Pazifismus – eine konkrete Utopie?
Ein Gespräch mit Pascal Beucker über sein Buch „Pazifismus – ein Irrweg?“
„Die Spannweite zwischen einem ‚absoluten‘ und einem ‚pragmatischen‘ Pazifismus ist gewaltig. Das führt in der aktuellen Situation dazu, dass es nicht nur eine einzige pazifische Antwort gibt, wie mit der russischen Aggression umzugehen ist. Die Behauptung, Pazifist:innen wollten die Menschen in der Ukraine unisono im Stich lassen, ist auch ein demagogisches Zerrbild. Zur Wahrheit gehört allerdings ebenso, dass an diesem Zerrbild die Friedensbewegung, die vom Pazifismus nicht zu trennen ist, eine Mitverantwortung trägt.“ (Pascal Beucker in der Einleitung des Buches)
Der Band „Pazifismus – ein Irrweg?“ von Pascal Beucker ist der zweite Band der bei Kohlhammer verlegten Trilogie „Von Krieg und Frieden“. Den ersten Band schrieb Jochen Hippler mit dem Titel „Logik und Schrecken des Krieges“; der dritte Band, geschrieben von Hartwig von Schubert, ist unter dem Titel „Den Frieden verteidigen“ erschienen.
Der 58-jährige Pascal Beucker ist Redakteur im Inlandsressort der taz und Mitglied des taz-Parlamentsbüros. Er analysiert in seinem Buch „Pazifismus – ein Irrweg?“ die verschiedenen Dilemmata und Widersprüche verschiedener Ausprägungen des Pazifismus und von Friedensbewegung(en) von den Anfängen bis in die Gegenwart, nicht zuletzt angesichts der Themen Ukrainekrieg und Atombombe, in einem Exkurs auch in Bezug auf den Vietnamkrieg. Es gibt auch ein Kapitel zur Genese des Peace-Zeichens.
Pazifismen – nicht Pazifismus
Norbert Reichel: Das Buch ist mit seinen 178 Seiten kompakt und gut lesbar. Mich hat die 22 Seiten umfassende ausführliche Chronologie des Pazifismus und der Friedensbewegung beeindruckt, beginnend mit der Schrift „Zum ewigen Frieden“ von Immanuel Kant, durch die die Charta der Vereinten Nationen von 1945 „wesentlich (…) beeinflusst wurden“. Sehr hilfreich ist auch das Literaturverzeichnis.
Pascal Beucker: Diese Chronologie war mir wichtig. Sie entstand auf der Grundlage einer Chronologie großer Demonstrationen, die ich für die taz erstellt hatte. Bei der Recherche für das Pazifismus-Buch stellte ich dann fest, wie vieles verschüttet war und wieder hervorgeholt werden musste, um ein möglichst umfassendes und differenziertes Bild zu schaffen. Es ist schade, wie viel Friedensaktivismus vergessen worden ist.
Norbert Reichel: Sie zitieren unter anderem den Verteidigungsexperten Paul Schäfer (Gastautor des Demokratischen Salons), der den Pazifismus als „eine konkrete Utopie“ bezeichnet, aber auch festhält, dass Pazifismus „nicht als unmittelbare Handlungsanleitung für alle erdenklichen konfliktträchtigen Situationen missverstanden werden dürfe. Konkret, weil mit ihm nicht nur ein hehres Zukunftsziel beschrieben würde, sondern der Pazifismus ‚in der Gegenwart zum Denken in friedenspolitischen und zivilen Alternativen zwingt.‘“ Daraus ergibt sich aus meiner Sicht eine zentrale Grundbotschaft Ihres Buches: Wir sollten nicht von „Pazifismus“ sprechen, sondern von „Pazifismen“.
Pascal Beucker: Das trifft es gut. Es ist erstaunlich, dass es trotzdem in den gängigen Lexika in der Regel immer nur eine Definition von Pazifismus gibt und das ist dann stets die des Radikalpazifismus. Dieser war jedoch von Anfang an immer nur eine Spielart des Pazifismus – in der Theorie wie in der Praxis.
Die Anfänge des Pazifismus in Kontinentaleuropa und in Deutschland liegen in der bürgerlichen Friedensbewegung. Die lässt sich als eine Reformbewegung des aufgeklärten städtischen Bürgertums beschreiben, die eine internationale Rechtsordnung zur Zivilisierung zwischenstaatlicher Konflikte schaffen wollte. Exemplarisch dafür steht Bertha von Suttner, 1892 Gründerin der Deutschen Friedensgesellschaft und 1905 die erste Frau, die den Friedensnobelpreis erhalten hat. Getragen vom Glauben an eine menschenwürdige und friedliche Welt, kämpfte sie für den Abbau von Feindbildern, Abrüstung und eine enge Zusammenarbeit der Staaten in einer Friedensunion. Aber von Suttner war keine Radikalpazifistin, so bejahte sie beispielsweise das Recht auf Vaterlandsverteidigung.
Radikalpazifistische Positionen hatten hingegen im angelsächsischen Raum weiterreichende Verbreitung. Das lag daran, dass der dortige Pazifismus eine deutlich stärkere religiöse Ausrichtung hatte. Am Anfang des Pazifismus im angelsächsischen Raum standen die sogenannten Friedenskirchen. Das sind christlich-protestantische Abspaltungen, die biblisch abgeleitet jeglichen Militärdienst ablehnen. Für die pazifistische Bewegung am Bedeutendsten waren dabei die Mitte des 17. Jahrhundert entstandenen Quäker. Das resultierte daraus, dass sie ihren religiös begründeten Pazifismus nicht nur individuell oder auf ihre Gruppe beschränkt verstehen. Das unterscheidet sie von anderen dieser in der Regel streng religiösen und zumeist auch weltabgewandten Gemeinschaften, wie zum Beispiel den wiedertäuferischen Hutterern. Mit Konrad Tempel und Helga Stolle war es übrigens auch ein Quäker-Paar, das 1960 die Ostermarsch-Idee von Großbritannien nach Deutschland gebracht hat.
Wichtig ist es aus meiner Sicht, zu verstehen, dass Radikalpazifisten zwar ein wichtiger, aber immer nur ein kleiner Teil der pazifistischen Bewegung waren. Der größere Teil vertritt konditionierte Definitionen von Pazifismus. Einig sind sich alle Pazifisten zwar darin, dass sie Schwerter zu Pflugscharen umschmieden wollen. Aber nur ein Teil ist bereit, auch die andere Wange hinzuhalten.
Norbert Reichel: Wie sehen solche konditionierten Definitionen von Pazifismus aus?
Pascal Beucker: Alle Pazifisten lehnen Angriffskriege um. Die Frage lautet jedoch, wie man damit umgeht, wenn man selbst angegriffen wird. Ist es legitim, sich einem Aggressor entgegenzustellen? Manche sagen: Kämpfen auf keinen Fall! Vielleicht fliehen wir oder wir ergeben uns, eine andere Alternative haben wir nicht. Dann gibt es einen Teil, der sagt, wir müssen uns mit Mitteln des zivilen Ungehorsams wehren, zum Beispiel mit Sabotageakten oder einem Generalstreik, aber wir dürfen keine Waffen in die Hand nehmen. Dann gibt es dritten Teil, der sagt, dass es auch zulässig sei, sich mit Waffen zu wehren. Da geht es dann um das Recht auf Selbstverteidigung.
Norbert Reichel: Und wenn jemand Drittes angegriffen wird? Wie wir das 2014 und dann 2022 in der Ukraine erlebt haben?
Pascal Beucker: Völkerrechtlich kann in diesem Fall dem angegriffenen Staat Nothilfe geleistet werden. Aber es ist eine politische Diskussion und Entscheidung, ob und wie man einem angegriffenen Land beisteht. Dass eine solche Debatte im Atomzeitalter Abwägungen erfordert, steht außer Frage. Schwierig finde ich allerdings die lautstarken Wortmeldungen von Leuten, die ich als taktische Pazifisten bezeichne. Sie fordern demagogisch Verhandlungen, meinen jedoch tatsächlich Kapitulationsverhandlungen: Die Ukraine soll kapitulieren, dann haben wir unseren Frieden, darum geht es ihnen. Dazu gehören Stimmen wie die von Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer oder Alice Weidel, die in realiter auf der Seite des Aggressors stehen.
Es gibt aber auch sehr aufrechte Pazifistinnen wie Margot Käßmann, die keinerlei Sympathien für Putin, aber eben ein radikalpazifistisches Grundverständnis haben. Deswegen ist für sie die militärische Unterstützung eine Schwelle, die sie nicht überschreiten können, was zu einer gewissen Hilflosigkeit führt. Ähnlich ist das bei dem Linken-Vorsitzenden Jan van Aken, der zwar der Ukraine ein Selbstverteidigungsrecht zubilligt, aber ebenfalls Waffenlieferungen ablehnt. Stattdessen plädiert er für schärfere Sanktionen gegen Russland. Das ist nicht falsch, aber aus meiner Sicht nicht ausreichend. Ohne die Waffenlieferungen aus dem Westen hätte die Ukraine bereits längst vor der russischen Übermacht kapitulieren müssen. Deswegen waren sie meines Erachtens zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung richtig. Dass ich die Kritik teile, dass es in den vergangenen drei Jahren zu wenige diplomatische Initiativen gegeben hat, um Putin dazu zu bringen, ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch zu kommen, steht dazu nicht im Widerspruch.
Was ich auf der anderen Seite schwierig finde, ist die Idealisierung der Verhältnisse in der Ukraine bei leider nicht wenigen, die sie unterstützen. Die Ukraine hat unsere Solidarität verdient, weil sie angegriffen worden ist. Aber es ist nicht hilfreich, deswegen höchst Problematisches auszublenden. Ein Beispiel: Selbstverständlich verdient es starke Kritik, dass zu Kriegsbeginn in der Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt wurde. Denn das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, wie es auch im deutschen Grundgesetz verankert ist, wird doch erst im Kriegsfall tatsächlich relevant. Wenn plötzlich in Deutschland Rechtfertigungen gefunden werden, warum dieses Grundrecht genau dann in der Ukraine nicht mehr gilt, wenn es darauf ankommt, dann finde ich das mehr als befremdlich.
Norbert Reichel: Kriegsdienstverweigerung ist ein individuelles Recht. Es geht nicht darum, ob man Kriege grundsätzlich ablehnt oder nicht. Es geht nur darum, ob jemand bereit ist, in einem Krieg als Soldat mit einer Waffe in der Hand jemanden zu töten. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang Studien, die belegen, dass ein sehr hoher Prozentsatz – die Rede ist von bis zu 80 Prozent – der Soldaten bewusst danebenschießen. In den USA gab es einmal ein Trainingsprogramm, mit dem dieser hohe Prozentsatz reduziert werden konnte.
Pascal Beucker: In der Regel bekommt man das hin, indem man das feindliche Gegenüber entmenschlicht, sodass die Skrupel sinken, jemanden zu töten. Die Hemmschwelle, einen anderen Menschen zu töten, muss im Krieg gesenkt werden, sonst kann er nicht geführt werden. Das hat Folgewirkungen. Ich habe einen guten Bekannten, der als US-Soldat mehrfach in Afghanistan im Einsatz war. Der war da an einem Checkpoint eingesetzt. Als wir uns darüber noch während des Kriegs unterhalten haben, war für ihn völlig klar, dass jeder Afghane, der da vorbeikam, ihn eigentlich nur umbringen wollte. Alle Menschen in Afghanistan sah er unterschiedslos bloß noch als eine Mörderbande an, für die er eine erschreckende Wortwahl fand. Das war fürchterlich. Feindbildproduktion wird schnell rassistisch.
Feindbildproduktion gehört zum Krieg, ist aber nicht nur im Krieg, sondern auch danach ein Problem. Wie kann es gelingen, dass die Menschen in der Ukraine und Russland, die ja Nachbarländer bleiben werden, je wieder zu einem friedlichen Zusammenleben zurückfinden können? Denken Sie nur daran, wie lange es gedauert hat, bis sich Deutsche und Franzosen nicht mehr als Feinde betrachtet und gehasst haben.
Eingeschränkte Sicht
Norbert Reichel: In Deutschland wurde die Debatte um die Unterstützung der Ukraine in den letzten drei Jahren oft auf die Frage verkürzt, ob man bestimmte Waffensysteme liefern solle. Wir hatten die Debatte um den Leopard-Panzer, der nicht geliefert werden sollte, dann doch geliefert wurde, die Debatte um den Taurus, verbunden mit der Frage, ob westliche Waffen auf militärische Ziele in Russland abgeschossen werden dürften. Vor der Bundestagswahl argumentierte der Bundeskanzler, er könne Luftabwehrsysteme nicht liefern, weil der Bundeshaushalt dies nicht erlaube, denn er wolle nicht bei den Renten kürzen, im Grunde nur eine weitere Variante der Debatte um die Schuldenbremse, in der es eigentlich gar nicht um die Ukraine geht. Aus meiner Sicht ist dies alles die falsche Debatte.
Pascal Beucker: Ich habe noch nie etwas davon gehalten, öffentlich über einzelne Waffensysteme zu debattieren. Militärstrategisch muss man natürlich über Waffensysteme reden. Aber da ist es nicht sinnvoll, das über die Medien oder Fensterreden im Bundestag auszutragen. Da schien es mir bei manchen Diskutanten eher um innenpolitische Feldvorteile zu gehen und nicht wirklich um die Hilfe für die Ukraine. Zudem hat die Debatte über die militärische Unterstützung darunter gelitten, dass die einen so getan haben, als könnte die Ukraine den Krieg gewinnen, wenn sie nur ein paar Waffen mehr geliefert bekommt. Das war realtitätsfremd. Wenn dann auch noch, wie vor zwei Jahren geschehen, die grüne Außenministerin Annalena Baerbock auf einer Karnevalssitzung in Aachen in einer Büttenrede scherzt, dass sie gerne im Leo-Kostüm gekommen wäre, halte ich das für völlig unangemessen.
Norbert Reichel: Ich finde das geschmacklos.
Pascal Beucker: Das ist es. Wenn demgegenüber andere so getan haben, als drohe umgegend der Weltkrieg, wenn dieses oder jenes Waffensystem geliefert werde, dann war das ebenfalls Quatsch. Nehmen wir nur den Streit darüber, der Ukraine dürften auf keinen Fall Waffen geliefert werden, mit denen sie auf russisches Staatsgebiet schießen könnte, weil dadurch eine rote Line überschritten würde. Wer das ernsthaft meint, müsste schon die Lieferung einer Steinschleuder ablehnen. Warum? Weil Putin weite Teile der Ostukraine annektiert hat, darunter Gebiete, die nicht einmal von der russischen Armee besetzt sind. Das heißt, sie sind nach der Definition Russland russisches Staatsgebiet. Kurz vor Kriegsbeginn bezeichnete die damalige Linksfraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali, die heute Co-Vorsitzende des BSW ist, schon die Lieferung von Schutzhelmen an die Ukraine als „fatales Zeichen“ und „Säbelrasseln“. Klarer hätte sie nicht formulieren können, dass sie am liebsten die Ukraine schutz- und hilflos Putin ausgeliefert gesehen hätte.
Norbert Reichel: Putin delegitimiert die Staatlichkeit der Ukraine und zeigt damit, dass ihn das Völkerrecht nicht interessiert, auch nicht das Schutzversprechen, das Russland 1994 selbst noch im Budapester Memorandum im Tausch gegen die Überlassung der auf ukrainischem Gebiet gelagerten Atomwaffen gegeben hatte. All das interessiert Putin nicht mehr. Ich erinnere mich gut an einen Text von Dmitri Medwedew, den die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ im Juni 2024 dokumentierten. Unter der Überschrift „Russlands historische Mission“ sprach Medwedew von der aus seiner Sicht notwendigen „Entnazifizierung des erfundenen Gebiets, das sich ‚ukrainischer Staat‘ nennt“.
Pascal Beucker: Putin ist ein autokratischer Herrscher mit imperialistischen Ambitionen, der nach alter großrussischer Zarenherrlichkeit strebt. Nicht nur für die Ukraine, sondern für alle Länder, die aus der Sowjetunion entstanden sind, ist das eine ganz reale Bedrohung. Natürlich muss bei einer Atommacht immer darüber nachgedacht werden, an welchem Punkt eine Eskalationsspirale droht, die zu einem Atomkrieg führen kann. Denn das darf auf keinen Fall geschehen. Das kann jedoch nicht bedeuten, dem Expansionsdrang Putin nichts entgegenzusetzen. Zur Verteidigung des Völkerrechts ist es geboten, der Ukraine die militärische Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigt, damit Russland sie nicht besiegen kann.
Norbert Reichel: Ich habe all diese Debatten im Zuge der Lektüre Ihres Buches so verstanden, dass viele behaupten, genau zu wissen, was Pazifismus wäre, sich aber nie damit beschäftigt haben, welche verschiedenen Pazifismen es tatsächlich gibt.
Pascal Beucker: Das ist offenkundig. Wobei es hierbei nicht nur um Denkfaulheit geht, sondern vor allem um die Diskreditierung aller, die nicht bereit sind, ihr Denken militärisch zu verengen. Da ist dann von „Lumpenpazifismus“ die Rede – was für ein geschichtsvergessener Vorwurf in einem Land, das im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege verschuldet hat. Zu der Militarisierung der Sprache, die wir zurzeit erleben, gehört auch das Gerede von der „Kriegstüchtigkeit“, die Deutschland wieder erlangen müsse, anstatt von „Verteidigungsfähigkeit“ zu sprechen.
Norbert Reichel: Militärische Begriffe prägten schon immer politische Debatten. Wenn wieder einmal irgendeine „Offensive“ in Form von Millionen- oder gar Milliardenpaketen für Wirtschaft, Bildung, Verkehr, Bildung oder was auch immer angekündigt wird, nimmt man die Verschleifung von Sport- und Militärmetaphorik in Kauf, weil man sich davon wohl mehr Aufmerksamkeit verspricht. Man spricht ja auch von „Wahlkampf“ und „Wortgefechten“ oder bezeichnet Wahlinformationsveranstaltungen mit den Kandidat:innen der Parteien im TV als „Wahlarena“, als träten dort Gladiatoren gegeneinander an. Ein weiteres Beispiel ist die Migrationsdebatte, in der manche immer wieder von „Invasion“ sprechen.
Pascal Beucker: Da bin ich mit Ihnen d’accord. Allerdings ist die Verwendung kriegerischer Begriffe an sich noch keine neue Erscheinung. Sie ist zwar unschön, aber in den praktischen Auswirkungen auch nicht besonders problematisch. Neu ist jedoch einerseits, dass mittlerweile auch jenseits von Neonazikreisen Flüchtlinge als „Invasoren“ oder Ähnliches diffamiert werden. Das ist gefährlich, weil dadurch hilfsbedürftige Menschen zu Angriffszielen gemacht werden. Andererseits gibt es im Umgang mit Pazifisten und Antimilitaristen einen Rückfall in die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Es hat bis 1998 gedauert, dass Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ rehabilitiert wurden, 2002 folgten die Deserteure der Wehrmacht und 2009 schließlich auch die wegen „Kriegsverrats“ verurteilten Opfer der NS-Militärjustiz. Es gab nur einen einzigen Deserteur, der es je in den Bundestag geschafft hat. Das war der Schriftsteller Gerhard Zwerenz Mitte der 1990er Jahre für die PDS. Einen Bundestag ohne ehemalige Soldaten hat es hingegen noch nie gegeben. Wenn ich jetzt erlebe, wie pazifistisch gesonnene Menschen wieder abgewertet werden, dann fröstelt es mich. Wir sehen, wie schnell eine gesellschaftliche Stimmung umkippen kann, und allzu viele plötzlich glauben, Konflikte nur noch militärisch lösen zu können. Das beunruhigt mich schon sehr.
Pazifismus, Appeasement, Machtpolitik
Norbert Reichel: In meinen Gesprächen mit Menschen in der Ukraine stelle ich immer wieder fest, welches große Problem die unvollkommene Luftverteidigung ist. Schon vor der russischen Vollinvasion – im Sommer 2021 – hat Robert Habeck gefordert, die Ukraine mit entsprechenden Lieferungen zu unterstützen. Dafür wurde er heftig kritisiert, nicht zuletzt in seiner eigenen Partei, die nach der Invasion dann alle Waffenlieferungen im Kabinett und im Bundestag befürwortete. Das ist meines Erachtens der entscheidende Punkt, denn die meiste Wirkung erzielt Putin mit der Demoralisierung der Bevölkerung durch den ständigen Raketen- und Bombenterror.
Pascal Beucker: Ich stimme Ihnen zu. Habeck hat dies vor der Ausweitung des Krieges durch die Vollinvasion gesagt. Viele haben sich damals nicht vorstellen können, wie umfassend Putin die Ukraine angreifen würde, ich auch nicht. Wenige Tage vor dem Überfall am 24. Februar 2022 haben die Vertreter der US-Administration auf der Münchner Sicherheitskonferenz sehr eindringlich davor gewarnt. Das war für mich der Zeitpunkt, als mir klar geworden ist: Jetzt wird es ernst, das wird passieren.
Norbert Reichel: Damit sind wir bei dem Unterschied zwischen Pazifismus und Appeasement, auch ein Thema Ihres Buches.
Pascal Beucker: Heute werden Appeasement und Pazifismus immer wieder miteinander gleichgesetzt. Aber Pazifismus ist keine Appeasement-Politik. Das habe ich in meinem Buch am Beispiel Albert Einsteins dargestellt. Einstein war bis zur Machtübernahme der Nazis ein überzeugter Radikalpazifist, der generell jegliche Gewaltanwendung abgelehnt hat. Er hat aber sehr schnell erkannt, was die Machtübernahme der Nazis nicht nur für die Menschen in Deutschland, nicht nur für die Juden, die Kommunisten, die Sozialdemokraten, sondern für die ganze Welt bedeutet. Das hat ihn dazu gebracht, nunmehr zwischen einem „vernünftigen“ und einem „unvernünftigen“ Pazifismus zu unterscheiden. Bereits im August 1933 hat Einstein die westlichen Staaten aufgefordert, sich gegen Deutschland zu rüsten. Er hoffe, „dass sie, wenn sie klug und vorsichtig sind, nicht warten werden, bis sie angegriffen sind“, schrieb er. Im September 1933 sagte Einstein in einem Interview, er könne es „nicht fassen, warum die ganze zivilisierte Welt sich nicht zum gemeinsamen Kampf zusammengeschlossen hat, um dieser modernen Barbarei ein Ende zu bereiten“. Und er fragte: „Sieht denn die Welt nicht, dass Hitler uns in einen Krieg hineinzerrt?“ Mit Apeasement hatte das nichts zu tun. Wäre der Westen damals Einsteins Forderung gefolgt, also zu einer Zeit, als das Deutsche Reich noch nicht hochgerüstet war, hätte das den Weltkrieg und auch Auschwitz verhindern können. Stattdessen hat man jedoch feierte die Welt noch 1936 die Olympischen Spiele in Berlin.
Norbert Reichel: 1936 sorgte der amerikanische Sportfunktionär Avery Brundage dafür, dass der in den USA erwogene Boykott der Olympischen Spiele in Berlin nicht stattfand, derselbe Avery Brundage, der 1972 nach den Morden an Mitgliedern der israelischen Olympiamannschaft verkündete: „The Games must go on.“
Pascal Beucker: Und 1938 schlossen die Westmächte Großbritannien und Frankreich mit Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien das fatale Münchner Abkommen ab. Sie hätten lieber auf Albert Einsteins hören sollen. Ohne Putin mit Hitler gleichsetzen zu wollen, erinnert der Umgang Donald Trumps mit der Ukraine in gewissem Sinne dem von Neville Chamberlain und Édouard Daladier mit der Tschechoslowakei. Sie machten einen „Deal“ mit dem Aggressor auf Kosten eines schwächeren Landes und glaubten, das bringe „Frieden“. Ein fataler Irrtum, der mit Pazifismus absolut nichts zu tun hatte. Es ging bloß um Machtpolitik.
Norbert Reichel: Um Machtpolitik geht es Putin, den Gerhard Schröder in seiner innigen Verbundenheit als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete, obwohl Putins Vorgehen in Tschetschenien, in Georgien und seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 deutlich zeigten, in welche Richtung er wirklich dachte und womit er drohte. Trump handelt irgendwie wie ein Immobilienmogul. Ukraine, Gaza – alles Immobilien, die man kaufen, verkaufen, entmieten, ausbeuten kann. Die Macht des Neo-Imperialisten Putin und die des Immobilienhändlers Trump scheinen den Kurs zu bestimmen. Wir erleben auch die Renaissance von Breschnew- und Monroe-Doktrin. So verhält sich Trump, wenn er Grönland, Kanada und die seltenen Erden der Ukraine haben möchte. Diese aber wohl offenbar ohne Gegenleistung.
Pascal Beucker: Wir wissen noch nicht, was bei den Verhandlungen zwischen den USA und Russland herauskommen wird. Selensky hat übrigens einen sehr interessanten Trick angewandt, als er Trump gesagt hat, das Problem mit den seltenen Erden in der Ukraine, die der US-Präsident haben will, sei, dass der Großteil in den besetzten Gebieten liege. Aber ob das die Ukraine davor bewahren wird, große Teile der Ostukraine an Russland zu verlieren, da bin ich leider skeptisch.
Verpasste Chancen?
Norbert Reichel: Vielleicht glaubt Trump, er könne über die seltenen Erden jetzt mit Russland verhandeln. Der Westen ging nach Beginn der Vollinvasion am 24. Februar 2022 davon aus, dass die Ukraine binnen weniger Tage russisch würde. Das war ein Irrtum.
Pascal Beucker: Der entscheidende Fehler liegt allerdings schon im Jahr 2014.
Auf die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim sowie die zeitgleiche Intervention paramilitärischer Gruppen, die von Russland gesteuert wurden, in den ukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk hat der Westen nicht ausreichend reagiert. Das ist das Versagen, der große Fehler der westlichen Politik. Bei der Nato hat das zwar durchaus zu einer geänderten Lageeinschätzung geführt. So wurde auf dem Gipfeltreffen 2014 in Wales das Zwei-Prozent-Ziel nunmehr verbindlich festgeschrieben – auch wenn es trotzdem bis um russischen Überfall 2022 für die Mehrzahl der NATO-Staaten nicht mehr als ein Lippenbekenntnis ohne praktische Relevanz blieb. Auch gab es eine Reaktion in der Bundesrepublik: Bis 2014 konzentrierte sich das Verteidigungsministerium auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr, von da an rückte die Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus. Aber ansonsten wurden weiter gute Geschäfte mit Russland gemacht. Sogar die Planung für Nord Stream 2 ging weiter, anstatt anzufangen, sich unabhängig von russischem Gas und Öl zu machen.
Norbert Reichel: Zumindest lässt sich sagen, dass Minsk I und Minsk II wenig halfen, die russischen Ansprüche auf die Ukraine einzudämmen. Hauptsache, die Energielieferungen aus Russland liefen weiter. Von Nordstream II konnte sich Deutschland erst nach dem Beginn der Vollinvasion verabschieden. Olaf Scholz hatte kurz zuvor Nordstream II noch als ein rein wirtschaftliches Projekt bezeichnet.
Pascal Beucker: Man hat einfach so weiter gemacht wie zuvor und Geschäfte mit Putin betrieben, als wäre nichts geschehen.
Norbert Reichel: Und jetzt gibt es Verhandlungen zwischen den USA und Russland. Putin hat ein wichtiges Ziel erreicht: Der Gegner, mit dem er verhandelt, sind die USA. Die Ukraine und die Europäer sind für ihn ohnehin nur Vasallen der USA.
Pascal Beucker: Das hat Putin von Anfang an angestrebt. In der klassischen imperialistischen Welt diskutieren Großmächte, was mit kleinen Staaten geschieht. Trump ist dafür sehr empfänglich. Was dabei herauskommt, ist völlig offen.
Norbert Reichel: Vielleicht erinnern wir uns daran, dass Trump in seiner ersten Amtszeit den Korea-Konflikt lösen wollte. Da gab es dieses Treffen am 38. Breitengrad, bei dem er sogar einen Schritt nordkoreanischen Boden betreten durfte, doch in Hanoi war dann alles wieder vorbei und jetzt ist Nordkorea ein fester Bündnispartner Russlands. Da hat nichts geklappt.
Pascal Beucker: Wir sind jetzt in einer volatilen Situation. Aber klar ist, dass der Spielraum für die Ukraine sehr klein ist. Sie ist von der US-amerikanischen militärischen und ökonomischen Unterstützung abhängig. Tatsache ist, dass Putin etwa 20 Prozent der Ukraine annektiert hat. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich daran in den „Friedensverhandlungen“, die jetzt Trump mit Putin führen will, noch etwas ändern wird, Für die Menschen in der Ukraine ist das sehr bitter. Ich wünsche mir, dass dieser fürchterliche Krieg lieber heute als morgen endet. Nicht nur für die Ukraine wäre es jedoch fatal, wenn das dadurch geschehen würde, dass sich zwei imperialistische Großmächte ein schwächeres Land zur Beute machen. Eine Großmacht krallt sich Land, die andere die Rohstoffe – das ist eine gruselige Vorstellung. Und das wäre auch ein fatales Signal für zukünftige Konflikte, das muss man nüchtern so sehen.
Norbert Reichel: Wie hätte sich eine solche Situation verhindern lassen?
Pascal Beucker: Ich habe in den vergangenen drei Jahren eine eigenständige Außenpolitik der EU vermisst. Alles orientierte sich an dem Agieren der USA. Das war aus meiner Sicht ein schwerer Fehler. Stattdessen hätte die EU auf der einen Seite viel stärker diplomatische Initiativen zum Beispiel aus China wesentlich stärker aufgreifen sollen. Auf der anderen Seite wäre es richtig und notwendig gewesen, einen weitaus größeren ökonomischen Druck auf den Aggressor auszuüben. Es gibt zwar inzwischen 16 Sanktionspakete der EU gegen Russland. Aber erst jetzt gibt es ein weitgehendes Einfuhrverbot für russisches Aluminium und die russische Schattenflotte transportiert immer noch Öl über die Ostsee. Bis heute sind Uranlieferungen aus Russland nicht von den Sanktionen betroffen, weil Frankreich und mehrere osteuropäische Staaten darauf nicht verzichten wollen. Dass das russische Uran auch noch in der Brennelementefabrik in Lingen, also in Deutschland, verarbeitet wird, ist ein Offenbarungseid für eine Bundesregierung mit einem grünen Wirtschaftsminister.
Norbert Reichel: Interessant finde ich, dass offenbar die Sanktionen nur begrenzt in Russland wirken, aber offensichtlich viele Staaten rund um Russland beeindruckt haben, alles Staaten, die Putin gerne an sein eurasisches Projekt binden würde, die aber inzwischen zum Teil auf Distanz gehen, weil sie es sich nicht mit dem Westen verderben wollen. Ein durchgesickertes internes Papier des Kreml dokumentiert dies.
Pascal Beucker: Auch in Russland wirken die Sanktionen, aber eben nicht so stark wie erhofft. Das liegt zum einen daran, dass sie nur schrittweise verhängt wurden, was Russland immer wieder Zeit gegeben hat, sich darauf einzustellen. Zum anderen waren sie, wie gerade schon ausgeführt, nicht weitreichend genug. Da standen der Wirksamkeit jeweilige nationale Interessen entgegen. Wobei ich nicht so vermessen wäre, zu behaupten, dass ein anderes Vorgehen der EU dazu geführt hätte, Russland ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch und schließlich zu einem vollständigen Rückzug aus der Ukraine zu bringen. Das weiß ich schlicht nicht. Aber es hätte versucht werden sollen.
Doppelmoral und Konflikte in der Friedensbewegung
Norbert Reichel: Mitunter habe ich den Eindruck, dass die Friedensbewegung heute eine Art negative Identitätspolitik betreibt. Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand der Friedensbewegung? Ich will das etwas zuspitzen: Ein Teil verhält sich wie ein Fanclub von Sahra Wagenknecht.
Pascal Beucker: Das gilt leider tatsächlich für einen relevanten Teil. Ich habe mir die letzte etwas größere „Friedensdemonstration“ am 3. Oktober 2024 vor dem Brandenburger Tor in Berlin vor Ort angeschaut. Es war unfassbar, wie dort der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner ausgebuht und ausgepfiffen wurde – und zwar alleine schon deshalb, weil er eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat: dass es sich bei dem Überfall auf die Ukraine um „einen russischen Angriffskrieg, der jeden Tag Tod und Zerstörung“ bringt, handelt. Wer jedoch schon die Aussprache einer solch unbestreitbaren Tatsache für unerträglich hält, der oder die demonstriert nicht für den Frieden, sondern für den Okkupanten.
Dass es so kommen wird, war absehbar. Denn die Initiative „Nie wieder Krieg – die Waffen nieder“, die die Demo organisiert hat, bestand in ihrer Mehrzahl aus Symphatisanten des BSW. In deren Aufruf zu der Demo wurde nicht einmal benannt, wer wen angegriffen hat. Auch die Forderungen nach einem Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine oder nach Schutz und Asyl von Kriegsdienstverweigern und Deserteuren aus Russland, Belarus und der Ukraine in Deutschland und der EU fehlten. Das war natürlich kein Zufall. Es ist schon schockierend, wenn Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich sind.
Norbert Reichel: Zöge Putin seine Truppen zurück, wäre der Krieg vorbei.
Pascal Beucker: So ist es. Wobei dann der Einwand von Wagenknecht und Co. kommt, das sei ja nicht realistisch. Aber das ist ein absurder Einwand. Denn die Friedensbewegung hat sich zu Recht noch nie darum geschert, ob ihre Forderungen realistisch sind. Dieselben, die es jetzt an Solidarität mit der Ukraine fehlen lassen, hatten nie ein Problem, sich in anderen kriegerischen Auseinandersetzungen eindeutig auf der Seite des Angegriffenen zu positionieren. Denn darum geht es doch. Wer einst „Amis raus aus Irak“ gerufen hat, muss jetzt auch „Russland raus aus der Ukraine“ fordern. Ich habe einen der Organisatoren der Berliner Demo genau danach gefragt. Seine verräterische Antwort: „Wir hatten damals eine ganz andere historische Situation, eine ganz andere Vorgeschichte zu diesem Krieg.“ Ja, das stimmt: Damals ging es um die USA, jetzt geht es um Russland. Solch ein Doppelstandard ist genau der taktische Pazifismus, den ich kritisiere.
Wenn sich in gerade einmal acht der 54 Ostermarschaufrufe aus dem Jahr 2023 die Forderung nach einem russischen Rückzug aus der Ukraine findet, hat die Friedensbewegung ein großes Glaubwürdigkeitsproblem. „Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache geht“, heißt es in dem bekanntesten Ostermarschlied, geschrieben Anfang der 1960er Jahre. Doch daran haben heutzutage viele aus gutem Grund erhebliche Zweifel.
Trotzdem warne ich vor einer Generalisierung: Weiterhin gibt es in der Friedensbewegung höchst integre Menschen und Organisationen, wie zum Beispiel die DFG-VK. Sie scheinen jedoch derzeit zu schwach zu sein, um den problematischen Teil an die Seite zu drängen. Das wäre aber eine Voraussetzung für eine Renaissance der Friedensbewegung, die doch angesichts des so gefährlichen gegenwärtigen Wettrüstens eigentlich so dringend notwendig wäre.
Norbert Reichel: Diese aufrechten Friedensbewegten erhalten aber nicht die Medienaufmerksamkeit, die Sahra Wagenknecht oder Alice Schwarzer erhalten.
Pascal Beucker: Das stimmt. Gruppen wie die DFG-VK oder Pax Christi ebenso wie das Netzwerk Friedenskooperative in Bonn befinden sich in einer schwierigen Lage. Einerseits gibt es inzwischen selbst etliche frühere Friedensbewegte, die meinen, man müsse kämpfen bis zum Sieg. Die denken nur noch in einer militärischen Logik. Wobei solche Leute hierzulande selbstverständlich immer nur andere kämpfen lassen wollen. Wenn jemand wie Robert Habeck bekundet, er würde heutzutage nicht mehr den Kriegsdienst verweigern, ist das wohlfeil, so lange er sich nicht als Freiwilliger in der Ukraine meldet. Auf der anderen Seite hast du vermeintlich Friedensbewegte, denen es an jeglicher Empathie für die Menschen in der Ukraine fehlt und die sich de facto auf die Seite des Okkupanten stellen. Die einen wie die anderen geben einfache Antworten auf eine komplizierte Situation. Dazwischen haben es Menschen und Gruppen, die nach einem Weg zum Frieden suchen, ohne den Menschen in der Ukraine die Solidarität zu entziehen, schwer.
Innerhalb der Friedensbewegung sehe ich das Problem, dass ein alter und lange verdrängter Grundkonflikt wieder aufgebrochen ist. Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, will ich einen kurzen Rückblick machen. Kurz vor der Gründung der DKP 1968 gab es einen großen Streit in der Ostermarschbewegung. Hintergrund war die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Truppen des Warschauer Vertrages unter Führung der Sowjetunion. Der pazifistische Teil im zentralen Trägerkreis der Ostermärsche verlangte damals in einem offenen Brief an führende deutsche Kommunisten, dass diese den Einmarsch unzweideutig verurteilen müssten. Das entscheide darüber, ob es weiter eine Möglichkeit zur Zusammenarbeit geben würde. Das Antwortschreiben von Robert Steigerwald und anderen später führenden DKP-Funktionären war ernüchternd. Sie kämen „zu einer grundsätzlichen anderen Beurteilung des Eingreifens der fünf sozialistischen Länder“, schrieben sie. Nach ihrer Überzeugung sei „das militärische Eingreifen zur Sicherung der sozialistischen Ordnung in der ČSSR und damit des Status Quo in Europa vor der akuten Gefahr eines gegenrevolutionären Auflösungsprozesses unvermeidlich“ gewesen. Das war das Ende der Zusammenarbeit. Es hat dann zehn Jahre lang keinen Ostermarsch mehr in der Bundesrepublik gegeben. Dieser Grundkonflikt, der sich hier offenbart hat, wurde schließlich von dem NATO-Doppelbeschluss 1979 zur Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen überwölbt. Aber gelöst wurde er nie. Das Interessante ist: Ich besitze eine Fülle von Büchern über die Ostermarschbewegung, die meisten aus deren Hochphase Anfang der 1980er Jahre. Aber der von mir beschriebene Streit zwischen den Pazifisten und den instrumentellen Friedensbewegten aus dem kommunistischen Spektrum kommt darin erstaunlicherweise nicht vor. Der findet sich nur in Publikationen aus der Zeit selbst, also von Ende der 1960er Jahre. Er wurde mit den Jahren einfach vergessen. Jetzt ist er wieder in anderer Form hochaktuell.
Norbert Reichel: Damals trafen sich auch zwei Debatten, die nicht unbedingt miteinander zu tun hatten: Die Frage der Stationierung der Pershing-Raketen in Deutschland, verbunden mit der Angst vor einem Nuklearkrieg, und die Bewegung gegen die Atomkraftwerke. Das Thema Atom verband natürlich beide.
Pascal Beucker: Ja, in der Bundesrepublik gab es damals zwei große Bewegungen: die Friedensbewegung und die Anti-AKW-Bewegung. Und viele Menschen, wie auch ich, zählten sich zu beiden. Wichtig für das Verständnis ist, dass sich damals der Großteil der Friedensbewegung für Abrüstung in West und Ost eingesetzt hat. Das DKP-Spektrum, das nur einseitig den Westen für die damalige Rüstungsspirale verantwortlich machte, war eine kleine Minderheit. Bei den großen Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten ging es nicht nur gegen die Pershing II und Cruise Missiles der USA, sondern auch die geplante Stationierung von SS-20-Raketen der Sowjetunion in der DDR wurde in zahlreichen Reden angeprangert.
Je kleiner die Friedensbewegung in den vergangenen Jahrzehnten geworden ist, desto mehr an Einfluss hat leider jener Teil gewonnen, der schon immer ein eher instrumentelles Verhältnis zu Pazifismus und Antimilitarismus hatte. Wobei von dieser Fraktion zwar heutzutage weiterhin die USA als singulärer Hauptfeind von Frieden und Entwicklung begriffen wird, von der einstigen Sowjethörigkeit aber nur ein dumpfer Antiimperialismus geblieben ist.
Die Folgen sind ebenso kurios wie fatal. Die westliche Friedensbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich stets als humanistisch und in ihrer weit überwiegenden Mehrheit als linksliberal oder links verstanden. Über die realsozialistischen Staaten und deren Potentaten gab es zwar kontroverse Auffassungen. Über rechte europäische Diktatoren wie António de Oliveira Salazar in Portugal, Francisco Franco in Spanien oder Georgios Papadopoulos in Griechenland gab es die jedoch nicht. Sich damit gemeinzumachen, wäre keiner Fraktion der Friedensbewegung auch nur im Traum eingefallen. Bei der Haltung gegenüber Wladimir Putin sieht das heute anders aus. Obwohl er unzweifelhaft ein verbrecherischer rechter Autokrat ist. Es ist einfach nur eine schräge Verirrung, dass es jetzt Leute gibt, die aus ihrer einstigen Verbundenheit mit der Sowjetunion eine Verbundenheit mit Putin ableiten.
Norbert Reichel: „Unverbrüchlich“, wie das im DDR-Jargon hieß. Solche merkwürdigen Bündnisse gibt es nicht nur im Hinblick auf Putin. Jeffrey Herfs Buch „Three Faces of Antisemitism“ liegt jetzt in einer deutschen Ausgabe vor (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2025). So wie sich Rechtsextremisten, antikoloniale Linke und Islamisten miteinander in ihrem Hass auf Israel und oft genug auf alle Juden dieser Welt treffen, treffen sich jetzt rechte Autokraten mit pseudo-linken Gruppierungen in ihrer Unterstützung Wladimir Putins. Ich kenne Leute, die Putin immer noch für einen Kommunisten halten.
Pascal Beucker: Da fällt einem nicht mehr viel zu ein. So weit würde übrigens die DKP nicht gehen. Sie orientiert sich lieber an der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), was es allerdings auch nicht besser macht. Denn nach Auffassung der KPRF hätte Putin schon früher in die Ukraine einmarschieren sollen.
Norbert Reichel: Die „Junge Welt“ hat zum 35. Jahrestag des Mauerfalls getitelt, die DDR habe nie einen Krieg geführt.
Pascal Beucker: Was allerdings nur deshalb stimmt, weil die Sowjetunion sie beim Einmarsch in die Tschechoslowakei nicht dabei haben wollte. Die DDR-Führung hätte sich gerne beteiligt. 23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielt das der Kreml jedoch für keine gute Idee. Ich glaube, man muss klare Brüche machen, bestimmte Grundsätze müssen klar sein. Das ist das Entscheidende für die Glaubwürdigkeit der Friedensbewegung, des Pazifismus, dass es keine Doppelstandards geben darf. Man muss Krieg ablehnen, egal wer ihn führt.
Norbert Reichel: Das ist eine der Kernbotschaften Ihres Buches.
Pascal Beucker: Ja, das ist eine Kernbotschaft, und es ist schön, wenn das angekommen ist. Wussten Sie übrigens, dass es 1982 eine DDR-Variante des Krefelder Appells gab? Das war der Berliner Appell, initiiert unter anderem von Robert Havemann und Rainer Eppelmann. Gefordert wurde, dass ganz Europa „zur atomwaffenfreien Zone werden“ sollte.
Norbert Reichel: Ich darf auch Markus Meckel nennen, der in der DDR Totalverweigerer war und eine sehr differenzierte Position zur Friedensethik angesichts des Ukrainekrieges entwickelt hat. In der DDR gab es natürlich neben der Friedensbewegung, die sich als Opposition zum SED-Staat verstand, den staatlichen Versuch, eine eigene Friedensbewegung zu schaffen, die die Position der Sowjetunion und der DDR-Führung als Friedenspolitik inszenierte.
Pascal Beucker: Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens der Vietnamkrieg. Den greife ich in einem Kapitel meines Buches auf, weil sich an dem Umgang mit ihm einiges illustrieren lässt. Der Vietnamkrieg war eines der zentralen Mobilisierungsmomente der 68er-Studentenbewegung wie auch der damaligen Friedensbewegung. Auf dem letzten Ver.di-Bundeskongress im September 2023, über den ich für die taz berichtet habe, gab es dazu eine aufschlussreiche Debatte. Gleich mehrere Delegierte zogen eine Parallele von diesem Krieg zum Ukraine-Krieg. Ein älterer Delegierter aus Norddeutschland, der strikt gegen Waffenlieferungen an die Ukraine war, argumentierte, er habe damals gegen den Vietnam-Krieg demonstriert, wäre jedoch auch nie auf die Idee gekommen, die Bundesregierung aufzufordern, Waffen an Nordvietnam oder den Vietcong zu liefern. Das wäre allerdings auch ziemlich absurd gewesen, da die BRD ja mit den USA verbündet war und ist. Dass allerdings im Umfeld des SDS Geld für Waffen für den Vietcong gesammelt wurde, ließ er lieber unerwähnt.
Norbert Reichel: Der Bankierssohn und spätere Grünen-Politiker Tom Koenigs schenkte damals sein Millionenerbe an den Vietcong, oder?
Pascal Beucker: In der Tat, und er war nicht der Einzige. Bedeutender für Nordvietnam war aber die militärische Hilfe durch die Sowjetunion, China und auch die DDR. So berichtete ein anderer Delegierter auf dem Ver.di-Kongress, der in der DDR aufgewachsen ist, wie er damals in der Schule Sachen gebastelt hat, die dann zur Unterstüzung Nordvietnams verkauft wurden. Er sprach sich für Waffenlieferungen für die Ukraine aus. Er vertrat also die genau entgegengesetzte Position, wie der norddeutsche Gewerkschafter, obwohl sie beide bis heute den Widerstand Nordvietnams und des Vietcongs gegen die US-amerikanische Aggression für richtig befinden. Und da wird es noch einmal spannend: Aus humanitärer Sicht wäre es eine völlig legitime Position, rückblickend zu sagen, es wäre besser gewesen, Nordvietnam und der Vietcong hätten so schnell wie möglich kapitulieren sollen, weil dadurch Millionen von Vietnamesen nicht ihr Leben verloren hätten. Wer aber ihren damaligen Kampf weiterhin befürwortet, den der Ukraine jedoch nicht, dem geht es offenbar um etwas anderes als den Schutz von Menschenleben.
Norbert Reichel: Das sind wieder diese doppelten Standards. In Ihrem Buch haben Sie die verschiedenen Pazifismen, die Begrifflichkeiten, die verschiedenen Phasen von Friedensbewegungen und -initiativen jeweils auf die sich ändernden historischen Situationen bezogen, sodass sich die Leserinnen und Leser auf diese Weise eine Meinung bilden können.
Pascal Beucker: Was ich nicht anbieten kann, ist eine Zauberformel, mit der sich alle Probleme der Welt friedlich lösen lassen. Mir fehlt es auch an der Selbstgewissheit, immer recht zu haben. Ich versuche, aufzuklären, abzuwägen und zu argumentieren. Mein Buch verstehe ich als einen Appell zur Besonnenheit und zur Differenzierung. Dazu gehört auch der Zweifel, möglicherweise falsch zu liegen. Immer wenn es um Leben und Tod geht, ist dieser Zweifel dringend erforderlich. Es muss uns angst und bange werden, wenn Politiker keine Zweifel haben.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2025, Internetzugriffe zuletzt am 22. Februar 2025. Titelbild: Hans Peter Schaefer aus der Serie „Deciphering Fotographs“.)