Plädoyer für den Streit
Einige Gedanken zu einer Rede von Michel Friedman
„In einer freien Gesellschaft ist das Ob des Streits nicht nur nicht streitig, sondern Conditio sine qua non des Freiheitsverständnisses Die Herausforderung ist das Wie. Die Streitkultur. so wie Freiheit nicht grenzen- und regellos ist, sondern sich im Verhältnis zu anderen Grund- und Menschenrechten bewegt, kann auch Streit nicht grenzen- und regellos sein.“ (Michel Friedman, in: Streiten? Unbedingt! Ein Persönliches Plädoyer, Berlin, Duden Verlag, 2021)
Am 26. April 2024 hielt Michel Friedman in Berlin, unmittelbar in der Nähe des Brandenburger Tores, die 18. Berliner Rede für die Freiheit. Veranstalter dieser Reihe ist die Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit. In den vergangenen Jahren sprachen zum Beispiel Timothy Garton Ash, Ahmad Mansour und Kaja Kallas. Es lohnt sich, die gesamte Rede Michel Friedmans und die folgende Diskussion mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in Ruhe anzuhören, auch die einleitenden Worte des Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Karl-Heinz Paqué. Beeindruckend war ebenso die einleitende (etwa einstündige) musikalische Performance von DJ Artifex, mit bürgerlichem Namen Yarin Ilovich. DJ Artifex war der letzte DJ, der vor dem Überfall und Massaker am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival auflegen konnte. Zwischen den Programmpunkten spielten Meret Becker, Lulu Snunit Amanita Hacke & Djodjo Kassé, zum Abschluss eine Coverversion von Daniel Kahns „Freedom is a Verb“.
„Ich stehe hier als Mensch“
Eines der Leitmotive der Rede Michel Friedmans war der demokratische Streit, den er in einem Buchtitel zugespitzt einfordert: „Streiten? Unbedingt!“ (das Buch erschien 2021 im Duden Verlag). Ebenso zu empfehlen sind seine folgenden Bücher „Fremd“ (2022), eine sehr persönliche, geradezu lyrisch gehaltene, autobiografische Auseinandersetzung mit dem Leben als Jude in Deutschland, sowie die beiden Essays „Schlaraffenland abgebrannt – Von der Angst vor einer neuen Zeit“ und „Judenhass – 7. Oktober 2023“, die im Jahr 2023 erschienen.
In seiner Berliner Rede knüpfte Michel Friedman an diese Bücher an. Er sagte, er stehe am Rednerpult als Mensch und führte aus, was es bedeutet, wenn man als Mensch auf bestimmte Eigenschaften reduziert werde, beispielsweise als Jude, als Muslim oder als Einwanderer. Wir lebten in Deutschland in privilegierten Verhältnissen, weil man hier jederzeit seine Meinung sagen könne und eigentlich in Sicherheit leben könnte. Etwa 80 Prozent der Menschen auf dieser Erde könnten dies nicht. Wer behaupte, man könne seine Meinung nicht offen sagen, liege falsch, müsse aber auch ertragen, dass man widerspricht. Zur Wirklichkeit und Wahrheit gehöre aber auch, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht sicher leben, schon seit Jahrzehnten nicht, erst recht seit dem 7. Oktober. Man müsse sich darüber im Klaren sein, was es bedeutet, wenn Kinder in einer Schule mit hohen Sicherheitsvorkehrungen lernten und die Sicherheitskräfte nach einiger Zeit so gut kennten, dass sie sich gegenseitig mit „High Fünf“ begrüßten.
Ich möchte die These, es ginge darum, wie man streitet, nicht darum, ob man streitet, an zwei Beispielen ausführen, einem Alltagsthema, der mit der Klimakrise verbundenen sogenannten „Verkehrswende“ und der aktuellen Debatte um die „Kunstfreiheit“, die sich nach dem 7. Oktober radikalisiert hat. Beide Debatten haben inhaltlich wenig miteinander zu tun, aber ein Grundproblem gemeinsam: das Ärgernis einer mehr oder weniger militanten Rechthaberei, die den demokratischen Streit erheblich erschwert. Streit ist das Lebenselixier einer liberalen Demokratie. Liberalismus und Demokratie gehören untrennbar zusammen, und wenn ein US-amerikanischer Präsidentschaftskandidat (und leider nicht nur dieser) meint, er würde nach seiner Wahl gemeinsam mit Staatschefs wie Viktor Orbán den Liberalismus abschaffen, sollten wir genau hinhören und eigentlich wissen, was zu tun ist. Eigentlich!
Fahrradpartei gegen Autopartei
Kürzlich deutete der amtierende Bundesverkehrsminister an, es käme bald zu Fahrverboten. Der politische Zusammenhang war eindeutig: er wollte sicherstellen, dass die Grünen der Forderung der FDP zustimmten, den Verkehrsbereich aus der Pflicht zu entlassen, die vereinbarten Klimaziele zu erreichen, denn der Verkehrsbereich hatte es nicht geschafft, die verabredeten Ziele zur Reduktion von CO2 zu erreichen, sollte aber weiterhin in Ruhe gelassen werden. Die Novelle der Klimaschutzgesetzgebung sah daher vor, dass nicht erreichte Ziele in einem Bereich durch andere Bereiche kompensiert werden könnten. Am 26. April 2024 beschloss der Bundestag im Sinne der FDP.
In den Kommunen polarisiert das Thema „Verkehrswende“. Es ließe sich zugespitzt mutmaßen, es gäbe nur noch zwei Parteien, die Fahrradpartei aka die Grünen und die Autopartei aka die CDU, alle anderen Parteien erscheinen daneben mehr oder weniger als Sidekick. Grüne versuchen, wenn sie können, ganze Stadtteile oder einzelne Straßen autofrei zu erklären, Parkmöglichkeiten zu reduzieren und die Städte mit Fahrradwegen zu überziehen, die dann auf einspurig gewordenen Straßen zu Staus führen. Die CDU hingegen verteidigt jeden Parkplatz, man ist versucht zu sagen: bis aufs Blut. Der Berliner Tagesspiegel schreibt gerne, dass jeder einzelne Parkplatz offenbar „heiliggesprochen“ würde.
Ein solcher Streit entschied die letzte Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Die grüne Verkehrssenatorin hatte 700 Meter für den Autoverkehr gesperrt, damit Passant:innen flanieren könnten. Allerdings flanierte niemand, weil versäumt wurde, die 700 Meter in keiner Weise flanierfreundlich umzubauen. Die Strecke mutierte zur Fahrradschnellstrecke. 700 Meter Berlin, die ohnehin fast nur von Tourist:innen aufgesucht werden, die dort neben dem Russischen Haus und den Filialen diverser Kaffeeketten als attraktives Shopping-Center die Galéries Lafayette finden. In den Parallelstraßen nahm der Autoverkehr erheblich zu, sodass Geschäftsinhaber:innen und Anwohner:innen protestierten. Gerichte wurden bemüht, der Spitzenkandidat der FDP versuchte eigenhändig Sperren abzubauen, und bei der Neuwahl zum Abgeordnetenhaus erhielt die CDU Stimmen von Wähler:innen, die vorher die Linke oder die SPD gewählt hatten, nur damit die grüne Spitzenkandidatin und Verkehrssituation nicht im Amt blieb.
In Bonn zeichnet sich Ähnliches ab. Dort verfolgen die grüne Oberbürgermeisterin und die grüne Ratsmehrheit ähnliche Projekte. Der City-Ring wurde unterbrochen, sodass der Verkehr jetzt durch ruhige Wohngebiete umgeleitet wird, die Taxi-Kosten für Menschen, die nicht gut zu Fuß sind und auch im ÖPNV nicht gut aufgehoben sind, steigen. Rettungsfahrzeuge können zwar durchfahren, aber die Fahrer:innen müssen einen Zwischenstopp einlegen, um Poller zu entsperren und dann wieder zu sperren. In anderen Stadtteilen sollen Parkplätze in großem Stil abgeschafft werden, Anwohner:innen wird eine Parkmöglichkeit gegen Bezahlung angeboten, allerdings ohne Parkplatzgarantie. An einer Ausfallstraße sollen fünf Häuser und Teile eines Friedhofs abgerissen werden, damit mehr Platz für Fahrräder entsteht. Es gibt inzwischen eine Initiative der Bonner Wirtschaft „Ja zur Verkehrswende, aber durchdacht“.
Eine Fußgängerpartei gibt es leider nicht, in Berlin inzwischen die Initiative FUSS e.V., in Bonn wurde verkündet, man wolle überall 1,50 Meter breite Fußwege, für die man, wenn man dies umsetzte, nur leider die halbe Stadt abreißen müsste.
Berlin und Bonn – nur zwei Beispiele, die zeigen, wie verkehrspolitisch gut gemeinte Initiativen Bürger:innen aufregen, polarisieren und letztlich nur die Aggressivität in der Auseinandersetzung erhöhen. Radfahrer:innen verhalten sich oft höchst aggressiv, schätzen ihre Geschwindigkeiten falsch ein, halten sich eher weniger an Verkehrsregeln, nutzen Fußwege als ihr Revier, Autofahrer:innen parken immer wilder, vor allem mit großen Autos, nicht nur auf Radwegen, sondern gerne auf zwei Parkplätzen und halten eine geringe Parkgebühr für den Einstieg in die Verarmung. All das gibt es auch woanders, beispielsweise in Utrecht. Die ZEIT berichtete: „Die Radfahrer führen sich auf wie Könige“.
Was geschieht? Positionen werden ausgetauscht, niemand redet miteinander, aber man brüllt verantwortliche Politiker:innen an. So wird es keine „Verkehrswende“ geben, abgesehen davon, dass viele Begleitmaßnahmen einfach fehlen, beispielsweise die Einrichtung von Quartiersgaragen oder – dies betrifft Bonn, nicht Berlin – ein ÖPNV, der auch an Wochenenden und nach 20 Uhr stattfindet und vor allem auch die umliegenden Gemeinden erreicht. Streiten die Parteien? Eher nicht, denn hier geht es um Rechthaberei.
Gegen die Logik des Boykotts
Seit dem 7. Oktober gibt es eine denkwürdige Entwicklung. Eine Unterschrift an der falschen Stelle und schon folgt die Ausladung. Der Fall Nancy Fraser ist sicherlich ein gutes Beispiel: In einem Interview mit Daniel Bax für die taz vergleicht sie ihre Kölner Ausladung mit Reaktionen auf die Schicksale von Kolleg:innen wie Judith Butler, Masha Gessen oder Susan Neiman. Alle fühlen sich „gecancelt“, wie das Modewort der Woke-Bewegung und ihrer Gegner:innen heißt. Und in der deutschen Szene wird man nicht müde zu betonen, dass hier doch Jüdinnen sprächen. Leider spielt auch BDS in diesen Statements eine unrühmliche Rolle. Mitunter habe ich den Eindruck, ohne jedes Nachdenken, einfach als Anti-Haltung mit hohem Provokationspotenzial.
Ich erwarte von Künstler:innen und Wissenschaftler:innen nicht, dass sie sich politisch immer durchdacht äußern, sondern sehe sie erst einmal als Künstler:innen und Wissenschaftler:innen. Andererseits erschreckt und irritiert die bei manchen mehr als virulente „Empathiesperre“ – den Begriff prägte Meltem Kulaçatan. Und dazu gehört der erkennbare Unwille, bei aller berechtigten Kritik an Netanjahu und seinen rechtsextremistischen Koalitionspartnern die Hamas als Verursacherin des Krieges zu benennen, das Massaker vom 7. Oktober als Massaker oder Pogrom zu bezeichnen und sich mit den entführten Menschen solidarisch zu erklären. Position – Gegenposition – Gegengegenposition und so weiter. Ich möchte dies eine pseudointellektuelle Eskalation nennen.
Die andere Seite: Mitunter reicht eine (oft auch nur vermutete) israelische Staatangehörigkeit und ein:e Künstler:in darf nicht mehr auftreten, völlig egal wie er:sie sich in Sachen Israel und Palästina positioniert. Entführt und ermordet wurden am 7. Oktober viele Menschen, die sich ausdrücklich um Verständigung zwischen Israelis und Palästinenser:innen bemühten. Das Theater um den israelischen Beitrag „October Rain“ zum Grand Prix d’Eurovision de la Chanson, ist bezeichnend. Michael Pilz schrieb in der WELT: „Man kann jedes Lied politisch hören, man kann aber auch jedes politische Lied unpolitisch hören. Solche Lieder gab es reichlich in der 68-jährigen Historie des ESC. Als Sandy Shaw für Großbritannien 1967 ‚Puppet on a String‘ sang, über die Ohnmacht des modernen Menschen, als Abba für Schweden 1974 ‚Waterloo‘ über den Krieg der Liebe vortrugen, als 1982 Deutschland mit ‚Ein bisschen Frieden‘ von Nicole gewann, als sich Conchita Wurst 2014 mit ‚Rise Like a Phoenix‘ mit sämtlichen Minderheiten solidarisierte, als 2016 Jamala die Ukraine mit der Hymne ‚1944‘ über die sowjetrussischen Kriegsverbrechen auf der Krim vertrat und als das ukrainische Kalush Orchestra vor zwei Jahren mit ‚Stefania‘ siegte, weil sich ganz Europa auch im Schlager solidarisch zeigen wollte.“ Die Kritik an dem israelischen ESC-Beitrag erinnert schon sehr stark an die doppelten Standards, die Nathan Sharansky als eines der drei „D“ für die Diagnose des Antisemitismus diagnostizierte. Es wäre nun nicht schlecht, genau darüber miteinander zu diskutieren statt ständig nur übereinander zu sprechen, in welchen Medien auch immer. Oder mal eine andere Frage: Wie politisch ist Taylor Swift?
Meron Mendel, Co-Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, gehört zu denjenigen, die sich immer wieder, ungeachtet jeder Kritik für Verständigung einsetzen. Auch für ihn brach am 7. Oktober eine Welt zusammen. Zurzeit reist er mit seiner Frau Saba-Nur Cheema, die Muslimin ist, durch das Land, um zu zeigen wie Verständigung möglich wäre. Die ZEIT portraitierte das Paar im ZEIT-Magazin vom 25. April 2024 mit dem schönen doppeldeutigen Titel „Paartherapie“. In der FAZ veröffentlichen die beiden regelmäßig das „Muslimisch-jüdische Abendbrot“.
In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung plädiert Meron Mendel unter dem Titel „Traut euch“ gegen die „um sich greifende Logik des Boykotts“. Es ist nicht nur der Streit um die vergangene und die kommende „documenta“: „Warum nur, fragten wir uns, wird die Debatte in der Kunst- und Kulturwelt um den Nahostkonflikt so empathielos und verbittert geführt? Vielen scheint es wichtiger, die eigene Radikalität und moralische Überlegenheit zu feiern, als den Künstlern in Israel und Gaza Gehör zu verschaffen. Wer kennt schon die kleine, aber wunderschöne Galerie im Kibbuz Be’eri? Als Kind besuchte ich sie oft mit meinem Vater, selbst ein leidenschaftlicher Hobbymaler. Heute ist davon nur Asche geblieben. Und wer kennt Orit Svirski, die Gründerin und erste Kuratorin der Galerie, die an jenem verfluchten Tag an dem Ort ermordet wurde, den sie so liebte? Wer kennt den palästinensischen Künstler Fathi Ghaben und seine ausdrucksstarken Ölgemälde, in denen er der palästinensischen Kultur und der Hoffnung auf Freiheit Ausdruck verliehen hat? Im Februar starb er im Alter von 77 Jahren an den Folgen einer chronischen Krankheit, eingeschlossen in Gaza, das er nicht verlassen durfte, um die medizinische Behandlung zu bekommen, die er so dringend benötigte.“
Meron Mendel nennt Beispiele moralisierender Überheblichkeit, die verhindert, dass wir erfolgreich Antisemitismus und Rassismus bekämpfen: „Beide Seiten bedienen die Logik des Boykotts. Beide Seiten bedrohen die Kunstfreiheit in diesem Land. (…) Wir sollten die Logik des Boykotts und des Gegenboykotts mit mehr Dialog, wenn nötig auch mehr konstruktivem Streit herausfordern.“ Der Gedanke ließe sich fortführen. Es ließe sich fragen, ob Parlamentsbeschlüsse und der Austausch von Unterschriftenlisten helfen, Antisemitismus zu definieren. Sicherlich ist es das Recht eines Parlaments, die Grundlage seines Handelns zu beschließen wie der Deutsche Bundestag – und andere Parlamente sowie Nicht-Regierungsorganisationen – dies mit ihrer Festlegung auf die IHRA-Definition des Antisemitismus taten. Andererseits sind Parlamentarier:innen und Regierungen schlecht beraten, wenn sie eine Unterschriftenliste wie die der Jerusalem Declaration einfach als irrelevant abtun. Eine politische und eine wissenschaftliche Debatte müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, apodiktische Gegenüberstellungen helfen nie. Der von Meron Mendel und seinen Kolleg:innen herausgegebene Band „Frenemies“ (Verbrecher Verlag), im Demokratischen Salon unter dem Titel „Fragile Allianzen“ diskutiert, hätte zeigen können, wie sich solche Frontstellungen auflösen ließen. Die die Veröffentlichung begleitende Debatte tat dies eher nicht.
Aber vielleicht ließe sich eine Einigung auf die Formel finden, mit der Matthew Lewinger seinen Kommentar „Im Teufelskreis des Terrors – Wie Israel der Hamas in die Falle ging“ beschloss : „Es gibt keine Würde und Sicherheit für Israel ohne Würde und Sicherheit für das palästinensische Volk.“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Mai 2024) Ließe sich auch umgekehrt formulieren, in beide Richtungen. Utopisch?
Ist Bildung die Lösung?
Gibt es eine Lösung? Leider lassen sich auch gebildete Menschen zu unbedachten, rechthaberisch vorgetragenen und letztlich unhaltbaren Äußerungen hinreißen, die sie dann rechthaberisch verteidigen und alle, die ihnen widersprechen, als böswillige Anti-Demokrat:innen diffamieren. Aber es ginge vielleicht auch anders. Michel Friedman forderte in seiner Berliner Rede, in den Schulen müssten zwei Fächer, zwei Inhalte mehr unterrichtet werden: Demokratie und Digitales. Junge Menschen müssten lernen, wie demokratischer Streit möglich ist, wie er ausgetragen werden kann und sollte, im Respekt vor den anderen, ohne Abwertung der Gesprächspartner:innen, und sie müssten lernen, wie Algorithmen sich auf die Meinungsbildung auswirken (nur am Rande: viel wäre schon erreicht, wenn die Kultusminister:innen ihre eigenen Beschlüsse ernst nähmen, so zum Beispiel den Beschluss der KMK zur Demokratiebildung vom Oktober 2018). Dass Bundesinnen- und -familienministerin die Mittel für die Demokratiebildung im Haushalt 2024 deutlich kürzten ist sicherlich nicht hilfreich. Leider tun die Länder ein Gleiches. Die Vertreter:innen der Kinder-und Jugendhilfe sind mit Recht aus dem von der Bundesfamilienministerin eingerichteten „Bündnis für die junge Generation“ ausgetreten.
Ich möchte die Bedeutung des Fachs Geschichte als drittes Fach, fächerübergreifend gesehen als dritten Inhalt hervorheben. Das Fach wird oft genug stiefmütterlich behandelt und ist in seiner derzeitigen Verfassung kaum in der Lage, Zusammenhänge, Analogien, Parallelen zu erhellen. Die Lehrpläne beschränken sich auf stupides chronologisches und langweilendes Abarbeiten. Antisemitismus oder Muslimfeindlichkeit ließen sich mit einem an Themen orientierten Unterricht jedoch viel besser erkunden. Dies gilt auch für andere Themen wie Frauenrechte, Kolonialismus, Sklaverei, Krieg und Frieden, Nationalismus.
Und nicht zuletzt die Literatur, in allen Sprachen. Geradezu naiv, wenn nicht einfach dumm waren Äußerungen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der meinte, angesichts der KI-Übersetzungen müsse man in den Schulen keine zweite Fremdsprache mehr lernen. Das passt wiederum auch zu einer kritischen Sicht des gesamten KI-Betriebs, den die Anne-Frank-Bildungsstätte in ihrem Buch „Code & Vorurteil“ (Verbrecher Verlag 2024) analysierte. Ohne Kenntnis von Übersetzungshindernissen, Fehlübersetzungen, Interpretationsmöglichkeiten, die über Übersetzungen transportiert werden, werden sich manche Vorurteile verfestigen. Wir brauchen Mehr- und Vielsprachigkeit und ich denke, Schüler:innen sollten in Europa auch außereuropäische Sprachen lernen, zumindest hineinschnuppern. Literarische Texte sind eben keine Gebrauchsanweisungen für Kaffeemaschinen.
Es gibt inzwischen einen rechten Literaturbetrieb, den niemand ignorieren sollte, vom Antaios-Verlag bis hin zur Dresdener Buchhandlung Loschwitz. Michel Friedman wies in seiner Rede darauf hin, dass sich jemand nicht bereits als Demokrat:in auswiese, wenn er:sie Goethe rezitieren könne. Wir brauchen in Schulen und Hochschulen, in den Feuilletons, in den (sozialen) Medien eine offene Auseinandersetzung über die literarischen, künstlerischen und nicht zuletzt politischen Qualitäten von Literatur! Nur ein Beispiel: Wie lese ich den in rechten Kreisen verehrten Ernst Jünger? Helmut Kohl beehrte ihn, den eifrigen Botanisierer, mit einer Art Staatsbesuch. Wie lese, analysiere und kommentiere ich seine alles andere als liberal ausgerichteten Werke wie „In Stahlgewittern“ (1920), „Der Arbeiter“ (1932), „Heliopolis“ (1949) oder „Auf den Marmorklippen“ (1939). Vielleicht hilft eine differenzierte Analyse gerade von „Auf den Marmorklippen“, ein Roman, der während der NS-Zeit als erster Roman ein Konzentrationslager beschrieb? Ob neurechte Literat:innen auch dies verstehen?
Lothar Müller schrieb in der Süddeutschen Zeitung über neurechte Literaturzirkel und Verlage, die durchaus wissen, wie sie ihr Publikum finden. Wer das neurechte Gift entgiften will, sollte wissen, wie man über Literatur streitet. Denn eine solche Entgiftung ist grundlegende Voraussetzung für die Sicherung jüdischen Lebens, muslimischen Lebens, des Lebens aller Minderheiten und – selbst wenn manche es nicht glauben wollen – auch der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland. Je nachdem wie wir uns selbst wahrnehmen und etikettieren, mal sind wir Minderheit, mal Mehrheit, aber wir sind alle, das war eine zentrale Botschaft der Rede Michel Friedmans, Menschen. George Taboris Satz „Jeder ist jemand“ gilt – immer, so schloss er seine Rede.
Streiten bildet!
Ich bin mir sicher, dass Michel Friedman der ein oder anderen meiner Bemerkungen du Analysen widersprechen wird, aber genau das ist auch der Sinn demokratischen Streits. Einigkeit haben wir sicherlich in folgendem Punkt: Streiten bildet! Nehmen wir einander ernst! Sehen wir im anderen den Menschen! Auch wenn wir uns in unserem Harmoniebedürfnis gestört fühlen, weil es doch so einfach wäre, wenn wir alle dieselben Ansichten verträten. Mache fühlen sich möglicherweise sogar überfordert und lösen bei gut meinenden Mitmenschen nicht Widerspruch, sondern den bekannten sozialarbeiterischen Reflex (als wenn es in den Schulen und Jugendeinrichtungen inzwischen nicht auch neurechte Sozialarbeiter:innen gäbe).
Wir müssen uns auf demokratischen Streit einlassen. Andererseits heißt das auch, antiliberale, antidemokratische, extremistische Äußerungen sind inakzeptabel. Die Grund- und Menschenrechte sind unverhandelbar. so steht es auch in der zitierten KMK-Empfehlung. Sie so zu benennen, auch das gehört zum demokratischen Streit. Diejenigen, die sich gegen Extremismus engagieren, dürfen wir nicht allein lassen. Doch leider geschieht dies, wie Christian Bangel in einer Reportage vom 26. April 2024 über eine Schule im brandenburgischen Burg schreiben musste. Demokratisch engagierte Lehrkräfte verlassen die Schule. Wer bleibt?
Streiten! Das geschieht nicht versteckt in großen Demonstrationen, so wichtig und notwendig diese sind, das ist eine Aufgabe des Alltags, es ist bei jedem einzelnen Thema von Bedeutung, täglich. Das ist der Geist eines kämpferischen und wehrhaften Liberalismus! Das kann man lernen, das kann man üben. Wie das geht, zeigt Marina Weisband in ihrem Aula-Projekt, das sie in ihrem Buch „Die neue Schule der Demokratie – Wilder denken, wirksam handeln“ (Fischer, 2024) ausführlich vorstellt. Was Schüler:innen können, sollten eigentlich auch Erwachsene schaffen. Unbedingt!
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im April 2024, Internetzugriffe zuletzt am 28. April 2024.)