lernen. Mein Ukrainisch ist schlecht, sehr schlecht, ich verstehe es, aber wenn mich jemand auf Ukrainisch anspricht, antworte ich auf Russisch. Ich habe auch im Ukrainischen einen sehr starken russischen Akzent.
Norbert Reichel: Vielleicht sagen Sie einmal einen Satz auf Ukrainisch mit russischem Akzent?
Marina Weisband: Dobrideny, mene zwut Marina (= Guten Tag, ich heiße Marina).
Norbert Reichel: Ich finde, es klingt schön, auch wenn ich die Akzente so nicht unterscheiden kann. Eigentlich schade, dass ich weder Russisch noch Ukrainisch gelernt habe. Die verschiedenen Identitäten, von denen Sie sprechen, haben auch immer etwas mit dem Heimatbegriff zu tun. Das war auch ein Thema in anderen Interviews, die ich mit Frauen gemacht habe, die aus der Ukraine beziehungsweise der Sowjetunion in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Das Gespräch mit Olga Rosow erhielt die Überschrift „Nach Hause kommen“. Das war das Gefühl, dass sie erlebte, als sie in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf ankam und dort arbeitete, inzwischen als Leiterin der Sozialabteilung. Und dieses Gefühl verfestigte sich. Heimaten im Plural – auf diesen Begriff lässt sich das Gefühl vielleicht auch bringen.
Marina Weisband: Ja, das geht mir auch so. Ich habe das übrigens lustigerweise in der Gemeinde auch so gefühlt, mit Menschen, die aus Paraguay kamen, aus Mexiko. Sie hatten alle den gleichen Humor wie ich, sie hatten ähnliche Erfahrungen wie ich. Es war etwas Heimisches dabei.
Der gepackte Rucksack
Norbert Reichel: Das Heimische ist nach meiner Erfahrung die eine Seite, die andere, das sind die Koffer, die ausgepackt oder auch ständig gepackt sind. Sie erwähnten eben, dass Ihr Großvater 1906 geboren ist, eine Zeit, in der es Pogrome im russischen Reich gab. Spielt das Bild der gepackten Koffer auch in Ihrem Leben eine Rolle.
Marina Weisband: Immer. Mein Großvater lebte immer mit gepackten Koffern. Er schlief auch immer mit einer Pistole unter dem Kopfkissen. Er war ja General in der Roten Armee. Er tat das nicht aus Angst vor den Deutschen. Ich glaube, ich habe das auf so einer epigenetischen Ebene geerbt, meine ganze Familie, meine Großmutter mütterlicherseits sollte deportiert werden, hat sich durch ihre Geschichten gerettet. Ich weiß, dass sich das Leben von einem auf den anderen Moment radikal ändern kann. Das ist eine Grundeinstellung, die man im Leben hat oder nicht. Ich habe einen Notfallrucksack, für mich, meine Tochter und meinen Mann. Der ist immer gepackt.
Norbert Reichel: Was ist da drin, in diesem Notfallrucksack?
Marina Weisband: Was zu essen, notwendige Kleidung für drei Tage, eine Rettungsdecke, ein Radio. Alles, wenn du weißt, du musst unbedingt abhauen, aber du weißt noch nicht wohin. Das ist einfach etwas, das mich beruhigt, es zu haben.
Norbert Reichel: Bei den Interviews mit Jüdinnen und Juden, beispielsweise auch in meinem Interview mit Daniel Botmann vom Januar 2022, stelle ich immer fest, dass zwei Gefühle gegeneinanderstanden: einmal der Optimismus, dass Jüdisches Leben durch das Festjahr „2021 – 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ sichtbarer wird, andererseits die Erfahrung, dass der Antisemitismus in den vergangenen zehn Jahren schlimmer geworden ist.
Marina Weisband: Es ist schlimmer geworden. Im Sommer 2020 gab es einen Sprung, den ich beinahe gefühlt habe. Ich habe mit einigen Freunden gesprochen, die es auch gemerkt haben. Es war Corona, und wir sehen Antisemitismus immer dann wieder aufflammen, wenn die Welt sich verändert, wenn Menschen weniger Kontrolle darüber spüren und wenn die Schere zwischen Arm und Reich sehr sichtbar ist. Das steht uns allen noch viel stärker bevor.
Norbert Reichel: Was prognostizieren Sie?
Marina Weisband: Es ist Krieg. Und so wie es aussieht, könnte der Krieg in Europa noch eine Weile dauern. Und das wird sich auf den Lebensstandard auswirken. Gleichzeitig profitieren einige wenige immer stärker davon. Dann kommt der Klimawandel. Die Welt wandelt sich radikal. Und wenn Menschen denken, dass sie keine Kontrolle über ihr Leben haben, denken Sie, irgendjemand muss ja die Kontrolle haben. Und dann haben wir die sehr alte, tradierte Geschichte, wer die Kontrolle eigentlich hat.
„Autocracy Incorporated“
Norbert Reichel: Wir haben eine Tendenz, dass Einzelne viel Macht haben, auch – in der Sprache der neuen Netzwerke würde das „Follower“ heißen – viele Anhänger*innen, die kritiklos folgen. Ich fand die Wahl Viktor Orbáns am 3. April 2022, auch in ihrer Deutlichkeit, erschreckend. Von Putin will ich gar nicht reden. Aber wenn ich Umfragen lese, dass ein Donald Trump wieder Präsident werden könnte, … Es wird autoritärer.
Marina Weisband: Autoritärer. Autoritäre Systeme stellen wir uns eigentlich so vor. Es gibt einen Menschen an der Spitze, der hat einen Polizeistaat unter sich, die unterdrücken die Bevölkerung. Das ist eine falsche Vorstellung. Autoritäre Regime sind heute ein internationales Netzwerk. Anne Applebaum spricht von „Autocracy Incorporated“.
Norbert Reichel: Anne Applebaum formulierte auch die Diagnose: „The Bad Guys Are Winning“. Im Mai 2022 erscheint in „The Atlantic“ der Essay „There Is No Liberal World Order”. Düstere Prognosen. Sind wir vorbereitet?
Marina Weisband: Wir – mit „Wir“ meine ich demokratische Gesellschaft – wir haben das nicht auf dem Schirm, wir haben keinerlei Methoden gefunden, uns dagegen zu schützen, wir haben keinerlei Mittel dagegen, dass sich autoritäre Staaten gegenseitig befördern, stützen, durch Desinformationskampagnen, Cyber-Kampagnen, sich gegenseitig vor Sanktionen schützen, indem sie miteinander Handel treiben. Solange sich autoritäre Staaten gegenseitig unterstützen und die demokratischen Staaten einander nicht unterstützen oder nur bedingt oder überlegen, sollen wir uns unterstützen, denn es könnte drei Prozent unseres BIP kosten, …
Norbert Reichel: … und der Benzinpreis steigt, der Kaffeepreis steigt und beim Aldi wird es auch teurer…
Marina Weisband: … solange werden wir diesen Kampf nicht gewinnen. Und darin sehe ich ein sehr ernstes Problem für die Zukunft, denn die Probleme des Klimawandels kann eine autoritäre Gesellschaft nicht lösen.
Norbert Reichel: Es gibt auch Theorien, die besagen, dass autoritäre Staaten es leichter hätten. Adam Tooze hat dies in seinem Buch „Welt im Lockdown“ für das Jahr 2020 analysiert und festgestellt, dass China effektiver und effizienter gegen die Pandemie vorgegangen sei als die demokratischen Staaten, die zu lange abgewartet hätten (die deutsche Ausgabe erschien 2021 bei C.H. Beck in München). Ob er diese These heute, angesichts des Lockdowns in Shanghai, aufrechterhalten würde, wage ich zu bezweifeln.
Marina Weisband: Autoritäre Staaten sind sehr effizient, wenn man es sich tageweise anschaut. Kurzfristig sind autoritäre Staaten immer effizienter. Die Frage ist nur, worin sind sie effizient? Und wie nachhaltig sind sie?
Norbert Reichel: Russland würde ich nun gar nicht als effizienten Staat betrachten.
Marina Weisband: Wenn Putin wirklich etwas wollte, könnte er das durchsetzen. Ja, aber Russland ist kein effizienter Staat. Es ist auch gar nicht die Frage, wie effizient ein Staat ist. Es ist die Frage, wofür er effizient ist. Putin war sehr effizient, denn er wollte ja sein Militär kaputt machen, er wollte, dass sein Geheimdienst nicht bedroht ist durch militärische Konkurrenz. Darum ist das Militär kaputt. Es ist alles eine Frage der Zielsetzung.
Norbert Reichel: So ähnlich argumentiert Catherine Belton in „Putin’s People“. Das Buch erschien 2020. Aber was im Titel wie ein Roman von John le Carré klingt, ist bittere Realität. Putin scheint es hinzubekommen, dass ihm wenig entgegengesetzt wird, indem er die Medien kontrolliert. Das machen andere autoritäre Staaten ja auch, beispielsweise Ungarn oder die Türkei. Da sind wir in Deutschland doch noch gut dran, oder?
Marina Weisband: Es sind nicht nur die Medien. Elf Millionen Russ*innen haben ukrainische Verwandte, Brüder, Schwestern, Eltern, Kinder, die ihnen am Telefon erzählen, was passiert, und sie glauben es nicht. Da ist die Propagandamaschine, die seit acht Jahren läuft, die Ukrainer*innen entmenschlicht. Und es fällt auch auf fruchtbaren Boden. Die Menschen wollen es nicht glauben, sie wollen nicht glauben, dass Russland Kriegsverbrechen begeht. Sie wollen glauben, dass der große Putin gegen eine fremde Macht kämpft, dass er sein Volk beschützt, weil sie nur daraus eine eigene Würde ziehen. Es ist in Russland nicht verbreitet, individuelle Würde zu haben, zu feiern oder zu schätzen oder staatlich zugestanden zu bekommen. Aber aus irgendetwas will der Mensch immer seine Würde ziehen. Und wenn man es nicht selbst ist, dann ist es Gott, dann ist es das Imperium oder unser großer Präsident. Es ist dem Menschen ein echtes Anliegen. Und genauso ist es, dass die wenigsten Antisemiten denken oder einfach nicht wissen, dass Juden keine schlimmen Menschen sind – es fehlt ihnen nicht die Information, dass Juden keine schlimmen Menschen sind, es ist ihnen ein Anliegen, einen Feind zu haben. Da helfen keine aufklärerischen Kampagnen, da helfen keine Kennenlerntreffen, nur bedingt Besuche in Schulen – das hilft alles nur ein Stück weit, das bricht nicht den emotionalen Wunsch, ein Feindbild zu haben.
Norbert Reichel: Ich habe das mal „Die Rückkehr des Carl Schmitt“ genannt. Mein Eindruck ist, dass die Definition von Politik über Feindbilder in den vergangenen Jahren immer populärer geworden ist.
Marina Weisband: Es ist eine Frage des Kontrollverlustes. Wenn die Bevölkerung die Kontrolle verliert und darüber frustriert ist, braucht sie Feindbilder. Mein Einsatz ist, dem nicht mit Feindbildern zu begegnen. Mein Einsatz ist, dem mit Kontrolle zu begegnen. Menschen müssen Kontrolle über sich und ihr Leben haben, durch gegenseitige Unterstützung zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit kommen, müssen durch soziale Beziehungen ihre eigene Unentbehrlichkeit spüren. Das wäre die gesunde Art, damit umzugehen.
Der Typus des neuen Politikers
Norbert Reichel: Könnte es auch daran liegen, dass manche Politiker*innen den Eindruck erwecken, sie hätten alles unter Kontrolle, haben es aber nicht? Ich nenne mal ein konkretes Beispiel für jemanden, der anders damit umgeht. Das ist Robert Habeck, der offen zugibt, dass er manches nicht weiß, dass manches unwägbar ist. Ich habe aber auch den Eindruck, dass er vielleicht der einzige ist. Und wenn dann ein Christian Lindner kommt und sagt, wir werden alle ärmer, frage ich immer, wen er meint? Ob er von den wirklichen Problemen von Menschen, die schon arm ist, eine Ahnung hat? Oder will er einfach alle Bürger*innen darauf einstellen, dass sie glauben, dass eben die Russen schuld sind, wenn alles teurer wird und diejenigen, die arm sind, noch ärmer sind und auf Dauer arm bleiben?
Marina Weisband: Robert Habeck betreibt die Kommunikation des neuen Politikers. Es ist eine Kommunikation, die sich durchsetzt, oder die Demokratie wird fallen. Robert Habeck kommuniziert mit uns wie mit Erwachsenen. Das brauchen Menschen, um sich selbstwirksam zu fühlen. Das gilt nicht nur im Kleinen, wo ich kommuniziere, die ich sage: leistet gegenseitig Unterstützung, setzt euch in der Kommune ein, gestaltet die Plätze, in der Nachbarschaft, gebt Älteren und Jüngeren die Gelegenheit mitzusprechen, mitzugestalten, gebraucht zu werden. Aber im Großen müssen Repräsentant*innen so kommunizieren wie Robert Habeck das tut: He, das sind die Fakten, die ich habe, das sind die Schlüsse, die ich daraus ziehe, das und das sind die Ziele, die ich mir setze, und das sind die Handlungen, die ich vorhabe.
Norbert Reichel: Den Kommunikationsstil, den wir beide kritisieren, möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Das war während der BSE-Debatte vor über 20 Jahren. Die BILD-Zeitung hatte eine Schlagzeile: „Kanzler, was dürfen wir noch essen?“ Die Bevölkerung als kleines Kind und der Kanzler als der Papa, der alles regelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Angela Merkel den Spitznamen „Mutti“ erhielt. So enstehen dann die merkwürdigen Debatten um „Benzinpreisbremse“ – den Begriff benutzte als erster Christian Lindner, der eine „Mietpreisbremse“ kategorisch ablehnte – und „Osterpaket“ zustande. Vielleicht wäre es besser, dass die Leute darüber nachdenken, ob sie so viel und so schnell Autofahren müssen oder ob sie so viel Fleisch essen müssen.
Marina Weisband: Einerseits anderseits. Ich mag kein autoritäres Denken. Es geht nicht, dass die Mülltonne im Hinterhof kaputt ist und man ruft den Präsidenten an. Das ist ein Sprichwort aus der Ukraine. Auf der anderen Seite sehe ich, wie jetzt mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“ um sich geschmissen wird. „Eigenverantwortung“ wird von der Politik immer dann bemüht, wenn es darum geht, die Schwachen zu schützen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Vorerkrankte gegen Corona zu schützen. Wir können aber nicht eigenverantwortlich entscheiden, ob wir Steuern zahlen, ob wir Monsanto enteignen.
Norbert Reichel: Ich denke an den Volksentscheid in Berlin, der zurzeit von der dortigen Regierenden Bürgermeisterin mehr oder weniger abmoderiert wird: „Deutsche Wohnen enteignen“.
Marina Weisband: Jaa, die Stärksten werden vom Staat geschützt. Wenn Menschen eigenverantwortlich entscheiden können, ob sie bei einer Corona-Infektion zur Arbeit geben, werden viele von ihren Arbeitgebern gezwungen werden können, zur Arbeit zu gehen. Es sei denn, der Staat mache Gesetze dagegen. Das heißt, „Eigenverantwortung“ ist nur ein Code, dass der Staat nur die Starken schützt.
Norbert Reichel: Und sich aus der Verantwortung stiehlt.
Marina Weisband: Und sich aus der Verantwortung stiehlt. Der Staat würde niemals auf Eigenverantwortung setzen, wenn es darum geht, Reichtum oder Patente zu schützen.
Norbert Reichel: Wer über Hedgefonds viel Geld verdient, ist dann der Leistungsträger, wer Kranke pflegt, Kinder und Alte betreut, offenbar nicht. Wer dies tat, wurde im Frühjahr 2020 mal beklatscht, aus sicherer Distanz. Die versprochene dauerhafte bessere Bezahlung gibt es nach wie vor nicht. Es blieb bei wenigen Boni, die aber auch andere bekamen, zum Beispiel in der Verwaltung. Das System steht auf dem Kopf.
Marina Weisband: Das System steht völlig auf dem Kopf. Der meiste Schutz kommt denjenigen zugute, die sowieso das leichteste Leben haben. Den wenigsten Schutz haben die, die ihn am meisten brauchen. Das ist kein Zufall. Eigentlich klingt Eigenverantwortung für jemanden wie mich gut. Ich bin Beteiligungspädagogin. Meine Utopie ist ein Anarchismus. Ich sage nicht, dass wir da sind, aber wenn die Menschen sehr weit entwickelt sind, ganz viel können und ganz viel wissen, dann kommen wir vielleicht da hin.
Norbert Reichel: Anarchismus müssen Sie definieren.
Marina Weisband: Eine klassenlose staatenlose Gesellschaft. Das ist eine Utopie für mich. Das braucht Fähigkeiten, Gewohnheit, das muss sich entwickeln. Aber im Prinzip ist das der Weg der Demokratie. Wenn ich immer demokratischer werde, das heißt wenn ich die Menschen immer mehr befähige, nicht nur an sich, sondern auch an andere zu denken, als Gemeinschaft zu funktionieren, sich selbst Regeln aufstellen, dann komme ich vielleicht irgendwann dahin, dass ich keinen Staat mehr brauche, der das durchsetzt, sondern die Menschen halten sich an die Verträge, weil sie sie selbst gemacht haben, weil sie selbst einsehen, wofür diese Verträge da sind.
Demokratie heißt Beteiligung
Norbert Reichel: Das hat ja viel mit Beteiligungsverfahren zu tun. Ich denke an den Bürgerhaushalt. Es fing an in Porto Alegre. Ich wohne in Bonn. Dort wurde das auch versucht. Beim ersten Mal beteiligten sich doch relativ viele Menschen, doch dann wurden es immer weniger. Ist das zu komplex?
Marina Weisband: Nein, das ist nicht zu komplex. Ich habe das selbst hier in Münster gemacht und mitbeworben, habe Flyer in der Fußgängerzone verteilt. Sie können mitbestimmen, wofür Münster Geld ausgibt. Da ginge Leute vorbei und sagten „Nä!“ Was ist los mit der Welt? Die Leute können doch mitbestimmen! Warum wollen sie nicht?
Norbert Reichel: Warum?
Marina Weisband: Der Bürgerhaushalt war nicht verbindlich, er hatte nur Vorschlagscharakter. Die Verwaltung hat sich das angesehen, sich bedankt und es in die Rundablage getan. Menschen haben sich Mühe gegeben, es war verschwendete Energie.
Norbert Reichel: Das erinnert mich an die Kinderbeteiligung in manchen Kommunen. Da dürfen die Kinder mal ein Bildchen malen, die Bilder werden im Rathaus ausgestellt, die Kinder gelobt, aber es passiert nichts.
Marina Weisband: Präzise. Diese Form von Pseudobeteiligung stärkt ja keine Selbstwirksamkeit. Selbstwirksamkeit stärke ich immer dann, wenn ich etwas tue und als Reaktion verändert sich etwas in der Welt. Das stärkt Selbstwirksamkeit. Das andere jedoch verstärkt die Ansicht, es verändert sich eh nichts. Das verstärkt erlernte Hilflosigkeit. Das stärkt Frust. Das wendet Leute von der Demokratie ab. Diese Art von Pseudo-Beteiligung ist schlimmer als gar keine Beteiligung.
Norbert Reichel: Es gibt auch immer wieder Rufe nach Volksabstimmungen. Ich bin davon gar nicht so begeistert, wenn ich daran denke, wie der Brexit zustande kam.
Marina Weisband: Ich auch nicht. Ich bin auch kein großer Fan von Volksabstimmungen. Ich glaube, Volksabstimmungen sind ein sehr stumpfes Schwert. Je nachdem, wie wir Beteiligungen organisieren, ist sie mal weniger, mal mehr intelligent im Ergebnis. Ich glaube, dass basisdemokratische Abstimmungen dort funktionieren, wo Leute in einer gemeinsamen Umgebung wohnen, es soziale Netzwerke gibt. Ich habe 2013 in dem Buch „Wir nennen es Politik“ (erschienen in Stuttgart bei Klett-Cotta) liquiddemokratische Systeme als mögliche Optionen geschildert, das parlamentarische System zu ergänzen. Liquiddemokratie ist ja eine Mischform von parlamentarischer und direkter Demokratie. Jeder hat eine Stimme, kann sie aber abgeben an jemanden, dem man vertraut und den man für fähiger hält, sie aber auch jederzeit wieder zurücknehmen. Das könnte so etwas sein. Ich glaube, dass Demokratie viel Erfahrung braucht. Die Schweiz hat 500 Jahre Vorsprung.
Norbert Reichel: Und sie ist viel kleinräumiger.
Marina Weisband: Sie ist auch föderaler. Das alles kommt einer direkten Demokratie stärker zugute. Ich glaube deshalb, dass sich Demokratie und demokratische Praxis im Kleinen entwickeln, mit der Zeit gehen und wachsen muss. Deshalb würde ich das repräsentative System in Deutschland nicht in Frage stellen, einige Mechanismen auf jeden Fall. Mehr Beteiligung muss von unten wachsen, aus dem Regionalen, aus dem Kommunalen, aus den ganz konkreten Bereichen, in denen Menschen wohnen und die Auswirkungen direkt erleben.
Norbert Reichel: Helfen vielleicht auch Kumulieren und Panaschieren bei Wahlen?
Marina Weisband: Kann auch helfen. Ich möchte aber keine pauschalen Urteile geben. Verschiedene Systeme haben auf verschiedenen Ebenen verschiedene Vorteile. Ich fände es toll, wenn wir diese Systeme besser kennen würden, wenn wir sie ausprobieren würden. Ich leite seit einigen Jahren ein Projekt an Schulen, das genau das an Schulen ermöglicht, dass Schüler*innen praktisch erleben können, was geschieht, wenn wir uns beteiligen, wie wir uns beteiligen und alles ist verbindlich. Wir lernen, ich bin nicht Opfer, nicht Konsument*in unserer Gesellschaft, ich bin Gestalter*in unserer Gesellschaft. Wenn sie in diese neue Rolle schlüpfen, passieren mega-interessante Dinge. Sie verändern ihr Schulumfeld sehr zum Positiven, teilweise bauen sie neue Identitäten auf. Teilweise kommen sie genau an dem Punkt an, wo sie vorher waren. Sie diskutieren zum Beispiel drei Monate über ein Kaugummikauverbot und beschließen dann, dass es bei diesem Verbot bleiben soll. Dann sind sie oberflächlich genau da, wo sie vor drei Monaten waren, aber in einer völlig neuen Rolle, mit einem völlig neuen Selbstverständnis. Die Regel ist dann keine Regel von denen da oben, es ist eine Regel, die sie selbst besprochen haben, deren Sinn sie alle verstehen und die sie sich selbst gegeben haben.
Die Aula – Demokratie ist lernbar
Norbert Reichel: Das Projekt, von dem Sie sprechen, ist das Projekt „aula – Schule gemeinsam gestalten“, kurz: das Aula-Projekt.
Marina Weisband: Das Aula-Projekt ist ein Konzept für weiterführende Schulen und außerschulische Organisationen, für Kinder und Jugendliche ab 10 Jahren, aber auch – wenn Sie so wollen – für Erwachsene. Das Beteiligungskonzept besteht aus drei Teilen. Es besteht aus einer Online-Plattform, auf die alle ihre Ideen einstellen können, Verbesserungsvorschläge formulieren können, diese Ideen zu Projektplänen ausarbeiten und darüber abstimmen. Es besteht zum zweiten aus didaktischen Materialien, denn man muss eine Beteiligung auch begleiten, darüber diskutieren, zuhören. Wir lernen Minderheitenschutz, Kompromissfindung, Konsensualisierung. Das dritte ist ein Vertrag. Der wird jeweils von der Organisation, der Schule erarbeitet, das ist eine freiwillige Selbstverpflichtung der Schulkonferenz, alle Ideen mitzutragen, die die Jugendlichen per Aula beschließen. Es gibt Einschränkungen: sie dürfen keine Personalentscheidungen treffen, kein Geld ausgeben. Sie dürfen aber die Hausordnung verändern, sie dürfen Veranstaltungen planen. Dieser Vertrag garantiert, dass das keine Pseudo-Beteiligung ist, sondern dass die Schüler*innen tatsächlich mehr Macht gewinnen. Aula soll dauerhaft an Schulen laufen. Es wird eingeführt, die neuen Klassen werden nachgeschult, dann ist man eine Aula-Schule, eine Schule mit signifikant höherer Schüler*innenbeteiligung.
Norbert Reichel: Wie viele Schulen beteiligen sich?
Marina Weisband: Wir arbeiten mit 25 Schulen, bundesweit. Wir sind aber auch nur zu dritt im Team. Es gibt sicherlich auch eine Dunkelziffer, denn die Materialien sind frei verfügbar. Wir wissen gar nicht, wer alles mit Aula arbeitet. Wir haben das Projekt am Anfang in vier Schulen eingeführt und es dann nach zwei Jahren evaluiert. Wir haben die Selbstauskunft der Schüler*innen und die Fremdauskunft der Lehrer*innen eingeholt. Dabei haben wir gelernt, dass die Schüler*innen tatsächlich höhere Selbstwirksamkeits-Erwartungen berichten, das heißt ich habe mehr das Gefühl, dass sich etwas verändert, wenn ich etwas tue. Wir haben höhere Eigenständigkeit der Schüler*innen beobachtet, wir haben einen höheren sozialen Zusammenhalt festgestellt, insbesondere zwischen den jüngsten und den ältesten Klassen. Die Älteren haben den Jüngeren geholfen, sie haben sich über Aula als Schulgemeinschaft kennengelernt. Wir haben gesehen, dass sich neue Jugendliche beteiligen. Ich hatte erwartet, dass sich Jugendliche stärker beteiligen, die Deutsch als Fremdsprache sprechen. Das war jedoch nicht signifikant. Wir haben aber gesehen, dass sich Schüler*innen, die sich als schüchtern beschreiben, signifikant mehr beteiligen, weil sie die Online-Plattform haben.
Die Qualität dieser Effekte hängt jedoch auch zusammen mit dem Engagement der Lehrer*innen. An den Schulen, in denen ein oder zwei Lehrer*innen sich beteiligten, die an die Schüler*innen geglaubt haben, waren die Effekte stärker, an Schulen, an denen das nicht der Fall war, waren sie schwächer. Das Projekt braucht viel Begleitung. Es ist auch ein Projekt des Verlernens. Schüler*innen kannten Schule nur so: sie mussten um 8 Uhr präsent sein, dann 45 Minuten Mathe, dann 45 Minuten Deutsch, dann die Pause. Sie wussten, wo sie sich in der Pause aufzuhalten hatten. Eigentlich wird Schüler*innen in der Schule sehr kleinteilig alles vorgegeben, was sie wann zu machen haben. In diesem Rahmen gibt es nur wenig Zeit und Raum, eine eigene Kreativität und eigene Ziele zu entwickeln. Das ist für viele eine Herausforderung.
Norbert Reichel: Ähnliches berichtete mir Christoph Schlagenhof, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik in Nordrhein-Westfalen. Er hatte in seiner Schule erreicht, dass es am Nachmittag eine feste Demokratiestunde gibt, in der geplant, diskutiert und konkrete Projekte beschlossen werden können. Das Kinderrechte-Bildungsnetzwerk unterstützt ähnliche Verfahren in offenen Ganztagsgrundschulen. Es gibt feste Zeiten für Klassenrat und Schüler*innenparlament.
Marina Weisband: Die Aula-Stunde ist auch etwas ganz Wichtiges. Wir versuchen mit den Schulen zu schauen, wie wir sie im gesamten Zeitplan unterbringen können. Aber es ist wahr: an unseren Schulen passiert Demokratiebildung eigentlich nur, wenn alles andere läuft. Wenn die Matheprüfung bestanden, alle gesund sind und alle Lehrpläne erfüllt sind, dann ist Zeit für Demokratie.
Norbert Reichel: Sollte eigentlich andersherum laufen, auch etwas, das vom Kopf auf die Füße gestellt werden sollte. Es gibt einen wunderbaren Vortrag aus dem Jahr 2019 von Andreas Voßkuhle, in dem er dargelegt hat, dass der Bildungsauftrag des Grundgesetzes Demokratie heißt.
Marina Weisband: Zumal Demokratie lernen auch immer im Sinne von Hannah Arendt heißt: handeln lernen, sich selbst Ziele setzen. Wenn ich in der Lage bin, mir ein selbstbestimmtes Ziel zu setzen, kann ich die einzelnen Schritte benennen, beispielsweise all das, was ich lernen muss, um zum Beispiel ein Computerprogramm zu programmieren. Wenn ich handeln kann, gehe ich vom Ziel aus. Daher sollte das immer die Grundlage des Lernens sein. Das versuchen wir mit Aula zu vermitteln. Wir bauen Adapter für ganz normale Schulen, auch für Brennpunktschulen. Dort läuft übrigens das Projekt am besten.
Norbert Reichel: Ich habe eine Idee, warum das so ist. Bei vielen jungen Menschen ist es leider so, dass sie von ihren Eltern an drei oder vier Tagen durch alle möglichen Angebote geschleust werden. Da gibt es die Ballett-, die Tennisstunde, das Reiten und wenn es in der Schule nicht läuft, die Nachhilfestunden. Kinder, die in den sogenannten Brennpunkten wohnen, haben das alles nicht. Sie haben Zeit. Für sie ist die Schule der Ort, in dem sie die Gelegenheit haben, auch Dinge zu tun, die sie sonst nicht täten.
Marina Weisband: Das ist ein Gedanke. Es gibt aber noch einen anderen: viele dieser Schüler*innen erleben zum ersten Mal, dass jemand etwas von ihnen erwartet und an sie glaubt. Das ist eine positive Erwartung, etwas anderes, als dass sie einfach ihre Hausaufgaben machen. Das ist Vertrauen, dass sie ein Fußballturnier organisieren können.
Norbert Reichel: Vertrauen und Zutrauen.
Marina Weisband: Vertrauen und Zutrauen. Viele erleben das zum ersten Mal. Es gibt immer eine Initialzündung. Ich höre oft: Frau Weisband, was sollen wir denn machen, die Lehrer machen eh was sie wollen. Aus diesem Satz wird später: die da oben machen doch eh, was sie wollen.
Norbert Reichel: So formuliert das dann die BILD-Zeitung auf der ersten Seite.
Marina Weisband: Und aus „die da oben“ wird noch mal etwas anderes. Das sind „die, die hinter denen da oben stehen“. Und das sind dann die Juden. Das bitte fett als Ironie markieren. Aber genau so entsteht Antisemitismus.
Norbert Reichel: Ich denke, meine Leser*innen verstehen die Ironie – oder sollte ich sagen, den Sarkasmus?
Marina Weisband (lacht): Die beste Extremismus-Prävention ist zu glauben, dass man selbst für seine Gesellschaft verantwortlich ist.
Norbert Reichel: Und das geht – wie das Netzwerk der Kinderrechteschulen beweist – auch in Grundschulen.
Marina Weisband: Meine Tochter ist fünf und sie hat in der KiTa Kinderparlamente, das jedes Kind einberufen kann. Sie hatte zum Beispiel das Problem, dass es in der Morgenrunde zu laut ist. Dann haben sie darüber diskutiert und zwei Beschlüsse gefasst. Der erste war die Einführung des Schweigefuchses, wenn es zu laut war. Der zweite war der, dass Kinder, die in der Morgenrunde nicht stillsitzen wollen, in den Nebenraum gehen dürfen. Das wurde in Piktogramm-Form gezeichnet und an die Tür geklebt, sodass die Eltern das auch sehen konnten, was die Kinder beschlossen haben, wenn sie ihre Kinder brachten oder abholten. Ich finde das toll.
Demokratiebildung – der prekäre Rahmen
Norbert Reichel: Auf Bundesebene wird zurzeit ein Demokratiefördergesetz diskutiert. Ein wesentlicher Punkt scheint mir, dass Initiativen immer nur über ein Jahr finanziert werden. Es gibt keine längerfristige Finanzierung wie zum Beispiel in den Kinder- und Jugendförderplänen, eine institutionelle Förderung wie in Forschungseinrichtungen schon gar nicht. Ein zweiter Punkt: in Berlin wurden den Schulen jetzt die Verfügungsmittel deutlich von etwa 15 auf 2 Mio. EUR gekürzt, die theaterpädagogischen Projekte wurden ganz gestrichen. Ich weiß nicht, ob das in anderen Ländern ähnlich ist, aber ich habe den Eindruck, dass alle außerunterrichtlichen Aktivitäten während der Pandemie deutlich zurückgefahren wurden. Theaterfestivals von Schulen haben kaum noch Teilnehmer. Die Aufholprogramme für die Zeit nach der Pandemie konzentrieren sich fast ausschließlich auf die sogenannten Kernfächer Deutsch, Mathe, Englisch.
Marina Weisband: Das ist richtig. Ich kann Ihnen ein Lied davon singen. Wir mussten uns bei Aula jedes Jahr als Arbeitssuchende registrieren, weil wir nicht wussten, ob wir im nächsten Jahr noch finanziert werden. Es ist immer oder häufig prekäre Arbeit, wenn man in solchen Demokratieprojekten arbeitet. Es wäre so gut, wenn es einen Anschluss ans Regelschulsystem gäbe. Ich könnte das Projekt an ein Ministerium abgeben und sagen, macht ihr das mal. Ich wäre nur dankbar, weil natürlich Lehrer*innen auch Dinge besser annehmen, wenn das vom Ministerium käme, auch die Fortbildung. Wir müssen zu dritt alles mit einzelnen Schulen abwickeln. Aber ich glaube, wenig ist so resilient gegen Veränderung wie das deutsche Schulsystem.
Norbert Reichel: Ich habe sieben Jahre für Sylvia Löhrmann im Schulministerium gearbeitet. Sie hat solche Projekte sehr unterstützt. Das taten und tun andere Minister*innen nicht. Und in den Abteilungen sitzen oft Beamt*innen, die nur an die Abiturnoten denken – wenn ich das mal so deutlich sagen darf. Die Ministerin war offen, aber diejenigen, die die Lehrpläne machten, die Fortbildungen organisierten, im Landesinstitut, in den Bezirksregierungen sahen manches anders. Da hat man sich schon einen Wolf gelaufen.
Marina Weisband: Genau das. Ich glaube nicht, dass es die Minister*innen sind, die das blockieren.
Norbert Reichel: Na ja, einige schon.
Marina Weisband: Aber manchen in den Ministerien ist es wohl egal, wer unter ihnen Minister*in ist.
Norbert Reichel: Ja, so ist das, auch in anderen Ministerien. Viele wissen aber auch nicht, welche Spielräume sie hätten, etwas zum Guten zu bewegen. Aber es ist schon wichtig, dass eine Hausleitung deutlich sagt, was ihr wichtig ist.
Marina Weisband: Ich lade Sie gerne ein, Aula ein wenig zu beraten, wie wir leichter in die Strukturen hineinkommen.
Norbert Reichel: Das mache ich gerne. Ich sage aber auch, dass der schwierigste Punkt die Lehrer*innenbildung ist, Aus- wie Fortbildung. Das war schon vor 30, 40 Jahren so. Wenn es jemanden in der Uni gibt, der Lust dazu hat, dann geht es, sonst nicht.
Marina Weisband (lächelt kokett): Meine Aufgabe ist es, durch persönlichen Charme Leuten in der Uni Lust zu machen, Demokratiebildung zu vermitteln.
Norbert Reichel: Klappt das?
Marina Weisband: Ehrlich gesagt ja. Es klappt ganz gut, nicht so flächendeckend, wie ich es gerne hätte.
Norbert Reichel: Aber Sie sind nur ein Mensch.
Marina Weisband: Wir sind zu dritt, aber dafür erreichen wir eine ganze Menge. Ich glaube wirklich, dass es eher die systemischen Beharrungskräfte sind, die dagegenstehen, und nicht die Inhalte. Es beginnt bei der Bildung: demokratische Resilienz, psychologische Resilienz vor einer Welt, die in die Krise schliddert, und es wird noch mehr werden. Es ist Selbstwirksamkeit, Handeln lernen, sich gegenseitig unterstützen. Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr neoliberal geprägt ist und wir werden erzogen, vereinzelte Kräfte in Eigenverantwortung zu werden.
Aber ich glaube – da können Sie mich eine verblendete Optimistin nennen –, dass wir Menschen im Kern solidarische Wesen sind, dass wir empathische Wesen sind.
Norbert Reichel: Ich stimme Ihnen zu. Wir sind eher Bonobos als Schimpansen.
Marina Weisband: Wir sind eher Bonobos als Schimpansen. Das auszurotten, dazu gehört mehr als neoliberale Ideologie. Jede*r einzelne kann dazu beitragen und das verbreiten. Ich glaube, Empathie ist ansteckend, auch Demokratie ist ansteckend. Und ich glaube, dass das auch auf Staatenebene funktioniert. Das ist das, wovor Putin Angst hat. Deshalb hat er die Krim annektiert und den Donbass überfallen. Er hat erlebt, dass Ukrainer*innen auf den Maidan gegangen sind, ein slawisches Volk sind und jetzt sagen, wir wollen selbst über uns bestimmen. Und er hat gesehen, dass in den russischen sozialen Medien, in Petersburg, in Moskau, plötzlich Posts standen, das, was die Ukrainer*innen können, können wir auch.
Putins Netzwerke – deutsche Naivität
Norbert Reichel: Der Tagesspiegel hat jetzt eine Rede von Frank-Walter Steinmeier aus dem Jahr 2016 wieder veröffentlicht, in der er den lieben Sergej ansprach, Deutschland und Russland könnten doch gemeinsam in Syrien den Frieden herstellen. Wie kommt so etwas, es war nur zwei Jahre her, dass Putin die Krim annektiert hatte, mit seinen grünen Männchen ohne Abzeichen, die angeblich nur Urlaub machten? Die Ausladung am 12. April 2022 durch die ukrainische Regierung kam nicht von ungefähr, wenn es überhaupt eine Ausladung war. Ob das klug war, ist eine andere Frage.
Marina Weisband: Ich glaube, das ist deutsche Naivität. Ich wurde kürzlich in einem Auftritt mit einer Aussage von mir aus dem Jahr 2015 zitiert. Ich hatte gesagt, wenn Putin Erfolg hätte, würde er in der Krim nicht stehenbleiben, er werde mehr und mehr erobern wollen. Das habe ich 2015 gesagt, da kann mir kein Politiker, der Geheimdienstwissen hat, sagen, dass er das nicht gewusst hätte. Zu jeder Naivität gehört aber auch der große Wunsch, diese Naivität zu haben. Ich weiß, dass Deutsche sehr stark am Recht hängen. Wenn Russen hinfallen und das fatalistisch hinnehmen und andere jemanden schlagen, schauen Deutsche erst einmal, wen sie verklagen können. Dieses Verständnis überträgt man dann auf andere und fällt aus allen Wolken und sagt, wie kann man einen Vertrag denn brechen, das war doch vertraglich fest vereinbart, wie kann das denn sein?
Norbert Reichel: Die Deutschen fordern dann, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, können sich aber nicht einigen, in welchem Ausmaß sie die Ukraine mit Waffen versorgen und welche weiteren Wirtschaftssanktionen sie erlassen sollten. Und sie wundern sich dann, dass Putin das ganz anders darstellt. Abgesehen davon, dass die USA den Internationalen Strafgerichtshof ebenso ablehnen wie Putin, nicht ohne Grund, siehe Guantánamo oder Abu Ghraib.
Marina Weisband: Man muss natürlich auch sehen: Putin hat in den letzten Jahren, Jahrzehnten auch viele Netzwerke geschaffen, gerade auch in die SPD, die massiv und immer noch tief wirken. Dort, wo unsere Regierung zaudert, nicht mit einer Stimme spricht, liegt dies daran, dass diese Netzwerke nach wie vor aktiv sind.
Norbert Reichel: Putin wurde in der deutschen Presse und von deutschen Politiker*innen oft als besonnener, rationaler Staatsmann hingestellt. Manche pflegten ihren Antiamerikanismus, indem sie ihn lobten. Als Trump im Amt war, konnte man das sogar fast nachvollziehen, aber es wurde dann gleich auf die gesamte USA übertragen. Und dann gibt es all diese Rechtspopulist*innen, die ihn bewundern. Ich will mir gar nicht vorstellen, was geschieht, wenn 2024 Trump wiedergewählt wird.
Marina Weisband: Der Antiamerikanismus ist meines Erachtens eher ein Problem der Linken. Aber die Mitte der Gesellschaft wird noch aus den Socken kippen und ganz überrascht sein, wenn 2024 Trump und der White Christian Nationalism gewählt werden. Das hätte man nicht ahnen können? Dann sind wir in der NATO und die Hauptmilitärmacht ist ein kryptofaschistisches Regime. Der internationale Faschismus ist neben dem Klimawandel die größte Herausforderung unserer Zeit.
Der 27. Januar 2021
Norbert Reichel: Zum Abschluss unseres Gesprächs möchte ich Ihre Rede vom 27. Januar 2021 im Deutschen Bundestag ansprechen. Ihre Rede und die Rede von Charlotte Knobloch haben mich beide sehr beeindruckt. Sie wurden an vielen Orten abgedruckt. Die Shoah darf nicht nur die Kinder und Enkel*innen der Überlebenden und Ermordeten, sondern muss auch die Kinder und Enkel*innen der Täter*innen interessieren. Traumata wirken bis in die heutige Generation der Opfer. Doch unter den heutigen Nachkommen der Täter*innen wird geschwiegen. Müssten wir nicht viel mehr auch über die Täter*innen sprechen?
Marina Weisband (spricht sehr langsam, viel langsamer als in den vorangehenden Passagen): Ich will nicht zu hart klingen, wenn ich sage, ich habe genug mit dem Thema der Opfer zu tun, da kann es nicht auch meine Aufgabe sein, über die Täter*innen zu sprechen. Das sollten die Deutschen tun. Meine Sicherheit hängt davon ab, dass sie das tun. Die wenigen Juden und Jüdinnen in Deutschland haben schon genug damit zu tun, sich mit der Shoah zu beschäftigen und gegen Verharmlosungen zu wehren. Da sollte man ihnen das Thema der Kinder der Täter*innen nicht auch noch aufdrücken.
Norbert Reichel: Aus meiner Sicht wäre das auch eine Rückdelegation. Das ist in der Tat die Verantwortung der Deutschen. Aber wenn Sie an Ihre Rede denken, was bekamen Sie für Reaktionen?
Marina Weisband: Wirklich überwiegend positiv. Was mich am meisten berührt hat, ist, dass mir viele Jüdinnen und Juden geschrieben haben und sagten, ich hätte ihnen aus dem Herzen gesprochen. Es ist eigentlich eine Unmöglichkeit, im Shoah-Gedenken vor dem Bundestag für eine Generation zu sprechen. Aber jedes Mitglied einer Minderheit repräsentiert alle anderen Mitglieder der Minderheit. Wenn ich in der Schule schlecht in Mathe war, hieß es, Mädchen können kein Mathe, wenn es ein Junge war, hieß es einfach nur, er kann kein Mathe.
Ich war einfach nur sehr froh, dass ich hoffentlich einen Ton getroffen habe, den dann doch viele als Repräsentation ihrer Gedanken und Gefühle wahrgenommen haben. Und ich bin auch dankbar, dass das Parlament diesen Übergang so gestaltet hat. Wir sind tatsächlich an einer Grenze, die viele von uns mit Angst erfüllt, weil doch die letzten Zeitzeug*innen sterben und wir das Gedenken weitertragen müssen ohne diese unmittelbaren Erfahrungsberichte.
Norbert Reichel: Das war vielleicht ein Anfang.
Marina Weisband: Das war ein Anfang. Und ich finde ihn gut. Es ist ja tatsächlich nicht so, dass diese Geschichten enden, wenn die Überlebenden sterben. Sie gaben die Traumata an ihre Kinder und Enkelkinder weiter. Meine Aufgabe ist es jetzt, das Trauma nicht an meine Tochter zu vererben.
Norbert Reichel: Sie wird fragen und Sie werden mit ihr darüber sprechen.
Marina Weisband: Sie ist fünf. Natürlich haben wir schon über Nazis geredet, weil meine Tochter wissen will, warum sie einen anderen Nachnamen hat als ich und warum sie nicht zum Jugendzentrum der Gemeinde darf, wenn das Polizeiauto da nicht steht. Wir haben nicht den Luxus, unsere Kinder davon zu verschonen. Ich höre oft von Deutschen: muss man denn schon mit so kleinen Kindern über den Holocaust reden? Jüdische Kinder haben nicht den Luxus, erst reif zu werden, ehe man mit ihnen über Bedrohung durch Antisemiten spricht.
Norbert Reichel: Es gibt Expert*innen, auch aus Gedenkstätten, die meinen, dass man erst mit älteren Kindern, so etwa ab der zehnten Klasse, über die Shoah reden könne. Ich sehe das anders. In der Blindenwerkstatt Otto Weidt in Berlin in der Rosenthaler Straße 39 gibt es ein Kinderbuch, auf dessen Innenseiten eine Menge Schilder sind, auf denen zu lesen ist, dass Juden sich nicht auf Parkbänke setzen, keine Haustiere halten dürfen und vieles mehr. Das versteht jedes Kind, auch die Geschichte der Blindenwerkstatt, die in dem Buch erzählt wird.
Marina Weisband: Das muss man auch mit Kindern machen. Man kann Kinder nicht in einer Traumwelt aufwachsen lassen und sie dann später mit der harten Realität konfrontieren. (spricht wieder schneller) Genauso wie man Kinder nicht in einem autoritären Schulsystem aufwachsen lassen kann, in dem sie fragen müssen, wann sie aufs Klo gehen dürfen und dann, wenn sie mit der Schule fertig sind, dürfen sie ein Parlament wählen.
Norbert Reichel: Wie ist das in zehn Jahren?
Marina Weisband (spricht wieder langsamer): Solange Demokratie als Luxusgut verstanden wird, wird sie, während unser Lebensstandard sinkt, noch verkleinert statt vergrößert. Das ist der genau der falsche Weg. Dagegen werde ich die gesamten nächsten zehn Jahre wie eine Löwin kämpfen.
Norbert Reichel: Dabei unterstütze ich Sie gerne, mit meinen Mitteln.
Marina Weisband: Ich wäre sehr dankbar.
Norbert Reichel: Gibt es irgendetwas, dass wir noch ansprechen sollten?
Marina Weisband: Wir haben 10.000 Dinge nicht angesprochen. Aber ich denke, wir haben ein sehr schönes Gespräch geführt.
(Anmerkungen: Alle Internetzugriffe zuletzt am 13. April 2022. Marina Weisband gab mir die Genehmigung, ihre Fotos und Zeichnungen zu veröffentlichen. Die Rechte liegen ausschließlich bei ihr.)